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Europa

 

I

Freiheit! Freiheit!

Sobald der Schlagbaum hinter ihnen zugefallen war, sobald das Räderrollen jenseits der Grenzsperre wieder anhob, vergaß Wilhelm alles: Sophie, Panajew, sogar die Tante Breitkopf. Er war dreiundzwanzig Jahre alt. Vor ihm lag die Heimat Goethes, Schillers und Sands und das geheimnisvolle Paris, noch durchzittert von den Schauern des großen Umsturzes, Paris mit seinem Quartier latin, das lärmende, liebenswürdige Paris, Italien mit dem unerhörten Himmel, mit der Luft, die seine Brust heilen sollte. Vorwärts! Vorwärts!

Alexander Lwowitsch Naryschkin schielte ironisch mit den verfetteten Äuglein Wilhelm an und staunte über seine Gesprächigkeit. Der lange »Zwieback« war tatsächlich ein unterhaltender Gesellschafter und, was dem alten Witzbold, der an nichts mehr, nicht einmal an Witzen mehr Geschmack fand, besonders gefiel, ein »entsetzliches Original«. Alexander Lwowitsch hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Er war bereits Hofgünstling (er hatte den Rang eines Oberhofmarschalls), Theaterdirektor und ein berühmter Petersburger Amphitryon gewesen, hatte aber nirgends festen Fuß fassen können und reiste nun ins Ausland, um seine freie Zeit, die er, nebenbei bemerkt, im Überfluß hatte, totzuschlagen. Warum er reiste, war keinem Menschen klar, nicht einmal ihm selber; vielleicht wirklich deswegen, weil seine Frau Maria Alexejewna das Katharinenband nicht bekommen hatte. Naryschkins Stimmung wechselte hundertmal am Tage. Zum Frühstück gab es eine Portion starker Witze und geistreicher Wortspielereien, am Abend war er unzufrieden, wichtigtuerisch, oppositionell, und zwischendurch am Tage gab es eine Menge überraschender Anwandlungen. Wenn Alexander Lwowitsch beim Frühstück beschloß, in »diesem Nest« keine Stunde länger zu bleiben, konnte man darauf schwören, daß er wenigstens eine Woche da bleiben würde. Wenn er am Morgen mit der gesamten Dienerschaft zufrieden war, konnte man bestimmt damit rechnen, daß er sie beim Mittagessen alle verfluchen würde. Seine Gespräche waren nicht bloß witzig, er besaß auch ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und manchmal entdeckte Wilhelm staunend bei seinem Beschützer eine Bildung, die man gar nicht bei ihm vermutet hätte. Naryschkin wußte eine solche Menge Anekdoten von zwei Höfen, daß Wilhelm ihn mehrmals fragte, warum er sie nicht aufschreibe; das gäbe sicher ein sehr unterhaltendes Buch.

Doch Alexander Lwowitsch winkte verächtlich ab und meinte: »Ich soll das aufschreiben, damit die Leute behaupten, ich hätte das alles erfunden! Hab ich das nötig?«

Naryschkin war unermeßlich reich, und das war ihm offenbar lästig, denn er verstand selbst dort Geld auszugeben, wo es unmöglich schien. Auf der Reise kaufte er alles: Prachtstoffe, Teppiche, kostbare Vasen, Gemmen, Bücher, alles, was irgendwie »originell« war.

Er war schon alt und halb erloschen. Wilhelm konnte aber doch noch ahnen, was für ein Feuerwerk dieser Mensch in seiner Jugend gewesen sein mußte.

Der alte Sonderling aus dem versunkenen Jahrhundert faßte Sympathie für den jungen Sonderling. Wenn Wilhelm aus dem Wagen sprang, um unterwegs eine Feldblume zu pflücken, betrachtete ihn Naryschkin mit Vergnügen. Die Urteile des jungen Sonderlings waren für ihn genau so unterhaltsam wie irgendeine neumodische Nippsache in einem Leipziger Laden.

Der Weg führte durch die eintönige livländische Landschaft. Doch sie entzückte Wilhelm. Die Riesentannen, die dunkelgrünen Fichten, die unwegsamen Sümpfe erinnerten ihn an die Gegenden, in denen er seine früheste Kindheit verbracht hatte: das düstere Ulvi, Avinorm, das von Bächen durchschnittene, sandige Nennaal. Wilhelm erzählte bei dieser Gelegenheit so viel romantische Gespenstergeschichten von den livländischen Schlössern, daß Alexander Lwowitsch, der wie alle echt russischen Voltairianer abergläubisch war, etwas unruhig wurde.

Ein herrlicher Wagen trägt Alexander Lwowitsch und Wilhelm dahin. Poststraßen, Meilensteine, verstaubte Chausseebäume fliegen vorbei.

Weiter!

Wilhelm ist in Deutschland.

 

II

15./27. Oktober 1820.

Unterwegs zwischen Gurzberg und Grosenheim.

Wir haben Berlin und Preußen hinter uns. In Berlin war ich unter anderem in der Porzellanmanufaktur. Die mechanischen Arbeiten, die Maschinen, Feuergebläse und ähnliche Dinge, die viele so anziehn, erregen in mir nicht nur kein Interesse, sondern stoßen mich ab; aus der mir angeborenen Nachgiebigkeit heraus besuche ich manchmal in Gesellschaft anderer Werkstätten und Fabriken; doch die Unsauberkeit und die Schwüle, die da herrschen, beengen mich. Der Lärm betäubt mich. Der Staub bringt mich in Verzweiflung, und der Vergleich zwischen dieser so nichtigen und so schweren menschlichen Mühe mit dem erhabenen Walten der Natur erweckt in mir dumpfe Empörung.

Nur dann fühle ich mich glücklich, wenn ich unter den Schutz des hohen, freien Himmels fliehen kann; selbst unter dem Geheul der Stürme, unter dem Grollen des Donners fühle ich mich glücklich; er betäubt mich, doch die Gewalt seines Klanges beschwingt meine Seele.

Dresden. 20. Oktober/1. November.

Elisa von der Recke, geborene Gräfin Medem, eine hohe, majestätische Erscheinung, war einst eine der schönsten Frauen Europas. Jetzt, im fünfundsechzigsten Jahre ihres Lebens bezaubert sie noch durch ihre Güte, durch ihren Geist. Sie war mit den größten Berühmtheiten befreundet, die die letzten Jahre der Epoche Katharinas unsterblich machten. Achtung erwarb sie sich durch ihren Kampf gegen den verderblichen Aberglauben, den Cagliostro und ähnliche Betrüger in den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen achtzehnten Jahrhunderts verbreitet haben. Selbst unter Männern findet der Aberglaube heute keine so aufgeklärten Gegner wie jene kühne Schriftstellerin des vorigen Jahrhunderts. Zu unserer Zeit noch verbreitet er sich schnell, läßt alte, längst vergessene Märchen unserer Mütter und Ammen neu erstehen und findet sogar hohe Förderer! Wir alle machen uns lustig über Gespenster, Teufel, Propheten und Zauberer; doch wie sollen wir der Macht der schwarzen und weißen Magier widerstehen, die in absonderlicher und dunkler Sprache davon erzählen, daß man sich mit den Seelen der Verstorbenen vereinigen könne, die von der Existenz elementarer Geister, von Geheimoffenbarungen und Eingebungen erzählen. Dafür kleiden sich die Cagliostros unserer Zeit in feinstes Tuch, tragen eine Taschenuhr, duften nach erlesenen Essenzen. Ihre Finger sind mit Ringen geschmückt, ihre Taschen mit unserem Geld gefüllt. Sie wissen alles. Sie sind überall. Sie kennen die

ganze Welt. Unsere Frauen finden, daß sie weltmännisch, liebenswürdig, wir, daß sie weise sind. Und zu welcher sozialen Höhe diese Herren manchmal steigen! Doch kehren wir zu der Frau zurück, die den Vorläufer dieser Herrschaften entlarvt hat. Als Cagliostro in Mitau war, gelang es ihm, die Phantasie der damals noch jungen Frau von der Recke und ihrer Schwester, der Herzogin von Kurland, zu entflammen. Doch Elisa konnte sich nicht lange täuschen lassen und hielt es für ihre Pflicht, ihre Eigenliebe zu opfern, um andere aus den Fallstricken ähnlicher Burschen zu retten. Sie veröffentlichte die Schilderung des Lebens und der Taten des Grafen Cagliostro in Mitau.

Niemals werde ich diese majestätische, sanfte Freundin der Musen vergessen. Ihr Lebensabend erinnert an einen herrlichen, stillen Sonnenuntergang. Alle, die in ihrer Nähe leben, vergöttern sie.

 

III

Das Zimmer war klein und voller Bücherschränke; auf dem Tisch lagen Manuskripte.

Sichtlich gelangweilt sah Tieck mit den tiefen, eingefallenen Augen Wilhelm an. Das dunkle Gesicht hatte einen verdrießlichen Ausdruck, und der zigeunerhafte, unstete Blick war traurig.

Wilhelm fühlte sich verlegen diesem unruhigen, gelangweilten Mann gegenüber. Sie sprachen von Tiecks Freund, dem ungewöhnlichen Novalis, der so früh und auf so rätselhafte Weise gestorben war und dessen Werke Tieck herausgab.

»Es ist sehr zu bedauern,« sagte Wilhelm, »daß Novalis bei seiner großen Begabung und ungewöhnlichen, glühenden Phantasie nicht danach strebte, klar zu sein. Er ging ganz in mystischem Spintisieren auf. Sein erstaunliches Leben und seine herrliche Dichtung haben keine sichtbare Spur hinterlassen. In Rußland kennt ihn kein Mensch.«

»Novalis ist klar,« erwiderte Tieck trocken.

Er sah Wilhelm an und fragte nach kurzem Schweigen:

»Wen von uns kennt man denn in Rußland?«

Dieses »uns« klang fast feindlich.

