Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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II.

Rudolf Graf Dotzky, geboren 1859, wenige Monate vor Ausbruch des italienisch-österreichischen Krieges, in dem sein Vater den Tod fand, zählte jetzt dreißig Jahre. Besitzer des ausgedehnten Dotzkyschen Majorats, hatte er keinen andern praktischen Beruf als die Bewirtschaftung seiner Güter. Daneben hatte er sich aber noch einen idealen Beruf erwählt, dem sein Lernen, Denken und Streben galt: nämlich die Aufgabe zu erfüllen, welche Friedrich Tillings Vermächtnis war: die Bekämpfung der Kriegsinstitution. Die eigentliche Erbin dieses Vermächtnisses war freilich Tillings Witwe, doch freiwillig hatte sich Rudolf zum Mitarbeiter seiner Mutter herangebildet. Das zu Friedrichs Lebzeiten angelegte »Protokoll« – ein Einschreibebuch, in das die Fortschritte der Friedensidee und -Bewegung eingetragen waren, wurde zuerst von Martha, dann von Rudolf weitergeführt. Die von dem Elternpaar zusammengetragene Bücherei natur- und sozialwissenschaftlicher Werke fand in ihm einen eifrigen Studenten und Mehrer.

Allerdings mußte daneben das obligate Studium der offiziellen Schulgegenstände absolviert werden; auch das Freiwilligenjahr hatte er ausdienen müssen. Dann kam die Erbschaft des Dotzkyschen Majorats, wodurch dem jungen Mann die Notwendigkeit erwuchs – wollte er anders den Pflichten des Großgrundbesitzes gerecht werden – ernstliche Landwirtschaftsstudien zu betreiben – all das ergab eine bedeutende Ablenkung von jenem idealen Beruf.

Auch kam eine Zeit, da er durch den Umgang mit seinen Alters- und Standesgenossen in einen Wirbel von weltlichen und sportlichen Vergnügungen gerissen wurde, wobei die Beschäftigung mit seiner Lebensaufgabe stark zur Seite geschoben ward. Sogar die Gesinnungen, die dieser Aufgabe als Grundlage dienten, waren durch den Einfluß der ganz entgegengesetzten feudalen, chauvinistischen und reaktionären Ansichten, die in seiner Umgebung herrschten, momentan ins Schwanken geraten und hatten Gefahr gelaufen ganz unterzugehen, wären sie nicht schon so tief in seiner Seele geankert gewesen, und wenn der niemals ganz aufgegebene innige Verkehr mit der Mutter ihm nicht immer wieder die Ideale aufgefrischt hätte, für die er wirken wollte – später, später, bis er zur Ruhe käme.

Und er kam bald zu Ruhe. Das schale Leben der »goldenen Jugend«, mit den ewigen Trinkgelagen und ewigen »kleinen Jeux«, mit den abwechslungslosen Jagd-, Rennstall- und Koulissengesprächen ekelte ihn bald an. Es zog ihn zurück zu seinen Büchern und zu seinen gutsherrlichen Pflichten. Schon im Alter von vierundzwanzig Jahren hatte er sich von dem Treiben seiner Genossen losgerissen. Er zog sich auf Brunnhof – die größte und schönste seiner Domänen – zurück und lud seine Mutter und Schwester ein, bei ihm zu wohnen.

Hier widmete er sich wieder mit verdoppeltem Eifer seinen beiden Berufen – dem einen mit ausübender, dem anderen mit vorbereitender Arbeit. Er unterbrach dieses einsame Landleben nur durch einige Reisen nach Paris, London und Italien. Denn er sah wohl ein, daß man ein Stück Welt gesehen haben müsse, wenn man einst öffentlich wirken wollte.

