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In diesem Sommer lernte Johann Wolfgang laufen und bereicherte seinen Sprachschatz auf unerhörte Weise. Er sagte, wenn die Straßenbahn hinter dem Garten vorüberfuhr, nicht mehr: »Ha ... ha ... sch ... sch!« sondern bereits »Rdlo Mann!« und nur ein Idiot konnte darüber im Zweifel sein, was das bedeute. Wenn irgendwo ein Leitungshahn offen war und Wasser rann, so gab er das sachverständige Urteil ab: »Wasser schindet«, und auf diese Weise zog er den Umkreis seines jungen Lebens in seine stürmisch erwachende Geistigkeit.
Auch sonst war er ein sehr lebhafter junger Herr mit außerordentlich viel Hang zur Selbständigkeit, wollte sich keineswegs mehr gutwillig gängeln lassen und, wenn er einen Streifzug durch Haus und Garten machte und Mama Tröger in großmütterlicher Besorgnis seine Rockfalte nicht loslassen wollte, schlug er mit den Händen wütend nach hinten aus, indem er dazu schrie: »Ganz allan!« Er war stolz auf seine Taten, wenn sie auch vom Standpunkt der Erwachsenen aus oft wie ein gefährlicher Unfug aussahen, und war durch keine Verwarnung davon abzuhalten, allenthalben kletternd in die Höhe zu streben, um nachzusehen, wie sich die Welt von oben besehen ausnehme.
Darüber war viel Freude im Hause Schittelhelm.
Frau Hella saß auf ihrem Liegestuhl unter der Ulme, ein Buch oder eine Handarbeit in Händen und sah zu, wie Bubi im Garten herumkutschierte, hinter bunten Sonnenvögeln her oder wie er auf der Erde im Gras kroch, um die Regenwürmer an den Schwänzen zu zupfen, deren sie nach seiner Ansicht zum Unterschied von anderen Tieren zwei hatten, einen vorne und einen hinten. In diesem überaus heißen und trockenen Sommer war der Schattenbereich um die Ulme zu Frau Hellas Lieblingsplatz geworden. Es wuchs hier so dichtes, kühles Gras, wie nirgends, so daß Hella manchmal ein Tuch darüber hinbreitete, um sich hineinzulegen. Die Halme nickten von beiden Seiten über sie hin, die Schatten des Laubes spielten liebkosend über ihr Gesicht und ihre Hände, und die Erde war so wunderlieb freundlich zu ihr, so zärtlich anschmiegsam und weich, als sei sie ein Lebendiges, das sie liebe. Sie versank hier manchmal in eine träumerische Stimmung, halb beglückt und halb bedrückt, eine Mischung von Seligkeit und Traum.
»Ich weiß nicht, warum ich jetzt so häufig an Rex denken muß,« sagte sie bisweilen zu ihrem Manne. »Der arme Hund.«
»Du sollst dir keine solchen Gedanken machen,« begütigte sie der Doktor, denn er wußte, von welcher Art Hellas Sinnen war.
»Ja ... es ist schwer darüber wegzukommen, daß ich eigentlich an seinem Tod schuld bin.«
»Es hat sein müssen,« wiederholte er dann immer wieder, »was soll man tun, wenn sich ein Hund gegen die eigene Herrin so weit vergißt ...?«
Aber trotz dieses Trostes konnte sie sich ihrem Reuegefühl nicht entziehen, es war da im Bereich ihrer Seele eine Wunde, die sich nicht schließen wollte: »Ich muß mir immer denken,« sagte sie, »daß er sich jetzt ganz gewiß mit Bubi sehr gut vertragen würde. Es ist lächerlich, zu fürchten, daß Wolf durch ihn irgendwelche Krankheiten bekommen könnte. Hunderttausende von Kindern leben ganz eng mit Hunden zusammen, ohne daß ihnen etwas geschieht. Und welche Freude für Bubi, wenn er jetzt einen Spielgefährten hätte, einen so prächtigen. Kinder stehen doch den Tieren viel näher als wir Erwachsene, die wir ihnen durch unsere Vernunft entfremdet sind.«
»Vergiß nicht,« verteidigte der Doktor Hella gegen sich selbst, »daß Rex ein vierfüßiger Othello an Eifersucht war ...«
Jedoch auch darüber hatte Frau Hella eine eigene, geänderte Meinung: »Es ist von der Natur so eingerichtet, daß sich die Mutter dem Kind in der ersten Zeit mit voller Ausschließlichkeit zuwendet. Es gibt neben ihm, solange es ihrer Hilfe unmittelbar bedarf, nichts anderes für sie. Später, wenn es in sich sein Eigenleben zu entfallen beginnt, beruhigt sich diese zitternde Angst und das Gefühl wandelt sich ... Rex hat das damals gespürt und ebenso hätte er auch spüren müssen, wie es anders wird und hätte sich mit dem Kind versöhnt.«
