Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XI.

Rudolf Dotzky war bei den Reichsratswahlen durchgefallen. Er hatte es verschmäht, sich vom Großgrundbesitz aufstellen zu lassen, weil er sich da einer der bestehenden Parteien hätte anschließen müssen, und hatte sich um ein Mandat in Wien beworben. In den Wahlversammlungen hatte er sein Programm mit beredten Worten entwickelt und viel Beifall gefunden – die Stimmenmehrheit fand er aber nicht.

Sein Gegenkandidat hatte ein so bewährtes altes Programm entworfen, mit allen üblichen Versprechungen gespickt, daß ihm die Stimmen nur so zuflogen. Alles geht ja – das ist naturgesetzmäßig – auf der Bahn des geringsten Widerstandes – also auf der gewohnheitsgeglätteten Bahn. Die neuen, noch nie gehörten Ideen, die Rudolf vorgebracht hatte, blieben teils unverstanden, teils flößten sie Bangen ein.

Namentlich von seinen Standesgenossen mußte er Vorwürfe hören. Die älteren Herren, gaben ihm wohlmeinende Belehrungen. Sie waren ja erfahrene Politiker – »Realpolitiker«; sie wußten also genau Bescheid und versuchten eindringlich, ihn von seinen unpraktischen Anschauungen abzubringen. An und für sich mag ja dies und jenes richtig sein – gaben sie zu – einiges sogar unanfechtbar, dennoch dürfe man es nicht vorbringen, weil es an gewissen Stellen verstimmen könnte – und vor allem gälte es, die eigene Partei regierungsfähig zu machen – nur dann sei überhaupt etwas zu erreichen. Daher ist Unterwerfung unter das Parteiinteresse das wichtigste politische Prinzip: nachgeben auf gewissen Gebieten, damit auf der anderen Seite auch nachgegeben werde –

»Kurz«, unterbrach Rudolf solche Weisheitslehren, »der Kultus des »heiligen Kompromiß« – nein, ich danke.«

Dem meisten Widerstand begegnete Rudolf von einer Seite, von der er ihn am wenigsten erwartet hätte – bei seiner Frau und deren Mutter. Kein direkter Widerstand gegen seine Prinzipien, denn von diesen verstanden sie nichts und er hatte sie ihnen auch nicht mitgeteilt, sondern indirekt durch das Hervorkehren ihrer Auffassung des ganzen parlamentarischen Berufs, in welchem sie nichts sahen, als den Hebel zur Erlangung eigener Vorteile. Als die eigentliche Aufgabe, als die unabweisbare Pflicht eines Abgeordneten betrachteten sie das Bestreben, durch die politische Tätigkeit Karriere zu machen. Also natürlich alles tun und reden, was den jeweiligen Ministern und noch mehr was allerhöchsten Orts gefallen muß. »Darum, nicht wahr, Rudi, nur immer eintreten für Thron, Altar und Armee ... unser Hof ist ja sehr fromm ... Und – friedliebend ist der Kaiser ja auch – aber er liebt seine Armee und tut so viel für sie ... was Friedrich Tilling wollte, ist ja recht schön; aber nur darf man das Militär nicht angreifen ... je stärker das Heer ist und je besser gerüstet, desto weniger werden die anderen sich trauen, Krieg anzufangen ... was würde auch aus allen Söhnen des Adels werden, wenn man weniger Offiziere brauchte?... Und dann: es ist gar nicht anständig, nicht patriotisch, wenn man gegen den Militarismus loszieht – das tun ja die sogenannten Roten, die alle Ordnung untergraben wollen ...«

Rudolf wehrte derlei Einmengungen zwar ungeduldig ab, aber in einer Form oder der anderen schwirrten sie immer wieder um seine Ohren. Es war ihm daher beinahe wie eine Erleichterung, als er nicht gewählt wurde; denn zu dem Kampf, der im Reichsrat aufzunehmen war, hätte sich noch der Kampf mit den Seinen gesellt. Er wäre zwar nicht zurückgeschreckt vor diesem Kampf, und war entschlossen, bei nächster Gelegenheit wieder auf den Plan zu treten.

Den vor längerer Zeit seiner Mutter mitgeteilten Plan, mit den Fühlern der Friedenssache in brieflichen und persönlichen Verkehr zu treten, hatte er ausgeführt. Er schrieb an Hodgson Pratt und Randal Cremer nach London, an Frèdéric Passy und Simon nach Paris, an Franz Wirth nach Frankfurt a. M., an Virchow nach Berlin, an Professor Graf Kamarowsky nach Moskau, an Teodora Moneta nach Mailand, an Ruggiero Bonghi und Beniamino Pandolfi nach Rom, an Frederic Bajer nach Kopenhagen, an General Türr nach Budapest; von diesen erfuhr er genau, wie die »Bewegung« für Frieden und Schiedsgerichte in den verschiedenen europäischen Ländern stand und in das bekannte Protokoll gab es wieder viel einzutragen. Hätte Rudolf dem Parlamente angehört, so würde er versucht haben, sich an die Spitze einer österreichischen Gruppe der Interparlamentarischen Union zu stellen. Eine solche entstand anläßlich der im November 1891 in Rom tagenden interparlamentarischen Konferenz, und zur Anregung dieser Bildung hatte er reichlich beigetragen.

