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An diesem Abend ging Sylvia in die Oper. Auf dem Zettel stand »Der Prophet« und darin war Antons Flamme nicht beschäftigt. Sylvia pflegte nur die Opern zu besuchen, in denen jene nicht sang.
Sie war allein in ihrer Loge; ihr Mann hatte sie nur hergeleitet, dann aber, eine wichtige Sitzung vorschiebend, das Theater wieder verlassen; für ihn gab es nichts Langweiligeres als musikalische Aufführungen, die nicht durch die Gegenwart seiner Schönen belebt waren.
Sylvia gab sich dem Genusse des von Bühne und Orchester strömenden Wohllauts hin. Ein schwermütiger Genuß, denn sie fühlte sich zugleich unglücklich – einfach unglücklich. »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide«; das war der Grundton ihrer Stimmung.
Sehnsucht – wonach? Nach einem großen Erlebnis, nach – – sie wußte es selber nicht, aber ihre Existenz war so furchtbar öde ... Für immer gebunden an einen nicht mehr geliebten Mann, der sie noch dazu in stadtbekannter Weise betrog ... Warum war es ihr nicht beschieden gewesen, einen Gatten zu finden, mit so weitem geistigen Horizont, mit so tiefem Gemüt, wie z.B. ihr Bruder – ober begabt mit einer schöpferischen Feuerseele, wie – ach nein, es ist besser, an Hugo nicht zu denken. Der Mann könnte ihr gefährlich werden ... Das fehlte noch, daß sie sich verliebte ...
Der Vorhang war über dem ersten Akt gefallen. Der Saal erhellte sich. Nach einer Weile ging die Logentür auf: es war Bresser.
An einer heißen Beklemmung, die ihr Atem und Stimme raubte, sodaß sie die Begrüßung ihres Besuchers nur mit einer stummen Gebärde erwidern konnte, wurde Sylvia gewahr, daß die vorhin in Gedanken aufgetauchte Gefahr, daß sie sich verlieben könnte, schon näher war, als sie geglaubt.
Mit der Fächerspitze deutete sie auf einen Sessel. Dankend machte Hugo von der so erteilten Erlaubnis Gebrauch.
Daß er seinen Blick mit Bewunderung auf sie heftete, bemerkte sie wohl, und sie hatte das für jedes junge Weib – angenehm anregende Bewußtsein, gerade besonders vorteilhaft auszusehen – en beauté zu sein, wie die bezeichnende Redensart lautet. Sie fühlte ihre Wangen glühen und wußte, daß sie hier im Rahmen der Loge, in ihrem halbausgeschnittenen schwarzen Samtkleid und mit den blitzenden Diamantsternen im gewellten Haar ein hübsches Bild abgeben mußte.
»Es wundert mich«, sagte sie, »daß Sie nicht vorgezogen haben, ins Burgtheater zu gehen.«
»Weil ich selber Dramen schreibe, meinen Sie? Um zu lernen?«
»Um sich Begeisterung, Eingebung für Ihre Kunst zu holen.«
»Wenn ich das tun will, so gehe ich in die Oper – Musik zaubert mir zehnmal mehr dichterische Stimmung herbei, als ein Schauspiel. Übrigens bin ich heute hierher gekommen, weil ich wußte, daß ich Sie da sehen würde ... Von weitem sehen, denn ich glaubte, Ihre Loge würde so gefüllt sein, daß ich mich nicht hätte eindrängen wollen – Sie waren aber allein –«
»Ja – sehr«, antwortete Sylvia mit einem unwillkürlichen Seufzer.
»Sehr allein?« wiederholte Hugo. »Die beiden Worte führt der Sprachgebrauch sonst nicht zusammen – ebenso wenig wie sehr tot, doch – es ist so richtig – im Alleinsein gibt es Steigerungen. Nicht in der Einsamkeit – mitten in der Menge ist man oft am alleinsten. Und das Gegenteil von Alleinsein ist – Zweisein ...«
»Vorausgesetzt, daß die zwei – eins sind.«
»Das habe ich sagen wollen.« Eine Pause.
Dann sprach Sylvia wieder.