»Wieland, Klopstock, Goethe,« zählte Wilhelm verlegen auf. »Ganz besonders aber Schiller. Schiller wird bei uns am meisten übersetzt.«

Tieck ging nervös durchs Zimmer.

»Wieland, Klopstock,« wiederholte er ironisch. »Dieser alte, wollüstige Affe, dieser Dichter, der nie in seinem Leben einen hohen Gedanken gehabt hat!«

»Wen meinen Sie?«

»Klopstock!« erwiderte Tieck. »Ein schwerfälliger, unsauberer Dichter mit entzündeter Phantasie. Ein gefährlicher Dichter. Ein Skeptiker.«

Wilhelm sah ihn erstaunt an.

»Aber Schiller?« murmelte er.

»Schiller?« wiederholte Tieck nachdenklich. »Eine Fistelstimme, die stets falsch klingt. Ihre Höhe hat etwas Zweideutiges. Kein Mensch kann sie lange anhören, ohne daß es ihm schlecht wird. Sein ganzes Lebtag hat er von Liebe geschrieben und nur häßliche Frauen geliebt. Seine pathetischsten Monologe schrieb er, wenn er den Geruch fauler Äpfel einatmen konnte. Wenn ein Mann mit allzu klaren, hellblauen Augen sie anschaut,« er blieb vor Wilhelm stehen, »trauen Sie ihm nicht. Fast stets ist er ein Lügner.«

Wilhelm mußte plötzlich an die hellblauen Augen des Zaren denken. Es wurde ihm unbehaglich.

Tieck ging im Zimmer auf und ab.

»Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen etwas vor,« sagte er plötzlich.

Er nahm seine Shakespeareübersetzung vom Tisch und begann aus Macbeth vorzulesen.

Fast im selben Augenblick hatte er Wilhelm vergessen.

Wilhelm glaubte, drei, vier Menschen vor sich zu haben. Die gespannte, aus der Kehle kommende Stimme Macbeths, ihr gegenüber die matte, erschreckend unbiegsame und gleichsam schläfrige Stimme Lady Macbeths. Tieck nahm die Kerze vom Tisch. Sein Blick wurde irr. Wilhelm fuhr zusammen. Tieck starrte auf die ausgestreckte, gelbliche Hand, in der er die Kerze trug. Die Worte lebten, jedes Sinnes, jeder Bedeutung entleert, furchtbar und nackt wie die gelbe, von der Kerze beleuchtete Hand …

Tieck ließ sich schwer in den Sessel fallen und sah wieder gelangweilt den Besucher an.

»Ich werde Ihren Macbeth nie vergessen. Ich werde ihn ins Russische übersetzen.«

»Freut mich sehr,« meinte Tieck gleichgültig. »Ich bin überzeugt, es wird Ihnen besser gelingen als mir.«

Wilhelm verneigte sich und eilte aus dem Haus.

Da war es, das furchtbare Europa, das Europa der romantischen Visionen, der Träume eines in einem unterirdischen Gewölbe eingeschlafenen Betrunkenen!

An die Luft!

 

IV

Dresden. 22. Oktober / 3. November.

Ich habe einen jungen Mann kennen gelernt, den ich nach den ersten zwei Begegnungen liebgewann. Er heißt Odojewski, steht im Militärdienst und ist jetzt in Dresden wegen seiner Mutter, deren Gesundheit nicht ganz in Ordnung ist. Sie können sich vorstellen, liebe Freunde, wie oft ich ihn aufsuche! Sie können sich vorstellen, daß wir immer wieder nur von Rußland sprechen, daß wir uns darüber gar nicht sattsprechen können. Die jetzige Lage unseres Vaterlandes, die Maßnahmen, die die Regierung ergreifen müßte, um all die Mißbräuche abzuschaffen, die feste Überzeugung, daß unser Heiliges Rußland zur höchsten Blüte gelangen wird, die Überzeugung, daß dem russischen Volke nicht umsonst seine wundervolle Begabung, seine Sprache, die reichste und herrlichste aller europäischen Sprachen, verliehen sind, daß die Reußen dazu bestimmt sind, eine große, wohltätige Erscheinung der sittlichen Welt zu werden, – das alles macht unsere Unterhaltungen so warm und lebendig und läßt mich manchmal ganz vergessen, daß ich in der Fremde bin. Im Hôtel de Pologne, wo wir jetzt wohnen, traf ich noch einige Russen. Einer erzählte mir von Puschkin, den er in Kiew bei einem Diner getroffen hat. Ich freute mich sehr, daß ich sie mit Puschkins neuestem Poem »Rußlan und Ludmilla« bekannt machen konnte.

Dresden. 28. Oktober / 9. November.

Ich sah hier Wunderdinge aller Art: zwei Riesen, Wachsfiguren, einen Seelöwen, wohlerzogen und klug, der – Wunder aller Wunder! – deutsch und, wie man mir versichert, sogar niedersächsisch sprechen kann. Ich liebe es, mich unter die Massen des einfachen Volkes zu mischen, den Charakter, die Bewegungen, die Leidenschaften meiner Brüder zu beobachten, von denen mich Stand und Vorurteile trennen, mit denen mich aber gemeinsames Menschentum verbindet; niemals wird man sie ungezwungener und freier beobachten können als bei Schauspielen aller Art; ihre lebhafte Neugier läßt durch ihre Reden ihre Sitten durchblicken; sie verraten dabei alle ihre Kenntnisse, ihre Gefühle, ihre Denkungsart. Der Sachse aber ist bei solchen Gelegenheiten im allgemeinen still, schweigsam, aufmerksam und tiefsinnig. Jung und alt, Männer und Frauen schwiegen in einer Art heiliger Ehrfurcht; sie glaubten leibhaftig die stummen Beherrscher Europas vor sich zu sehen, die ihnen die Schaubudenbesitzerin mit kreischender Stimme vorstellte; sie schienen sich auf den »wahnsinnigen« Sand stürzen zu wollen, der vor ihren Augen Kotzebue erdolchte; sie betrachteten Frau Staël, den Seelöwen, die Riesin und alles, was es zu sehen gab, ernst, aufmerksam, ruhig, in würdiger Haltung.

Leipzig. 8./20. November 1820.

Hier in Leipzig sind wir gestern angekommen.

Leipzig ist eine hübsche, helle Stadt, voller Leben und Geschäftigkeit. Die Bewohner zeichnen sich durch besondere Feinheit, durch Höflichkeit im Verkehr aus; ich habe hier nichts finden können, was an Provinzsitten erinnert. Leipzig trägt mit Recht den Namen des deutschen Athens. In der Umgebung der Stadt, wie überhaupt in ganz Sachsen, sind keine Spuren des Krieges zu bemerken; die Einwohner sind wohlhabend und sprechen von der Vergangenheit wie von einem furchtbaren Traum. Mit Mühe nur kann ich mir vorstellen, daß hier auf den friedlichen Feldern das Schicksal der Menschheit entschieden wurde. Glücklich das Land, in dem solche Tatkraft lebt, die Bürger aufrechthält und sie befähigt, die Zeichen der Zerstörung zu beseitigen!

In unserer Zeit haben zweimal Völker um ihre Freiheit gekämpft. Hier auf diesem Boden wurden die Fesseln der Knechtschaft gesprengt. Heiliger, unvergeßlicher Krieg! Noch gab es damals keinen Zwiespalt zwischen den Völkern und ihren Regierungen wie heute. Ein und derselbe Geist lebte in allen! Ein und dasselbe Herz schlug in allen! Sollte denn das Blut, das einst auf den Feldern von Leipzig floß, umsonst geflossen sein?

Weimar. 10./22. November 1820.

Gestern abend kamen wir nach Weimar, nach dem Weimar, in dem einst die Großen gelebt haben: Goethe, Schiller, Herder, Wieland. Goethe allein hat seine Freunde überlebt. Ich sah den Unsterblichen. Ich überbrachte ihm einen Gruß Klingers. Goethe ist von mittlerem Wuchs. Seine schwarzen Augen blitzen von Feuer und Geist. Ich hatte ihn mir auch dem Äußeren nach als Riesen vorgestellt, aber das war ein Irrtum. Er spricht langsam. Die Stimme ist leise und angenehm. Lange Zeit konnte ich mich nicht in den Gedanken hineinfinden, den Riesen Goethe vor mir zu sehen. Als ich mit ihm von seinen Werken sprach, nannte ich ihn einmal sogar in der dritten Person. Wie es schien, freute es ihn, daß Schukowski die Russen mit einigen seiner kleinen Gedichte bekanntgemacht hat.

Weimar. 12./24. November 1820.

Ich habe hier auch Dr. de Wette besucht, der durch seinen Brief an Sands Mutter bekannt geworden ist. In ihm fand ich nichts von dem unruhigen Geist und der Betriebsamkeit des Demagogen. Er ist still, bescheiden, fast schüchtern, im Verkehr und im Gespräch sehr gemäßigt und vorsichtig. Ich traf bei ihm einen jungen Mann, namens Lenner, einen schweigsamen, bescheidenen Studenten. Der Blick seiner tiefen Augen fiel mir auf. Er fragte mich viel über Rußland aus. Einen Brief an de Wette hatte ich von F. bekommen, einem alten Bekannten aus der Verroer Zeit. Damals war ich etwas über 12 Jahre alt und sah als Pensionatsschüler einer Bezirksstadt mit großer Achtung zu dem Gymnasiasten F. auf, der aus Dorpat zu unserem guten Erzieher kam. In Leipzig fand ich ihn wieder als klugen, gründlichen, gelehrten Mann. So gehen Menschen auseinander, die in der Kindheit und in der Jugend Kameraden waren, und wenn sie sich später, in einer anderen Zeit, unter anderem Himmel treffen, dann ist ihnen diese Begegnung ein Erlebnis. Glücklich die, denen es gelingt, die Gefährten ihres Frühlings wiederzusehn! Wie oft trennen wir uns von unseren Lieben und hören nie mehr von ihnen, nicht einmal von ihrem Tode!