»Vielleicht,« gab der Doktor zu, »... vielleicht auch nicht, jedenfalls schlag dir das aus dem Kopf ... Übrigens, wenn du willst, kann man ja wieder später einmal einen Hund ins Haus nehmen.«
»Nie mehr,« wehrte sie hastig ab. Und nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich muß dir sagen, es ist mir manchmal, wenn ich so unter der Ulme sitze, als liege er neben mir, zu meinen Füßen zusammengeringelt, wie sonst. Das Gefühl davon ist so stark, daß ich hinschauen muß, ob es denn keine Täuschung sei. Und dann wieder, in der Hitze des Nachmittags, wenn ich so halb im Schlaf bin, dann ist es als stoße eine kalte Nase gegen meine Hand, daß ich zusammenfahre.«
Sie sah ihren Mann zögernd und ein wenig ängstlich von der Seite an, wie er sich dazu stelle, aber als sie auch nicht eine Spur von Spott auf seinem Gesicht gewahrte, fügte sie ermutigt hinzu: »Es ist mir manchmal, als höre ich sein Halsband klingeln, wenn ich durch das Haus gehe, so, als laufe er hinter mir her. Das ist doch seltsam. Nicht? Unlängst, wie ich allein in der Küche war, hörte ich dieses Klingeln ganz deutlich, genau so, wie es immer war, wenn seine Marke beim Fressen gegen den Rand seiner Schale schlug. Es schien mir aus der Ecke hinter dem Küchenschrank zu kommen. Und als ich dort nachsah ... was glaubst du? Da stand sein Futternapf im Winkel, den Mirzl dorthin geschoben und vergessen hatte ... staubüberdeckt, mit Spinnweben bezogen. Und gestern ... wie ich abends ins Speisezimmer komme, da liegt er in dem gelben Stuhl wie sonst ... auf seinem Platz, auf der roten Decke, die da zufällig hingebreitet war. Ich gehe darauf los ... es ist nichts, ein Schatten natürlich ... aber in der Decke ist ein Eindruck gewesen, als habe er wirklich dort gelegen.«
Jetzt aber lächelte der Doktor: »Ach Unsinn ...« und er legte die Hände auf ihre Schultern und sah ihr gerade in die Augen: »Hella ... du bist doch sonst eine vernünftige Frau.«
Sie war in einen sonderbaren Eifer geraten: »Es ist ...«
»Es ist ... ein allzu üppiges Phantasiegewucher, Liebste.«
»Es ist,« sagte sie leise und unaufhaltsam, »als könne er sich von diesem Garten und diesem Haus nicht trennen. Und wenn er doch eine Seele hätte ...?«
Der Doktor schwieg, denn was hätte er sagen sollen, da er sich jetzt des Gespräches entsann, das er einst mit dem Tierphilosophen Bartosch über das Geheimnis unserer stummen Brüder gehabt hatte.
Am Tage nach diesem Gespräch goß die Sonne so viel Glut über den Garten hin, daß die Pflanzen alle matt und durstig wurden und die Menschen willenlos und müde sich der Schlaffheit ergaben; in den Abendstunden, als es kühler geworden war, schleppte der Doktor hemdärmelig Wasser auf die Beete, aber nicht lange, denn es erschien ein atemloser kleiner Junge als Bote, der Schittelhelm abberief. Er kam zu Frau Hella, die unter der Ulme lag und das Buch aus der Hand hatte gleiten lassen.
»Habe ich geschlafen?« fragte sie ein wenig noch traumbefangen.
»Es scheint so,« lachte er, »ich muß fort, dem Niggl Franz ist ein Weinfaß auf den Fuß gefallen, aber ich bin bald wieder da ...«
Sie sah ihm nach, wie er, die Hemdärmel herabstreifend, rasch dahinging, und den ins Gras geworfenen Rock aufnahm. Drüben unter dem jungen Nußbaum wühlte Bubi im Sand und Mama Tröger bückte sich über einen Rosenstrauch, um die ein Zweiglein umwimmelnde Brut von Blattläusen zu betrachten. Aus der Waschküche hörte man Mirzl singen, denn sie war über einen Gutes meldenden Brief des g'schliffenen Ferdl vergnügt; und wenn man genau zusah, so konnte man den Brodem des heißen Wassers aus dem kleinen Fensterchen hervorqualmen sehen.
