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XII.
Die bleiche Dame.


Der Criminalrath Huber saß an seinem Mittagstische allein und verstimmt. Er war unzufrieden mit sich, über den gestrigen Abend, vielmehr die Nacht, über den heutigen Morgen, über Alles.

»War ich heute Nacht doch wieder schwach! Sie bat freilich so dringend, sie war so unglücklich; sie lag fast in meinen Armen und sie war so schön! Sie sagte auch, es sei keine Amtssache; aber weiß sie denn das? Und was ist denn Amtssache und was – nicht? Handelt es sich nicht um die Criminalgefängnisse, und sind die nicht meiner amtlichen Ueberwachung anvertraut? Wenn sie mich nun um meine Carriere gebracht hätte, die ich hier so glänzend begründen sollte!«

Ueber einen Umstand war er in dieser Hinsicht befriedigt. Der gestern eingelieferte Martin Stiehler war kein Verbrecher, kein Mitschuldiger an dem Diebstahle, wegen dessen er verhaftet war. Die wahren Thäter waren noch am gestrigen Abend eingefangen, und am heutigen Morgen Früh auf den Weißenstein eingebracht. Es war eine bekannte Diebsbande, die in der Nachbarschaft jenseits der Grenze ihren Sitz hatte. Der Criminalrath hatte sich den ganzen Vormittag mit der Untersuchung gegen sie beschäftigen müssen. Die Unschuld Martin Stiehler's hatte sich dabei auf das unwiderleglichste herausgestellt, und er war sofort entlassen worden. So hatte auch die Mamsell Laura zu Martin Stiehler in keinem colludirenden Verhältnisse stehen können.

Gleichwohl bildete das gerade einen neuen Grund für seinen Mißmuth, weil er einen Verdacht darüber so deutlich und verletzend gegen sie ausgesprochen und ihr dadurch ein Unrecht zugefügt, mithin eine Waffe gegen sich gegeben hatte, die er gerade in ihrer Hand am ungernsten wissen mochte.

»Welchen Spott wird ihre spitze Zunge wieder gegen mich haben?«

Er fürchtete ihn um so mehr, je länger er darauf warten mußte. Er hatte den ganzen Tag seinen schönen Quälgeist noch nicht gesehen; seit der vergangenen Mitternacht wußte er nichts von ihr. Sie hatte ihm am Morgen den Kaffee nicht gebracht; sie hatte seine Zimmer nicht geordnet. Sie ließ sich auch jetzt an seinem Mittagstische nicht blicken. Alles besorgte die alte Christine, und dazu kam, daß die alte Christine kein Wort sprach, wenn sie nicht gefragt wurde, und durfte er sie fragen, warum sie und nicht die Mamsell da sei?

Zu Mittag konnte er doch einer Frage nicht länger widerstehen.

»Wo ist denn die Mamsell Laura?«

»Sie hat Besuch,« antwortete die Alte. »Eine Verwandte von ihr ist heute Morgen angekommen; ich glaube, ihre Schwägerin.«

Mehr sagte die Alte nicht; mehr fragte der Criminalrath nicht.

Aber zu sich sprach er dann:

»Und der Besuch wird heute bleiben, und ich werde nichts erfahren, und ich sollte heute Alles von ihr erfahren, und der halbe Tag ist schon um! Und morgen wird sie mir erst recht die Vögel auf den Bäumen zeigen, und – ich kenne sie ja schon mich höhnen:

Warum bestanden Sie nicht gestern darauf, daß ich es Ihnen sagte? Für gestern hatte ich es Ihnen versprochen; für heute nicht. Für gestern hatten Sie ein Recht; heute bin ich Ihnen nichts mehr schuldig. Als Jurist mußten Sie das wissen.

Ach, sie ist eine falsche Kokette! Und auch ihr Unglück war Falschheit, ihre Thränen, ihr Zittern, der warme Druck ihrer weichen Hand, das Anschmiegen ihrer runden Schulter. – Hole der Teufel die Weiber! Alle!– Alle? Auch Emilie? – Warum schreibt sie mir nicht? Es könnte ein Brief von ihr schon hier sein, wenn sie gleich nach dem Empfang meines Briefes geantwortet hätte. Ich schrieb doch auf der Stelle an sie, als ich vom Minister kam!«

Das war seine verdrießliche Unterhaltung bei seinem einsamen Mahle.

