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Die Residenz lag in der Mitte zwischen dem Westen, aus dem der neue Criminalrath kam, und jenem fernen Osten, der das Ziel seiner Reise war.
Auf der Reise nach der Residenz waren ihm keine Abenteuer begegnet; auf der zweiten Hälfte seines Weges sollte er nicht ganz ohne sie bleiben.
Er fuhr wieder mit der Eilpost.
Am ersten Tage saß er allein in dem Wagen, und er hatte reichliche Muße, Vergleichungen anzustellen zwischen der flachen, reizlosen Gegend, in der er sich sah, und den waldigen Bergen, duftigen Thälern und fruchtbaren Ebenen seiner Heimat, die er mit ihren malerischen Burgruinen, mit ihren blühenden Städten, mit ihren Fabriken aller Art, mit ihren Eisenhämmern und Bergwerken, mit ihren grünen saftigen Wiesen und reifen Saatfluren, verlassen hatte. In einer vollen Wildniß sollte er eine neue Heimat suchen.
Die Nacht brachte ihn in endlose Haiden und Torfmoore, in denen gespenstisch die Irrlichter um ihn hertanzten. Sie sollten ihn zu dem Gespensterspuk auf dem Weißenstein führen.
Mitten in der Nacht hielt der Wagen mitten in der Haide an einer einsamen Poststation.
Der Criminalrath erhielt hier Gesellschaft. Eine Dame stieg ein.
Sie stieg in der Dunkelheit ein. Kein Licht begleitete sie. Der Conducteur des Wagens führte sie zu diesem, hob sie auf den Tritt, verschloß die Thür hinter ihr; Beide hatten kein Wort gesprochen. Der Wagen fuhr weiter.
Der Criminalrath hörte das Rauschen eines seidenen Kleides, während sie einstieg und sich setzte.
Gesehen hatte er nichts, als eine dunkle Frauengestalt.
Die beiden Reisenden saßen stumm beisammen, in einer Ecke der junge Beamte, in der anderen die Dame.
War auch sie jung? Der junge Rath konnte es sich nicht beantworten. Er hatte nicht einmal ihre Stimme gehört, die ihm vielleicht einen Schluß darauf gestattet hätte. Sie war stumm eingestiegen; nicht einmal einen guten Abend hatte sie dem Mitreisenden durch Nacht und Haide geboten; sie war stumm geblieben.
War sie schön oder häßlich? Die Frage schloß sich wohl unwillkürlich an die über Jugend und Alter an. Sie war noch weniger zu beantworten. Selbst die Stimme läßt da im Stich und täuscht nur manchmal die Phantasie.
Wollte die Dame nicht sprechen, so hatte der Criminalrath keine Veranlassung dazu. Er gehörte auch wohl nicht zu den Menschen, die auf Reisen mit Jedermann anbinden müssen.
Sie waren eine Stunde und länger gefahren, ohne ein Wort mit einander zu wechseln. Der junge Mann glaubte nur, in der anderen Ecke ein paar Male ein leises, unterdrücktes Seufzen gehört zu haben.
Plötzlich hielt der Wagen.
Sie waren mitten in einer Haide oder einem Torfmoor.
Rundum herrschte Dunkel.
Der Conducteur sprach vorn aus seinem Coupé mit Jemandem, der draußen auf der Chaussee stand.
Man konnte im Innern des Wagens nicht sehen, wer es war, nicht verstehen, was sie sprachen.
Aber die Reisegefährtin des Criminalraths wurde unruhig auf ihrem Sitze. Hatte sie die Stimme des Mannes draußen auf der Chaussee erkannt, oder was war es sonst? Eine Mannesstimme sprach mit dem Conducteur.
Die Dame horchte an ihrem Fenster, suchte hindurch zu blicken, wollte es öffnen, hatte doch nicht den Muth dazu.
Nach einer halben Minute hörte man den Mann draußen zu dem Conducteur vorn in das Coupé steigen. Sie hatten wohl nur darüber mit einander unterhandelt.
Aber warum war dann die Dame so unruhig geworden?
Der Wagen fuhr weiter.
Die Reisende saß wieder still in ihrer Ecke.
Sie war blos neugierig! dachte der Criminalrath. Freilich, wer lief da in der dunklen Nacht allein durch diese unendliche Haide, um sich mitten auf der Landstraße einen Platz in dem Postwagen zu suchen? Die Dame wird aus der Gegend sein; sie konnte es interessiren!
Nach einer Stunde war die nächste Station erreicht. Es war noch Nacht.
