Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein heißer August-Nachmittag. Die Hitze hindert aber die Bewohner von Brunnhof nicht, sich am Tennisspiel zu ergötzen.
Der Spielplatz liegt in einem um diese Stunde von der Sonne unbeschienenen Teil des Parkes. Von hier ist die Rückseite des Schlosses in Sicht, mit seinen in das Parterre führenden Terrassen. In der Mitte ein großes Wasserbecken, aus welchem ein Springbrunnen steigt. Rings in künstlerischer Anordnung farbenprächtige Teppichbeete. Eben war ein Gärtnergehilfe beschäftigt, den Wasserschlauch auf diese Beete zu richten, die unter dem belebenden Strahl verstärkte Düfte aussandten, die von der schwülen Luft bis zum Tennisplatz, getragen wurden. Unter den gemischten Wohlgerüchen herrschte der etwas betäubende Hauch einiger in der Nähe blühender Vanillensträucher vor. Ein eigentümliches Licht lag auf dem Grün des Rasens und der Bäume. Jene lackierte, theatereffektmäßige Färbung, die den Leuten den Ausruf abzuringen pflegt: »Seht doch! ... die sonderbare Beleuchtung ...«
Es war zufällig dieselbe Gesellschaft, die beim Tauffest versammelt gewesen, noch vermehrt durch die Gegenwart der jungen Schloßherrin, die jetzt schon vollkommen hergestellt war und auch schon die von ihrer Mutter ihr so dringend empfohlene Wallfahrt nach Mariazell hinter sich hatte.
Man saß da, zur Seite des Tennisplatzes, auf einer Reihe von Bänken und sah den vier Spielenden zu: Sylvia und ihr Bräutigam; Rudolf und der junge Bresser.
Dieser war seinem Vorsatz, das Haus zu meiden, falls Sylvia sich verlobte, untreu geworden. Die Gewohnheit, mit der Familie zu verkehren, deren ältester Freund sein Vater war, war ihm zu teuer geworden. Der Umgang mit Baronin Tilling, die kameradschaftlichen Plauderstunden mit Rudolf Dotzky und wenigstens der Anblick der still angebeteten Sylvia: darauf konnte er doch nicht auf die Länge verzichten. Die blöde Eifersucht mußte niedergekämpft werden. Hatte er doch niemals gehofft, das Mädchen zu erringen, so mußte er sich darein finden, sie an der Seite eines anderen zu sehen. Daß dieser andere kein Idealmensch war, bot ihm eigentlich eine kleine Genugtuung, die er sich zwar nicht eingestand, die er aber darum nicht weniger empfand. Da ihm selber Delnitzky nicht liebenswert erschien, so gab er sich der Idee hin, daß Sylvia eine Vernunftheirat einging, an der ihr Herz nur wenig beteiligt war. Mit dieser Vorstellung hatte er wenigstens, die eine Hälfte seiner eifersüchtigen Gefühle verscheucht. Game – play – out«. Die Worte drangen vom Spielplatz herüber, aber in ruhigem Tone; die Bälle flogen hin und her oder stießen an das Netz und fielen oft zu Boden, alles dies lautlos, außer wenn der Ball ungeschickterweise mit dem Rand des Raketts aufgefangen wurde, dann rief gewöhnlich von den Zuschauern einer: »Holz – Holz!« Die Bewegungen der Spielenden hatten keinerlei Heftigkeit; kein Laufen oder Springen, vielmehr – besonders bei den Herren – eine behäbige, sich wiegende Nachlässigkeit.
Martha, die etwas abseits von den anderen saß, hielt ein Zeitungsblatt in Händen; sie las aber nicht, sondern verfolgte mit den Blicken die anmutigen Gestalten ihrer Kinder.
Mit Sylvias Verlobung hatte sie sich nunmehr ausgesöhnt. Täglich wiederholte ihr das junge Mädchen, daß sie sich vollkommen glücklich fühle. Mitunter stiegen ihr zwar dennoch Zweifel auf; vieles in ihres künftigen Schwiegersohnes Wesen und Äußerungen wirkte auf ihre Nerven – wie etwa das Ausgleiten einer Messerschneide auf einem Porzellanteller, oder das Kratzen spitzer Fingernägel an einer Seidentapete, aber solche Regungen verjagte sie rasch.
Beatrix und ihre Mutter saßen nebeneinander, in eifriges Kleinkinder-Gespräch vertieft. Die Existenz des neuen Insassen und Erben von Brunnhof war für seine junge Mutter die wunderbarste – und für seine Großmutter die wichtigste Erscheinung der Umwelt.
Die vier Herren, Oberst von Schrauffen, Minister »Allerdings«, Pater Protus und Doktor Bresser unterhielten sich untereinander.