»Ich möchte Sie eines fragen, lieber Bresser. Sind Sie glücklich? Freuen Sie Ihre Erfolge? Und haben Sie in Berlin solche – Zweisamkeit gefunden?«
»Das war nicht eine Frage, das sind drei Fragen, Frau Gräfin. Glücklich? Nein, ich fühle mich nicht glücklich. Erfolge? Mein Gott, es gibt in meinem Beruf keine Erfolge, auf denen man sich gewissermaßen freudig und ruhig ausatmen könnte ... Es ist, wie wenn man auf einer steilen Leiter hinaufklimmt, man freut sich nicht der erreichten Staffel, sondern strebt ängstlich nach der nächsten, von der man ja wieder ganz herabkollern kann. Und die dritte Frage ...
»Die nehme ich zurück – sie war indiskret.«
»Das nicht, aber für Sie ohne Interesse. Ich beantworte sie dennoch: mein Herz ist nicht in Berlin.«
Wieder öffnet sich die Logentür: – Minister von Wegemann.
Nachdem er ein paar Worte mit Sylvia getauscht, begrüßt er sehr herablassend den jungen Bresser:
»Sieht man Sie wieder einmal zu Hause? Das ist schön ... Jetzt bleiben Sie doch da ... ein guter Österreicher kann sich doch nicht immer in Preußen herumtreiben.«
»Ich bin nur auf kurze Zeit hierher gekommen, Exzellenz.«
»Deutschland und Österreich sind doch alliiert«, fiel Sylvia ein – »warum sprechen Sie das Wort Preußen so gehässig aus?«
»Allerdings – verbündet sind wir; andrerseits habe ich sechsundsechzig niemals ganz verwunden, und abgesehen von allen politischen Erwägungen, denen ich ja jetzt fernstehe, ist es mein Privatgefühl, daß man sich nirgends so wohl fühlen kann, wie in unserem alten Wien, und daß ein Mensch, der nicht im Ausland leben muß, zu Hause bleiben sollte ... Wie geht's dem Toni, ist er nicht da?«
»Danke, es geht ihm gut. Er ist in einer Sitzung ...«
»Ah? Und was macht Rudolf? Sagen Sie mir, Sylvia«, fügte er leiser hinzu, »könnten Sie nicht ein bißchen ihren schwesterlichen Einfluß geltend machen und ihm seine Schrullen ausreden? ... Ich meine es ja gut ... er fängt an, bei vielen Anstoß zu erregen – er kann sich noch ganz unmöglich machen ...«
»Womit – was meinen Sie?«
»Mit seinen verschrobenen Ideen ... Neulich, im Kasino, wir waren da lauter Staatsmänner und Militärs, machte er einen Ausfall gegen die ganze Gesellschaftsordnung, als ob er ein roter Sozi wär' ... das verstehen Sie nicht ... ich war wie auf Nadeln ... geben Sie ihm einen Wink.« Dann wandte er sich wieder laut zu Bresser:
»Sie haben ja ein Stück geschrieben, das in Berlin aufgeführt worden ist – hat mir neulich Ihr Vater erzählt. Hoffentlich nicht im neuen, naturalistischen Genre, was? – wie ein gewisser Hauptmann –«
»Hm«, machte Bresser, »der gewisse Hauptmann hat das Zeug, einer unsrer großen Dichter zu werden – ich maße mir nicht an, ihm gleichzukommen.«
»Trachten Sie unserem Grillparzer gleichzukommen?«
»Auch das maße ich mir nicht an – ich versuche überhaupt nicht, irgend jemand nachzuahmen. Mein Glas ist klein, aber ich trinke aus meinem Glase, sage ich mit Alfred de Musset.«
Als der Vorhang wieder aufgezogen wurde, entfernte sich Herr von Wegemann. Hugo, durch ein Zeichen Sylvias aufgemuntert, blieb zurück.
Sie wandten nun schweigsam ihre Blicke der Bühne zu. In schwellenden Wogen flutete die Musik durch den Saal. Was der abwechselnd süße und heroische Gesang, was die Harfenklänge und die rauschenden Akkorde des Orchesters ausdrückten, das empfanden die beiden jungen Menschenkinder als die Offenbarung dessen, was sie einander zu sagen hätten – wie eine Art melodische Gedankenkommunion.
