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Täglich gewann ich Owe lieber.
Gesicht und Hände waren bei ihm zwar meistens schwarz von Rauch und Ruß; aber dessen war ich gewiß, seine Seele war weiß wie Schnee, und sein Herz war von Gold.
Alle Eigenschaften eines braven Knaben waren bei ihm vereint, und ich fühlte, daß ich in jeder Hinsicht weit hinter ihm stand.
Er war schlicht und bescheiden, nicht eingebildet, war aufrichtig und offen, dazu äußerst sittsam und gefällig, stets dienstbereit und opferwillig.
Auch war er Meister in der seltenen Kunst, auf die Gedanken und Gefühle anderer einzugehen und ihnen das richtige Verständnis entgegenzubringen.
Im Umgange war er lebhaft und geweckt, gesprächig und auch witzig, so daß es eine wahre Freude war, mit ihm zusammen zu sein.
Knaben in unserem Alter pflegen nicht gerade Rücksicht auf Stand und Stellung zu nehmen. Aber Owe, wenn er auch ein armer Knabe war, schätzte ich, und mit Achtung, ja mit einer gewissen Ehrfurcht schaute ich zu ihm auf.
Wir saßen nun wieder beisammen, und ich erzählte, wie ich den Kapitän und den Steuermann von der Nähe der Eisberge überzeugt hätte. Das machte ihm Freude; denn er hatte vor den gefährlichen Ungetümen ebenso Respekt wie ich.
Während wir uns so unterhielten, fiel mir ein, daß ich mein Morgengebet ganz vergessen hatte. Und doch hatte ich meiner Mutter hoch und heilig versprochen, es nie zu unterlassen.
Sofort war der Entschluß gefaßt, in die Kajüte hinabzugehen und der Pflicht nachzukommen.
Ich stand auf und sagte:
»Hör, Owe, ich habe meiner Mutter versprochen, jeden Tag mein Morgengebet zu verrichten, und da fällt mir ein, daß ich es heute vergessen habe.«
»Merkwürdig«, antwortete er, »dasselbe hat auch meine Mutter in Bornholm mir gesagt. – O ja, Nonni, befolge den Rat deiner Mutter, das wird dir Segen bringen.«
Ich ging in die Kajüte hinab, und da niemand unten war, kniete ich an meinem Bett nieder und betete so andächtig, wie ich konnte, mein Morgengebet. Unter anderem bat ich Gott, er möge mir helfen, daß ich ein so braver Knabe würde wie Owe.
Als ich fertig war, setzte ich mich auf das Bett und ließ meinen Gedanken freies Spiel.
Gleich zwitschernden kleinen Vögeln flogen sie bald nach allen Seiten und flatterten unruhig umher.
Doch währte es nicht lange, da sammelten sich alle und ließen sich bei meiner Mutter im Paulshause zu Akureyri nieder.
Ich sah die teure Mutter daheim auf ihrem gewöhnlichen Platze sitzen und stricken.
Augenblicklich stand mir eine Menge wehmütiger Gefühle vor der Seele. Aber ich wagte nicht, mich ihnen hinzugeben; denn ich wußte im voraus, wohin das führen würde. – Meine Augen waren so schon mit Tränen gefüllt.
Nein, das durfte nicht sein!
Mir fiel der Rat des Steuermanns vom Tage vorher ein, und schnell rief ich die ausgeflogenen Gedanken und Träume wieder zurück.
Und siehe da, ein neuer gesellte sich ihnen zu und verscheuchte die andern:
»Wie wäre es, wenn ich meiner Mutter einen Brief schriebe?«
Die Gelegenheit war günstig. Hier in der netten, kleinen Kajüte war ich allein und ungestört wie in meinem eigenen Zimmer.
Gedacht, getan.
Ich öffnete meinen Koffer, nahm Papier und Schreibzeug heraus und setzte mich an den Kajütentisch.
Schon oft hatte ich Briefe an meine Eltern geschrieben; denn zeitweise hielt ich mich bei Bekannten unserer Familie auf, und da war es mir immer ein Vergnügen, an Vater und Mutter ein Brieflein zu senden.
Das Eigentümliche bei diesen kindlichen Schreibereien war, daß sie überall, wohin sie kamen, große Heiterkeit hervorriefen.
Als ich dies einmal zufällig erfuhr, war ich sehr verwundert.
Ich hatte keine Ahnung davon, daß meine Art des Schreibens andere zum Lachen bringen könnte.
