Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XXI.

Rudolfs Schrift war erschienen; – eine Anklageschrift; der Titel lautete »das Verbrechen der Kulturmenschheit«. Zugleich gab er eine zweite – eine Verheißungsschrift heraus: »Das Glücksfüllhorn der menschlichen Kultur«.

In der ersten war die ganze Schale seines Zornes auf die Heuchelei, den Blödsinn und die Grausamkeiten ausgegossen, die den herrschenden, sogenannten Kulturzuständen zugrunde liegen. In der zweiten ließ er seiner Begeisterung und seiner Einbildungskraft freien Lauf, um zu schildern, wie das Erdenleben sich gestalten müßte, wenn neben den märchenhaften Errungenschaften der technischen Kultur auch die ethische zur Geltung käme, das heißt: wenn Wahrhaftigkeit, Vernunft und Güte alle gesellschaftlichen Verhältnisse regelten. Absichtlich hatte er diese beiden Aspekte wie er die Welt sah – und wie er sie sehen wollte, nicht in eine Arbeit verschmolzen, sondern getrennt, um Zorn und Verheißung mit gleichem Feuer vortragen zu können – nicht das eine durch das andere gedämpft.

Das nächste Ergebnis dieser Veröffentlichung war –, daß die Broschüren so gut wie gar nicht gelesen wurden. Sowohl die Anklage blieb ungehört, als auch die frohe Botschaft. Zwar brachten einige Blätter Notizen; aus Bekanntenkreisen erhielt er einige anerkennende – auch zwei oder drei tadelnde, von anonymen Schreibern sogar einige grobe Briefe – aber eine Revolution machten die Schriften nicht, nicht einmal Lärm. Es war da wieder einmal ein Fingerhut voll Pulver zum Sprengen einer Gebirgskette angewendet worden.

Aber gleichviel. Eine kleine Schrift von unberühmter Feder kann die Welt nicht aufstören. Ihr Zweck war auch ein anderer. Rudolf hatte sich sozusagen das Programm vom Herzen geschrieben, das er seinem Apostolat zugrunde legen wollte. Er wußte ja, daß das, was er unternahm, eine langjährige Kampagne werden mußte, um irgendwie durchzubringen – und vorläufig war in den beiden Schriften zu dieser Kampagne der Plan abgesteckt. Er hatte hineingelegt, was ihm in manchen Nachtstunden überkam, wenn er zwischen Wachen und Träumen lag und an sein Lebenswerk dachte – nämlich, tiefgeekelte Entrüstung über obwaltende Schildbürgereien, Bosheiten und Gemeinheiten und dann wieder frohlockendes Erfassen der Glücksmöglichkeiten einer schöneren Zukunft und der schon vorhandenen Ansätze dazu. Er mußte sich aber selber sagen, daß seine Ausführungen, wie sie da auf dem Papiere standen, nur ein ganz matter Abklatsch jener nächtlich heftigen Gefühlsanwandlungen und grellen Gedankenblitze war, das kam daher – sagte er sich: zum Schreiben hat man nur Worte, – festgeprägte, an alte Erkenntnisse geknüpfte Worte, die Gedanken hingegen, vom Gefühle sekundiert, operieren mit Ahnen und Sehnen, mit inbrünstiger Neuerkenntnis von Dingen, für die im bestehenden Wortschatz der Ausdruck noch nicht geprägt ist. »Wenn ich denke«, so erklärte er einmal im Gespräch mit Kolnos diesen Kontrast: »so bewegt sich mein Geist mit Schwingen und wenn ich schreibe – in Galoschen.«

Unter den Briefen, die ihm infolge seiner Publikation zugekommen waren, fiel ihm einer auf in verstellter Frauenhand und ohne Unterschrift. Es waren nur wenige Zeilen:

»Die Lektüre Ihrer beiden Schriften – die Titel sind mir zu lang, ich nenne sie »die Hölle und das Paradies« – haben mich tief ergriffen und ich muß es Ihnen sagen. Wenn Sie auch nicht wissen, wer es sagt – ich glaube, es wird Ihnen immerhin lieb sein, zu erfahren, daß Ihre Worte eine Schwesterseele – die empfängliche Seele eines jungen Weibes – in gehobenste Mitschwingung versetzt haben.

Übrigens nicht um Ihnen angenehm zu sein, schreibe ich dieses, sondern um meine eigene Sehnsucht zu befriedigen, die Sehnsucht, Ihnen zu sagen, daß mein Herz in hingebender Bewunderung für Sie schlägt. Das niedergeschrieben zu haben und mir vorzustellen, daß Sie es lesen werden, das tut diesem Herzen wohl.«

Rudolf war nicht unempfänglich für den warmen Ton, der aus dem anonymen Briefchen sprach. Aber nachdem er es beiseite geschoben, und die anderen mit gleicher Post angelangten Zuschriften las, dachte er nicht mehr daran.