»Nur zehn Minuten Aufenthalt!« sprach der Conducteur in den Wagen hinein.
Die Dame wollte dennoch aussteigen.
In demselben Augenblick erschien Jemand draußen am Fenster, an der Seite, wo die Dame saß. Es war eine Mannsperson.
Die Dame öffnete rasch das Fenster.
Der Mann flüsterte ihr drei Worte zu.
Er flüsterte sie leise genug.
Das scharfe Ohr des Criminalraths hatte sie dennoch verstanden.
»Noch vier Tage!« lauteten sie.
Der Mann war wieder verschwunden.
Die Dame setzte sich wieder in ihre Ecke und schien nicht mehr an's Aussteigen zu denken.
Der Criminalrath aber verließ jetzt den Wagen.
Untersuchungsrichter bekommen unwillkürlich eine halbe Polizeinatur.
Der junge Beamte war neugierig geworden, jetzt er. Er suchte an dem Wagen, auf dem Posthofe umher; er eilte in das Wartezimmer. Er suchte den Fremden, der unterwegs eingestiegen war, der zu seiner Reisegefährtin die drei Worte gesagt hatte. Er fand Niemanden, den er dafür halten konnte; er sah nur Beamte der Post. Der Mann mußte sich sofort wieder davon gemacht haben.
Der Criminalrath suchte den Conducteur auf.
»Wer stieg unterwegs zu Ihnen ein, Herr Conducteur?«
Der Conducteur war ein höflicher Mensch und erwartete ein Trinkgeld von dem Reisenden, der mit ihm bis an das Ende seiner Route fuhr. Er gab Antwort auf die Frage.
»Ein Fremder, mein Herr, den wir eingeholt hatten.«
»Er war wohl ermüdet?«
»O nein, wir hatten ihn in seinem Wagen eingeholt.«
»Ah! Und er stieg aus?«
»Er stieg aus, und –«
Der Conducteur stockte.
»Und, und, Herr Conducteur?«
»Und trat zu mir an mein Coupé und bat mich, eine Minute zu halten, und fragte mich dann, ob eine Dame im Wagen sich befinde, und darauf, ob sie allein sei, und als ich ihm gesagt hatte, es sei auch noch ein Herr im Wagen, bat er mich, ihn bis zur nächsten Station zu mir in mein Coupé zu nehmen. Ich that das, er händigte mir das Postgeld ein, um es hier zu bezahlen. Seinen Wagen ließ er nachfahren. Auf der Station war er verschwunden.«
Mehr wußte der Conducteur nicht.
»Sprach er im Coupé mit Ihnen?« fragte der Criminalrath.
»Kein Wort!«
Der Criminalrath sprach mit sich selber: Blos um der Dame die drei Worte zu sagen, war er also mitgefahren! Ihr allein! Unterwegs konnte er es nicht, da ich dabei war. Ich durfte nicht erfahren, daß er meine Reisegefährtin kenne, durfte ihn nicht sehen. Nun, auch wohl jeder Andere nicht. Aber welche Wichtigkeit hatten denn die drei Worte: Noch vier Tage?
Er hätte es vielleicht von seiner Reisegefährtin erfahren können? Er fragte sie nicht.
Der Wagen fuhr nach Ablauf der zehn Minuten weiter.
Die beiden Reisenden saßen wieder stumm, jeder in seiner dunklen Ecke.
Aber der Criminalrath war neugieriger geworden, und es war mehr eine rein menschliche, als specifisch polizeiliche Neugierde, die ihn mit Ungeduld den Anbruch des Tages erwarten ließ, damit er sehen könne, ob Jugend und Schönheit oder Alter und Häßlichkeit an seiner Seite sitze. Es kam ihm dabei wohl der Gedanke: Aber was geht das dich denn an? Du hast ja eine schöne und junge Braut, die dich liebt und die du liebst! Aber man darf doch neugierig sein! erwiderte er sich dann selbst.
Der Morgen kam. Die ersten Strahlen der Sonne beschienen draußen endlose graue Haiden mit verkrüppelten grauen Fichten, und im Wagen neben dem Criminalrath einen weiten schwarzseidenen Mantel mit Capuchon, in den ganz und gar eine Gestalt sich eingewickelt und zusammengekauert hatte. Und weiter sah der junge Mann nichts von der Dame, die so lebhaft seine Neugierde und seine Phantasie beschäftigt hatte. Sie schien zu schlafen; sie saß oder lag unbeweglich da.