»Von dem Spiel verstehe ich nichts,« sagte der Pfarrer. »Es sieht gar nicht lebhaft aus – sehen Sie nur, wie wenig heftig die Bewegungen sind, kein Laufen, kein Springen – im Gegenteil ... besonders die Herren – so was Behäbiges, Wiegendes, Nachlässiges. Aber amüsieren müssen sich die Herrschaften doch dabei, sonst würden sie's nicht so hartnäckig betreiben – wo jetzt das Tennis einreißt, da wird täglich zum Rakett gegriffen, als ob damit eine wichtige Pflicht abzutun wäre. Mir ist leid um die gemütlichen Kegelpartien, die nun überall abkommen.«
»So ist die Welt, hochwürdiger Herr – alles alte wird von neuem verdrängt.«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nur unter neuerungssüchtigen Menschen, Herr Doktor – sehen Sie sich einmal die Natur an: immer wieder die gleichen Bäume, dieselben Berge –«
»O nein, nicht dieselben,« rief der Doktor. »Die Veränderungen in der Natur gehen nur langsam vor sich – sodaß man sie nicht wahrnimmt; aber meinen Sie nicht, daß seit der Tertiärzeit die hiesige Gegend viel größere Wandlungen durchgemacht hat, als die von der Kegelbahn zum Tennisplatz?«
»Allerdings«, bestätigte der Minister. »Die größten und häufigsten Wandlungen sind aber schon in unserer Politik zu konstatieren. Da läßt sich schon gar nicht, trotz der nimmer nachlassenden Anstrengungen der Konservativen, die geringste Stabilität erzielen ... Ad vocem ›Politik‹: wissen die Herren, daß unser Rudolf sich um ein Mandat im Abgeordnetenhause bewirbt?«
»Ich weiß es,« sagte Doktor Bresser. »Die Baronin Tilling ist entzückt darüber.« »Einerseits begreife ich das,« versetzte der Minister, »Mütter freuen sich immer, wenn sich ihre Söhne im öffentlichen Leben hervortun wollen – andererseits bringt die Abgeordneten-Laufbahn viel Verdruß und Schwierigkeiten.«
Der Oberst zuckte die Achseln: »Ach was, Schwierigkeiten! Mit Rudolfs Namen und Verbindungen... Da wird's ihm nicht fehlen, zu irgend einem angesehenen Posten zu gelangen – zuerst ein paar Jahre im Parlament – dann irgend ein Portefeuille –«
»Ich kann mir nicht recht vorstellen,« sagte Peter Protus, »welche Rolle Graf Rudolf in der Politik spielen wird. Seinem Range nach müßte er sich der konservativen Partei anschließen –«
»Allerdings«, nickte der Minister.
»– Wie ich ihn aber kenne, neigt er zu den Liberalen, um nicht zu sagen – Radikalen.«
»Jedenfalls ist seine Gesinnung nicht ganz geheuer,« sagte der Oberst, »ich kann die antimilitärische Rede nicht verschmerzen, die er beim Tauffest seines Erben gehalten hat, wobei Sie, Herr Doktor, ihn noch unterstützten ... wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie für Verweigerung der Heereskosten plaidiert. Wenn Rudolf in dieser Richtung auftreten sollte –«
Der Minister machte eine beschwichtigende Handbewegung:
»Seien Sie ruhig – wem Gott das Amt gibt – gibt er auch den Verstand. Das heißt mit anderen Worten: wenn man in eine gewisse Stellung gelangt – und in gewisse Kreise, so wird man von den Obliegenheiten dieser Stellung und dem Geist dieser Kreise unwillkürlich so durchdrungen, daß die alten Ideen und Neigungen wie Nebel zerrinnen und man tut und wirkt, was der neue Posten erheischt.«
»Es sei denn,« entgegnete Bresser, »daß man eine so starke Persönlichkeit ist, daß die Umgebung gezwungen wird, sich ihr anzupassen und nicht umgekehrt –«
Die Spieler hatten ihre Partie beendet. Rudolf trat auf die Gruppe zu:
»Wovon sprachen Sie so emsig, meine Herren?«
»Von Ihnen und Ihrer Reichsrats-Kandidatur –«
»Da haben Sie wohl nicht viel Gutes gesagt, denn – mit Ausnahme Doktor Bressers vielleicht – stehen Sie alle auf ganz anderem politischen Standpunkt, als ich –«
»Die Nuancen mögen allerdings verschieden sein,« sagte der Minister, »aber in der Grundfarbe, da sind doch ziemlich alle anständigen Leute übereinstimmend: verfassungstreu, kaisertreu, vaterlandstreu ...«
»Treu, treu ...«, wiederholte Rudolf kopfschüttelnd. »Diese schöne Eigenschaft ist wohl dem Bestehenden gegenüber – wofern es gut ist – sehr angebracht. Was soll aber derjenige sein, der dem Werdenden dienen will?«
Bresser antwortete:
»Der muß kühn sein.«
»Ja,« sagte Rudolf, »und doch auch treu. Sich selber treu.«
Sylvia und Delnitzky gingen nebeneinander in einer der Parkalleen auf und nieder; den anderen in Sicht, aber außer Gehörweite.