Was ihm mehr zu denken gab, war ein amtliches Schreiben aus dem Kriegsministerium, das ihn für den nächsten Vormittag, zehn Uhr, in die Kanzlei des Ministers beschied. Er ahnte wohl, was da kommen würde. Der Gang war ihm ein unangenehmer, aber er mußte getan werden. Am folgenden Tag fand er sich pünktlich zur bestimmten Stunde am bestimmten Orte ein.

Der Kriegsminister war ein Vetter vierten Grades seines verstorbenen Vaters und oft war er mit ihm in befreundeten Häusern zusammengekommen, hatte ihn auch einmal als Jagdgast in Brunnhof empfangen. Aber diesmal sollte er dem Gestrengen nicht in verwandtschaftlichem, noch in gesellschaftlichem, sondern in dienstlichem Verhältnis gegenüber treten, in seiner Eigenschaft als Oberleutnant der Reserve.

Der Minister war allein in seinem Kabinett, als Rudolf, von einem Ordonnanzoffizier gemeldet, dasselbe betrat.

Der alte Herr, dessen Physiognomie immer eine martialische war, nahm einen ganz besonders strengen Ausdruck an und mit schnarrender Stimme sagte er:

»Ah – Herr Oberleutnant Dotzky – kommen Sie nur her.«

Rudolf, der in einiger Entfernung salutierend stehen geblieben war, trat näher. Die Ansprache bedeutete nichts gutes. Außerdienstlich waren die beiden Männer auf dem Duzfuße. Das unfreundliche »Sie« kehrte den Vorgesetzten heraus. »Sagen Sie« – er nahm von seinem Arbeitstisch zwei gelbe – Rudolf gar wohlbekannte Hefte und hielt sie, eins in jeder zitternden Hand – in die Höhe – »haben Sie diese beiden Wische geschrieben?«

»Ja, Exzellenz. Ich habe die Schriften ja auch gezeichnet.«

»Aber Sie Unglücksmensch – wissen Sie, was nun geschehen muß?«

»Ich kann es mir ungefähr vorstellen. Ich werde aus dem Armeeverband scheiden müssen.«

»Und eine solche Schand' – die wollens so gleichmütig hinnehmen?«

»Ich habe mir das Recht, zu sagen was ich will, schon sehr hoch bezahlt, in dem ich auf das Majorat verzichtete – da kommt es auf einen Verzicht mehr oder weniger nicht an. Als Schande empfinde ich die Freiheit nicht. Ich werde eines Ranges für verlustig erklärt, der mich zwingen soll, Dinge mit anzusehen, die ich verurteile. Diese Verlusterklärung ist berechtigt, aber sie beschämt mich nicht. Wäre es möglich, einfach seinen Austritt aus der Reserve anzumelden, so hätte ich es getan, da das aber nicht angeht, so –«

»Aber Dotzky – bist Du denn ganz verrückt«, unterbrach der Minister, in das verwandtschaftliche Du zurückfallend – »ist die Geschichte mit dem Majorat wirklich wahr? Ich hab's nicht glauben wollen.«

»Ja, ich will ungebunden sein.«

»Das ist ja niemand auf der Welt. – Jeden binden Pflichten – von unserem allerhöchsten Kriegsherrn angefangen, an dessen Pflichttreue jeder sich ein Beispiel nehmen kann.«

»Gewiß. Aber auch ich habe nur aus Pflichtbewußtsein gehandelt.«

»Und was in aller Welt willst Du denn mit solchen revolutionären Schriften erreichen? Ich habe meinen Augen nicht getraut, wie ich's durchgeblättert hab'.«

»Ich bin nicht revolutionär. Ich sage, was schlecht ist in unserer Gegenwart und was gut werden könnte in der Zukunft. Ich sage aber nicht, daß der Weg vom schlechten Alten zum guten Neuen über die Revolution führt. Von Gewalt will ich nichts wissen weder von oben, noch von unten. Nicht eine Zeile wird in diesen Schriften zu finden sein, die zu irgend einer Gewalttätigkeit aufreizen will.«

»Und ich sage Dir, es ist nicht eine Zeile darin, vom Titel angefangen, die nicht Auflehnung bedeutet. Verbrechen der Kulturmenschheit. Mein Amt ist auch ein Stück unserer Kultureinrichtungen ... Bin ich ein Verbrecher? ... Kurz, Sie haben sich unmöglich gemacht. – Ich hätte Sie für gescheiter gehalten. Wissen Sie denn nicht, daß ein Soldat nicht offene Kritik üben darf an Dingen wie die Gesellschaftsordnung oder gar das Militär selber?«

» Wer darf also Kritik üben – da bei der allgemeinen Wehrpflicht jeder Mann Soldat sein muß – nur Frauen, Kinder, Greise und Krüppel? Und da faselt man von Freiheit –«

