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6. Die letzten Ermahnungen der Mutter

Ich trat ins Haus, ging durch die Küche und stieg die Treppe hinauf.

So kam ich in meine Schlafkammer, ohne der Mutter zu begegnen. Sie war wohl im Wohnzimmer beschäftigt.

Schnell gab ich mich daran, mein Bett in Ordnung zu bringen. Wie oft, kam mir der Gedanke, werde ich das noch tun?

Mein Bett sollte ja schon heute an Bord des dänischen Schiffes gebracht werden.

Als ich so ziemlich fertig war, hörte ich jemand die Treppe heraufkommen. Ich lauschte. Es waren die Tritte meiner Mutter.

Sie kam an die Tür und klopfte an.

Ich öffnete. Die gute Mutter trat herein.

Ich war nicht wenig überrascht. In den Händen trug sie ein Kaffeebrett, auf dem eine unserer schönsten Tassen, gefüllt mit dampfendem Kaffee, stand; daneben ein Teller mit Butterbrot und leckern Kuchen, die sie selbst gebacken.

Aber was in aller Welt sollte das bedeuten!

Ich wurde ganz verlegen und beschämt.

Nie zuvor hatte die Mutter mir solche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war überhaupt nicht gewohnt, ihre Kinder zu verzärteln oder zu verwöhnen. Und nun kam sie mit all den schönen Sachen selbst zu mir herauf.

Was mochte sie dabei bezwecken?

Sie sagte kein Wort, sah mich aber mit mütterlicher Zärtlichkeit lächelnd an und stellte das Brett auf einen kleinen Tisch neben dem Bette.

Ich war ganz gerührt. Ich faßte ihre Hand, drückte sie warm, führte sie an meine Lippen und küßte sie.

Aussprechen konnte ich nur die Worte: »Liebe Mutter!«

Sie schaute mit gar liebevollem Blick mir in die Augen und sagte:

»Trink nun deinen Kaffee, Nonni, und komm dann zu mir herab, ich habe etwas Wichtiges mit dir zu reden.«

Dann drückte sie mir die Hand, nickte lächelnd und verließ meine Kammer.

Als ich allein war, betrachtete ich die schöne Tasse etwas näher. Sie war sehr fein.

Mit großen goldenen Buchstaben standen darauf die zwei dänischen Worte: Til Moder. (Für die Mutter.)

»Ei!« sagte ich zu mir, »das ist ja dieselbe Tasse, die du vor einigen Jahren der Mutter als Sommergabe geschenkt hast!«

Auf Island ist es nämlich Sitte, am ersten Sommertag sich gegenseitig Geschenke zu geben, und so hatte ich meiner Mutter zwei Jahre vorher am ersten Tag des Sommers diese Tasse geschenkt.

Das hatte sich also zugetragen:

Während der ganzen Wintermonate hatte ich ein großes Verlangen gefühlt, Vater und Mutter etwas Schönes als Sommergabe zu schenken. Weil ich aber kein Geld besaß, wußte ich nicht, wie ich mein Vorhaben ausführen könnte.

Eines Tages nun hatte ich einen glücklichen Einfall, der mir aus der Verlegenheit half.

Mehrere Monate hindurch gab es zu Mittag eine isländische Delikatesse, Kæfa genannt. Sie vertrat die Stelle der Butter.

Wir hatten damals zu Hause einen Knecht, der den alttestamentlichen Namen Hosias führte.

Er war ein braver Mann, und wir beide verstanden uns sehr gut. Dieser war nun ein großer Liebhaber von Kæfa.

Als ich eines Tages beim Mittagessen bemerkte, daß er im Handumdrehen mit seiner Portion fertig war, gab ich ihm die Hälfte der meinigen.

Seine Freude und Dankbarkeit war kindlich groß. Mir aber kam jener glückliche Gedanke, und ich sagte zu ihm, ich möchte mit ihm allein sprechen.

Wir gingen in die Scheune neben dem Kuhstall, und da fand nun folgende Unterhandlung statt:

»Sag mal, Hosias, du hast gern Kæfa, nicht wahr?«

»Ja, Nonni, und wie!«

»Nun gut. Dann laß dir einen Vorschlag machen. Wenn es dir recht ist, will ich dir jeden Tag meine Portion Kæfa überlassen.«

»Ist's möglich? Willst du das wirklich, Nonni?«

»Ja, Hosias. Nur mußt du dann auch etwas für mich tun.«

»Und das wäre?«

»Du mußt mir meine Kæfa mit Geld bezahlen.«

»Wieviel willst du denn dafür haben?«

»Wieviel willst du geben?« fragte ich.

»Sollen wir mal sagen, für jede Portion einen Schilling (drei Pfennige)?«

»Gut«, sagte ich, »einverstanden.«

Damit war der Handel abgeschlossen.

Ich aß nun jeden Tag das Brot trocken und gab Hosias meine Kæfa, er bezahlte mir jedesmal einen Schilling.