Im übrigen war und blieb er ein Feind des Vereinswesens. Martha hatte ihm nahegelegt, daß für ihn die beste Art, Tillings Ideen zu verwirklichen, darin bestände, die internationale Bewegung, mit deren Trägern er ja so eifrig korrespondierte, nach Österreich zu verpflanzen, indem er auch in Wien einen Verein ins Leben riefe, dessen Mitglieder dann an den alljährlichen Kongressen teilnehmen würden. Aber dazu konnte er sich nicht entschließen. Er war nicht, was so viele Menschen nach mehrjähriger Erfahrung werden – vereins müde, denn er hatte darin keine Erfahrungen, – sondern er war vereins scheu. Konkrete Dinge, wie beim Roten Kreuz, Rettungsgesellschaft, Tierschutz und dergleichen – die konnten wohl durch Organisation ersprießlich betrieben werden; abstrakte Ideen, sittliche Ideale, philosophische Wahrheiten: nein, diesen half es nichts, sie in ein Bureau mit Funktionären und Sitzungen mit Protokollen, oder in Kongresse mit Resolutionen zu zwingen; die mußten, um die öffentlichen Institutionen umzuwandeln, ihren Weg ins Haus, in die Schule, in die Köpfe der geistigen Führer und der Staatslenker finden. »Eine Weltanschauung«, pflegte er zu sagen, »läßt sich nicht organisieren; zur Heranziehung einer Gemeinde, gehören nicht Vorsitzende, Schriftführer und Kassenwarte, sondern Apostel.«

»Und willst Du nicht Apostel werden?« hatte ihn Martha gefragt.

»Wollen – hängt das vom Wollen ab?« fragte er zurück. »Ebensogut könnte man sich vornehmen, ein Genie zu werden. Wie hoch die Kraft sein wird, die man in den Dienst einer Sache stellt, das kann man nicht bestimmen, nur das eine kann man sich vornehmen: treu zu dienen – mit der ganzen Kraft, die man überhaupt hat.«

Da ihm die Tribüne des Abgeordnetenhauses verschlossen geblieben, blickte Rudolf nach einer andern Stelle aus, von wo er die Fülle seiner Gedanken und Pläne verkünden konnte, das Nächstliegende war: Zeitungsartikel zu schreiben. Er versuchte es. Die Anschauungen und Grundsätze, die vor seinen Wählern keine Gnade gefunden, die brachte er nun in Form von Essays zu Papier. Doch fand er damit ebensowenig Gnade bei den großen politischen Blättern. Da herrschte ja die gleiche Parteienge, die er in den lebendigen politischen Kreisen gefunden, ins Papierne übertragen. Was außerhalb der gewohnten Schlagwort«, der gewohnten Phrasengeleise lag, das wollten die Blatter nicht aufnehmen. Indessen das »Aktuelle« ist immer zeitungsspaltenfähig und so geschah es, als im Herbst 1891 die Telegrafenagenturen meldeten, in Rom werde unter Beteiligung offizieller Kreise ein Friedenskongreß und eine interparlamentarische Konferenz abgehalten – so geschah es, daß man in den Redaktionen doch auf jene Frage hinhorchte, und ein großes Wiener Blatt veröffentlichte einen von Rudolf Dotzky eingesandten Aufsatz, in welchem er ungefähr folgendes ausführte:

»Millionenheere, in zwei Lager geteilt, waffenklirrend, stehen bereit, nur eines Winkes gewärtig – aufeinander loszustürzen. In der gegenseitig zitternden Angst vor der unermeßlichen Furchtbarkeit des drohenden Ausbruchs liegt einigermaßen Gewähr für dessen Verzögerung.

Hinausschieben ist jedoch nicht Aufheben.

Die sogenannten »Segnungen« des Friedens (als wäre der bewaffnete Friede nicht selber ein Fluch) die werden uns immer nur von Jahr zu Jahr garantiert, immer nur als »hoffentlich« noch einige Zeit anhaltend hingestellt. Von der Abschaffung des Krieges, von gänzlicher Aufhebung des internationalen Gewaltprinzips, durch Einsetzung zwischenstaatlicher Justiz, davon wollen die zur »Aufrechterhaltung des Friedens« waffenbrüderlich verbundenen Gewalten nichts wissen. Der Krieg ist ihnen heilig, unausrottbar, und man darf ihn nicht wegdenken wollen; er ist ihnen auch – angesichts der Dimensionen, die er unter den gegenwärtigen Bedingungen annehmen müßte – furchtbar, vor dem eigenen Gewissen unverantwortlich, also darf man ihn nicht anfangen.