Das Gebiet seiner Aufgabe hatte sich ihm unversehens stark erweitert. Ursprünglich war es nur die eine – von Tilling überkommene Idee – Bekämpfung der Kriegsinstitution – die ihm als Ziel vorgeschwebt, aber allmählich kam er zur Überzeugung, daß jeder Zustand, jede Einrichtung mit allen anderen Zuständen und Einrichtungen in vielfacher Wurzelverschlingung verbunden ist, und da begann er, sich in andere Probleme zu vertiefen und andere Bewegungen zu verfolgen; überall lauschte er hin, wo ein neuer Geist die alten Formen sprengen wollte. Je weiter er vorwärts drang, desto zahlreicher eröffneten sich ihm immer wieder neue Forschungsfelder. Die Fülle der auf ihn einstürmenden Gedanken und erwachenden Erkenntnisse hinderte ihn daran, sich auf irgend eine bestimmte Aktion zu konzentrieren. Erst mußte er lernen und noch lernen, erst mußte sein gärender Geist Klärung gewinnen, ehe er daran gehen konnte, tätig in das Räderwerk des öffentlichen Lebens einzugreifen. »Später, später!« rief er sich zu und hatte vorläufig darauf verzichtet, sich politisch oder publizistisch zu betätigen. Er bewarb sich nicht um den Reichsratssitz, zu dem ihn sein Großgrundbesitz berechtigt hätte, er schloß sich keinem Vereine an und veröffentlichte keine Aufsätze; er begnügte sich mit Studieren und Denken, mit Schauen und Beobachten. Daß er öffentlich werde wirken müssen, um die in Tillings Vermächtnis enthaltene Aufgabe zu erfüllen, das war ihm klar – aber: später, später.

Als er achtundzwanzig Jahre alt war, entschloß er sich, zu heiraten. Der Besitzer des Majorats und zugleich letzter männlicher Sproß des Hauses Dotzky war einfach verpflichtet, für Vermögens- und Namenserhaltung zu sorgen und sich eine ebenbürtige Gattin zu wählen.

Von Kindheit auf hatte er – halb im Scherz, halb im Ernst – um sich wiederholen gehört, daß die einzige Tochter der Gräfin Griesbach, die kleine Beatrix, seine Frau werden solle. Die Mütter waren Jugendfreundinnen, die Kinder Spielgenossen, und der Gedanke, daß sie einst ein Paar werden sollten, wuchs sowohl bei Rudolf wie bei Beatrix als etwas selbstverständliches, einfaches, garnicht tiefbewegendes noch hochbeglückendes, aber immerhin als etwas ganz erfreuliches heran.

Ohne langes Hofmachen seinerseits, ohne langes überlegen ihrerseits, ohne Überraschung für die Familien und Freunde wurde Rudolfs Werbung vorgebracht und angenommen und sechs Wochen später die Trauung vollzogen. Beatrix war eine anmutige und elegante Erscheinung; in geistiger Beziehung war sie nicht viel über das Niveau ihrer Mutter herausgewachsen, aber Rudolf hatte gar nicht den Versuch gemacht, sie zur Teilnahme an seinen geistigen Interessen heranzuziehen – hierin war und blieb seine Vertraute die Mutter. Bei seiner kleinen Frau wollte er nicht Anregung zu seinen Arbeiten, sondern Erholung finden. Ausruhen wollte er bei ihr und sich aufheitern lassen. Sie besaß ein fröhliches Temperament und fühlte sich durch die glänzende Lebensstellung, die ihr der liebenswürdige und hübsche Gatte bot, vollständig glücklich – da konnte sie wohl durch sonnige Laune und ungeheuchelte Zärtlichkeit die gewünschte Aufheiterung leisten. Für das geistige Ausruhen bürgte ihr gänzliches Unverständnis: mit ihr gab es kein weiteres Ausspinnen der Gedanken, kein Erwägen der Pläne – mit einem Wort: keinerlei weiteres Kopfzerbrechen, in ihrer Gesellschaft mußte man die geistige Arbeit ruhen lassen.

