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VII.
Entdeckungen auf dem Weißenstein.


Es war später Mittag geworden, als der Criminalrath die Uebernahme seines neuen Amtes vollständig beendigt hatte.

Nach der Vorstellung der Beamten mußte ihm die Kasse übergeben werden; dann mußte er die Geschäfts-Journale und Bücher durchsehen, dann die Geschäftsräume besichtigen; dann waren die Gefängnisse zu visitiren.

Die Gerichts- und Gefängnißlocalitäten waren in einem ehemaligen Nonnenkloster.

Es war ein weitläufiges Gebäude, aus mehreren langen und kleineren Flügeln bestehend. In der Mitte lag die alte Kirche, nach welcher sämmtliche Flügel zusammenliefen. Rechts von der Kirche dehnte sich, in grader Fluchtlinie mit ihr, der längste Flügel des Gebäudes aus; in ihm befanden sich zu ebener Erde die Geschäftsräume des Gerichts, so wie die Wohnungen des ersten Gefangenwärters, des finsteren Hartmann, der zugleich Kastellan für diesen Flügel war.

Im ersten Stock war die Wohnung des Gerichtsdirigenten, aber nur soweit er bewohnt war, und das war er nur soweit er bewohnbar war. Den größeren Theil der dort befindlichen ehemaligen Klosterzellen hatte man, weil man ihrer nicht bedurfte, verfallen lassen, oder es wurden Vorräthe verschiedener Art, oder auch alte Acten darin aufbewahrt. In den Souterrains waren die Gefängnisse.

Die anderen Flügel des alten weitläufigen Gebäudes liefen zwar, wie wir schon sagten, sämmtlich auf die, in solcher Weise einen Mittelpunkt für sie bildende Kirche zu, lagen also fächerartig, waren aber im Uebrigen so unsymmetrisch und ungleich zusammen und durcheinander geworfen, daß man leicht erkannte, wie sie nach dem jedesmaligen Bedürfnisse des Klosters in verschiedenen, vielleicht Jahrhunderte aus einander liegenden Zeiträumen und nach dem verschiedenen Geschmack der Erbauer oder Erbauerinnen so ungleich, bald kurz, bald lang, bald zwei-, bald dreistöckig, bald mit höheren, bald mit niedrigeren Fenstern, bald mit Zinnen, bald mit spitzen Dächern, mit oder ohne Thürmchen, mit oder ohne Erker und Vorbaue, entstanden waren.

Diese verschiedenen Flügel wurden bewohnt von den übrigen Beamten der Gerichtsbehörde, sowie von einigen Gewerbetreibenden, die sich schon seit dem Bestehen des Gerichtes hier angesiedelt hatten, um für die Lebensbedürfnisse der Beamten, der Gefangenen und der kleinen Garnison des Weißensteins zu sorgen.

Eine ganze Colonie bewohnte den Weißenstein.

Zwischen den verschiedenen Flügeln des Gebäudes befanden sich übrigens mehrere größere und kleinere Höfe, die theils zu Gärten eingerichtet waren, theils zu allerlei Haushaltungs- und Wirthschaftszwecken benutzt wurden.

Das Ganze war, wie wir früher bemerkten, von einer großen alten Umfassungsmauer umzogen.

Dies jedoch mit einer Ausnahme.

Der Weißenstein war, wie wir gleichfalls schon sagten, auf einer Anhöhe erbaut. Unmittelbar unter dieser Anhöhe lief ein breiter, schiffbarer Strom, und auf der Stromseite war sie ein einziger senkrecht in das Wasser sich hinablassender großer Fels. Auf diesem Felsen war die Mauer eines der alten Klosterflügel errichtet.

Es war die Mauer der Rückseite des langen Flügels, in welchem die Gerichts- und Gefängniß-Räume sich befanden.