Es war ihm spät geworden, weil die Verhöre gegen die Diebsbande ungewöhnlich lange gedauert hatten; und nach angestrengter Tagesarbeit allein sein Mahl verzehren müssen, ist schon für sich eine verdrießliche Sache, und weckt allerlei andere Verdrießlichkeiten.

»Ob sie mir auch meinen Kaffee nicht bringen wird! Ah, gestern konnte sie noch mit jener heuchlerischen Koketterie mich bitten, ihn hier und nicht im Bureau zu nehmen; hierher könne sie ihn mir bringen, und sie bringe ihn mir so gerne! Heute – ja, ja, sie hat ihren Zweck erreicht; sie hat mich betrogen! Ah, ich werde es erfahren, dennoch erfahren!«

Der Kaffee wurde ihm gebracht; aber von der alten Christine, und die Alte sprach von der Mamsell Laura wieder kein Wort, und er sagte aus purem Trotz kein Wort. Als die Alte aber fort war, brannte er zornig seine Cigarre an und dampfte, daß –

»Prr, man sieht ja die Hand vor den Augen nicht!« rief es in das Zimmer hinein.

Mamsell Laura stand in der Thür,

Sie hielt einen Brief in der Hand.

»An den Herrn Criminalrath!« sagte sie. »Die Postsachen kamen soeben. Braun war gerade nicht da; da nahm ich sie an. Die amtlichen Schreiben übergab ich meinem Ohm; diesen Privatbrief wollte ich die Ehre haben, Ihnen selbst zu überreichen.«

Der Criminalrath dampfte zorniger, hätte mit den Füßen den Boden stampfen mögen; wenn man im Aerger ist, ärgert Einen Alles.

»Welche Anmaßung! Welche Unverschämtheit! Was geht meine Correspondenz sie an? Gar in die Amtssachen mischt sie sich. ›Die amtlichen Schreiben übergab ich meinem Ohm!‹ Heute schon! Und ich bin noch keine zweimal vierundzwanzig Stunden hier! Wie soll das enden? Der arme Herr von Detting! Aber mit mir soll sie es nicht so machen! Bei Gott nicht!«

Sie übergab ihm den Brief.

Er wurde roth, als er die Aufschrift las, die Handschrift erkannte.

Der Brief war von seiner Braut.

Mamsell Laura hatte jeden seiner Blicke, jede seiner Mienen verfolgt. Ein triumphirendes Lächeln zog sich durch ihr Gesicht.

»Sind der Herr Criminalrath verheirathet?« fragte sie verschmitzt und spöttisch zugleich

»Nein!« sagte er unmuthig .

»So ist der Brief – denn eine zarte und zärtliche Frauenhand hat ihn geschrieben – von Ihrer Braut.«

Der Criminalrath antwortete nicht.

»Er ist doch von Ihrer Braut?« sagte sie dreist.

»Ja!« mußte er antworten.

»So, mein Herr? Und gestern Abend – was sage ich? – in der gestrigen Mitternacht, als Sie mit mir allein zu den dunklen Gefängnissen gingen, meine Hand nahmen, sich – ah, da sprachen Sie kein Wort davon, daß Sie eine Braut hätten! Ah –«

Sie entfloh, als wenn sie entweder lachen oder weinen müßte.

Er erbrach den Brief, er wollte ihn lesen. Der Brief von der Braut schien ihm doch noch Alles zu sein.

Da war sie wieder da, mit dem trockensten und ehrlichsten Gesichte von der Welt.

»Ich darf Ihnen wohl jetzt mein Versprechen nicht halten?«

»Welches Versprechen?« fragte er, indem er nur an den Brief dachte.

»Ihnen mein Geheimniß aus den Gefängnissen zu entdecken.«

»Ah –« Sie schnitt ihm die weiteren Worte ab.

»Nein, nein,- rief sie, »es wäre Grausamkeit in diesem Augenblicke!«

Er war mit seinem Briefe allein.

Er las ihn einmal, zweimal, dreimal. Er war ja noch nie von der Braut getrennt gewesen, und er liebte, und als er mit dem dritten Lesen zu Ende war, rief er mit tapferer Festigkeit:

»Und nun mag diese Kokette, diese Sirene mir noch einmal kommen!«

Damit leerte er seine Kaffeetasse, warf den Stummel seiner Cigarre fort, und ging zu seinem Bureau und zu seinen Geschäften.