»Du hast furchtbar vertrakte Ideen. Aber schließlich – ich will die Sache zu applanieren trachten. Es hängt ja in letzter Instanz doch von mir ab. Wenn Du wirklich nachweisen kannst, daß Du nichts direkt Beleidigendes und nichts zur Auflehnung Ermunterndes gesagt und gemeint hast, und auch in Zukunft –«

»Auch in Zukunft werde ich nie zur Gewalt aufmuntern oder zum Hasse aufhetzen. Diese beiden Dinge sind ja eben das, was ich bekämpfe.«

»Halte Dich in Zukunft lieber ganz still –«

»Wenn das die Bedingung Ihrer Nachsicht sein soll, Exzellenz, dann möchte ich schon bitten, es bei der Strenge bewenden zu lassen – denn zum Schweigen kann ich mich nicht verpflichten.«

»Na, wir werden ja sehen, wie Du Dich weiter aufführst. Einstweilen betrachten Sie sich als gewarnt, Herr Oberleutnant Graf Dotzky.«

Und damit war Rudolf entlassen.

Er verließ das Kabinett des Ministers in trüber Stimmung ... Es war ihm, als fühlte er Kugeln an den Füßen und Handschellen an den Händen. Das ganze Kriegsgebäude, das er nun durchschritt, mit seinen schmucklosen Sälen, seinen weiten Gängen, seinen Treppen, über die uniformierte Menschen auf und nieder eilten, machte ihm den Eindruck eines Gefängnisses. Und vor dem Tor die schwarzgelbe Barriere, die Schilderhäuschen, der Trupp von Soldaten, die neben dem Tor auf der Bank saßen – das alles, was er doch so oft gesehen, erschien ihm heut in ganz neuem Licht ... wie eine Mahnung, daß das Bestehende feststeht, daß es voll organischen Lebens ist und daß die Versuche, es umzustoßen, daran zerstieben müssen, wie der Schaum einer kleinen Welle an Meeresfelsen.

Und als er nun ganz herausgegangen und den Platz »am Hof« vor sich sah, erschien ihm auch diese altbekannte Szenerie in einem ganz besonderen Licht. Es hatte die ganze Nacht geregnet, das Pflaster glänzte im schwarzen Naß und es regnete noch immer; zugleich brach aber ein Sonnenstrahl aus den Wolken und spielte um das Haupt des Radetzky-Denkmals. Der alte Feldmarschall sitzt zu Pferde, dem Kriegsgebäude kehrt er den Rücken und mit der ausgestreckten Hand scheint er die zahlreichen Hökerinnen zu segnen, die auf diesem Platze allmorgendlich Gemüse verkaufen. Auf der andern Seite des Platzes, dem Kriegsgebäude gegenüber, steht das Palais der Nunziatur – auch so ein ragender Fels, an dem so manche Wellchen zerschellen ... Es war ein lärmendes Gewimmel, vor allen Ständen die feilschenden Köchinnen mit ihren Einkaufskörben, auf dem Straßenpflaster das Gerassel der Fiaker, Einspänner, Omnibusse, Frachtwagen und auch – von allen Gefährten das jammervollste – ein Kälberwagen; hin- und hereilende geschäftige Leute, die mit ihren Regenschirmen aneinander stießen – das Ganze ging Rudolf furchtbar an die ohnehin gespannten Nerven. Es überkam ihn jenes müde und traurige Gefühl, das sich in dem Stoßseufzer Luft machte: Ach, tot sein! ... Und da fielen ihm seine Toten ein. Die liebliche Beatrix, mitten aus der Jugendfülle und von des Lebens Höhen in die finstere Gruft geschleudert – und sein armer kleiner Fritz! Was gäbe er darum, wenn er die beiden noch besäße ... unvergossene Tränen schnürten ihm die Kehle zu.

Als er aber wieder in seine Wohnung gekommen und an den Schreibtisch trat, auf dem die unterdessen eingelaufenen Briefe und Blätter und seine angefangenen Arbeiten lagen, da ward diese Anwandlung mutlosen Trübsinns bald verscheucht. Die Sorgen, die sein eigenes Los betrafen, mußten verschwinden angesichts der großen Sache, der sein Leben nun ganz geweiht war. Die Briefe, die mit der letzten Post gekommen waren, trugen viel dazu bei, die niedergeschlagenen Gefühle zu bannen, die ihn beim Verlassen des Kriegsministeriums übermannt hatten. Dort war er in der so starr und unumstößlich scheinenden alten Welt gewesen, wo alles wie in enge Eisenreifen eingeklemmt ist; und die Briefe hier brachten Kunde der verheißungsreichen, sich dehnenden, werdenden Welt. Signale von Mitkämpfenden, Mithoffenden, Mitwissenden. Es war ihm, als riefen alle diese ihm zu: Nur Mut, nur Ausdauer – wir sehen schon die gelobte Stadt, wir rütteln an ihren Toren – hilf mit!


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