Der Criminalrath, der in dunkler Nacht angekommen war und seitdem noch keine Veranlassung gehabt hatte, die Umgebung des Weißensteins sich genauer anzusehen, entdeckte den breiten Strom erst bei dem Besuche der Gefängnisse. Sehen konnte er ihn zwar nicht durch die hoch liegenden, schmalen und niedrigen und mit den starken eisernen Gittern versehenen Fenster der Gefängnißzellen. Aber er hörte in den Zellen deutlich das Plätschern und Anschlagen der Wellen unten an der Felsenmauer.

Es war eine Entdeckung, die den Criminalrath stutzig machte; er wußte selbst nicht, warum.

Noch eine andere Entdeckung fiel ihm bei dem Besuche der Gefängnisse auf. Sie lagen nicht, wie die früheren Klosterzellen in den Geschossen über dem Erdboden, an langen, graden Gängen, Thür bei Thür, und Thür und Thür einander gegenüber; in den tiefen Souterrains liefen die einzelnen Gänge vielmehr kurz und abgebrochen bald rechts, bald links, fast wie im Zickzack hin und her, und in einem solchen kurzen Gange lagen bald ein paar Thüren neben einander und auch wohl einander gegenüber, manchmal war auch in dem ganzen Gange nur eine einzige Thür zu finden.

Der Grund dieses unregelmäßigen Durcheinanderbaues war, daß die Räume da unten wohl nur nach und nach und zu den verschiedensten Zwecken des Klosters ausgebaut waren. Die meisten Räume waren wohl ursprünglich zu Vorrathskellern bestimmt gewesen, andere gewiß auch für Anderes, und ganz Unrecht hatte die Sage wahrscheinlich nicht, wenn sie von unterirdischen Kerkern und Verließen, und dabei von eingemauerten Nonnen und sonstigen Geheimnissen und Schrecken der Klöster, besonders der Nonnenklöster aus früheren und selbst aus späteren Zeiten erzählte.

Die genannte bauliche Einrichtung der Souterrains machte es jedenfalls schwierig, da unten sich zurecht zu finden. Die Dunkelheit, namentlich in den Gängen, trug dazu bei. Sie erhielten von außen nur sparsames Licht, meist nur aus einem Winkel oder einer Seitennische; man konnte sie daher ohne Laterne nicht betreten. Die Gefängnißräume selbst waren heller; sie hatten wohl meist, seitdem sie zu ihrem gegenwärtigen Zwecke dienten, oben in der Mauer, fast unmittelbar unter der Decke, ziemlich helle Fenster erhalten.

In den Gängen war der Criminalrath in einem der erhellten Winkel an das Fenster getreten, vielleicht um zu prüfen, ob das alte eiserne Gitterwerk fest sitze.

Er warf zufällig einen Blick durch das Fenster in das Freie. Er blickte über die kahle Haidefläche, die den Weißenstein von allen Seiten umgab. Aber auf einmal blieb sein Auge an einem Gegenstand mitten in dieser Fläche haften. Es war eine Fichte, die er schon am Morgen gesehen hatte, am Morgen, als er in seinem Wohnzimmer am Fenster gestanden und in das öde Land hineingeschaut hatte. Der Baum hatte so einsam dagestanden, der einzige in der weiten Ebene, er hatte so traurig dagestanden, die Zweige zu Boden gesenkt, selbst die Spitze melancholisch geneigt. Und gerade so stand die Fichte da, wie der Criminalrath jetzt unten in den Souterrains sah, eben so einsam, eben so traurig, genau und ganz in derselben Richtung.

»Ich stehe hier unmittelbar unter meinem Wohnzimmer,« sagte er sich, und es knüpften sich Gedanken daran, die ihm nicht recht klar werden wollten, denen er sich doch nicht wieder entziehen konnte. Er sagte nichts, aber er merkte sich den Gang und den Winkel, so sicher oder unsicher, wie es in dem Knäuel und Gewirre der Gänge und Winkel da unten möglich war.