So ging es ein paar Monate lang.

Schließlich hatte ich so viel Geld, daß ich glaubte, es sei genug. Von da an aß ich wieder meine Kæfa, und Hosias behielt seinen Schilling.

Eines Tages ging ich nun mit meinem Gelde zu Herrn Möller, einem dänischen Kaufmann in der Stadt, und verlangte zwei recht schöne Sommergaben, eine für Vater und eine für Mutter.

Herr Möller fragte: »Wieviel dürfen sie kosten?«

»So viel«, sagte ich und legte alle meine Schillinge vor ihn hin.

Der Kaufmann zeigte mir mehrere hübsche Sachen, darunter zwei große, schöne Kaffeetassen mit vergoldetem Rand.

Sie kamen aus Dänemark. Auf der einen stand mit goldenen Buchstaben: Til Fader, auf der andern: Til Moder.

Sie gefielen mir so gut, daß ich sie gleich mitnahm.

Ich konnte kaum begreifen, wie es überhaupt möglich sei, so schöne Sachen herzustellen.

Die Dänen müssen große Künstler sein, dachte ich.

Einige Tage hielt ich die kostbaren Geschenke sorgfältig verborgen. Am Sommertag überreichte ich sie dann feierlich Vater und Mutter.

Beide waren gerührt über diese kindliche Liebe, besonders als sie erfuhren, wie ich zu dem Gelde gekommen war.

Sie sagten, ich hätte recht schön gehandelt. Doch verboten sie mir, in Zukunft mein Essen wieder zu verkaufen, wenn ich auch noch so gute Absicht dabei hätte. –

Das alles kam mir wieder in Erinnerung, als ich die Tasse betrachtete, in der die Mutter mir eben den Kaffee gebracht hatte. Wie lieb und aufmerksam das doch war von ihr!

Dafür schmeckte mir aber auch heute das Frühstück besonders gut.

Als ich fertig war, ging ich zur Mutter hinab.

Sie saß im Wohnzimmer und hieß mich neben sich Platz nehmen.

Die Unterredung, die nun folgte, werde ich nie in meinem Leben vergessen.

Die Mutter begann also:

»Mein lieber Nonni, du kannst wohl denken, welchen Schmerz eine Mutter fühlt beim Scheiden eines ihrer teuren Kinder. Wenn ich dich trotzdem fortreisen lasse, so tue ich es nur deshalb, weil ich überzeugt bin, daß es zu deinem Besten ist.

»Das einzige, was mir Sorge bereitet, ist der Gedanke: Wie wirst du dich im fremden Lande, wo kein Mutterauge wacht, aufführen?

»Darauf kommt alles an. Bleibe brav und halte dich an Gott, dann wirst du in deinem ganzen Leben Glück und Segen finden, wo immer du sein magst. Aber wenn du dich schlecht aufführst und verkehrten Neigungen folgst, dann wartet deiner Unglück und Elend.«

Die Mutter machte eine Pause. Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte ich zugehört. Ihre Worte, so einfach sie waren, ergriffen mich mächtig. Sie waren wie leuchtende und erwärmende Lichtstrahlen, die in mein Herz drangen.

Ich saß vor ihr und schaute, die Hände gefalten auf den Knien, vor mich hin.

Mit großem Ernst fuhr die Mutter in ihrer Ermahnung fort:

»Mein Kind, lieber will ich dich tot vor meinen Füßen liegen sehen, als daß ich den Kummer erlebte, zu hören, du wärest ein schlechter, verdorbener Mensch geworden. Ich hoffe zu Gott, daß ein solches Unglück nicht über uns kommen wird.

»Du willst also ein braver, gehorsamer, gottesfürchtiger Knabe bleiben, wo immer du sein magst? Nicht wahr, das versprichst du mir?«

»Ja, Mutter, ich werde mir alle Mühe geben.«

»Gut, mein Kind; ich weiß, du meinst es ehrlich. Aber bedenke, daß du Fehler hast, die es dir schwer machen können, deinem Entschlüsse treu zu bleiben.

»Ich sage dir dies aus lauterer, mütterlicher Liebe, und ich weiß, daß du es mir nicht übelnimmst. Es ist notwendig, daß du dich selbst und deine Fehler kennst, sonst kannst du sie nicht ablegen.

»Wiederholt habe ich dich ermahnt, zuweilen auch gestraft, wenn du unartig warst. Aber das hört nun auf. Deshalb will ich dich zum letztenmal auf einige Verkehrtheiten in deinem Charakter aufmerksam machen.

»Erstens, mein Kind, wirst du leicht widerspenstig und eigensinnig.