Als diese zu Ende waren, machte er einen Spaziergang, wie gestern. Er verließ wieder den Weißenstein, aber draußen ging er nicht wieder zu dem Walle, der die alten Klostergebäude von dem Strome trennte; er wollte die Gegend von anderen Seiten kennen lernen. Er stieg die Anhöhe hinab, auf der die Gebäude lagen, und ging unten an dem Strome hinauf.

Es war später Nachmittag; die Sonne stand noch klar am Himmel. Der Tag war warm; es war der erste Frühlingstag des Jahres, hatte man dem Criminalrath gesagt; in jenem fernen Nordosten erscheint der Frühling zumeist erst im Mai, und auf den Mai hatte man noch einige Tage zu warten. Aber die warmen Sonnenstrahlen hatten doch schon einzelne grüne Hälmchen auf der grauen Haidefläche und zwischen dem weißen Gestein hervorgetrieben.

Der Anblick schmeichelte sich wohlthuend in die Brust des fern von der grünen und blühenden Heimat einsam verlassenen und verstimmten Criminalrathes, der seit zwei Tagen nur die alten, traurigen Klostergebäude, Gefängnisse und Gefangene, Criminalakten und Todtenkammern von Nonnen mit mitternächtlichen Geheimnissen, und in dem Allen jenen neckenden Quälgeist mit den reizenden Formen und den hellen Augen und ihn ewig plagend, gesehen hatte.

Ein Anderes gesellte sich nicht minder wohlthuend hinzu. Auf dem breiten Strome war heute Leben. Oberhalb, in den nordischen Steppen, aus denen er kam, war in der Woche vorher das Eis gebrochen. Die See, der seine Wellen zueilten, war schon mehrere Tage früher vom Eise frei geworden. So war seit dem gestrigen Tage die Schifffahrt eröffnet und kleine Ruder- und große Segelkähne und selbst ein paar Dampfer schwammen lustig hin und her, meist stromabwärts, der See zu, nachdem sie eingefroren den langen Winter hindurch hatten fest liegen müssen. Es war ein neuer Anblick für den Criminalrath; er führte ihn in ein für ihn neues Leben! er weckte in ihm Bilder der Ferne, auch der Heimat und in dieser das traute Bild seiner Braut und – das seiner Carriere.

»Ich werde doch Emilie hierher bringen können, trotz dem neckenden Kobolde. Ein paar Jahre läßt es sich hier immer leben; vielleicht brauche ich es nur für ein Jahr hier auszuhalten. Dann wird der Minister mich in eine größere Stadt versetzen – wenn ich gar in die Residenz käme – in das Ministerium!«

Da steckte er voll von süßen und heiteren Bildern.

Sie wurden ihm plötzlich entrissen.

Der Gerichtsdiener Braun nahete sich ihm eilig von dem Weißensteine her, schien ihn aufgesucht zu haben und verdoppelte sichtlich seine Schritte, als er den Gesuchten gefunden hatte.

»Der Herr Criminalrath möchten schleunig zum Weißenstein kommen.«

»Was gibt es?«

»Es sind ein paar fremde Herren angekommen, die sehr eilig den Herrn Criminalrath zu sprechen wünschen, in Amtsgeschäften, wie sie dem Herrn Sekretär gesagt haben.«

Das ehrliche Gesicht des Gerichtsdieners war bei seinen Mittheilungen so sorgen- und so geheimnißvoll. Dem Criminalrath fiel es schwer auf das Herz. Fragen mochte er den Menschen nicht weiter. Er war einmal gegen ihn eingenommen.

»Aber etwas Schlimmes hat er. – Laura? Ihr Geheimniß? Die Gefängnisse, die Todtenkammern der Nonnen! Es sei keine Amtssache, schwor sie mir! Aber sie ist leichtsinnig; der Leichtsinn macht falsch, egoistisch, kümmert sich nicht um das Wohl und Wehe Dritter. Sie hat mir etwas eingebrockt. Ich träumte so glücklich von meiner Carriere! Hätte ich mich doch mit der Person nicht eingelassen! Ich war selbst leichtsinnig!«

Er folgte dem Gerichtsdiener zum Weißenstein.