 

V

Wilhelm verließ Dr. Wette in tiefer Versonnenheit. Der weiche Blick durch die Brille und die aschblonden, langen Haare hatten starken Eindruck auf ihn gemacht. Der Blick des Doktors, das war jener verständnisvolle Blick, den Wilhelm bisher noch nie gesehen hatte. Wilhelm glaubte in ihm so etwas wie Mitleid zu bemerken. Das wühlte ihn auf. Aber die Sonne schien, die Musik der Straße klang ganz anders als in Rußland. Wilhelm nahm den Hut vom Kopf und ging unter dem blauen Herbsthimmel dahin, von keinem Gedanken mehr beschwert.

Ein junger Mann berührte seine Hand.

Wilhelm fuhr zusammen. Es war der junge Lenner. Er sagte lächelnd:

»Ein herrlicher Tag! Nicht wahr?«

Dann aber mit veränderter Stimme:

»Darf ich Sie bitten, mich heute abend in meiner Wohnung aufzusuchen? Ich würde mir nicht erlauben, Sie zu bemühen, wenn nicht ein besonderer Umstand vorläge, der, wie ich hoffe, auch Sie interessieren wird.«

Wilhelm war etwas verwundert, dankte aber und versprach zu kommen.

Lenner wohnte in einer engen Vorstadtgasse, in deren Mitte sich die schräg abfallenden Schieferdächer fast berührten.

»Lise!« rief irgendwo eine strenge Stimme.

Wilhelm stieg die schwankende Holztreppe hinauf, die zu Lenners Zimmer führte. Der Student erwartete ihn schon. Die Ärmlichkeit des Zimmers überraschte sogar Wilhelm. Eine dünne Matratze in der Ecke, ein runder Tisch mit einer brennenden Kerze darauf, eine Etagere mit einem Stapel Bücher, das war die ganze Einrichtung.

Noch ein anderer Mann saß da, klein, untersetzt, mit vorstehenden, schwarzen Augen und dicken Lippen. Beide drückten Wilhelm heiß die Hand, und der Kleine betrachtete ihn aufmerksam.

Man sprach über Literatur, über Rußland, seine Steppen und Sibirien, von dem die Studenten einen ziemlich schwachen Begriff hatten. Dann trat eine Pause ein. Wilhelm fühlte sich unbehaglich. Sein Besuch war zwecklos. Da faßte der Kleine Wilhelm ins Auge und sagte:

»Mein Freund Lenner hat mir gesagt, daß Sie sich für unseren Karl interessieren?«

Lenner öffnete leise die Tür und sah nach, ob man nicht lauschte.

Wilhelm sah ihn fragend an.

»Karl, Karl Sand,« wiederholte der Kleine und begann, ohne eine Antwort abzuwarten, hervorzusprudeln:

»Wir vertrauen Ihnen ganz und gar. Ich weiß durch Lenner einiges von Ihren Ansichten. Hören Sie also zu. Unser Jugendbund wächst täglich, stündlich. Karls Blut ist nicht umsonst geflossen. Unser Bund ist über das ganze Land verzweigt. Doch wir sind machtlos gegen die Hydra: Metternich ist noch da. Ihr Kaiser ist noch da. Sagen Sie uns nur eines: Wie lange noch? Gibt es eine Hoffnung?«

Wilhelm saß etwas verdutzt da. Er zuckte die Achseln:

»Alles gärt, aber niemand weiß, was wird.«

»Also die Lage ist unklar?« formulierte der Kleine.

»Ja, unklar,« sagte Wilhelm zögernd.

Er war verlegen. Er hatte das Gefühl, mit irgend jemand verwechselt zu werden.

»N–na!« sagte der Kleine und sah Lenner an. »Wir haben den Glauben, nicht wahr, Friedrich?«

Er verabschiedete sich hastig von Wilhelm und Lenner und lief aus dem Zimmer.

»Ist es Ihr Freund?« fragte Wilhelm Lenner.

»Das ist unser Sekretär,« antwortete Lenner sehr zurückhaltend. »Er war ein naher Bekannter von Sand.«

»Darf ich Sie bitten, von einem so armen Mann wie mir ein bescheidenes Geschenk anzunehmen?« fragte er Wilhelm nach einer Weile, und seine blauen Augen verdunkelten sich. »Nehmen Sie's zur Erinnerung. Gott weiß, ob wir uns je wiedersehn.«

Er zog die Schublade heraus, sah sich um, um sich zu überzeugen, daß sie nicht beobachtet wurden, und reichte Wilhelm ein ovales Porträt von Sand.

Wilhelm drückte ihm die Hand, und sie fielen sich in die Arme. Das war eine plötzliche Freundschaft, wie sie nur bei Menschen unter fünfundzwanzig Jahren entstehen kann. Sie ist unsicher wie ein sonniger Tag. Sie wird schnell vergessen. Man erinnert sich an sie mit schmerzlichem Gefühl. Und doch ginge dem Menschen ohne solche Freundschaften viel verloren!

 

VI

Der Zar las zum zweiten Male den Bericht, den ihm der stets höfliche, stets strahlende Benkendorff übergeben hatte. Der Zar konnte den jungen General nicht sonderlich leiden. Er hatte schnell und geschickt Karriere gemacht. Er war schon Stabschef im Gardekorps. Trotzdem ging sein übertriebener Eifer Alexander auf die Nerven. Benkendorffs blaue Augen schauten ungewöhnlich einschmeichelnd in die Welt. Er stand dem Großfürsten Nikolaus zu nahe, was des Zaren Machtgefühl verletzte. Man sagte, Benkendorff sehe ihm sehr ähnlich. Alexander kannte sich ausgezeichnet in dieser Art Güte aus, die aus Benkendorffs blauen Augen strahlte und die Frauen berückte (Benkendorff war ein großer Schürzenjäger).

Auch der heutige Bericht verstimmte den Zaren. Es war Anfang Juni. Er war eben aus Laibach nach Zarskoje Selo zurückgekehrt und hatte nur einen Wunsch: Ruhe. Die Linden von Zarskoje Selo, weiße Frauenhände, Regimentsmusik, eine kleine Parade und Truppenrevue, das war alles, was er im Augenblick brauchte. Mit einigem Ärger beugte er zum zweiten Mal sein Gesicht über den Bericht des übereifrigen Benkendorff, der damit ruhig hätte warten können. Dabei war, was da stand, sehr beunruhigend.

Es unterlag keinem Zweifel: In Rußland hatte sich ein verdächtiger Geheimbund gebildet. Das waren nicht mehr die Freimaurer, die ein schlimmes Kapitel für sich bildeten, ihre Nasen in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen, und überhaupt höchst lästig waren. Der Bund, von dem Benkendorff berichtete, war schon eine unverhüllte Verbrechergesellschaft, politisch, mit gefährlichen Tendenzen und Methoden, die an Carbonaris oder Jugendbündler erinnerte: mit irgendwelchen Dreier– und Zehnergruppen, mit Geheimsitzungen … Aber dennoch irrte sich Benkendorff. Ein Bund bestand zwar, aber kein revolutionärer. Wozu überhaupt das Wort »revolutionär« inbezug auf Rußland anwenden? Vielleicht war die Gesellschaft vom kritischen Geist angesteckt, aber eine Revolution konnte es in Rußland nicht geben. Der Zar mochte dies Wort »revolutionär« überhaupt nicht lesen. Er verabscheute es und ärgerte sich über Benkendorff. »Eine kritische Bewegung, aber keine Revolution.« Die Erinnerung an das Semjonowregiment tauchte auf, an sein Regiment, seine Leibgarde, die so gewissenlos seine Hoffnungen getäuscht hatte. Er fürchtete diese Erinnerung wie eine persönliche Kränkung. Er hatte die Semjonower in alle Winde zerstreut, das Regiment vernichtet. Ja, damals, als man sie nach Sveaborg transportierte, war ein Sturm losgebrochen. Beinah wären sie alle umgekommen. Wären sie's nur! Die sollen in Zukunft nicht mehr meutern, sollen an ihn denken … Wieviel Umstände! Eigentlich wäre es schön, wenn das ganze Regiment auf der Fahrt nach Sveaborg untergegangen wäre. Später mußte man die Leute nach dem Süden, zum zweiten und dritten Korps schaffen. Weiß Gott, was die dort noch alles anstellen werden! Schuld daran sind diese Neunmalklugen, diese Leute, von denen Benkendorff berichtet und auch der halb verrückte Karasin geschrieben hat.

Aber dennoch irrt sich Benkendorff: In Rußland kann es keine Revolution geben. Die Superklugen müssen beseitigt werden, dann hört die kritische Bewegung auf. – Er begann wieder zu lesen. Den allgemeinen Teil des Berichtes las er nicht. Er überflog ihn voll unbestimmter Angst. Bei dem Wort Revolution, das ihm wieder in die Augen stach, verzog er das Gesicht. Der General entwickelte entschieden zu viel Eifer. Dafür las der Zar die Namen sehr aufmerksam, dachte nach und schrieb sie in sein Notizbuch.

»... Nikolai Turgenjew, der seine Ansicht offen zur Schau trägt, stolz auf den Namen eines Jakobiners ist, von der Guillotine träumt, nichts Heiliges kennt und alles zu opfern bereit ist, in der Hoffnung, alles beim Umsturz zu gewinnen …«

»... Er übernahm es, zusammen mit Professor Kunizyn eine Zeitschrift in großer Auflage und zu billigstem Preise herauszugeben. Die Unkosten sollte der Bund tragen. Die Zeitschrift sollte Artikel über öffentliche Angelegenheiten bringen. Zur Mitarbeit waren alle Mitglieder verpflichtet. Ihre Hilfe versprachen: Tschaadajew (den der Bund noch prüfen wollte), Küchelbecker (ein junger Feuerkopf, Zögling des Lyzeums, jetzt zusammen mit Naryschkin im Ausland) und andere …«

»So!«

Der Zar schaute aus dem Fenster nach dem Lyzeum hinüber. Diese Schlange hat er an seiner Brust, an seiner eigenen Brust großgezogen … Das Lyzeum, Kunizyn und dieser Sohn von Mamas Hofdame, dieser Deutsche! Direkt vor seiner Nase! Empörend! Diese Verse Puschkins! Und das alles geschieht unmittelbar vor seinem Hause. Und er selbst, er selbst hat dieses Lyzeum gegründet!