Beim folgenden Zwischenakt kamen wieder einige Besucher in die Loge, und diesmal räumte ihnen Hugo den Platz.
Als er sich von Sylvia empfahl, frug er, ob sie gestatte, daß er morgen seinen Abschiedsbesuch mache, da er am übernächsten Tag nach Berlin zurückreisen werde.
Diese Nachricht versetzte ihr einen leisen Schlag – die Anwesenheit des jungen Dichters in Wien hatte ihr eine Erhöhung des Lebensinteresses bedeutet.
»Wie? so bald schon?« rief sie, ihm die Hand schüttelnd. »Also morgen! Um halb fünf«, fügte sie leiser hinzu – die anderen brauchten es nicht zu hören.
Am folgenden Tag zur bezeichneten Stunde fand Hugo die junge Frau allein.
Als er ihren kleinen Salon betrat, erhob sie sich vom Klavier, auf dessen Pult die Partitur des »Propheten« aufgeschlagen war.
Sie begrüßte ihn mit erzwungen ruhiger Freundlichkeit. Und nachdem sie sich gesetzt hatten:
»Also wirklich – Sie wollen sich verabschieden? ... Der Entschluß zu dieser Rückreise scheint Ihnen plötzlich erst gestern abend gekommen zu sein?«
»Ja, Gräfin, gestern abend.« Eine Pause
»Ihrem Vater wird es leid tun.«
»Meinem Vater tut es sehr leid.«
Nach einer abermaligen Pause sagte Sylvia:
»Mir auch ... Sie stellen doch ein Stück meiner ersten Erinnerungen dar – als Kinder haben wir oft miteinander gespielt und jetzt – ich gestehe, ich habe mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen ... und so – gewachsen zu sehen. Was Sie alles von Ihren dichterischen Versuchen und Erfolgen erzählen, interessiert mich ... Der Einblick in einen Künstlergeist ... kurz, es tut mir sehr leid, daß Sie abreisen ...«
»Wenn Sie es befehlen, so bleibe ich.«
»Ah, ich habe nichts über Sie zu befehlen«, antwortete sie rasch.
Sie war über diese Wendung erschrocken. Vielleicht wäre es besser, wenn er abreiste ... sie erriet, daß sein Motiv dazu dieselbe Gefahr sei, die auch ihr vorgeschwebt.
»Sie haben alles über mich zu befehlen! – Wenn ich Ihnen aber einen Einblick – nicht in einen Künstlergeist, sondern in ein armes Menschenherz gäbe, Sie würden mir vielleicht gebieten, nicht nur daß ich jetzt abreise, sondern daß ich überhaupt nie wieder komme. Sie verstehen, was ich sagen will ... ich sage es aber nicht, weil das eine Vermessenheit wäre, zu der ich nicht berechtigt bin ...«
Sylvia schüttelte unwillig den Kopf.
»Sie haben es doch gesagt ... Reden wir vernünftig, Herr Bresser. Daß Sie einmal in mich verbrannt gewesen, das weiß ich ja aus einem närrischen Brief, den ich an meinem Hochzeitsmorgen erhielt. Darüber sind nun bald drei Jahre vergangen ... Sie sind in ein ganz neues Leben getreten, haben die alte Schwärmerei, wenn nicht vergessen, so verwunden – das Kopfschütteln gilt nicht. Ihre Arbeit und – was weiß ich, ich frage nicht danach – vielleicht auch neue Herzensbande füllen Ihre jetzige Existenz aus, also tun wir, ich bitte, als wäre niemals jener Brief geschrieben, niemals Ihre Andeutung von vorhin gemacht worden ... ausgelöscht, das Ganze ausgelöscht ... und um mit dem Thema ein- für allemal fertig zu werden, erkläre ich nun mit aller Entschiedenheit, daß Sie nichts, nichts, nichts von mir zu hoffen haben – außer dem freundschaftlichen Verkehr einstiger Jugendgenossenschaft, den in alter Herzlichkeit. Also reisen Sie nach Berlin, wenn Ihre Geschäfte oder Ihre Neigung Sie dahin rufen ... aber nur keine Flucht, ich bitte ... das würde mich beleidigen. So, das war das letzte Wort über diesen Zwischenfall – ich werde ihn nie wieder erwähnen – auch Ihnen verbiete ich, jemals darauf zurückzukommen. Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrer neuesten Arbeit.«
Sie hatte sehr schnell gesprochen, über und über rot dabei.