Er hatte eine lange Promenade gemacht. Die Sonne war unterdeß untergegangen. Die Dämmerung war schon eingetreten, als er oben ankam.

Im Hof hielt hier eine Extrapost.

»Wo sind die Herren?« fragte der Criminalrath den Gerichtsdiener.

»Im Bureauzimmer des Herrn Criminalraths.«

Der Criminalrath wollte zu seinem Bureauzimmer gehen.

Am Ende des Seitenganges, der zu seinen Wohnzimmern führte, stieß er plötzlich mit zwei Frauen zusammen; sie schienen aus der Wohnung des Gefangenwärters Hartmann zu kommen.

Die eine flog zurück, als sie den Criminalrath sah.

Der Criminalrath hatte sie trotz der Dunkelheit des Ganges erkannt.

Es war Mamsell Laura.

Sie zog ihre Begleiterin mit sich zurück, hastig, heftig; der Criminalrath sollte sie nicht sehen, wenigstens das Gesicht nicht.

Aber er hatte das bleiche Gesicht schon gesehen und erkannt, und ein Schreck durchfuhr ihn.

Es war die schöne, bleiche Dame, mit der er auf der Reise zum Weißenstein im Postwagen gefahren war, deren eleganter, hoher und stolzer Wuchs ihn dann mit Entzücken erfüllt und deren schöne dunkle Augen ihn völlig hingerissen hatten.

»Sie hier bei dem Quälgeist des Weißensteins! Bei seinem Quälgeist!«

»Und die Verwandte, die Schwägerin der schönen Mamsell Laura!«

»Also auch die Vertraute; und die kokette Sirene wird ihr Alles von mir erzählt haben, wie ihre Augen mit mir machen konnten, was sie wollten; wie sie mich zuerst herausforderte, daß ich ›mein schönes Kind‹ zu ihr sagen mußte; wie sie mich dann abfertigte, als wenn sie eine Prinzessin und ich ein dummer Junge wäre; wie sie mich verspottete und verhöhnte mit ihren glatten und spitzen Worten, mit ihren Thränen und hellen Augen, mit der weichen Hand, der runden Schulter. Ach, säßen alle hellen und dunklen Augen und weichen Hände und blendendweißen Arme, wo der Pfeffer wächst!«

Und dann fiel ihm etwas Anderes noch heißer und brennender auf die Seele!

»Noch vier Tage! sagte zu ihr jener geheimnißvolle, stolze, aristokratische Fremde. Und heute, gerade heute, gehen die vier Tage zu Ende! Und sie ist hier! Hier, bei der Laura und dem Geheimnisse in der alten Todtenkammer der Nonnen!«

»Und sie ist die Schwägerin der Kammerjungfer?«

»Und dort in meinem Bureau sind die beiden fremden Herren, die mich so dringend sprechen wollen, und der Braun hatte ein Gesicht wie ein Leichenbitter!«

Er war in seinen Gedanken stehen geblieben.

Mamsell Laura flog zu ihm zurück.

Sie hatte mit der bleichen Dame wenige Worte gewechselt.

»Sie haben die Dame erkannt?« fragte sie den Criminalrath.

»Ja.«

»Sie wissen durch Christine, daß es meine Schwägerin ist!«

»So sagte mir Christine.«

»Herr Criminalrath, Sie wissen nicht, wer Sie in Ihrem Bureau erwartet!«

»Ich habe keine Ahnung davon.«

Er hatte ihr wohl kalt und kurz antworten wollen Er konnte es doch nicht. Sie sprach in Angst und Sorge, und hinten im Gange stand noch die bleiche Frau, die ihre Schwägerin war.

Sie nahm in ihrer Angst seine Hand.

»Lieber Herr Criminalrath –«

Lieber Herr Criminalrath! So hatte sie noch nicht zu ihm gesagt, und auch der Ton ihrer Stimme war ein so ganz anderer. Eine Kammerjungfer sprach nicht zu ihm.

»Lieber Herr Criminalrath, Sie haben das Glück und Unglück meiner armen Schwägerin in Ihrer Hand, und das Leben eines edlen Menschen! Sie sind –«

Thränen erstickten ihre Worte.

Sie stürzte fort, in den Gang zurück.



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