Er trat an den Sekretär mit dem Geheimschloß und holte ein Papier heraus. Es war Karasins Denunziation. Ja, ja, auch dieser Karasin warnte ihn vor dem Lyzeum. Sprach von Puschkin, von Louvels Bild … Das ist ja ein richtiger Zuchthäusler, ein Brigant … Und dann noch die empörenden Verse des Deutschen:

Die Peitsche droht dem Bösewicht
In Juvenals gestrenger Hand.

»So!« Alexander verbeugte sich nicht ohne Grazie.

»... Insofern dieses Stück unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Puschkins Ausweisung gelesen wurde, ist anzunehmen, daß es aus diesem Anlaß geschrieben worden ist …«

Ohne Zweifel!

»... Das alles wird schamlos geschrieben und veröffentlicht, nicht von irgendwelchen Wüstlingen, die von der öffentlichen Meinung schon als solche gestempelt sind, sondern von jungen Leuten, die eben erst Zarenschulen verlassen haben. Man denke an die Folgen einer solchen Erziehung!«

Alexander sah unwillkürlich zum Fenster.

Kein Zweifel, hier, dicht vor der Nase, sitzt die Verderbnis. Überall wird Gottes weise Vorsehung geleugnet … Der Geist der Kritik … Unbedingt Araktschejew sprechen. Irgend etwas muß unternommen werden …

»Zittert, Tyrannen! Was nützt Rache?«

Dieser Grünschnabel! Jetzt ist er im Ausland? – Der Kaiser verzog das Gesicht: »Man hätte ihn nicht reisen lassen sollen!«

Er schrieb: »Küchelbecker. Unter Geheimaufsicht stellen. Monatlich Berichte.«

 

VII

Lyon. 9./21. Dezember 1820.

Die Deutschen haben in letzter Zeit bewiesen, daß sie die Freiheit lieben und nicht dazu geboren sind, Sklaven zu sein. Doch manche ihrer Gepflogenheiten sind für jeden fortschrittlichen Menschen erniedrigend und sklavisch. Dazu gehört besonders der Gebrauch von Sänften (Porte-Chaises). Ich gestehe, daß ich in Dresden, wo es keine Droschken gibt, bei schlechtem Wetter und halb krank, wie ich war, selber gezwungen war, sie zu benutzen. Doch jedes Mal, wenn ich mir deutlich vorstellte, daß die Schultern von Wesensverwandten mich dahintrugen, wäre ich am liebsten hinausgesprungen. Noch weniger gefiel mir der Brauch, Waisenkinder, die auf öffentliche Kosten erzogen werden, für Geld auf den Straßen singen zu lassen; es tat einem weh, diese armen Kinder zu sehen, in ihren langen, schwarzen Röcken und den Riesenhüten, wie sie bei uns die Leichenträger haben. Nachts singen sie bei Fackellicht. Ihre monotonen, gedehnten Gesänge wirken dann in der allgemeinen Stille entsetzlich; kaum ins Leben getreten, müssen sie den Tod, den Weltuntergang und das Jüngste Gericht predigen. Jedes Mal, wenn ich in Dresden von den Odojewskis kam, begegnete ich auf dem Neuen Platz diesem Sängerchor. Sie kamen mir wie Gespenster oder wie Tote vor, die ihre Gräber verlassen haben, um die Lebenden an die Vergänglichkeit alles Irdischen zu erinnern.

Als ich zusammen mit Alexander Lwowitsch zwischen Kehl und Straßburg die Brücke passierte, die Deutschland und Frankreich vereinigt und trennt, wurde in meinem Herzen die Erinnerung an mein fernes Vaterland lebendig. Das grüne Wasser des Rheins rauschte zu unseren Füßen. Es war ein klarer, warmer, stiller Morgen. Die Musik des wunderbaren Gedichtes, das Batjuschkow anläßlich des Rheinübergangs der Russen geschrieben hat, hallte in der Tiefe meiner Seele wider. Delwig hatte mir den Auftrag gegeben, an den Ufern des Stromes seiner zu gedenken. Zusammen mit ihm erstanden in meiner Phantasie alle meine Freunde. Ich dachte an unsere schönen Abendunterhaltungen, wo bei Rheinwein, in leisen, gefühlvollen Gesprächen und Träumereien unsere Herzen sich aufschwangen und verschmolzen, wo sie Worte fanden, die nur unserem Kreis, unserer lieben Familie von Freunden und Brüdern verständlich waren.

Avignon. 14./26. Dezember 1820.

Alle, die uns begegnen, klein und groß, halten die Hände in den Taschen und haben herausfordernde Gesichter. Ihre Liebe zum Schmutz übertrifft jede Vorstellung. Die Hütte unseres ärmsten Bauern ist noch immer sauberer als die meisten Gasthäuser, die auf unserem Wege liegen. Strolche und Bettler gibt es hier mehr als in Deutschland; außerdem Arme, die zwar nicht betteln, aber ihr Geld durch die nutzloseste Arbeit verdienen. Ich sah z. B. einen jungen Mann, der einen Hasen dazu anhielt, die Trommel zu schlagen »à l'honneur de l'infanterie et de la cavalerie, des jeunes demoiselles et des vieilles dames.«

Frankreich mit seinen herrlichen, malerischen Gegenden und der Armut, der Unordnung und Unsauberkeit, die überall herrschen, erinnert an die Werkstatt eines Malers, wo die häßlichsten und anmutigsten Dinge sich zusammenfinden.

Dich aber werde ich nie vergessen, du schönstes Erzeugnis dieser Gegend, du kluge, liebe Annette, die du mich während des Pferdewechsels auf der letzten Station mit schlechtem Wein labtest, die du trotz Holzpantinen und schweizerischer Tracht mit mir sprachst wie die liebenswürdigste Pariserin und mir zuletzt deinen Namen zugeflüstert hast: »pour que vous vous souveniez de moi!«

Avignon. 15-/27. Dezember.

In Deutschland bin ich keinem einzigen Gaukler begegnet; doch hier, gleich bei unserer Einfahrt, fiel uns ein Wundertäter auf, der mit größter Schamlosigkeit seine alles heilenden Wunderpulver anpries. Das Volk hörte ihm staunend zu. Er gebärdete sich auf seinem Wagen wie ein Professor auf dem Katheder und stellte sich taub, sobald jemand von den Vorbeigehenden ihn als Betrüger bezeichnete, was in meiner Gegenwart ein alter Bauer tat.

Bevor ich von Lyon scheide, will ich noch die auffallende Art der einfachen Franzosen erwähnen, unbekannten Worten eine ihnen bekannte Bedeutung zu geben. Der Lohndiener, den wir in Lyon mitnahmen, hörte mehrmals, wie Alexander Lwowitsch seine Leute anrief mit den Worten: »Wer ist da?« Er glaubte nun, dies sei der Name eines der Diener. Einmal hört er wieder den Ruf. Er läuft ins Zimmer und sagt: »Il n'y a personne; votre valet de chambre ›Weristda‹ vient de sortir.«

30. Dezember/11. Januar.

Wir durchwanderten die ganze Stadt und fanden allerorten Spuren der römischen Herrschaft: Ruinen, Inschriften, ganze Bauten; um ja nichts Wichtiges von den Altertümern der Provence zu übersehen, ging ich an jedes Gebäude heran, an dem ich eine Inschrift bemerkte. Plötzlich sehe ich an einer Kirche eine Inschrift, groß und kräftig in Stein gehauen. Ich eile hin, rufe die anderen heran und lese: Il est expressément défendu de faire céans aucune ordure.

Marseille.
1820. 31. Dezember/1821. 12. Januar.

Nähert man sich dem alten Massilia und den Seealpen, dann fesselt den Blick ein den Spaniern verwandter Menschenschlag von stolzer, ja majestätischer Haltung. Ich beobachtete die Hirten, deren Schafe und Ziegen über Felsen und Berghänge verstreut weideten. Mit welcher Grandezza schauten sie von ihren Felshöhen hinab in die blaue Ferne! Mit welch theatralischem Schwung trugen sie ihre zerrissenen Mäntel!

... Seit unserer Abreise von Avignon ist das Wetter herrlich; ich verspürte den wohltuenden Einfluß des provençalischen Himmels, war heiter und ruhig. Mit unbeschreiblichen Empfindungen näherte ich mich der Stadt, die mir meine Gesundheit wiedergeben soll.

 

VIII

Gleich nach der Ankunft in Paris ließ Wilhelm seine Arbeit im Stich und sah Alexander Lwowitsch kaum noch. Dieser behelligte ihn auch nicht weiter. Wilhelms Sekretärpflichten beschränkten sich hauptsächlich auf Gespräche über die verschiedensten Gegenstände. Manchmal mußte er auch Briefe schreiben, halboffizielle und ziemlich drollige. Am Schluß eines jeden erkundigte sich Alexander Lwowitsch unweigerlich danach, was in den Petersburger Theatern augenblicklich gespielt werde und wie dort das Wetter sei. In Paris brachten sie einen Winter zu.

Wilhelm schlenderte durch die Stadt. Im Louvre stand er ganze Stunden vor der Venus von Milo, zusammen mit einem Dutzend reisender Engländer und Engländerinnen. Er streifte ziellos auf dem Boulevard des Capucines herum und trank billigen Wein im Quartier latin. An seine Gesundheit dachte er nicht mehr. Seine Brust atmete ungewohnt leicht.

Seit einiger Zeit heftete sich ein kleines, unsauberes Männchen, blond, mit wässerigen Augen, an seine Fersen. Das Wesen war geduldig, folgte Wilhelm in alle Kneipen und betrachtete im Louvre alte Bilder.