Hugo hatte nicht versucht, sie zu unterbrechen. Ihre Worte – sie sprach ja von seiner Liebe – bewegten ihn wonnig, betäubten ihn – fast wie eine Liebkosung.
Die Dämmerung war hereingebrochen. Ein Diener brachte die Lampen und schürte das Kaminfeuer. Dann entfernte er sich wieder. Das Lampenlicht war von großen, roten Schirmen gedämpft und auch aus dem Kamin flackerte roter Schein über den Teppich; – eine unsäglich trauliche Stimmung war in dem prunkvollen, kleinen Gemach verbreitet.
Bresser stand auf und lehnte sich an den Kaminsims; dadurch war er der jungen Frau etwas näher gekommen.
»Ich werde Ihnen gehorchen, Gräfin Sylvia, in allen Stücken«, sagte er in sanftem, zärtlichen Ton.
»Das ist recht.«
»Einstweilen bleibe ich noch in Wien. Ich kann hier die Arbeit, die ich begonnen habe und um die Sie mich fragen, mit mehr Muße vollenden als in Berlin, wo meine vielen Kollegen mir keine Ruhe lassen.«
»Was ist diese Arbeit?«
»Ein Märchendrama in Versen. Der erste Akt ist fertig – ich werde Ihnen ihn vorlesen – und Sie sagen mir, ob ich den richtigen Ton getroffen.«
»Haben Sie das Manuskript bei sich?«
»Nein, ich bringe es das nächste Mal, wenn Sie erlauben.«
»Gut – morgen.«
»Gut, morgen: wie mir das freundlich klingt – nachdem ich mich schon dazu verurteilt hatte, morgen über alle Berge zu sein. Als ein Begnadigter fühle ich mich.«
Und am folgenden Tage kam er. Um dieselbe Dämmerstunde wie gestern.
Doch diesmal waren die Lampen schon angezündet und Sylvia war nicht allein. Baronin Tilling saß bei ihr.
Als Sylvia den jungen Mann eintreten sah, stockte ihr der Atem und sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Sie war froh, nicht allein zu sein; nur war ihr der forschende Blick etwas peinlich, den ihre Mutter, welche das plötzliche Farbenwechseln vielleicht bemerkt hatte, nun auf sie heftete.
»Guten Abend, Herr Bresser«, sagte sie, etwas unsicher. »Haben Sie Ihr Manuskript mitgebracht?« Sie deutete auf eine Rolle, die er in der Hand hielt.
»Ja, das ist es.« Er legte die Rolle auf einen Tisch. »Ich lasse es hier – zur gelegentlichen Durchsicht.« Dann näherte er sich der Baronin Tilling und küßte ihr ehrerbietig die Hand.
»Ihr neuestes Werk?« fragte diese.
Sylvia aber nahm das Manuskript und wollte es ihm zurückgeben.
»So haben wir nicht gewettet. Sie versprachen mir, vorzulesen.« »Ich weiß nicht, ob die Baronin ...«
»O, ich würde unendlich gern etwas von Ihnen hören – wenn Sie meiner Tochter versprochen haben, eine Ihrer Dichtungen vorzulesen, dann lassen Sie mich an dem Genusse teilnehmen –«
So aber hatte er nicht gewettet. Allein mit der angebeteten Frau, ihr mit seinen Versen seine Seele ausschütten ...: das hatte er von der verheißenen Stunde erhofft, » Two is company, three is none« – die Richtigkeit dieses englischen Sprichworts schien ihm wieder einmal bewährt. Sich jetzt hinsetzen und den beiden Damen seinen neuesten dramatischen Versuch vortragen, wie um die eigene Eitelkeit zu befriedigen, oder als ob er sich Kritik und Rat holen wollte: – nein, das verhielte sich zu der geträumten innigen Geisteskommunion wie ein Drehorgelstück zu Sphärenmusik – –
»Ich bin ein schlechter Vorleser«, sagte er. »Die Gräfin wird, wenn sie einmal Zeit hat, in dem Fragment blättern.«
»Nur ein Fragment?« fragte Martha.