Deshalb glaubte ich, man wolle mich zum besten haben, und das betrübte mich tief.
Ich öffnete der Mutter mein Herz, und sie tröstete mich:
»Das kann ich dir sagen, lieber Nonni, weshalb deine Briefe immer solche Heiterkeit erregen.
»Du mußt nicht glauben, daß man sich über dich lustig machen will. Im Gegenteil, wenn man bei deinen Briefen lacht, so kommt es daher, weil sie oft wirklich ergötzlich sind.
»Du drückst dich auf eine etwas andere Art aus als sonst Knaben von deinem Alter; du hast zuweilen drollige Einfälle und gebrauchst sonderbare, dichterische Wendungen und Vergleiche.
»Sie sind allerdings kein Meisterstück, worauf du dir etwas einbilden könntest; aber es steckt meist eine gewisse Komik drin, weil sie von einem Knaben geschrieben sind, der noch so jung ist. Das bringt die Leute zum Lachen.
»Du brauchst also nicht betrübt zu sein. Bleib nur dabei, auf deine Weise zu schreiben.«
Diese Erklärung der Mutter beruhigte mich, ohne mich übermütig oder eingebildet zu machen.
Die dichterischen Wendungen und Vergleiche schrieb ich hin, wie sie mir gerade einfielen, ohne etwas dahinter zu suchen.
Gewöhnlich entnahm ich sie der »Edda«, die wir ja alle in der Ursprache, der schönen altisländischen Sprache, lasen.
So setzte ich mich denn auch jetzt hin und schrieb:
Draußen auf dem Atlantischen Ozean.
Nicht weit von Grímsey (man kann es aber nicht sehen), den 1. September 1870.
Meine liebe, gute Mutter!
Ich ergreife die Feder, um dir einen Brief zu schreiben. Du mußt nicht auf die Schrift achten. Ich weiß selbst, daß sie schlecht ist. Aber ich will dir sagen, wer schuld daran ist.
Das sind Ägirs Töchter, die großen Wellen, die mir nicht erlauben wollen, schön zu schreiben.
Aus lauter Mutwillen und Bosheit rütteln sie mir Hand, Feder, Stuhl, Tisch, heben das Schiff hoch und senken es wieder tief.
Nun will ich dir auch erzählen, wie es mir geht. Ich bin frisch und gesund und befinde mich ganz wohl, bei Tag wie bei Nacht.
Die erste Nacht wurde ich zweimal aus dem Bett geworfen. Das war sehr spaßig.
Das erste Mal fiel ich auf den Kapitän, daß er Alpdrücken bekam und aus einem schweren Traum erwachte. Er wurde fast zerquetscht und schrie erbärmlich.
Das andere Mal glitt ich, einem Bergrutsch ähnlich, mit dem ganzen Bettzeug hinab, bis ich auf dem Flachlande lag.
Diesmal wurde dem Kapitän bange um mich, er hob mich auf und legte mich in sein eigenes Bett, wo ich nicht mehr herausfiel.
Das war schön von ihm. Er ist ein guter Mann.
Der Steuermann ist auch gut gegen mich, noch mehr als der Kapitän. Er hat mir viele Feigen und Rosinen gegeben. Die Hälfte davon schenkte ich Owe, weil du mir gesagt hast, ich solle gut gegen ihn sein.
Wir bekommen viel zu essen, und ich leide nie Hunger. Ich habe auch mein Morgen- und Abendgebet verrichtet und will es immer tun.
Liebe Mutter, ich habe dich sehr lieb und werde dich nie vergessen, solange ich lebe. Anfangs weinte ich schrecklich viel. Da kam der gute Steuermann und tröstete mich.
Er war es, der mir die Rosinen und Feigen gab, und das tröstete mich auch, besonders weil er versprach, in Zukunft mir noch mehr zu geben.
Ich will dir eine andere Geschichte erzählen, aber du mußt nicht lachen.
Während ich in der Kajüte saß, kam ein altes, häßliches Weib zu mir und wollte durchaus Freundschaft mit mir schließen. Ich fragte, wie sie heiße. Sie antwortete: »Seekrankheit.« Da wurde ich zornig, faßte sie bei den Haaren, schleppte sie hinauf und warf sie ins Meer. So blieb ich frei von ihr.
Kannst du das verstehen, Mutter?
Jetzt will ich dir noch eine Geschichte erzählen.
Gestern warf ich das Abendessen in der Küche auf den Boden, so daß es leider mit Sand beschmutzt wurde.