Martha hatte sich dieser Eheschließung nicht widersetzt. Sie hatte die Empfindung, daß Rudolfs Lebensaufgabe und Lebensinhalt außerhalb der häuslichen Verhältnisse lag, etwa wie bei einem von seiner Berufspflicht ganz erfüllten Priester. Rudolfs Schicksal hing nicht an der Gemeinschaft mit einem geliebten Weibe – es hatte ein weiteres Feld. Auf diesem Felde war die Mutter seine Vertraute und Beraterin; vielleicht wäre es dieser sogar schmerzlich gewesen, eine solche Rolle einer anderen überlassen zu sollen. Der große Liebreiz der jungen Gräfin Dotzky, verbunden mit ihrem kindlichen Frohsinn, ließ über ihren Mangel an Geist, über die Seichtigkeit ihres Charakters hinwegsehen. Viele nannten sie entzückend und Rudolf hatte sie von Herzen lieb.

So fühlte sich Martha über ihres Sohnes Eheleben ganz beruhigt und zufriedengestellt. Anders urteilte sie über die bevorstehende Heirat der Tochter. Da war ihr unsäglich bang. Für Sylvia hatte sie stets den Traum genährt, daß ihr in einer harmonischen Ehe ein Glück beschieden sein möge, wie sie selber es an der Seite Tillings gefunden. Und dafür bot ihr das Wesen des jungen Delnitzky keine Bürgschaft.

Es war am Abend des Tauffestes. Sylvia saß beim Fenster in ihrem Zimmer. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen. Das Fenster stand offen Und die laue Sommernachtluft, düftebeladen, strömte herein. Hinter den Baumwipfeln stieg eine glutrote, unnatürlich groß scheinende Mondscheibe empor. Von ferneher leiser Unkengesang und aus nahem Gebüsch die Triller einer Nachtigall.

Sylvias Kopf war an die Fauteuillehne zurückgeworfen und ihre beiden Hände hingen über die Armlehnen hinab. Ihr Atem ging hörbar und kurz durch die halbgeöffneten Lippen; sie selber fühlte das Schlagen ihres Herzens.

Verliebt... Die Wonne dieses Bewußtseins war nicht nur eine seelisch, sondern zugleich physisch empfundene Wonne. Eine süße Wärme, eine seligkeitsahnende Beklemmung in der Brust, eine wogende Betäubung im Kopf.

Beim Abschied – sie standen von den anderen ungesehen in einer Nische der finsteren Ausgangshalle – hatte Delnitzky sie auf den Mund geküßt. Der erste Liebeskuß in ihrem Leben. Jetzt saß sie da und suchte sich dieses Erlebnis, dieses Ereignis wieder zu vergegenwärtigen. Sie war erschüttert, bereichert – verändert mit einem Wort, nicht mehr dieselbe Sylvia, die sie vor einigen Stunden gewesen.

Die Tür ging auf.

»Im Finstern, mein Kind?« Und Martha drückte an den elektrisches Knopf. Ein mattes rosa Licht fiel nun durch die gläserne Deckenampel in den Raum und zeigte die weiß lackierten Möbel, die blumengemusterten Stoffe und Tapeten des frischen, einfachen Mädchenzimmers.

Sylvia sprang auf.

»Habe ich Dich erschreckt?«

»O nein, Mama ... Gut, daß Du kommst ... ich, wäre ohnehin später zu Dir hinüber ... Bitte, setz Dich hierher auf das Sofa ... und laß mich ... so, auf diesem Schemel...« Und Sylvia ließ sich zu ihrer Mutter Füßen nieder und legte den Kopf auf deren Schoß.