In den sechs Wochen, die seit der Verlobung verstrichen waren, hatte das junge Mädchen sehr verschiedene Stimmungen durchgemacht. Der taumelnde Glücksrausch jenes Abends, an dem sie den ersten Kuß und ihr Jawort gegeben, hatte sich nicht wiederholt, – nur erinnern konnte sie sich an das, was sie damals empfunden, ohne es jedoch wieder zu empfinden. Es kann eben keine zwei ersten Küsse geben, und keine zwei Augenblicke, in welchen man einen bestimmten, lebensentscheidenden Entschluß faßt. Es war ihr sogar manchmal geschehen, daß ihr Liebensgefühl erlahmte. Auch ihr war, wie ihrer Mutter, manches, was Delnitzky sagte oder wie er es sagte, an die Nerven gegangen. Aber das dauerte nicht länger als eine Minute, die nächste Minute brachte ihr wieder das Bewußtsein, daß sie eine liebende, glückliche Braut sei.
Einige Schritte waren sie schweigend einhergegangen. Delnitzky sprach zuerst:
»Wie schön, wie schön Du bist!« Das »Du« war nur dem Tete-a-tete vorbehalten. Unter Leuten sagten sich die Verlobten »Sie«. Und gerade das machte aus dem Du eine Art Liebkosung. »So gefällst Du mir noch viel besser als im Sommerkleid – und beim Ballspiel finde ich Dich noch graziöser als beim Tanzen.«
In ihrem fußfreien weißen Piquékleidchen mit Ledergürtel um die geschmeidige, nicht zu dünne Taille; mit den absatzlosen, gelben Schuhen an den schmalen Füßen; mit dem einfachen Matrosenhut auf dem kastanienbraunen Haar, das in einer festen Flechte auf den Hinterkopf gesteckt war und auf welches die Sonne bronzefarbene Lichter setzte – bot Sylvia in der Tat ein frisches, liebreizendes Bild. Das jugendliche Gesichtchen mit dem feinen Profil war wie in Glanz getaucht; rosige Glut auf den Wangen, dunkelrote Glut auf den Lippen, schwarzes Funkeln in den Augen, weißblitzendes Lächeln; wohl konnte der beglückte Bräutigam in den Ruf ausbrechen: »Wie schön Du bist!«
»Findest Du? Und ist Dir mein Hübschsein das Liebste an mir?«
»Alles ist mir lieb an Dir ... Bist ein Kreuzmädel ... voll Rasse – ohne Faxen...«
Über Sylvias Gesicht huschte eine Wolke. Das war wieder eine jener Äußerungen, die sie ärgerlich berührten. Sie blieb stumm. Delnitzky fuhr fort:
»Mir ist nichts zuwidrer als affektierte oder kokette Manieren oder gar Blaustrumpf-Fexereien. Du bist einfach, natürlich ... zwar auch mörderisch g'scheit – kehrst es aber nicht protzig heraus ... Vor Deinem G'scheitsein habe ich mich anfänglich ein bissel g'fürchtet ... Du hast so den Ruf, daß Du allerlei ernste Sachen studierst und mit Deiner Mama und dem Rudi stundenlang gelehrte Bücher liest. Aber 's war nicht so schlimm ... ich hab' Dich nie 'was Pedantisches reden g'hört.«
»Bis jetzt, mein lieber Toni, haben mir eigentlich nur im Ballsaal verkehrt, da konnte ich natürlich keine »pedantischen« Unterhaltungen einleiten ... und seit wir verlobt sind, sprechen wir fast immer von unserer Liebe – auch dieses Thema läßt nichts pedantisches zu ... Aber Du mußt Dich doch darauf gefaßt machen, daß ich in der Tat darauf rechne, wenn wir einmal verheiratet sind –«
Über Schoppenhauer und Nietzsche oder gar über die Geschichte der Konzilien mit mir zu konversieren? Da danke ich –«
»Die beiden Denker, die Du meinst, so tief und wunderbar ihre Sprache ist, gehören nicht zu meinen Lieblingen –« »Hast Du sie denn überhaupt gelesen?«
»Du etwa nicht?« – Anton verneinte mit dem Kopfe – »und was die Konzilien betrifft, so habe ich von deren Geschichte nicht viel gehört –«
»Ich schon. Du weißt, ich war zwei Jahre in Kalksburg, bei die Jesuiten –«
»Bei den Jesuiten.«
Toni zuckte ungeduldig mit den Achseln. »No ja, pardon, bei den Jesuiten – und da wird alles, was Kirchengeschichte ist, gar genau studiert. Länger als zwei Jahr hab' ich's übrigens dort nicht ausgehalten – aus mir wär' doch nie der richtige Jesuitenzögling geworden.«
»Gottlob. Was ich aber sagen wollte: ich rechne darauf, daß wir in inniger geistiger Gemeinschaft sein werden – daß wir miteinander über alles reden, was wir bewundern – was wir bestaunen von den Mysterien, die –«
»Ich staune über das Mysterium Deiner Schönheit –«
Jetzt zuckte sie mit den Achseln. »Schon wieder?«
»Bist Du bös, wenn ich Dich bewundere – wenn ich verrückt werde durch Deinen Reiz?«
Nein, darüber war sie nicht böse; aber daß er nichts anderes zu sagen wußte, das begann ihr ein gewisses Grauen einzuflößen.