Oben in seinem Zimmer vergewisserte er sich vollständig von der Richtigkeit seiner Entdeckung. Er war hier über jenen Gefängnißräumen, in dem Wohnzimmer, in dem Schlafgemache, in dem sein Amtsvorgänger, der blasirte Herr von Detting, es hatte knistern und knastern gehört, den modrigen Erdgeruch verspürt, aus dem er die weiße Gestalt zu sich hatte hervorkommen gesehen. In demselben Gemache schlief er, der Criminalrath, jetzt.

Er stand am Fenster und sann über das Alles nach, als an seine Thüre geklopft und diese in dem nämlichen Augenblicke geöffnet wurde. Er wandte sich um.

Mamsell Laura war eingetreten.

Sie sah schelmischer aus, als er sie bisher gesehen hatte, sie knixte aber auch graziöser und der Criminalrath sagte sich mit einer Art Schrecken:

»Die wird mit jeder Stunde hübscher! Wie soll das enden?«

»Es ist bald Eins,« sagte sie. »Befehlen Sie, daß ich Ihren Tisch besorge? Der Herr von Detting speiste auch um Eins.«

»Wenn Sie so gütig sein wollen,« sagte der Criminalrath.

Sie lachte.

»Ich bin ja zu Ihrer Bedienung da.«

Ihre zierliche Gestalt schlüpfte aus dem Zimmer.

Der Criminalrath dachte nur noch an diese Gestalt.

»Die könnte Einem ja in das Herz hineinschlüpfen! – Emilie! Ich muß wahrhaftig bald Anstalten zu der Hochzeit machen! Aber hierher sollte ich meine Frau bringen? Es thäte nicht gut – hm, hm, die arme Emilie in diese Einöde! Nun, ich bekomme auch in dem ersten Vierteljahre keinen Urlaub zu der Hochzeitsreise, und dann –?«

Mamsell Laura kam zurück, mit den Geräthschaften zum Decken des Tisches.

Sie deckte ihn; sie war dabei wieder so flink und schön und anmuthig.

»Deckten Sie dem Herrn von Detting auch den Tisch?« fragte er sie.

»Die alte Christine that es,« war ihre leichte Antwort.

»Ah, und warum mir dieser Vorzug?«

»Warum wäre das ein Vorzug für Sie?«

»Ein so schönes Kind –«

Aus ihren hellen Augen schoß wie ein Blitz ein Blick des Stolzes und des Zornes auf ihn.

In der halben Secunde darauf schwebte auf ihren Lippen ein freundliches, schelmisches Lächeln und eine schnippische Frage.

»Herr Criminalrath, spricht so der neue Chef mit seiner Aufwärterin?«

Adalbert Huber wurde dunkelroth.

»Das ist ein Satan der Koketterie!«

Aber er hatte doch keine Antwort für sie.

Er machte ein paar Schritte durch das Zimmer; dann stellte er sich an das Fenster und schaute hindurch.

»Sind Sie mir böse geworden, Herr Criminalrath? Seien Sie es nicht mehr!«

Sie sprach so bittend.

Er mußte sich doch nach ihr umwenden.

Sie hatte Messer und Gabel niedergelegt, und blickte nur nach ihm.

»Nein, nein!« rief er.

Sie ordnete schweigend weiter den Tisch. Dann verließ sie rasch das Zimmer.

»Was für ein sonderbares Wesen ist denn das?« fragte sich der Criminalrath. »Ist sie doch mehr als eine bloße Kokette? Ich muß es erfahren. Sie wird ja wiederkommen.«

Aber sie kam nicht wieder. Die alte Christine brachte ihm die Suppe, dann die anderen Gerichte, wechselte die Teller dazu.

Die Alte war stumm.

Der Criminalrath durfte keine Frage nach der schönen Mamsell Laura an sie haben und hatte keine. Es war ihm doch nicht recht.



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