Martha strich liebkosend über des jungen Mädchens Scheitel:

»Das ist ja unsere Märchenerzähl-Stellung,« sagte sie lächelnd, »nur sind die Rollen getauscht: jetzt mußt Du mir erzählen. Wie ist das gekommen? ... Morgen will Delnitzky um Deine Hand bei mir anhalten ... Werde ich – werden wir ja sagen? Bist Du mit Dir im Reinen?«

»Glücklich bin ich, glücklich ...«

»Die Frage ist, ob Du glücklich wirst ... Auf die Dauer, meine ich ... für ein Leben ... Paßt Ihr auch für einander? ... Kennst Du ihn als einen Mann, zu dem Du vertrauensvoll aufblicken kannst, von dessen Verstand, dessen Güte, dessen Übereinstimmung mit Deinem Wesen Du überzeugt bist? ...«

»Das sagte ich ihm vor ein paar Stunden selber: »Wir kennen uns nicht.« So wie Du, Mama, empfand auch ich halbe Zweifel ... aber jetzt ist das verscheucht ... Liebe kann nicht so täuschen – und ist Liebe nicht schon an und für sich Gewähr für Glück? Ob fürs ganze Leben ... wer wird gleich so viel verlangen? Ist es nicht schon Erfüllung genug, daß man diese goldene Frucht – das Glück – überhaupt pflücken und die Seele damit laben darf? ... Erinnerst Du Dich, Mama – Du hast mir nicht nur Märchen, Du hast mir auch Geschichten aus Deinem Leben erzählt – erinnerst Du Dich, wie Du Deine Ehe mit Rudolfs Vater eingegangen? Ein Kotillon auf einem Kasinoball – und sein und Dein Schicksal war besiegelt. Warst Du nicht glücklich mit ihm? ... Freilich auch nicht fürs Leben – denn nach einem kurzen Jahr ist er Dir, entrissen worden ... aber war dieses Jahr nicht schön?«

»Mein Kind, das ist etwas anderes... ich war damals so jung, so unausgewachsen an Vernunft und Charakter – während Du, Sylvia –«

»Ich bin doch auch jung –«

»Doch schon zweiundzwanzig ... Ich war damals siebzehn Jahre alt. Aber nicht die Jahre machen es – Du bist ein ernstes Mädchen, ein selbständig denkendes Weib – Du stellst große Ansprüche an die Menschen –«

»Ja, dasselbe habe ich heute meinem Bräutigam gesagt ... dieselben Zweifel ausgedrückt ...«

»Siehst Du?«

»Ausgedrückt habe ich sie, aber ich empfinde sie nicht – wenigstens jetzt nicht. Das Glück, das mich erfüllt, ist stärker als alles – alles andere – ich begreife es ja nicht...«

»Du hast schon so viele Körbe gegeben und unter Deinen abgewiesenen Freiern waren solche, die ich höher einschätze als Delnitzky, Du aber konntest nicht genug zu erwägen, zu tadeln finden. Der war nicht genug universell gebildet, der nicht hochherzig genug – dem mangelte es an funkelndem Geist, dem an edler Milde – kurz, man hätte glauben sollen, Du wolltest Deine Zukunft nur einem Ideal von Vollkommenheit anvertrauen, und jetzt –«

»Und jetzt habe ich das Gefühl, daß es auf der ganzen Welt keinen anderen Menschen gibt, dem ich angehören könnte, als Delnitzky. Märchen sollte ich Dir erzählen, Mama? Da hast Du eins? Ein lichtes Wunder, ganz losgelöst von allem vernünftigen »Warum?« und »Wozu«. Es hat keine Erklärung und braucht keine. Ich bin so glücklich und mir ist, als wäre alles verzaubert, und ich selber bin eine andere, als die ich war. Was ich früher gedacht, überlegt, erwogen – das ist alles zerflattert, zerstoben, etwas Neues umgibt, durchdringt mich, hebt mich empor –«

»Kind, Kind – Du sprichst wie im Rausch –«

»Ja, Mama. Aber nicht der Champagner ist mir zu Kopf gestiegen – ich weiß jetzt, was das Wort Glücksrausch bedeutet.«

»Du bist mir aber noch die Erzählung schuldig. Wie ist es gekommen?«

»Auf dem Wege von der Kirche hat er sich erklärt.«

»Nein – ich frage, wie ist es gekommen, daß er Dein Herz erobert? Allmählich? Plötzlich? – Welche besondere Eigenschaft hast Du an ihm entdeckt?«