Eines Tages, als Wilhelm auf dem Boulevard schlenderte, sah sich ein Offizier nach ihm um und blieb stehen. Wilhelms riesenhafte Gestalt, sein sonderbares Aussehen, die unsteten Augen lenkten oft die Aufmerksamkeit der Franzosen und, was Wilhelm besonders weh tat, der Französinnen auf sich. Er kannte seine Häßlichkeit genau und war gewohnt, erstaunten Blicken zu begegnen. Doch der Offizier sah ihn zu aufmerksam an. Das war schon Frechheit! Wilhelms Gesicht überzog sich mit flammender Röte. Er trat auf den Offizier zu. Wohlbekannte, schielende Augen sahen ihn an, und der Herr rief verwundert:

»Guillaume!«

Küchel starrte ihn betroffen an.

»Silver?!«

Teufel noch mal! Das war ja Broglio!

Broglio war reifer und voller und trotz seines Schielens ein vollendet schöner Mann geworden. Seit sie das Lyzeum verlassen hatten, war er wie vom Erdboden verschwunden. Niemand wußte etwas von ihm. – Sie traten in ein Kaffeehaus. Viele Menschen saßen da. Auch das blonde Männchen mit den wässerigen Augen, eine Art Mittelding zwischen Friseur und Kommis, saß in einer Ecke. Daneben war ein Tischchen frei. Die Freunde setzten sich, bestellten eine Flasche Veuve Cliquot und gaben sich ihren Erinnerungen hin.

»Weißt du noch, wie ich mit Komowski gekämpft habe?« fragte Silver und lachte.

Er lachte nicht deshalb, weil seine Erinnerung an Komowski etwa besonders komisch gewesen wäre. Nein: Er war gesund, lustig, schön und jung, hatte einen alten Kameraden getroffen, und so lachten denn beide über jede Kleinigkeit, die ihnen wieder einfiel.

»Und Jakowlew, der Clown? Weißt du noch?« sagte Broglio.

Mit diesem wohlgebauten, schönen und fröhlichen Menschen fühlte sich auch Wilhelm gesund, einfach und vielleicht sogar schön.

Sie saßen bereits bei der zweiten Flasche Champagner.

»Freund,« sagte Broglio, schon berauscht, aber doch um seine schöne Haltung bemüht, was ihm sehr gut stand, »wir sehn uns sicher zum letzten Mal. Trinken wir ein Glas darauf!«

»Warum bist du so traurig?« fragte Wilhelm.

Broglio seufzte, ganz aufrichtig, wie es schien.

»Gut also. Ich will dir alles sagen. Ich bin Philhellene, stehe auf Seiten der Griechen in ihrem Freiheitskampf. Ich gehöre einer Gesellschaft an, die sich für sie einsetzt, für ihre Unabhängigkeit, der Teufel hol sie …«

Wilhelm sah Broglio durchdringend an.

»Ist das wahr, Silver? Ist das dein Ernst?«

»Aber sehr!« sagte Silver. »So ernst, daß ich nach Griechenland gehe, um dort eine Abteilung zu kommandieren!«

Er verfinsterte sich, sah aber den Freund überlegen an.

»Ja, wenn die Nachricht von meinem Tod zu dir gelangt, mußt du, mein Freund, durch eine Flasche Cliquot mein Gedächtnis ehren!«

Er posierte offen. An Stelle der Veuve Cliquot war inzwischen der heitere Ai getreten. Wilhelm betrachtete seinen Freund mit Verwunderung, fast mit Angst. Dieser sorglose Offizier brachte also der Gesellschaft mehr Nutzen als er. Wilhelm begann zu klagen:

»Silver, ich hab in allem Pech. Es ist, als ob sich überall rätselhafter Gifthauch um mich verbreitet. Überall werde ich ausgestoßen. Das ist mein Schicksal, Silver. Und ich möchte doch so viel vollbringen … Ich bin ein Dichter, ein wahrer Dichter. Und was ist die Folge? Die Frauen meiden mich. Sie haben mich aus Rußland vertrieben. (Wilhelm war betrunken und übertrieb alles ein wenig; es war ihm traurig und schön zumute.) Ich weiß nicht, wo und zu welcher Sache ich stehen soll.«

Silver hörte nur seine letzten Worte:

»Guillaume,« meinte er eindringlich und einfach, »du mußt auch nach Griechenland.«

Wilhelm wurde mit einem Mal fast nüchtern.

Auffahrend sah er Broglio an und wurde nachdenklich. Wie einfach war das! Alles mit einem Schlag lösen! Nach Griechenland! Dort kämpfen und sterben! Er streckte Broglio die Hand entgegen.

Der drückte sie ziemlich gleichgültig.

Als sie das Kaffeehaus verließen, erhob sich das kleine Männchen, das Mittelding zwischen Friseur und Kommis, schnell vom Nebentisch und folgte den Freunden in zwei Schritt Abstand. Er schwankte auf den Beinen und summte ein Liedchen in den Bart, so daß die Passanten lachend auf ihn zeigten.

Wenn aber keine Menschen entgegenkamen und die zwei Freunde sich nicht umsahen, wurde der Gang des Menschen ganz normal, und das Liedchen brach ab.

Er horchte.

 

IX

Am Morgen kleidete sich Wilhelm hastig an und begann, im Zimmer auf und ab zu gehn. Der Gedanke an Griechenland ließ ihn nicht los. Er wußte, daß er nicht mehr zurückkehren würde, wenn er hinginge. Nach Griechenland gehn bedeutete in den Tod gehn. Das schreckte ihn freilich nicht. Etwas anderes hielt ihn zurück. So viel unerledigte Rechnungen mit dem Leben, so viel begonnene Arbeit. Nach Griechenland gehn war eine Heldentat, der zugleich etwas von feiger Flucht anhaftete. Plötzlich mußte er daran denken, wie Dunja ihn bei Tante Breitkopf angesehen hatte. Unermüdlich wanderte er durchs Zimmer. Das wäre eine zu einfache Lösung. All sein Schmerz, all seine Mißerfolge wären mit einem Mal erledigt. Ein zu kurzer Weg! Er dachte an Puschtschin. Was hätte er an seiner Stelle gemacht? Ihn konnte er sich nicht in Griechenland vorstellen. Puschkin – der wäre sicher nach Griechenland geflohen! Wie schrecklich, daß man sich mit niemandem beraten konnte! Wie hätte er jetzt Gribojedow gebraucht!

Man klopfte an die Tür.

Der Diener trat ein.

»Alexander Lwowitsch bitten Sie zu sich.«

Wilhelm ging in die Appartements Naryschkins, der ein sinnlos großes und unbequemes Haus gemietet hatte. Alexander Lwowitsch besaß die besondere Gabe, sich nirgends bequem einzurichten. Vielleicht hatte ihm darum das Schicksal einen solchen Sekretär wie Wilhelm gesandt.

Eben hatte er einen schlimmen Brief von Marja Alexejewna erhalten. Da öfters von ihr solche Briefe kamen, konnte Wilhelm das sofort vom Gesicht des alten Mannes ablesen. Marja Alexejewna war vor dreißig Jahren eine Schönheit gewesen. Das konnte sie ihrem Mann noch heute nicht verzeihen. Sie wurde ihrer Meinung nach bei Auszeichnungen immer übergangen, und ihr Mann schätzte sie nicht nach Gebühr. Sie trieb gerne Politik jeder Art, war eine berüchtigte Klatschbase, und die große Welt von Petersburg zitterte vor ihr. Sie war es, die zur Auslandsreise gedrängt hatte. Doch im letzten Augenblick entschloß sie sich anders und blieb allein in Petersburg. Jetzt terrorisierte sie Alexander Lwowitsch durch ihre Briefe.

Kläglich sah er Wilhelm an:

»Wilhelm Karlowitsch, mein Teuerster,« brummte er, »es sind zwei, drei Berichte zu schreiben, an den Fürsten Iwan Alexejewitsch und noch an zwei Leute. Entschuldigen Sie, daß ich Sie behellige.«

Wilhelm besah die Schriftstücke und schickte sich an, Alexander Lwowitsch zuzuhören, doch dieser dachte nicht daran, von geschäftlichen Dingen zu sprechen.

»Vielleicht schieben wir's auf?« meinte er unentschlossen. Dann schon ganz entschlossen: »Schieben wir's auf!«

Ein trauriger Blick traf Wilhelm.

»Ich liebe Sie, Wilhelm Karlowitsch,« sagte er plötzlich, »bei Gott, ich liebe Sie wirklich.«

Wilhelm verneigte sich etwas verlegen.

»Auch ich liebe Sie, Alexander Lwowitsch,« murmelte er.

»Wissen Sie,« sagte Naryschkin, »mein ganzes Inneres sehnt sich nach Rußland. Ich werde es hier bis zum Frühling kaum noch aushalten. Ich fahre nach Hause, nach Kursk. An den Franzosen, mein Lieber, habe ich mir den Magen schon vor dreißig Jahren verdorben. Wäre Marja Alexejewna nicht, ich hätte mich nicht vom Fleck gerührt.« Alexander Lwowitsch wurde nachdenklich.

»Und wissen Sie was, mein Herr,« sagte er zu Wilhelm, »wenn Sie einmal mein Blasorchester gehört haben, dann werden Sie Grand Opéra nicht mehr hören wollen.«

Wilhelm hörte mit heimlichem Vergnügen zu. Er wußte, daß das bloß eine Laune des alten Herrn war, daß er eine Stunde später höchst extravagant sechsspännig nach dem Bois de Boulogne fahren, wie ein geborener Pariser französisch sprechen werde und dann bis zum Abend Rußland, Kursk und das Blasorchester entschwunden wären. Doch Alexander Lwowitsch war ihm in solchen Augenblicken besonders sympathisch.