»Ja, der erste Akt eines Dramas. Mehr habe ich nicht fertig.«
»Aber doch den Plan der nächsten Akte?«
»Der ist noch schwankend.«
Sylvia nahm die Papierrolle:
»Wenn Sie nicht vorlesen wollen, so werde ich es tun!«
Sie setzte sich zurecht und schlug das Manuskript auf.
Wieder durchzuckte der Anblick von Hugos Schrift sie mit der Erinnerung an den heißen Liebesbrief, den er ihr damals geschrieben ... Und tot war ja diese Liebe nicht – das wußte sie – nur zu ewiger Stummheit verdammt. Und doch wieder nicht: einem Dichter kann der Mund nimmer verschlossen werden. Was er einer in direkter Anrede nicht sagen durfte, das konnte er ja – allen vernehmlich und nur einer verständlich – in seinem Gesange aussprechen. Ihr war, als müßte sie nun in dem aufgeschlagenen Hefte gar manche Stelle finden, die an sie gerichtet war, die ihr Leidenschaftliches und Süßes ins Ohr flüstern würde ...
»Gut«, sagte Hugo, »lesen Sie, Gräfin. Meine Verse von Ihnen zu hören, wird mich ganz eigentümlich berühren und – belehren; ich werde besser beurteilen können, als wenn ich selber lese, wie die Verse klingen ... Wenn es Sie also nicht langweilt, Frau Baronin – –«
»Mich?« rief Martha lebhaft, – ganz im Gegenteil, ich bin sehr gespannt – lies, mein Kind.«
Sylvia rückte näher zur Lampe und begann zu lesen. Hugo lehnte sich in seinem Fauteuil so zurück, daß sein Kopf im Schatten des Lampenschirmes verborgen war; sein Blick hing an Sylvias Zügen, deren Spiel bewegt und ausdrucksvoll den ebenso bewegten und ausdrucksvollen Stimmfall begleitete. Das melodische Organ war bei manchen Stellen weich und zitternd und erhob sich bei anderen zu feuriger Kraft, aber beides geschah – nicht in deklamatorischer Absicht, sondern in unwillkürlicher, deutlich verhaltener Ergriffenheit.
Mit großem Interesse lauschte Martha dem Inhalt des Stückes, mit noch größerem beobachtete sie ihre Tochter.
An sie gerichtete Worte, wie sie erwartet hatte, konnte Sylvia in den vorliegenden Versen nicht finden, denn von Liebe und Liebessachen war nicht die Rede; aber eine Sprache von solchem Schwung und solcher Schönheit fand sie darin, wie sie es nicht erwartet hatte.
Kräftig und klirrend wie Trompetenschall, dann wieder sanft und einlullend wie das Plätschern einer mondbeschienenen Fontäne, von wilder Fröhlichkeit wie Mänadentanz und banger Schwermut wie Grabesläuten, so wechselten die Rhythmen, so reihten sich die Strophen in überraschend neuen Wortverschlingungen aneinander – im Schmucke ebenso neuer Bilder von tiefglühenden Farben oder mattschimmerndem Glanz. Und diese ganze Ausdruckspracht als Gewandung erhabener und lieblicher Gedanken, kühnsten Phantasiefluges und leidenschaftlich pulsierender Gefühlskraft. Die Leserin überkam eine genußvolle Bewunderung, wie nur vollendete Kunstwerke sie einzuflößen pflegen; von der Begeisterung, die in diesen Versen vibrierte, strömte Mitbegeisterung in ihre Seele über – sie war gehoben und beglückt. Als sie das letzte Wort gelesen und die Hand, die das Heft hielt, sinken ließ, holte sie einen tiefen, zitternden Atemzug: sie liebte einen Dichter – einen großen Dichter.
Auch Martha war hingerissen.
»Wundervoll!« rief sie. »Sie haben eine große Zukunft vor sich, Bresser. Und, Sylvia, ich muß sagen – Du trägst sehr schön vor.«
Die beiden anderen blieben stumm. Nach einer Weile ergriff Martha von neuem das Wort, um von der Handlung des eben gelesenen Dramenfragments zu sprechen und zu fragen, wie dieselbe sich weiter entwickeln werde.