»Eine besondere Eigenschaft? Irgend eine wahrgenommene Tugend, die mich zu dem überlegten Entschluß veranlaßt hätte: »Dieser Mensch ist liebenswert – ich will ihn lieben«? So etwas ist nicht geschehen. Zwar hatte ich das stets so erwartet. Da bisher alle meine Bekannten und alle meine eifrigsten Courmacher mich kalt gelassen, sagte ich mir: es hat eben noch keiner so liebenswerte Eigenschaften gezeigt, wie ich sie von meinem künftigen Gatten fordere; wenn sich einer so offenbaren wird, wie mein Ideal beschaffen ist, dann werde ich ihm meine Liebe schenken. Als ob ein solches Geschenk ein willkürlicher Akt wäre! ... Jetzt habe ich erfahren, daß Liebe von jeglicher Willenslenkung unabhängig ist – ebenso gut könnte man aus freiem Entschluß ein Nervenfieber bekommen, wie –«

»Wie ein Liebesfieber? Als eine Krankheit betrachtet meine Sylvia ihr schicksalsentscheidendes Gefühl?«

»Als eine süße, betäubende, gefährliche Krankheit –«

»Warum gefährlich?«

»Weil ich sterben müßte, wenn etwa jetzt ein Hindernis –«

»O, man stirbt nicht so leicht an Schicksalsschlägen und an Seelenschmerz – davon bin ich ein Beispiel. Doch jetzt will ich Dich allein lassen, mein geliebtes Kind ... geh zur Ruh – ein tüchtiger, langer, fester Jugendschlaf wird Dich erfrischen und beruhigen – Du bist jetzt so erregt ... ich will Dich garnicht mit weiteren Ausforschungen plagen. Morgen früh wirst Du mir besser erzählen können, was ich noch wissen will. Gute Nacht, mein. Kind.«

Martha beugte sich über ihre Tochter und strich ihr mit der einen Hand zärtlich über das Haar, während Sylvia die andere an ihre Lippen zog:

»Gute Nacht, Mutter, Freundin – einzige, gute, liebste Mama, ich bin so glücklich ...« Nachdem sie allein geblieben, ging Sylvia wieder zum offenen Fenster und, an die Fensterwand gelehnt, den Kopf auf den zurückgelegten Arm gestützt, schaute sie zum Nachthimmel auf. Jetzt stand der Mond schon hoch am Firmament und goß ein sanftes, blauweißes Licht auf die Büsche und auf die Kieswege des Gartens. Die leise bewegte Luft war von Rosen und Jasmindüften durchweht.

Diese Nachtluft und diese Düfte: wie oft hatte Sylvia deren Zauber empfunden; doch während solcher Zauber sonst eine Verheißung war – heute war er Erfüllung. Ja, das Leben ist schön ... ja, der Lenz mit seinen Blütenschätzen, mit dem geheimnisvollen Glanz seiner Mondnächte, ist Verkünder und ist Spender liebeatmender Entzückung ...

»Wie es gekommen?« Das zog jetzt an Sylvias Geist vorüber.

Vor vierzehn Tagen im Prater – damals blühte noch der Flieder und es war auch so eine laue, helle Frühlingsnacht gewesen – da war im Sacher-Saale ein »Junge-Herren-Ball« veranstaltet worden. Von allen jungen Herren der Gesellschaft galt Delnitzky als der hübscheste und eleganteste. Wenigstens zehn Komtessen schwärmten für ihn und fast alle Mütter wünschten im stillen, daß ihre Töchter ihn erobern mögen – denn er war eine der ersten »Partien« des Landes.