Er drückte ihren Arm fest an sich und beugte sich zu ihr nieder, indem er seine brennenden Augen tief in die ihrigen senkte – eine Art zu blicken, die sie mit süßem Schauer durchrieselte. In der Tat, was in der Welt konnte neben solchem Mysterium noch bestehen? ...
Sie schwiegen nun beide. In der schwülen Luft erhob sich ein leiser Regengeruch. Die »sonderbare« Beleuchtung wurde immer unnatürlicher; nicht wie Gras lag es auf den Rasenflächen, sondern wie grünes Metall. Ein fernes Donnergrollen wurde vernehmbar.
»Kinder, Kinder!« riefen die anderen, »es kommt ein Gewitter – gehen wir hinein ...«
Wenn etwas Sylvias Empfindung – halb Lust, halb Bangen – noch erhöhen konnte, so war es die Aussicht, daß jetzt ein tüchtiges Unwetter losbrechen werde: prasselnder Regen, grelle Blitze, Donnerschläge: darnach sehnte – und darauf fürchtete sie sich. Und richtig, kaum verstrichen noch einige erwartungsvolle Minuten, so fing ein pfeifender Wind an, die Baumäste zu biegen und Wirbel von Staub und Blättern durch die Luft zu jagen; dicke, warme Tropfen fielen herab; die gelbgrüne Beleuchtung wich einer plötzlich heranbrechenden Dunkelheit; schwarze Wolkenmassen walzten sich heran und hingen tief zur Erde herab. Ein blendender Blitz zeichnete eine feurige Zackenlinie vom Zenith bis zum Boden und gleich darauf knatterte eine heftige Donnersalve – es mußte in der Nähe eingeschlagen haben.
Die ganze Gesellschaft stürzte, so schnell sie konnte, dem Schlosse zu. Die Verlobten waren etwas weiter entfernt und sie mußten ihre Schritte noch mehr beschleunigen, wollten sie rechtzeitig unter Dach kommen. Hugo Bresser, einen Schirm in der Hand, eilte ihnen entgegen.
Jetzt kam ein förmlicher Wolkenbruch herabgeschüttet. Da begann Sylvia zu laufen; als sie nur mehr einen Schritt von Hugo entfernt war, stolperte sie über einen Stein und fiel. Der junge Mann fing sie noch rechtzeitig in seinen Armen auf.
Er umschlang sie fest. Mitten in dieser elektrizitätsgeladenen Atmosphäre, in diesem Sturm der losgelassenen Elemente pochte es auch wild in seinen Adern. Und seine langverhaltene Leidenschaft entlud sich in diesem einen Augenblick, da der Zufall ihm das angebetete Mädchen in die Arme warf und – er konnte nicht anders – er drückte sie ans Herz. Dabei lag in seinem ganzen Gesichtsausdruck das deutlichste Geständnis glühender Liebe.
Auch Sylvia war unter dem Bann der stürmischen Minute: diese plötzlich geoffenbarte Leidenschaft glich ja auch einem Blitzstrahl... Sie empfand keinen Groll; was sie empfand, war vielmehr der Rückschlag desselben elektrischen Stromes, der das Herz durchzuckte, an dem sie lag.
Nur drei Sekunden lang. Schon war Delnitzky herbeigesprungen und befreite sie. Er hatte von dem Vorfall weiter nichts gesehen, als das Ausgleiten ihres Fußes und die zufällig gebotene Hilfe.
Sylvia atmete schwer und tief auf.
»Nein, nein – nichts, nichts ...« stammelte sie und schloß die Augen.