»Einen ursprünglichen Plan habe ich verworfen, während dieser Akt entstand – also kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wie ich die Handlung weiterführe. Eine ganz neue Wendung hat sich mir – durch die zufällige Eingebung einer einzigen Reimzeile – aufgedrängt – und das muß nun erst reifen, ehe ich überhaupt an dem Stücke weiterarbeiten kann.«
»Das also sind die geheimen Vorgänge des Schaffens?« sagte Martha nachdenklich.
»Ich denke«, erwiderte Bresser, »daß diese Vorgänge bei jedem Künstler andere sind.«
Sylvia schwieg noch immer. Sie war wie in einen Traumzustand versetzt, aus dem sie sich nicht durch den Klang der eigenen Stimme reißen wollte. Warm und beseligend – wenn auch zugleich beängstigend – strömte ihr vom Herzen das Bewußtsein auf, daß da ein Mensch vor ihr war, dessen Scheitel mit der höchsten irdischen Krone – mit der des Genius – geschmückt war, und von diesem Menschen wurde sie geliebt ... ihn wiederzulieben war süßester Zwang. Die Dichtung war ihr zu Kopf gestiegen, ihre Seele taumelte im Bewunderungsrausch.
Unerwartet trat Delnitzky herein. Damit war der Bann gelöst. Wie aus einem Traum erwachend, fuhr Sylvia empor, es war, als hätte ein kalter Luftstrom ihre Schläfe berührt und den Rausch verscheucht.
»Grüß Euch Gott alle miteinander ... Küß die Hand, Mama ... ah, Herr Bresser ... freut mich – noch immer in Wien? Ich hab' geglaubt, Sie sind schon nach Ihrem geliebten Preußen abgedampft ... Du, Sylvia, ich wollte Dir sagen, ich hab' heute zwei Freunde zum Essen eingeladen ... den Felsegg und den Milovetz.«
»Gut«, sagte sie.
Er warf sich in einen Fauteuil:
»Bei was habe ich die Herrschaften gestört?«
»Sylvia las uns aus einem Drama vor – von Herrn Bresser.«
»So. Da hab' ich was versäumt ... Na, wir werden ja Ihre Stücke vielleicht einmal in der Burg sehen, was? Das ist mir lieber als vorlesen hören ... Dazu hab' ich gar kein Talent, oder keine Geduld.«
Hugo empfahl sich bald. Als er, sich verabschiedend, Sylvias Hand küßte, sagte er:
»Sie haben nicht ein Wort des Urteils geäußert, Gräfin – soll ich das als stummen Tadel auffassen?«
Mit festem Händedruck und einem geraden Blick in seine Augen antwortete sie:
»Sie wissen das Gegenteil.«
Ja, er wußte es. Ein magnetischer Rapport hatte, während des Lesens, sich zwischen Autor und Leserin hergestellt. Deutlich hatte er empfunden, daß sie auf den Flügeln seines Gesanges in die gleiche Begeisterungshöhe gehoben worden, die er in den Stunden der Arbeit erklommen hatte. Eine Kommunion auf dem Gipfel des Parnasses – ein gleichzeitiges Eintauchen der brennenden Lippen in das kühle Geriesel des kastalischen Quells ...
Solche, etwas überspannte Ideen erfüllten und begleiteten ihn, als er nun, Sylvias Hand verlassend, in raschen Schritten seiner Wohnung zueilte. Er hatte die Absicht, den Drang, das Bedürfnis – heute noch, den ganzen Abend – zu schreiben. Den zweiten Akt zu beginnen unter dem Eindruck, den die Lektüre – aus solchem Mund in solchem Ton! – die Lektüre des ersten auf ihn gemacht. Anderes noch wollte er schreiben: ein Gedicht an – sie. Seine Liebe war – im Bewußtsein erreichter Gegenliebe – zu höchster Glut angefacht, und da dies unter dem Bann der Dichtung so gekommen, so wollte, so mußte er nun in glühenden Versen seinem Gefühle Luft machen. Sie besingen – er lechzte danach, als wäre es eine Art sie zu liebkosen, sie zu schmücken – statt mit Küssen und Perlen – mit Rhythmen und Reimen.
Baronin Tilling war bei Delnitzkys zu Tisch geblieben. Bald nach dem Essen entfernten sich Toni und dessen Freunde, um in den Klub zu gehen, und Mutter und Tochter blieben allein.