Das alles fügte sich im Abschwellen der Hitze einträchtig in eine stille Sommerseligkeit zusammen, und zudem begann jetzt jemand irgendwo hinter Gärten auf einem Flügelhorn zu blasen: »Behüt dich Gott, es wär' zu schön gewesen ...« über diesem mit Wehmut und Sehnsucht geschmalzenen Getön fielen Frau Hella die Augen wieder zu, denn der Waschtag hatte sie bis vor kurzem hausfraulich stark in Anspruch genommen, und sie hatte ein gutes Gewissen vor Gott und der Welt. Als sie sich wieder erraffte, war eine innere Unruhe in ihr wie ein Ameisenlaufen in allen Gliedern, ein beängstigender Wechsel warmer und kalter Wellen über ihr Herz hin.
Sie war allein im Garten, Mama Tröger mit Bubi wohl ins Haus gegangen, lang und kühl streiften die Baumschatten den Rasen. Staubaufwirbelnd, unter Getöse fuhr das Postauto vorbei, mit der zusammengeklappten Leiter auf dem Rücken, die ausgestreckt wurde, wo es an der Fernsprechleitung Schäden zu bessern galt. Unter dem schweren Fuhrwerk dröhnte der Boden und die Erschütterung teilte sich Frau Hella mit wie ein Erdbeben. Und mitten in dem Gedröhn war es, als höre sie eine Stimme trotz einer unendlichen Verdünnung sehr deutlich, die ihr sagte: »Geh ins Haus!« Zugleich aber fuhr ein ganz leichter Windstoß über die Rosensträucher her und hob ihren Rocksaum ein wenig auf, zauste ihn hin und her, und da hatte Frau Hella plötzlich den seltsamen Eindruck, als sei es Rex, der spielend an ihrem Kleid zerre, wie einst, wenn er sie in eine bestimmte Richtung hatte bringen wollen.
Sie konnte einem etwas beklommenen Lächeln über sich selbst nicht wehren, wie durchsetzt mit Erinnerungen an das Tier ihre ganze innere Welt war. Aber es litt sie nicht länger mehr im Garten, es war ihr nun selbst, als habe sie etwas im Hause zu besorgen, ohne daß sie sich sagen konnte, was es sei. »Ich werde mich schon erinnern.« sagte sie, während sie dem Haus zuschritt, indem sie durch laute Formung ihrer Gedanken sie zur Sammlung zu zwingen suchte. »Heute morgen habe ich mir vorgenommen ...« Aber es war nichts da, nichts meldete sich, sie erhielt keine Antwort. Grübelnd trat sie ins Speisezimmer, öffnete den Schrank, um durch den Anblick eines Gegenstandes vielleicht ihrem Gedächtnis nachzuhelfen, sie zog die Schublade des Spiegeltisches auf, ließ ihre Blicke über die Wände gleiten, sah sinnend die Stellung der Zeiger auf der Uhr – es war etliche Minuten vor Sieben. Nichts wollte ihr nachhelfen, aber dabei wurde die Mahnung immer dringender, keine Zeit zu versäumen, immer bedrohlicher das Gefühl einer Gefahr. Die Angst war wie ein Würgen im Hals, ein Krampf im Herzen, eine Verschleierung des Blickes.
»Was ist denn nur?« stammelte sie, indem sie die Stirn rieb.
Plötzlich hörte sie ein leises Kratzen an der Tür, ein winselndes Seufzen, als sei Rex draußen und bettle um Einlaß. Es war so deutlich und unzweifelhaft, daß Frau Hella nicht anders glaubte, als es müsse ein fremder Hund ins Haus gekommen sein, überzeugt, einen unbekannten Gast draußen zu finden, schritt sie rasch zur Tür und öffnete, aber der Vorraum lag leer, nur durch den Spalt der halb offenen Küchentür kam ein schmaler Streifen Licht, der eine dünne Wand gelbroten Staubes schief durch den Flur schob und mit einem Blitzen im Wandspiegel endete.
»Was will ich denn?« murmelte sie, immer verwirrter werdend und ging ins Zimmer zurück. Die Bangigkeit war atembeklemmend geworden, ihre Hände begannen zu zittern und in den Schläfen wurde ein Pochen laut. Während sie dastand, fassungslos, ratlos, alle Sinne anspannend, hörte sie wieder das Kratzen und Winseln vor der Tür.
»Mein Gott ... werde ich verrückt?« fragte sie, indem es sie herumriß. Als sie öffnete, war draußen nichts verändert, nur der Sonnenstreifen hatte sich um eine Handbreite verschoben. Da bemerkte sie auf dem Boden kleine feuchte Flecken, fast in der Form vierblättrigen Klees, zu je vieren zusammengerückt, nasse Abdrücke, fast wie Hundepfoten, ihr wohl bekannt aus der Zeit, da Rex manchmal Spuren des Regenwetters aus dem Garten ins Haus getragen hatte.