Auf den drei oder vier vorhergehenden Bällen, die Sylvia mitgemacht, hatte der junge Mann besonders auffallend ihr gehuldigt, wodurch sie sich – nicht ohne eine gewisse Genugtuung – als der Gegenstand vielseitigen Neides fühlte. Dann aber, in einer Soiree bei der französischen Gesandtschaft – am Vorabend jenes Praterballes – hatte er sich von Sylvia ganz fern gehalten und in ziemlich ostentativer Weise der jungen Gattin eines alten Diplomaten den Hof gemacht. Eine gemischte Empfindung von Kränkung und Ärger klärte Sylvia darüber auf, daß ihr Delnitzky nicht gleichgültig war.

Am liebsten hätte sie auf den »Junge-Herren-Ball« – den letzten der Saison – verzichtet. Delnitzky unter solchen Umständen wiederzusehen, würde ihr nur Qual bereiten. Es kam aber anders. Gleich bei ihrem Eintritt in den Saal eilte der junge Mann auf sie zu und bat um den Kotillon.

Einen Augenblick war sie versucht, zu erwidern, daß sie vergeben sei, aber ehe sie noch darüber entschied, hatte sie schon unwillkürlich ja gesagt.

Jene junge Frau war auch anwesend, doch wechselte Delnitzky diesmal keine zehn Worte mit ihr. Während einer Tanzpause kam eine ihrer Freundinnen auf Sylvia zu und hängte sich in sie ein:

»Komm, laß uns ein wenig auf und ab gehen – ich habe Dir etwas zu erzählen –«

»Das wäre?«

»Ich bin vorhin von einem Verliebten zur Vertrauten erkoren worden. Zwar kein gar lustiges Amt – man ist in solchen Angelegenheiten lieber der Gegenstand ... aber, da es sich um Dich handelt – von der man weiß, daß Du meine liebste Freundin bist... kurz, ich bin nicht neidisch. Hast Du gesehen, mit wem ich die letzte Quadrille getanzt? ...«

»Ja, mit Delnitzky ... und ich sah ihn eifrig mit Dir sprechen –«

»Was er mir so eifrig sagte, war, daß er sterblich in Dich verliebt ist; daß er Dich aber für kalt und ablehnend hält. Gestern habe er – in seiner Verzweiflung – versucht, einer anderen den Hof zu machen ... er hatte sich vorgenommen, Dich zu meiden – doch heute war dieses Vorhaben wieder umgestoßen; er hielte es nicht aus ... Und er bat mich, Dich auszuforschen – klug und unmerklich auszuforschen, ob er hoffen dürfte. Ich entledige mich dieses Auftrags ... freilich nicht gar klug und unmerklich – wozu auch? Du wirst auf jeden Fall aufrichtig mit mir sein? Nun?«

Sylvia zögerte mit der Antwort. Da fiel das Orchester mit einer rauschenden Walzermelodie ein und mehrere junge Leute traten mit auffordernder Verbeugung vor beide Mädchen hin.

»Freut euch des Lebens«, hieß der Walzer – und wahrlich: diesem von Meister Strauß in Dreivierteltakt erlassenen Gebot gehorchte Sylvia aus vollem Herzen, als sie sich nun von ihrem Tänzer durch den Saal wirbeln ließ.

Der Kotillon, die Krönung der schönen Ballnacht, brachte zwar keine förmliche Erklärung, aber ein durch Blick und Tonfall sich unzähligemal wiederholendes Bewerben und Gewähren. Auf einen Heiratsantrag hätte Sylvia sich Bedenkzeit erbeten, denn sie war durchaus nicht entschlossen, Delnitzkys Frau zu werden – dazu mußte sie ihn doch erst besser kennen lernen –, aber auf die stummen, lieberglühten Blicke gaben ihre Augen, ohne daß sie es hindern konnte, zärtliche Antwort, und seine leidenschaftszitternde Stimme, auch indem er die gleichgültigsten Dinge redete, weckte ein Echo in ihrer befangenen Gegenrede.