Sylvia war die ganze Zeit zerstreut und schweigsam gewesen. Auch jetzt, wenn Martha etwas fragte oder bemerkte, antwortete sie erst, wenn die Frage oder Bemerkung wiederholt worden war, und da nur ganz kurz und nicht recht zur Sache.
»Komm, mein Kind – mach es wie in Deinen Mädchenjahren – nimm Dir einen Schemel und setz' Dich her zu meinen Füßen ...«
»Ach, Mutter, die Mädchenjahre sind entflohen –«
»Und ebenso Dein Vertrauen zu mir...?
»Wie meinst Du – ?«
»Ich meine, daß Du mir verschweigst, was Dich drückt und was Dich bewegt. Das war einmal anders ... Du pflegtest mir alles zu sagen wie Deiner besten Freundin. Jetzt freilich könnte Dein Mann mich verdrängt haben, er könnte nun Dein Vertrauter und Berater sein ... dann würde ich mich gern zurückziehen, aber das ist, leider Gottes, – nicht der Fall.«
»Nein, es ist nicht der Fall«, murmelte Sylvia bitter. »Siehst Du – und das sagst Du mir erst heute –«
»Da Du es durchschaut hast –«
»Ich durchschaue noch mehr ... Sylvia, komm, tu' mir den Gefallen, setze Dich ... da und lege Deinen Kopf auf meinen Schoß und sei aufrichtig, ganz aufrichtig – ich bitte, bitte Dich!«
Etwas widerwillig, aber doch unwiderstehlich angezogen, gehorchte die junge Frau.
»Hier bin ich also ... das alte Plätzchen ... Erinnerst Du Dich – zum letzten Male saß ich so – am Tage, da ich mich heimlich verlobt hatte ...«
»Ja, ich erinnere mich – Du legtest mir damals eine Art Beichte ab.«
»Ja, Beichte. Meine Liebe war nicht sündenfrei –«
»Das ist sie auch heute nicht, Sylvia –«
»Ich liebe ihn ja nicht mehr, dem Himmel sei's geklagt. Nun weißt Du es – ich dachte, Du müßtest es schon längst wissen, doch Dir und mir habe ich das Peinliche ersparen wollen, das in solcher Aussprache liegt.«
»Ich hatte Dich damals gewarnt – Du wolltest nicht auf mich hören – warst leidenschaftsbetört, »eine verliebte Natur« nennt man das – une grande amoureuse – wie's in den französischen Romanen heißt. Aber ich wiederhole es, Deine Liebe ist nicht sündenfrei –«
»Und ich wiederhole: sie ist ja erloschen.« »Für Toni ja – und das verstehe ich. Doch –« Sylvia zuckte lebhaft zusammen unter der Hand, die auf ihrem Scheitel lag.
»Also auch das hast Du erraten?« sagte sie bebend.
»Auch das ... Ich beschwöre Dich, mein Kind, empfange diesen jungen Mann nicht mehr ... Du bist Friedrichs Tochter ... nicht anders als in Reinheit darfst Du durchs Leben gehen.«
Eine leise Revolte stieg im Innern des jungen Weibes auf: war sie nicht vor allem sie selbst – und erst in zweiter Linie die Tochter von diesem oder jenem? Aber auch sie selbst ... wenn sie gleich in Bewunderung zu dem jungen Dichter erglühte – hatte sie denn je daran gedacht, ihrer Reinheit etwas zu vergeben? Bresser zum Geliebten –? Der Gedanke stieg ihr da zum ersten Male auf, als etwas heiß Verwirrendes, Beschämendes, – etwas das zu verjagen war, das man nicht ausdenken durfte – –
Martha sprach weiter: »Dein Vater ist tot – aber sein Werk lebt fort: wir drei: Rudolf, Du und ich sind dessen Erben und Hüter. Kein Schatten darf auf die Ehre unseres Namens fallen, denn solcher Schatten würde auch unsere Sache verdunkeln. Aber nicht der Sache – auch Deiner selbst willen, Sylvia, beschwöre ich Dich: geh in Reinheit durchs Leben!«
»Das will ich ja«, antwortete Sylvia mit erhobenem Haupt.