Aber daran waren die Wellen schuld; ich war unschuldig.
Weißt du, was der Kapitän glaubte?
Er meinte, es seien Schrotkörner im Fleische. Ich ließ ihn bei dem Glauben; denn sonst hätten Owe und ich wohl Schläge statt des Abendessens bekommen.
Aber wir wollten lieber das Abendessen als Schläge haben, darum sagten wir nichts.
Alle Tage will ich dir etwas schreiben, liebe Mutter, und alles zusammen dir zuschicken, wenn ich nach Kopenhagen komme.
Noch eine Geschichte will ich dir erzählen; aber für diesmal ist es die letzte.
Das alte Weib, die Seekrankheit, ist wieder aus dem Meere emporgestiegen und befindet sich jetzt auf dem Wege zu mir. Ich will nicht warten, bis sie kommt. Sonst würde es mir übel. Deshalb muß ich für heute schließen.
Lebe wohl, liebe Mutter, ich muß schnell nach oben, um das alte Weib wieder ins Meer zu werfen.
So lautete der Anfang meines Briefes.
Mir war wirklich übel geworden. Schnell räumte ich Papier und Feder fort und sprang auf Deck, um frische Luft zu schnappen.
Bald war die Übelkeit gewichen, und ich fühlte mich wieder wohl und munter.
Ich blieb nun oben und ging auf und ab und genoß die herrlichen Eindrücke, die von allen Seiten auf mich einströmten.
Vor allem war es die flotte Fahrt, die mich fesselte.
Es war eine Wonne, zu sehen, wie hurtig und fein unser Schiff die Wellen pflügte, wie geschickt es seinen Weg nahm durch die ungebahnten Fluten.
Auf der ganzen Fahrt machte es mir immer großes Vergnügen, ganz vorn im Steven sitzend über den Rand hinab ins Meer zu schauen und zu betrachten, wie der starke Bug des Schiffes gegen die breiten Wellen ankämpfte.
Wie er es verstand, sie zu brechen und zu spalten!
Oft spritzte der schneeweiße Schaum bis herauf zu mir und trieb mich geifernd weg von meinem Sitz.
Dann wieder hob sich das Vorderteil hoch in die Luft. Dies geschah jedesmal, wenn unser kleines Fahrzeug mühsam an einer Woge hinaufkletterte.
Hatte es den Wellenrücken erreicht, so stand es einen Augenblick still, als wenn es überlegte, ob es wagen dürfe, sich in den gähnenden Abgrund zu stürzen.
Dann aber schoß es rasch entschlossen in sausender Fahrt kopfüber hinab ins tiefe Wellental.
Da unten nun waren wir wie begraben zwischen zwei mächtigen Höhen von fließendem, wogendem Wasser.
Vor uns ein Berg von tosenden Fluten, hinter uns ein gleicher Berg, wir selbst in der Tiefe wie in einer Nußschale – ein Spielzeug dieser gewaltigen, schäumenden Wasser.
Wahrhaftig, ein Schauspiel so groß und schön, daß ich nicht müde wurde, es zu betrachten.
Ein Schwarm von Möven und andern Seevögeln zog hinter uns her.
Bald wiegten sie sich auf den Wellen, bald schwebten sie oben in der Luft, vom Winde geschaukelt, unaufhörlich krächzend und schreiend, und trugen so auf ihre Weise dazu bei, das Bild zu beleben.
Ich war ergriffen und wie gefangen von diesem Walten und Leben des Meeres.
Alles Jammern und Klagen, alles Weinen und Seufzen, alle wehmütige Stimmung vom Tage zuvor war verschwunden.
Statt dessen wurde ich mehr und mehr mit Mut und Kraft erfüllt, mit freudigem Selbstvertrauen und Tatenlust.
Was ich hier sah, war starke Bewegung und schwellendes Leben, ein wunderbares Spiel der gewaltigen Naturkräfte, wie sie sich nur in der unbegrenzten Freiheit auf hoher See entfalten. –
Aber der Tag ging zur Neige. Es wurde Abend. Ich begab mich hinab in die Kajüte, verrichtete mein Abendgebet und legte mich zur Ruhe.
Der Kapitän hatte mit Brettern und Tauen mein Bett so eingerichtet, daß ich nicht mehr herausfallen konnte.
Wohl rutschte ich die ganze Nacht hin und her; aber das störte mich nun nicht weiter, ja ich gewöhnte mich so sehr daran, daß ich nicht einmal erwachte.