Sie machte einen Schritt und sah, daß die Spuren geradeaus auf die Vorhaustür wiesen und wie sie noch einige Schritte in dieser Richtung getan hatte, war plötzlich das bekannte Klingeln in ihrem Ohr, ganz so, als liefe Rex vor ihr her. Die nassen Tapper waren auch jenseits der Flurtüre, liefen dem Haustor zu, wandten sich aber dann nach rechts zum Keller.
»Wohin gehe ich da?« fragte sie sich, indem sie ihnen folgte, aber eine Befriedigung, eine leichte Auflösung der Angst schien ihr zu antworten, sie sei schon auf dem rechten Weg; und ganz lebhaft wurde zugleich die Erinnerung an jene Traumstimmung, in der sie, geängstigt durch eine drohende Gefahr, das ganze Haus von Spuren blutiger Hundepfoten erfüllt gesehen hatte. Sie ging über die Stufen in den Vorkeller, da war es so dämmerdunkel, daß sie keine Spuren mehr sah, aber noch immer schien es vor ihr her zu klingeln, nach links hin, der Waschküche zu. Wie in jenem Traum, bedenkenlos, mit ausgeschaltetem Willen, tappte sich Frau Hella hinter dem Klingeln in ihrem Ohr her, stieß in der Dunkelheit gegen die Tür der Waschküche. Sie war nur angelehnt, ging knarrend von selbst auf, Wasserdünste und der Geruch der Wäsche quollen heraus, die Überschwemmung des Steinbodens reichte fast bis zur Schwelle, und da Frau Hella zögernd eintrat, blieb sie wie gelähmt vor Entsetzen stehen.
Der große Kupferkessel mit siedendem Wasser war an dem Flaschenzug hochgewunden und stand zischend und brodelnd auf der Kante des Ofens.
Und an seinem Holzrand hing das Kind mit beiden Händen, bemüht, sich an ihm hinaufzuziehen und unter seinem Gewicht neigte sich der Kessel zum Sturz ...
Nur einen Augenblick dauerte die Erstarrung der Frau, dann war sie mit einem Sprung beim Ofen, riß das Kind an sich, hob es hoch ...
Ein Schrei gellte hinter ihr durch das ganze Haus. Mirzl stand da, ließ die Schwinge Holz fallen, die sie aus dem Keller geholt hatte und schlug die Hände vor das Gesicht.
Frau Hella hielt das Kind an ihrer Brust und wankte an Mirzl vorbei mit bebenden Knien hinaus, hinauf ins Zimmer, unbekümmert um die nassen Spuren, die sie allenthalben auf Parketten und Teppichen zurückließ. Sie setzte den Buben in die Sofaecke, befühlte ihn überall, fand ihn unverletzt, warf sich vor ihm auf die Knie, bedeckte weinend seine Händchen mit Küssen.
»Wasser schindet,« sagte Johann Wolfgang, sehr zufrieden mit seiner Entdeckungsreise in die Waschküche.
»Was war denn das für ein Geschrei?« fragte Mama Tröger, die herbeigestürzt kam. Und da Hella keine Antwort gab, wandte sie sich an Mirzl, die käsebleich, mit triefender Schürfe und hochgesteckten Rocken an die Wand gelehnt stand und die roten, verquollenen Hände rang.
»Der Bubi ... der Bubi ...« stotterte das Mädchen, »hätt' sich beinah' verbrüht.«
»Ich kann nichts dafür,« schrie sie plötzlich auf. »ich hab' Holz geholt ... ich weiß gar nicht, wie er hereingekommen ist.«
»Um Gottes willen,« schrie jetzt auch Mama Tröger, »um Gottes willen. Ich habe einen Brief schreiben müssen ... ich hab ihm gesagt, er soll bei dir im Garten bleiben ...«
Frau Hella lag stumm vor dem Kind und drückte ihr Gesicht in die Falten des Röckchens, tastete über den ganzen Körper hin und wehrte sich immer nur gegen die grausame Gräßlichkeit der Bilder, wie sich ihr Kind jetzt, ohne das Wunder dieser Rettung, verbrüht, mit zerfetzter Haut und von den Knochen gelöstem Fleisch in Qualen winden würde. Und wie sie sich allmählich beruhigte, fühlte sie eine leuchtende Flut von Dankbarkeit gegen das geheimnisreiche Walten in sich aufsteigen, das die Schicksale alles Geschaffenen so rätselhaft miteinander verknüpft.
Es war auch von diesem Tage an nichts Schmerzliches mehr in ihren Erinnerungen an das Tier, das sie so sehr geliebt hatte, ihr Gewissen erhob sich befreit vom Druck der Reue, als hätte sie ein über alles Begreifen tiefes Zeichen von Verklärung und Versöhnung erhalten.