Sie schlief wirklich. Sie machte unwillkürliche Bewegungen des Schlafes, und –
Alle Wetter! glitt es leise über die Lippen des Criminalraths, verwundert und bewundernd. Aus der Umhüllung des seidenen Mantels rang sich ein Arm los, so rund, so blendendweiß –
Zu welcher runden, vollen, jugendlichen Gestalt muß der gehören! sagte sich der junge Criminalrath, und seine Augen hingen begierig an jeder Bewegung der seidenen Enveloppe, und erwarteten neue Enthüllungen.
Sie blieben auch nicht aus, und als nach einer Weile bei einer Biegung der Straße die Sonnenstrahlen plötzlich auf die Schlafende fielen und sie aus dem Schlafe auffuhr, und in dem Auffahren die Kapuze von ihrem Gesichte zurückfiel und sie in demselben Momente die Derangements sah, die ihre unwillkürlichen Bewegungen verursacht hatten, erblickte der Criminalrath gleichzeitig ein so reizendes Antlitz, und in diesem eine so holde Verwirrung, daß er fast nicht wußte, wie ihm geschah, bis er in der nächsten Secunde gewahrte, daß in diesem schönen Antlitze ein Schmerz und ein Kummer wohnten, die mit der Scham über jene Derangements nichts zu schaffen hatten, sondern ihren Sitz recht tief und fest in ihrem Herzen haben mußten, und den jungen Mann ergriff ein Gefühl der Scham, daß er vorhin mit seinen Blicken den Schmerz der Unglücklichen habe entweihen können, und dabei kam ihm dann wieder der Gedanke an seine Braut: Werde ich ihr von dieser Stunde ein Bekenntniß ablegen können? Welch' ein schwacher Mann bin ich doch!
Nach der Scham über sich selbst kam ihm aber das Mitleid mit der schönen Dame, und ihr Schmerz beschäftigte ihn.
»Noch vier Tage!« hatte der Fremde zu ihr gesagt.
Sie muß noch vier Tage die Last einer schweren Angst tragen! Vor einem Verlust erzittern! Den Schmerz über einen erlittenen Verlust löschen vier Tage nicht aus. Welche Entscheidung soll ihr in vier Tagen werden? Er hätte gerne wieder sie selbst gefragt.
Er suchte ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen; gegen seine sonstige Abneigung.
»Die Sonne bescheint hier eine öde, traurige Gegend!«
Er wurde roth, als er die Worte gesprochen hatte, nicht über ihre Alltäglichkeit. Der Beginn eines solchen Postwagengesprächs hat sein Verdienst eben in solcher Banalität. Aber die Sonne schien ja auch auf das schöne Antlitz seiner Nachbarin, und dann zugleich auf ihre ganze reizende jugendliche Gestalt, von der er bisher nur Einzelnes gesehen hatte und die sie jetzt ihm voll zeigen mußte!
Sie hatte sich erhoben, um sich die öde, traurige Gegend anzusehen
»Wir sind in einer weiten Haide,« erwiderte sie.
»Und ich fahre schon seit vierundzwanzig Stunden darin,« sagte er.
»So?« versetzte sie.
Sie wollte damit das kaum begonnene Gespräch wieder abbrechen. Sie hatte höflich gesprochen, wenn auch nicht gerade entgegenkommend.
Der Criminalrath schien einmal im Zuge zu sein.
»Sie waren noch nie in dieser Gegend?«
»Nein, mein Herr!«
»Ich sehe sie auch zum ersten Male, und ich komme aus einer der schönsten Gebirgsgegenden Deutschlands unmittelbar in dieses unendliche Haideland, und dennoch wird mir in diesem Momente auf einmal klar, daß ich Unrecht hatte, wenn ich von einer traurigen Gegend sprach. Oede ist es wohl hier; man sieht keinen üppigen Rasen, kein grünes Laub der Bäume, keine Stadt, kein helles Dorf, keinen glänzenden Strom, nur die endlose Fläche und darin die verkrüppelten Fichten, graues Moos, graue Lehmhütten; aber die Sonne scheint hier eben so klar und hell und warm, wie auf die Berge und in die Thäler, auf Eichen- und Buchenwälder, auf grüne Ströme und blaue Landseen, und überall und auch hier in fröhliche und dankbare Menschenherzen –! Ah, sehen Sie da die Mutter mit dem Säugling im Arm, und die drei Kinder um sie; sie geben dem Vater das Geleit, der früh auf die Arbeit zieht. Wie blühend sind sie Alle! Wie lieben sie sich Alle –!«
Die schöne junge Dame blickte verwundert zu dem jungen Manne auf; bewundernd, wie er vorhin sie hatte ansehen müssen, allerdings nicht; aber in ihren Augen zeigte sich doch etwas, wie Beruhigung und keimendes Zutrauen gar; sie schickte sich zu einer Erwiderung an, die wahrscheinlich weniger kalt und zurückhaltend sein sollte, als ihre früheren einzelnen Worte geklungen hatten.