»Offen gestanden,« fuhr Alexander Lwowitsch fort und neigte posierend den dicken Kopf zur Seite, »schlagen Sie mich tot, wenn ich begreife, welcher Teufel uns beide hier in dieses Ungetüm von einem Hôtel gelockt hat, in dem man sich nicht zurechtfindet, wo es doch in Rußland warm und bequem ist und wo vor allem nichts einem fremd ist.«

»Nichts?« Wilhelm lächelte.

»Nichts!« bestätigte vergnügt der alte Hofmann. »Was singt man jetzt zum Beispiel hier? Die Faridondaine!« Und er fing an, den Kopf wiegend und mit herausforderndem Liberalismus das neue Chanson von Béranger zu singen:

»La Faridondaine
Biribi … Biribi …«

»Nichts ist zu verstehen! Biribi … Biribi …« wiederholte er mit ausgezeichneter Aussprache und das Wörtchen auskostend. »Bei uns ist es ganz klar: Eia–popeia.«

Wilhelm lachte laut auf. Auch Alexander Lwowitsch freute sich über den Witz. Triumphierend sah er Wilhelm an und wiederholte mehrere Male:

»Biribi … Biribi … Das ist es eben.« Dann sagte er schnell, als ob er sich selber bei einem ganz neuen Gedanken ertappte (er hatte offenbar am Tage vorher beim Biribi viel Geld verloren):

»Mit leerem Kopf darf man hierher kommen, aber niemals mit leeren Händen.«

Als Wilhelm wieder in seinem Zimmer saß, war seine Entschlossenheit dahin. Griechenland lockte ihn noch immer, aber die Erinnerung an Broglio verursachte ihm geradezu Mißbehagen. Es war alles nicht so einfach. Griechenland, das war ein Umweg … Man durfte nicht mit leeren Händen hinfahren. »Biribi.« Er dachte an Alexander Lwowitsch und lachte. Er sah aus dem Fenster hinaus. Das frühlinghafte Paris war trotz des grauen Wetters heiter. Massen von Menschen promenierten durch die Straßen und manchmal hörte man Frauenlachen. Wo war Puschkin jetzt? Wie erging es ihm in den schmutzigen südrussischen Städtchen? Was machte wohl Delwig? Wilhelm setzte sich an den Tisch, um ihm zu schreiben. Am nächsten Tag hatte er einen wichtigen Besuch zu machen, bei Benjamin Constant, der ihm ermöglichen sollte, eine Vorlesung über die russische Literatur zu halten.

 

X

Papa Fleury, der Freund von Anacharsis Cloots, dem »Redner der Menschheit«, ein düsterer, einsamer Mathematiker, ein Überbleibsel des Jahres 1793, arbeitete an seinem Werk über die Weltrevolution. Nur durch die Gemeinschaft aller Nationen konnte man die Revolution vor dem faulen »Aff XVIII.« retten (So nannte Papa Fleury Ludwig den »Ersehnten«).

Papa Fleury hatte lange alle unterdrückten Länder studiert, in denen ein Brand auflodern konnte.

So lange auch nur ein einziger Tyrann lebte, war die Freiheit jedes Volkes bedroht. Neapel eins, Spanien zwei, die Vereinigten Staaten drei, Griechenland vier. In Deutschland war vor kurzem Sands Kopf gefallen. In Frankreich machte sich der Geist von Joubert und du Guesde breit.

Es blieben England und Rußland.

Rußland war ein Rätsel für Papa Fleury, und er liebte keine Rätsel: Seine Arbeit über die Weltrevolution war in Form von Axiomen, Lehrsätzen und Beweisen geschrieben. In Rußland wurden keine Tyrannen vom Volke totgeschlagen. Dort bekämpften die Tyrannen sich selber gegenseitig. Dort herrschte Sklaverei. Zwei Namen lenkten Papa Fleurys Aufmerksamkeit auf sich: Stepan Rasin, der gefürchtete Kosak, der gedroht hatte, die alte despotische Ordnung zu stürzen, und besonders Jemeljan Pugatschew, der Sklavenführer, der hervorragende Organisator, der russische Spartakus, den Papa Fleury wegen seines konsequenten Krieges sehr hoch schätzte. Sklaven aber sind nur der Körper der Revolution. Der Körper braucht einen Kopf. Diesen Kopf konnte Papa Fleury nicht entdecken. Mit seinem russischen Lehrsatz, Abteilung III, Nr. 15, wurde er nicht fertig.

Papa Fleury verfolgte aufmerksam alles, was Rußland betraf. Als er erfuhr, daß ein junger russischer Professor und Dichter Vorlesungen über russische Literatur halten werde, ließ er es sich nicht nehmen, dabei zu sein. Der Dichter hatte einen merkwürdigen Namen. Papa Fleury konnte ihn nicht behalten. »Buc-cuc«, so etwas wie. »Cuquelber«. Als Papa Fleury den Mann zu sehen und zu hören bekam, staunte er noch mehr.

Die hohe, gebückte Gestalt, das langgestreckte Gesicht, der grimassierende Mund, die Riesenhände mit den fieberhaft bewegten Fingern, die dünne, heisere Stimme, das alles erinnerte ihn an irgend jemand. Irgendwo hatte er diese Stimme schon gehört.

Er besuchte die Vorlesungen regelmäßig. Der Athenäumssaal war überfüllt. In den ersten Reihen saßen die literarischen Berühmtheiten. Papa Fleury sah das nüchterne Profil Constants und das blasse Gesicht und die brennenden Augen des Barons Löwe Weimars; auch der große, dicke Sircour fehlte nicht und der bewegliche, kleine Mérimée. Daneben saß ein blondes Männchen mit wässerigen Augen, das die Vorlesung eifrig nachschrieb, wohl ein Zeitungsmensch, ein Journalist. Die ersten zwei Vorlesungen gefielen Papa Fleury. Der Dichter begann mit der russischen Geschichte, und zwar mit der ältesten. Das alte Rußland, seine harmlosen Sitten, der tapfere Geist der einfachen Bevölkerung, die Intrigen der Bojaren, die Unmöglichkeit, auf die eine oder andere Weise einen einheitlichen Staat zu schaffen, die Entwicklung des privaten Lebens und die Unvollkommenheit des Staatsmechanismus, dies alles konnte nicht ohne Einfluß auf den eigentümlichen, durch seine »intimité« bestechenden Charakter des romantisch derben russischen Volkslieds bleiben. Das ganze Material war für Papa Fleury sehr wichtig. Die Kenntnis der fernen Vergangenheit ermöglichte es, sich mit einiger Hoffnung auf Gelingen an die Lösung der russischen Frage zu machen. Auch die ganze übrige Versammlung hörte dem Dichter sehr aufmerksam zu, wozu wohl auch sein ungewöhnliches Aussehen beitrug. Doch an wen erinnerte bloß dieser baumlange, begeisterte Dichter? Papa Fleury konnte das nicht herausfinden.

Die dritte Vorlesung galt der Organisierung Rußlands durch die Iwans, diese bösen Genies des russischen Staatslebens.

Der Dichter war blaß. Seine vorquellenden Augen flammten. Er sprach vom Despotismus der russischen Herrscher, dem hinterlistigen, tückischen Despotismus, der allmählich auf alle Freiheiten der alten russischen Republiken seine schwere Hand gelegt hatte. Seine Stimme wurde heiser. In dem Riesensaal war es ganz still. Er fesselte die oberflächlichen Hörer nicht mehr bloß durch sein Aussehen. Seine Worte hielten jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit wach. Er sprach vom Kampf der großen Nowgoroder Republik gegen Iwans tyrannische Macht. Er starrte in den Saal mit seinen riesengroßen Augen und, die lange, hagere Hand ausgestreckt, sprach er nicht mehr im Ton des Erzählers, sondern schrie und fluchte dem Despotismus.

»Das alte Wetsche, die Urform einer Volksregierung, wurde von dem Despoten zertrümmert, und von da an hatte er Macht über Leben und Tod der Bürger der großen Republik. Die Freiheit der Meinung (la liberté des opinions), aus der die öffentliche Meinung hervorgegangen ist, wich einem einzigen Willen. Die Glocke des Wetsche, die die Bürger zusammenrief, zerbarst. Hinrichtungen, Verbannungen, sklavisches Schweigen des ganzen Landes, Vernichtung des Geistes der Volkspoesie, die untrennbar mit der Freiheit verknüpft ist, Untergang der jüngeren Schwesterrepublik Pskow! So ging die Nowgoroder Freiheit unter!«

Keuchend, alle Selbstbeherrschung verlierend, rief Wilhelm und faßte sich an den Kopf:

»Welch hassenswertes Bild! Wie nahe steht es auch heute noch vor uns, obwohl bereits mehrere Jahrhunderte zwischen der Nowgoroder Sklaverei und der unseren liegen!«

Er wankte, wollte sich festhalten, riß die Wasserkaraffe und das Glas herunter; die Karaffe flog zu Boden und zersprang in tausend Scherben. Halb ohnmächtig, mit zurückgeworfenen Kopf fiel Wilhelm in den Sessel.

Der Saal raste vor Begeisterung.

Da ging Fleury ein Licht auf: Dieser zurückgeworfene Kopf erinnerte an seinen Freund Anacharsis Cloots, den Redner der Menschheit. Papa Fleury erinnerte sich noch, wie der Henker dieses Haupt an den Haaren in die Höhe gehoben hatte.

Man drängte sich um Wilhelm. Er hatte sich bereits erholt und drückte die ihm entgegengestreckten Hände. Ehrerbietig und aufgeregt sprach Constant mit ihm. Wilhelm hörte mühsam zu.

Papa Fleury drängte sich zum Redner durch. Er drückte ihm die Hand und sagte ernst:

»Junger Mann, schonen Sie sich! Ihr Vaterland braucht Sie!«

Zwei Menschen folgten Wilhelm, der als einer der letzten den Saal verließ: Papa Fleury und der kleine, blonde Mann mit den wässerigen Augen. Dieser stürzte gleich am Ausgang davon und verschwand.