»Hüte dich davor und befleißige dich, gehorsam und untertänig gegen deine Vorgesetzten zu sein. Du wirst unter Leuten leben, die du nicht kennst, und hast noch keine Erfahrung. Deshalb mußt du dich von andern leiten lassen. Gott wird schon dafür sorgen, daß du gute und gewissenhafte Vorgesetzte bekommst. In diesem Punkte mußt du deiner Mutter aufs Wort glauben. Also sei ein gehorsamer und williger Knabe. Versprich mir das, mein lieber Nonni.«

Gerührt versprach ich der Mutter, daß ich gehorsam sein und meine Fehler ablegen wolle.

Dann fuhr sie fort:

»Jetzt noch etwas anderes, Nonni. Versprich mir, daß du auch deinen Zorn bekämpfen willst. Du wirst so leicht aufbrausend und suchst dich zu rächen. Hüte dich davor. Sei immer bereit, denen, die dich beleidigen, zu verzeihen.

»Selig sind die Sanftmütigen und Friedfertigen, sagt der Herr. Und im Vaterunser läßt er uns beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

»Glaube mir, mein Kind, es wird dir schlecht ergehen, wenn du deinen Zorn nicht beherrschest.«

Mit Tränen in den Augen versprach ich der guten Mutter, daß ich sanftmütig und friedlich gegen alle sein wolle.

Und wieder redete sie mir zu:

»Wir sind noch nicht fertig, lieber Nonni. Du mußt noch etwas Geduld haben. Bedenk: was du hörst, sind die letzten Ermahnungen deiner Mutter.

»Der nächste Punkt, auf den ich dich aufmerksam machen möchte, ist dieser: Sei nicht naschhaft, sondern begnüge dich mit dem, was man dir vorsetzt. Lerne dich beherrschen und gib deiner Gaumenlust nicht nach; das könnte dich sonst in große Gefahren bringen.«

»Liebe Mutter, ich verspreche es dir ganz von Herzen.«

»Gut«, fuhr sie fort, »ich danke dir für deinen aufrichtigen Willen.

»Ich gehe nun über zu etwas, was mir sehr am Herzen liegt.

»Sei immer ehrlich und aufrichtig. Ich kann mich, Gott sei Dank, nicht erinnern, daß du jemals vor mir gelogen hast. Nun bitte ich dich, mein Kind, bleibe dabei, sei wahrheitsliebend und lüge niemals, auch nicht, um einer Strafe oder Beschämung zu entgehen. Das mußt du mir hoch und heilig versprechen.«

»Liebe Mutter, ja, ich verspreche es dir. Ich werde nie die Unwahrheit sagen. Du kannst dich drauf verlassen, Mutter.«

»Zum Schlusse, mein Kind, muß ich noch eine Frage an dich richten: Glaubst du auch imstande zu sein, alle deine guten Vorsätze zu halten?«

»Ja, Mutter, das glaube ich ganz bestimmt. Ich werde sie alle halten, mein ganzes Leben lang.«

Diese Worte sprach ich mit Nachdruck und Kraft. In meiner kindlichen Unerfahrenheit fühlte ich mich so sicher!

Die Mutter lächelte, sah mich mit rührender Liebe an und belehrte mich:

»Was du da sagst, ist gewiß ehrlich gemeint. Aber glaube mir, es wird nicht so leicht sein, wie du jetzt meinst. Du wirst Schwierigkeiten begegnen, von denen du keine Ahnung hast. Durch eigene Kraft kannst du dein Versprechen nicht halten.

»Daher gib wohl acht, was ich dir jetzt sage; es ist das Allerwichtigste. – Ich will dir ein Mittel angeben, das dir ganz sicher hilft, trotz deiner Schwachheit und Unerfahrenheit die Vorsätze zu halten. – Und was für ein Mittel ist das? Kannst du es erraten?«

Da ich nicht antworten konnte, sprach sie weiter:

»Es besteht darin, daß du keinen Tag vorübergehen läßt, ohne dein Herz, deine Seele, deine Gedanken zu Gott zu erheben und ihn zu bitten, er möge dir beistehen.

»Wenn du diesen meinen Rat befolgst, wirst du auch alle andern befolgen; wenn du das aber versäumst, wirst du auch alles andere versäumen.«

Dann faßte sie meine beiden Hände, sah mir mit tiefem Ernst in die Augen und sagte:

»Versprichst du deiner Mutter, die dich so innig liebt, daß du dich an Gott halten und jeden Tag an ihn wenden willst?«

Mit voller Bestimmtheit antwortete ich:

»Ja, Mutter, das verspreche ich dir hoch und heilig.«

Nie in meinem Leben habe ich mit größerer Aufrichtigkeit ein Versprechen gegeben als dieses. –

Die Ermahnungen meiner Mutter hatten mich wie umgewandelt. Die aufgeregte Stimmung war verschwunden. Ich war wieder ruhig und voll Zuversicht.

Die Mutter stand auf, drückte nochmals warm meine beiden Hände und sagte:

»Sei guten Muts, mein lieber Nonni. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Gott wird mit dir sein.«


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