Der Wagen hielt wieder an einer Poststation.
Sie lag, wie die vorige, einsam in der noch immer unabsehbaren Haide.
»Eine halbe Stunde Aufenthalt!« meldete der Conducteur den beiden Reisenden. »Und Sie können hier Kaffee bekommen. Er ist gut!«
Die Dame stieg aus.
Der Criminalrath sah doch erst jetzt ganz ihre schöne Gestalt: das war ein eleganter, hoher, stolzer Wuchs.
Alle Wetter! sagte er noch einmal, indem er ihr zu dem Posthause folgte.
Hier aber sah er wieder mehr den Schmerz in ihren schönen Augen, den Kummer und die Angst in den feinen, bleichen Zügen, und dann die prüfenden, forschenden Blicke, die sie auf ihn warf, und mit denen sie sich fragte und ihn fragen wollte, ob sie ihm trauen, ob sie sich und ihr Geschick und ihr Leid ihm anvertrauen dürfe.
Er mußte ihr entgegenkommen.
»Werde ich das Vergnügen haben, noch länger mit Ihnen zu reisen?«
Die Dame sah ihn an, als habe sie die natürliche Frage an ihn: Wie lange und wohin reisen Sie denn, mein Herr?
Der Criminalrath verstand den Blick.
»Ich fahre bis zur Grenze,« sagte er.
»So werden wir jedenfalls,« war die Antwort der Dame, »noch mehrere Stationen zusammen reisen.«
»Wann werden Sie die Grenze erreichen?« fragte sie dann.
»Gegen Abend, denke ich.«
Die Dame sann nach, wie es schien, ob sie ihm eine Mittheilung machen solle
Er wollte ihr eine Brücke bauen.
»Wenn ich Ihnen in irgend etwas dienen kann! Sie sind allein – in dieser, Ihnen völlig unbekannten, von dem größeren Verkehr abgeschnittenen Gegend!«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« sagte die Dame.
Sie sann wieder nach.
Der Criminalrath wurde herzlicher.
»Sie dürfen mir vertrauen! Ein Kummer drückt Sie, eine Sorge.«
In die dunklen Augen der Dame traten Thränen.
»O mein Herr –« sagte sie.
»Sie dürfen mir vertrauen,« wiederholte er. »Ich – ich bin –«
Es wurde ihm schwer, fortzufahren. Er mußte einen Anlauf nehmen.
»Ich bin verlobt!« sagte er dann herzhaft.
Das Bekenntniß hatte eines Kampfes zwischen seiner Gutmüthigkeit und seinem für Frauenschönheit wohl etwas zu sehr empfänglichen Herzen bedurft.
Die Dame warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Es gab ihm Muth: er wollte seine Bekenntnisse fortsetzen.
»Ich bin –«
Königlicher Criminalrath, wollte er wohl sagen. Oder gar ganz offen: der Criminalrath Huber, Dirigent der Untersuchungsbehörde auf dem Weißenstein.
Aber er wurde unterbrochen.
Die Thür des Wartezimmers, in dem er mit der Dame frühstückte, öffnete sich; ein Herr trat ein.
Es war eine hohe, stolze Gestalt, mit vornehmem, stolzem Wesen.
Er blieb an der Thür stehen, warf einen suchenden, hochmüthig suchenden Blick durch das Zimmer, leicht über die Dame hinweg, fester auf den Criminalrath.
Den Criminalrath machte der Blick stutzig, fast ein wenig verwirrt.
Der Dame war plötzlich alles Blut in das Gesicht geschossen, in der Secunde nachher war das feine Antlitz völlig blutleer.
Mit dem schneeweißen Gesichte erhob sie sich, wankte sie stumm aus dem Zimmer.
Der stolze aristokratische Fremde trat aus der Thür zurück, in dem Moment, als sie sich erhob.
Daß er ihr, oder sie ihm irgend einen Wink gegeben, hatte der Criminalrath nicht wahrgenommen. Aber –
Was war das? mußte der junge Criminalbeamte sich fragen. Ah, ah! Sie ist eine entflohene ungetreue Gattin oder Geliebte, und er der verfolgende Betrogene. Alle Wetter, der Mensch hält mich am Ende für seinen Nebenbuhler und ihren Entführer! Und – wenn er hierher zurückkäme – ich bin ohne Waffen!