Papa Fleury faßte Wilhelm unter:

»Mein junger Freund, ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie mit mir zusammen ein kleines Lokal aufsuchen würden. Ich muß mit Ihnen einiges besprechen, wovon viel für mich abhängt.«

Wilhelm, dessen Neugier erwachte, machte eine zustimmende Bewegung. Sein Kopf brannte noch. Nach Hause konnte er sowieso nicht. Dazu war er nicht imstande.

Eine Stunde später begleitete Papa Fleury ihn auf dem Heimweg. Er sah ihm lange nach.

Dann murmelte er bedauernd:

»Nein, das ist nicht der Richtige. Das ist noch kein Kopf.«

Er dachte nach und fügte hinzu:

»Aber schon ein Herz!«

 

{XI}

Kaum hatte Wilhelm sich angekleidet, als man schon an die Tür klopfte. Alexander Lwowitsch forderte ihn auf, unverzüglich zu ihm zu kommen.

Wilhelm fand ihn in großer Aufregung. Er durchmaß mit kleinen Schritten das Zimmer. Auf seinen Gruß antwortete er trocken.

»Nehmen Sie bitte Platz,« sagte er finster und lief immer weiter im Zimmer auf und ab. »Ich bin zu meinem lebhaftesten Bedauern gezwungen, mich offen mit Ihnen auszusprechen. Mein Herr, Sie benehmen sich unvorsichtig und setzen sich all den Gefahren aus, die mit einem solchen Benehmen verbunden sind. Eben bekomme ich vom Konsul die Einladung, ihn heute noch aufzusuchen, und zwar zu einer Aussprache über Ihre Person. Ich habe Grund, anzunehmen, daß es sich um die Vorlesung handelt, die Sie gestern öffentlich im Athenäum gehalten haben. Wie es scheint, ist der Präfekt von Paris bereits darüber in Kenntnis gesetzt.«

Wilhelm richtete sich kerzengerade im Sessel auf.

Alexander Lwowitsch rannte durch das Zimmer, ohne ihn anzusehn. Er bediente sich dieses Mal höchst offizieller Redewendungen:

»Selbstverständlich, mein Herr, fällt es mir nicht im Traum ein, Ihr Benehmen irgendwie zu verurteilen. Sie wissen aber selber, daß Sie, da Sie bei mir angestellt sind, ganz unschuldige Menschen in allerlei Unannehmlichkeiten und Gefahren verstricken.«

Blaß und lächelnd erwiderte Wilhelm:

»Dann wollen wir uns eben trennen, Alexander Lwowitsch!«

Der lief noch immer durchs Zimmer und vermied es, ihn anzusehn. Plötzlich blieb er vor Wilhelm stehn.

»Was haben Sie angerichtet, mein Freund?« sagte er und betrachtete ihn schmerzlich und voller Angst. Er ließ auf einmal die offizielle Art fallen.

»Ich bin wohl unvorsichtig in der Wahl meiner Worte gewesen. Erlauben Sie mir also Ihnen meinen Dank zu sagen. Ich werde heute noch das Haus verlassen.«

»Das Unglück ist da, mein Freund,« sagte Alexander Lwowitsch, sichtlich erleichtert. »Daß die Unvorsichtigkeit einen so weit bringen kann!«

Er trat an Wilhelm heran, rüttelte ihn zerstreut an den Schultern und umarmte ihn.

»Mein Gott, ich bin so gewöhnt an Sie! Es tut mir so leid, mich von Ihnen zu trennen,« kam es hastig von seinen Lippen.

Wilhelm mußte das Haus sogar noch früher verlassen, als er dachte.

In seinem Zimmer saßen zwei Männer mit finsteren Gesichtern. Einer der beiden reichte ihm ein Schriftstück.

Der Präfekt der Pariser Polizei setzte den Kollegienassessor Küchelbecker davon in Kenntnis, daß er, Küchelbecker, auf Verfügung des Präfekten Paris innerhalb vierundzwanzig Stunden zu verlassen und der Präfektur seine Reiseroute mitzuteilen habe Der andere händigte ihm ebenfalls ein Schriftstück aus, das die Durchsuchung der Sachen und der Papiere des Kollegienassessors Küchelbecker und nötigenfalls die Beschlagnahme der genannten Gegenstände anordnete.

Daraufhin begannen sie in seinen Papieren zu wühlen. Der eine zog das Bild von Sand hervor.

»Wer ist das?« fragte er argwöhnisch.

»Mein verstorbener Bruder,« antwortete Wilhelm.

Eine Stunde später, nachdem sie Wilhelms Sachen gründlich durchstöbert hatten, machten beide eine Verbeugung und baten, ihnen die Reiseroute anzugeben, die Herr Küchelbecker einzuschlagen gedenke. Wilhelm schrieb: Paris, Dijon, Villafranca, Nizza, Warschau.

»Wir werden morgen feststellen, ob Sie tatsächlich abgereist sind,« sagte einer der Abgesandten des Präfekten.

Am nächsten Tag bestieg Wilhelm die Postkutsche. Nur wenig Fahrgäste saßen darin: ein Engländer, zwei französische Kaufleute und noch ein kleiner, unsauberer Mensch mit wasserblauen Augen. Der Engländer stieg bereits in Dijon aus. Der kleine Mann hatte denselben Weg wie Wilhelm, bis Villafranca.

 

{XII}

Villafranca war ein kleines Städtchen, das sich dicht an die Felsen schmiegte. Der große, geruhige Hafen bot Schutz gegen alle Stürme. Schlank ragte die Feste Mont Albano in die blaue Luft. Die weißen Häuschen waren von Gärten umgeben, in denen Feigenbäume, Ölbäume, Mandelbäume und Trauerweiden standen. Die alten Steine waren mit Efeu bewachsen, die gelben Felsen mit Thymian, wilden Anemonen, Lilien und Hyazinthen bedeckt. Immer wieder stieß Wilhelm auf Aloesträucher, die in den Felsspalten wuchsen.

In einiger Entfernung legten Fischer ihre Netze aus. Ihre kurzen Pfeifen dampften, und ab und zu flogen ein paar Worte herüber und hinüber. Noch weiter sah man die Werften, von denen Lärm herüberdrang.

Wilhelm stieg zur Bucht hinunter und ging in eine Strandtrattoria, um zu frühstücken. Zusammen mit ihm trat auch sein Reisebegleiter ein. Man setzte ihnen einen jungen, starken Landwein und Austern vor.

Wie stets im Süden, brach die Nacht plötzlich, ohne Dämmerung herein. Eine Laterne wurde angezündet. An den kleinen Tischen saßen einige Gondolieri, darunter einer, der durch Schönheit und Schwärze der Augen auffiel. Wilhelm rief ihn heran und begann, mit ihm über die Fahrt nach Nizza zu verhandeln. Der Gondoliere schaute zum Fenster hinaus, sah den Himmel an und meinte träge:

»No, signore. Es gibt Sturm.«

Wilhelms Begleiter sah augenzwinkernd den Gondoliere an. »Schön,« sagte der und verlangte einen unerhörten Preis.

Wilhelm war entsetzt. Sein Begleiter jedoch zwinkerte wieder dem Gondoliere zu, worauf dieser nach kurzem Überlegen gleichmütig den Preis herabsetzte. Wilhelm verabschiedete sich von seinem Reisegenossen und ging hinaus. Die Lichtpunkte der kleinen Gondellaternen schwankten draußen auf und nieder, helle Punkte im dichten Dunkel. Der Gondoliere verweilte noch einige Augenblicke in der Trattoria. Bald kam er heraus, setzte die Mütze auf und ging, ohne Wilhelm zu beachten, zum Strand.

»Luigi!« rief er halblaut.

»Ja!« antwortete eine Kinderstimme.

Der Junge ruderte heran, sprang an Land und begann, zum Himmel hinaufzeigend, lebhaft auf den Gondoliere einzusprechen. Der Gondoliere aber winkte beschwichtigend mit der Hand.

Wilhelm erstickte fast unter dem niedrigen Dach der Gondel, wo er gebückt sitzen mußte. Das Schiffchen kletterte von Welle zu Welle.

Der Führer sprach kein Wort. Ein Gewitter zog auf. Die Gondel schaukelte heftig. Dazu regnete es in Strömen, und es war schwül wie auf dem Lande.

»Rudern Sie an Land!« rief Wilhelm zum Gondoliere. »Ans Land, Donnerwetter! Haben Sie kein zweites Ruder?«

»No, signore.«

Die Gondel fuhr am Ufer entlang und wurde immer wieder abgetrieben. So verging eine Viertelstunde. Endlich legte sich das Gewitter. Die Schwüle nahm ab. Der Gondoliere atmete schwer. Er legte das Ruder hin, um sich auszuruhn. Weit in der Ferne wurde ein Licht sichtbar, dann ein zweites. Es waren die Fischerboote. Der Gondoliere trat zu der kleinen Kabine, in der Wilhelm saß, und setzte sich wortlos neben ihn. Dieses Schweigen und sein vorsichtiges Gehaben beunruhigten Wilhelm.

Plötzlich packte der Mann ihn an der Kehle und warf ihn nieder. Wilhelm umklammerte mit seinen Riesenhänden den Hals des Angreifers. Beide lagen auf dem Boden der Gondel. Farbenblitze zuckten vor Wilhelms Augen. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Da preßte er noch einmal den Hals des Kerls zusammen. Sofort konnte er freier atmen. Er löste seinen Kopf aus der Umschlingung, richtete sich halb auf und drückte dem Gegner das Knie auf die Brust. Der ächzte schwer. Seine Augen traten aus den Höhlen. Wilhelm durchsuchte ihn und fand an seinem Gürtel einen Dolch. Er schleuderte die Mordwaffe ins Wasser. Rasende Wut packte ihn. Am liebsten hätte er den Mann getötet und mit vollem Schwung ins Wasser geworfen. Doch er sagte nur heiser:

»Sofort gerudert!«

Blitzschnell versetzte der Gondoliere Wilhelm einen Tritt, der ihn zu Boden warf. Ein Schrei, und schwer schlug Wilhelm mit dem Kopf auf den Rand der Gondel.