Nach dem Kotillon das Souper an seiner Seite – und dann der Aufbruch in den dämmernden Frühlingsmorgen hinaus; er war es, der sie in ihren Mantel hüllte, der ihr das Spitzentuch um den Kopf wand, der sie zum Wagen führte und ihr einsteigen half – mit langem, bebendem Händedruck.

An all das dachte Sylvia zurück. Jetzt war alles besiegelt, er hatte ihre Hand begehrt und sie hatte ja gesagt; er hatte sie geküßt und sie hatte seinen Kuß erwidert ...

Und so war es denn Sylvia ergangen, wie dem ersten besten »Komtessel«, dessen ganzer geistiger Horizont von den Begriffen: Ball, Courmacher, »Passion«, »glänzende Partie« umgrenzt ist. Und doch wie ganz anders war sie geartet. »Ihre Interessen umfaßten eine ganze Welt von Ideen, Kenntnissen und Zeitfragen; an den Bestrebungen und Plänen ihrer Mutter und ihres Bruders hatte sie stets ernsten Anteil genommen. Obwohl von diesen beiden nicht zur tätigen Mitarbeit herangezogen, war ihr doch Einblick in deren Denken und Fühlen gegeben, und auch sie war ein ernstes, von hohen Idealen erfülltes Menschenkind geworden. Und wenn sie von ihrer Zukunft träumte, so pflegte sie sich an der Seite irgend eines bedeutenden Mannes – Gelehrter oder Staatsmann – zu sehen, der seiner Zeit seinen Stempel aufdrücken würde, und der befähigt wäre, diesen Stempel so zu formen, daß den Zeitgenossen wieder um eine Stufe herauf geholfen würde, auf der Skala der Veredlung und Beglückung.

Und jetzt? Jetzt war sie bereit und entschlossen, ihr Leben mit einem Mann zu teilen, von dessen Charakter sie eigentlich nichts, garnichts wußte; von dem ihr keinerlei Bürgschaft geboten war, daß er ihre Träume erfüllen, daß ihm jemals eine hervorragende und einflußübende Rolle zufallen würde, daß er überhaupt ein – Edelmensch sei. Dieses von Tilling geprägte Wort war im Hause geläufig geblieben. Und an ihrem Bruder besaß Sylvia das Urbild aller Eigenschaften, die zu jenem Titel berechtigen; von Toni Delnitzkys Eigenschaften kannte sie eigentlich nur die, daß er ihr Herz in seliger Unruhe pochen gemacht, daß er rasend verliebt schien, und daß er der eine Mann, der einzige auf Erden war, nach dessen Kuß ihre Lippen sich sehnten. Sie war aber nicht verblendet, sie dichtete ihm nicht alle Tugenden an, wie das naiv Verliebten sonst Brauch ist. Sie gab sich Rechenschaft darüber, daß sie dem Bann einer Leidenschaft verfallen war. Es war aber ein so starker und so süßer Bann, daß sie garnicht versuchen wollte, dagegen anzukämpfen. Wozu auch? Es band sie keine andere Pflicht, sie brach niemandem die Treue; – sie setzte nur eines aufs Spiel: ihr eigenes Glück. Das Glück späterer Jahre. Nun, diesen Einsatz konnte sie wagen; war ihr das Glück der gegenwärtigen Stunde und der nächsten Zukunft sicher und fühlte sie doch, daß sie höchstes Glück gewährte, daß sie dem geliebten Freier mit ihrem »Ja« eine beseligende Gabe gereicht, während ihr »Nein« ihm schier unerträgliches Leid zugefügt hätte. Sie empfand, daß sie durch diese Verlobung aus der Alltäglichkeit in ein ungeahntes Fest – in eine Lebens-Sonntagsstimmung gehoben war, aus der sie nicht willkürlich sich herausreißen konnte, ehe die Festnummern absolviert waren, die auf dem rosa Programm prangten ...

Lange noch stand Sylvia am offenen Fenster und sog die balsamische Nachtluft ein. Jeder Atemzug Freude, jeder Pulsschlag Lebensgenuß.


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