Er sprang auf, an das Fenster, und ein Stein wenigstens fiel ihm vom Herzen: er war sicher vor der Rückkehr des Fremden.
Vor dem Hause hielt eine mit vier Postpferden bespannte Equipage. Der Postillon saß schon, die Peitsche schwingend, im Sattel. Der aristokratische Herr hob die bleiche, unglückliche Dame in den Wagen, stieg selbst ein. Der Wagenmeister machte den Schlag hinter ihnen zu. Ein Bedienter saß schon auf dem Bock. Der Postillon hieb auf die Pferde ein. Sie flogen im scharfen Trab mit der Equipage davon, in der Richtung nach Osten, der Grenze zu, wohin auch die Reise des Criminalraths ging, wohin er in wenigen Minuten folgen sollte.
Der Conducteur der Schnellpost trat zu ihm ein, behäbig, ruhig, nie an Zeitmangel leidend, wie alle seine vielen Collegen damals waren, und die wenigen übrig gebliebenen noch sind.
»Wenn Sie sich so nach und nach parat halten wollten, mein Herr!
»Geht es bald weiter, Herr Conducteur?«
»Unsere halbe Stunde ist um. Aber wir Beide reisen ja jetzt allein, und Sie scheinen es ja auch so besonders eilig nicht zu haben.«
»Ah,« fragte da der Criminalrath, »was war das mit der Dame, Herr Conducteur?«
»Der Herr, der heute Nacht sich zu mir in das Coupé setzte.«
»Der war es?« rief der Criminalrath.
»Ja wohl! Dem mußte seitdem etwas eingefallen sein. Er war uns mit Extrapost nachgekommen – heute Nacht fuhr er mit eigenen Pferden. Der Postillon erzählte mir, er habe jagen müssen, was die Pferde laufen konnten. Der Herr hat hier sein wollen, ehe die Schnellpost weiter fahre; er hatte dem Burschen zwei Thaler Trinkgeld gegeben.«
»Hm, Herr Conducteur, und wer war der eilige und freigebige Herr?«
»Das weiß ich nicht. Ich war auch neugierig. Aber er hatte seinen Namen in die Postkarte nicht eintragen lassen. Man hält seit einigen Jahren nicht mehr darauf. Auch die Dame, die mitfuhr, war nicht eingeschrieben. Jetzt werden schon wieder strengere Befehle kommen, seitdem die Demagogen da hinten in Frankfurt wieder den Streich gemacht haben.«
Der Criminalrath hatte auf einmal noch eine Frage:
»Steht mein Name in Ihrem Passagierzettel, Herr Conducteur?«
»Ich weiß es in der That nicht. Aber –«
Er zog seinen Passagierzettel hervor, las ihn.
»Ah, Herr Criminalrath Huber. Gehorsamer Diener, Herr Criminalrath!«
»Ich bitte, meinen Namen nicht weiter zu nennen, Herr Conducteur.«
»Ah, Ah, ganz wie Sie befehlen.«
Der Criminalrath hätte wohl noch eine Frage gehabt. Aber er unterdrückte sie.
»Ich würde unnöthige Aufmerksamkeit erregen! Und wie hätte der Fremde auch zu einer Einsicht des Passagierzettels kommen können? Freilich, auf den Stationen muß der Conducteur ihn vorzeigen. Und auf der vorigen Station hat jener plötzlich die eilige Extrapost genommen, um uns einzuholen. Und er sah mich so sonderbar an, und offenbar um meinetwillen nahm er die Dame mit sich. Und entlaufen kann sie ihm nicht sein! Jene geheimnißvollen drei Worte: Noch vier Tage! Und mich konnte er also auch für keinen Nebenbuhler oder Entführer halten! – Aber was ist es dann? Unzweifelhaft stehe ich mit der Geschichte der Beiden in Verbindung. Aber wie denn? Wie denn?«
Und noch einmal kamen dem gewissenhaften Criminalbeamten die Gewissensbisse.
»War ich schon wieder schwach! Einer schönen Frau gegenüber! Wollte ich ihr nicht schon sagen, wer ich war? Wieder ein Amtsgeheimniß verrathen?«
Der Postillon des Eilwagens blies.
Der Criminalrath mußte seine Reise fortsetzen, noch diesen Tag und den folgenden.