Was ist das aber für ein unnatürliches Ding, das nicht aufhören kann und nicht anfangen soll; das nicht weggewünscht und nicht herbeigeführt, nicht verneint und nicht bejaht werden darf? Ein ewiges Vorbereiten auf das, was durch die Vorbereitung vermieden werden soll – ein Vermeiden dessen, was durch die Vermeidung vorbereitet wird.

Dieses Widerspruchsmonstrum erklärt sich so:

Jenes Gebilde aus historischer Vergangenheit, das man noch aufrecht erhalten will, – die gebietverschiebende, machtvergrößernde, nur einen geringen Bruchteil der Bevölkerung in Anspruch nehmende frische und fröhliche Kriegführung, die ist inzwischen im Entwicklungsgange der Kultur, zur moralischen und physischen Unmöglichkeit geworden.

Moralisch unmöglich, weil die Menschen von ihrer Wildheit und Lebensverachtung verloren haben, daher nicht mehr fröhlich an das Totschlage-Werk gehen können, »die Blutarbeit ist mir verhaßt« schreibt Friedrich III. in seinem Tagebuch; – physisch unmöglich, weil die während der letzten zwanzig Jahre angewachsene Zerstörungstechnik einen Grad erreicht hat, der den nächsten Feldzug zwischen den großen Militärstaaten zu etwas gestalten würde, das etwas ganz neues, anderes wäre, etwas, das sich mit dem Wesen und den Zwecken des landläufigen Begriffes Krieg nicht mehr decken würde.

Ein Beispiel: wollte man durch lange Stunden ein Bad vorbereiten, das Wasser heizen, heizen, bis es siedet und überwallt – wäre dann dasjenige, was einen erwartete, der endlich doch in die Wanne stiege – oder vielmehr hineinfiele – noch ein Bad zu nennen? Noch ein paar Jahre solchen »aufrechterhaltenden Friedens«, solcher Heeresmehrungen, solcher Mordmaschinen-Erfindungen – elektrische Sprengminen, ekrasitgeladene Lufttorpedos – und kurz nach der Kriegserklärung sind sämtliche Kriegführende – verbrüht.

Jeden Augenblick kann die Explosion kommen. Diejenigen, welche die Lunte in Händen haben, geben zum Glück acht. Sie wissen, daß, bei solchem Pulvervorrat, die Folgen schrecklich wären, wenn sie unvorsichtiger- oder gar freventlicherweise den Funken hineinwürfen. Um also diese wohltätige Vorsicht zu steigern, wird der Pulvervorrat immer vergrößert. Wäre es nicht einfacher, freiwillig und übereinkommend die Lunte wegzutun, mit anderen Worten: abzurüsten? Den internationalen Rechtszustand einzusetzen, die getrennten Gruppen – die einander stets zuschwören, daß sie, wenn von der andern Gruppe angegriffen, Schulter an Schulter kämpfen wollen – zu einer Gruppe zu verschmelzen, den Bund der zivilisierten Staaten Europas zu gründen?«

Diese zwei Postulate: Einsetzung internationaler Friedensjustiz und europäischer Staatenbund – die bildeten in Rudolfs Sinn das ganze, klare, einfache Ziel des von Friedlich Tilling aufgestellten Ideals. Das dritte Postulat – die Abrüstung – müßte sich als die mechanische Folge der beiden anderen einstellen. So wie das Rüsten die Geste der Kriegswollenden und Kriegsfürchtenden ist, die einander feindlich und mißtrauisch gegenüber stehen, so wäre bei verbündeten Mächten, die für etwaige Streitfälle ein Schiedstribunal bereit hätten, die natürliche Geste das Abrüsten.

Jenen Artikel hatte er unterzeichnet und die Folge war, daß ihm aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung zahlreiche zustimmende Briefe zuflogen. Eine zweite Wirkung aber war, daß man ihn in seinem Kreise als »exaltierten Menschen« klassierte. Manche seiner Freunde fanden diese Exaltation schädlich und gefährlich. Einigen flößte es geradezu Abscheu ein, daß ein Aristokrat, ein Offizierssohn Ideen Ausdruck gab, die so bedenklich an die Deklamationen der militärfeindlichen »Sozis« anklangen und an der bestehenden Ordnung der Dinge rüttelten. Dabei solch unpraktisches, unausführbares Zeug! – »Utopie« sagten die Höflichen. Das Wort eignet sich so hübsch zum Wegfegen unbequemer Pläne. Es gibt zu, daß die Sache ja ganz schön und wünschenswert wäre – etwa die Überwindung des Todes – aber eben einfach unmöglich. Daß alle Errungenschaften von heute – alle, die technischen und sozialen – Eisenbahnen und Aufhebung der Sklaverei – meist als Utopie gegolten haben, daß daher dieses Wort die ganze Kulturgeschichte als eine ununterbrochene Kette beschämter Kleingläubigkeit durchzieht – dessen erinnern sich die neuen Utopie-Rufer nimmer.


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