... Die Fischer hielten den blassen und verstörten Gondoliere fest und sahen beide fragend an.

»Warum wolltest du mich töten?« fragte Wilhelm.

Der Gondoliere zeigte mit der Hand in Richtung Villafranca.

»Geld!« murmelte er.

»Was? Für Geld?« Wilhelm verstand nichts. Einen Augenblick tauchte in ihm die Erinnerung an den Reisegefährten mit den wässerigen Augen auf, den er schon in Paris dauernd bemerkt hatte; doch er sah keinen Zusammenhang. Die Fischer hielten noch immer den Gondoliere an den Handgelenken fest.

»Laßt den Burschen laufen,« sagte er verächtlich, »und helft mir, daß ich nach Nizza komme.«

Der kleine Mann wartete in der Trattoria in Villafranca auf den Gondoliere. Am nächsten Morgen sandte er ein Schreiben an das russische Konsulat in Paris. Ein Geheimschreiben.

 

{XIII}

Also wieder in Petersburg.

Für Wilhelm begann ein wechselvolles Leben.

Vor allem hatte er keinen Pfennig Geld. Ustinja Jakowlewna schlug sich selber notdürftig mit irgendwelchen Pensionsgroschen durch. Das Geld, das er von Alexander Lwowitsch erhalten hatte, war längst zu Ende. Dabei fühlte Wilhelm deutlich, daß man ihn mied. Zwei, drei Menschen gaben sich im Vorbeigehn Mühe, ihn nicht zu sehen. Modest Korff nickte ihm kaum zu. Dafür umarmte ihn Rylejew herzlich und küßte ihn.

»Ich habe schon gehört, ich habe alles gehört. Man erzählt ja Wunderdinge von dir. Sag, wie war es in Deutschland? In Frankreich? Was ist mit deinen Vorlesungen? Sind sie aufgezeichnet? Wie steht's mit Griechenland? Was hast du davon gehört?«

Wilhelm erzählte gerne. Wjasemski und Alexander Iwanowitsch Turgenjew, ja sogar der Schwätzer Bulgakow griffen gierig nach dem Konzept seiner Pariser Vorlesungen. Doch der Hunger rückte ihm zu Leibe. Er versuchte auch schon beim Adelspensionat anzukommen, wurde aber kühl empfangen. Man sagte ihm, er solle sich gedulden. Er dachte daran, vielleicht eine Zeitschrift herauszugeben. Dafür aber brauchte man Geld.

Endlich nahmen sich Wjasemski und Alexander Iwanowitsch Turgenjew seiner an.

Während man sich für ihn bemühte, fuhr er voller Trübsal zu Tante Breitkopf. Dunja kam nicht mehr hin. Dieses Jahr lebte sie mit ihrer Mutter in Moskau. Sophie besuchte er nicht. Einmal sah er sie auf der Straße. Sie fuhr mit jemand in einem Phaethon vorüber. Er hörte ihr lautes Lachen. Mit klopfendem Herzen flüchtete er in eine Seitengasse. Diese Nacht schlief er schlecht. Er erhielt von Sophie einen lustigen, parfümierten Brief. Als ob nichts vorgefallen wäre, machte sie ihm Vorwürfe, weil er sich nicht zeige. Er sei wohl stolz geworden? Man spreche jetzt von ihm so viel. Der Brief berührte Wilhelm peinlich. Man sah in ihm also eine unterhaltsame Figur, die man im Salon vorführen konnte? Er zerriß den Brief, vergrub den Kopf im Kissen und weinte. Doch er ging nicht zu Sophie.

Dafür besuchte er oft seinen Bruder Mischa, der ihn immer mehr anzog. Schwarz, mager, stets finster und wortkarg, war er auch jetzt wie in der Kindheit das gerade Gegenteil von Wilhelm. Er hatte die Natur des Vaters, des alten Deutschen Karl Küchelbecker geerbt. Mischa liebte seinen Bruder zärtlich, gab sich aber Mühe, das nicht zu zeigen. Er wohnte in den Offizierskasernen der Gardeequipage, aß und trank wie ein einfacher Matrose und mied die Menschen. Die Matrosen hatten ihn gern, und Wilhelm traf seinen Bruder oft in Gesprächen mit ihnen, wenn sie kamen, um seine Befehle entgegenzunehmen. Auch Wilhelm unterhielt sich mit ihnen. Dorofejew, ein lustiger Seemann, rothaarig und stupsnäsig, sprach sehr gerne mit ihm. Gesprächsstoff gab es genug: ihre Reisen. Dorofejew hatte die Welt umsegelt, war in Hamburg und Marseille gewesen.

Jedes Mal verstärkte sich in Wilhelm die Überzeugung, daß er mit seiner Liebe zum einfachen Volke recht hatte. Dieser Matrose mit den klugen Augen und sein Kamerad, der stämmige Kuroptjew, die wußten beide eine Menge Dinge. Ruhig überlegten sie sich ihre Antworten, während sie ihre Zigaretten drehten. Das waren wahrhaft ernste Menschen. Ernster als Modja Korff. Ja, für dieses Rußland muß alles getan werden! In der schlichten Sprache des russischen Volkes müssen wir arbeiten.

Mischa mied ebenso wie Wilhelm die Gesellschaft. Sie war beiden Brüdern verschlossen, dem einen infolge seines Charakters, dem anderen infolge seiner bescheidenen Lage. Diese Abgeschnittenheit, der Kampf ums tägliche Brot, ein Leben der Unsicherheit, bei dem die Tätigkeit des einen und der Dienst des anderen stets von der Laune eines Polizeimanns oder Generals abhängig waren, dies alles nötigte die Brüder, sich entweder ganz in sich zurückzuziehn oder sich einer Sache zu widmen, in der sie völlig aufgingen. Und das brachte sie einander näher.

Alexander Iwanowitsch Turgenjew bemühte sich für Küchelbecker. Er machte seinem Chef, dem Fürsten Golizyn mehrfach Anspielungen auf Wilhelm. Wider alles Erwarten brachte der Fürst Küchelbeckers Namen eine gewisse Aufmerksamkeit entgegen. Turgenjew war geradezu erstaunt über seine Bereitwilligkeit, den jungen Mann unterzubringen. Eine Woche später äußerte er zu Turgenjew, es biete sich nur ein Ausweg für Küchelbecker: in den Dienst des Generals Jermolow zu treten, der sich gerade in Petersburg aufhalte; er sei eben vom Laibacher Kongreß zurückgekehrt und reise demnächst wieder nach Georgien.

Turgenjew sprach darüber mit Wilhelm.

»In Georgien ist doch Gribojedow. Natürlich bin ich einverstanden. Meinetwegen sofort.«

Dann fragte er Turgenjew plötzlich:

»Sagen Sie, Alexander Lwowitsch, Jermolow sollte doch Griechenland zu Hilfe kommen?«

»Daraus ist nichts geworden«, meinte Turgenjew. »Metternich hat es dem Zaren ausgeredet.«

Nach einigem Nachdenken sagte Wilhelm:

»Ich nehme den Vorschlag mit Dank an.«

Jermolow war der einzige volkstümliche General und besonders bei der Jugend beliebt. Man nannte ihn geradezu »General der Jugend«. Bei der Regierung stand er im Verdacht, ehrgeizige Pläne zu schmieden. In Wirklichkeit fürchtete der Zar einfach, daß Jermolow ihn vom Throne stoßen werde. Daher überließ er ihm vorläufig den weit genug entfernten Kaukasus.

Vom Kaukasus nach Griechenland führte ein gerader Weg. Was nun, wenn …? Wenn Jermolow sich entschließen sollte, auf eigene Faust nach Griechenland zu ziehn? Das ganze junge Rußland würde sich für ihn erheben.

Wilhelm wurde ganz schwindlig.

Das würde bedeuten, daß man nicht mit leeren Händen nach Griechenland käme. Das könnte Alexander Lwowitsch nicht mit seinem spöttischen »Biribi« abtun.

Er schüttelte dem etwas verdutzten Turgenjew kräftig die Hand und eilte hinaus.

»Der freut sich, der Ärmste!« murmelte Turgenjew.

Golizyn interessierte sich nicht umsonst für Küchelbecker. Der Name war ihm nicht unbekannt. Er hatte Grund zur Annahme, daß noch jemand sich für diesen Namen interessierte, jemand, dessen Gnade der Fürst im Innersten seines Herzens höher stellte als die Gnade Gottes, zu dem er mindestens dreimal täglich zu beten pflegte.

Jermolows Name war nicht umsonst aufgetaucht. Als Fürst Golizyn den Grafen Nesselrode traf, sprach er mit ihm von Wilhelm. Nesselrode, ein hagerer, langer Deutscher, wurde aufmerksam.

Am nächsten Tag meldete er dem Zaren:

»Majestät, der Kollegienassessor Küchelbecker ist aus dem Ausland zurückgekehrt und sucht um eine Stelle nach.«

Der Zar sah ihn fragend an:

»Ist er denn nicht in Griechenland?«

»Nein. Vorläufig noch nicht.«

»Nach den Berichten nahm ich an, er sei dort.«

»Majestät, mit Rücksicht auf einige Gründe, die Ihnen bekannt sind, wäre es geboten, ihn wie seinen Freund Puschkin eine Zeitlang in einiger Distanz zu halten.«

Der Zar hörte befriedigt zu, während Nesselrode fortfuhr:

»Fürst Golizyn erzählte mir neulich gerade, daß man sich bei ihm für Küchelbecker verwendet habe. Ich möchte mir folgenden Vorschlag erlauben: Augenblicklich weilt General Jermolow hier. Was würden Majestät davon halten, wenn man diesen unruhigen jungen Mann in ein ebenso unruhiges Gebiet schickte?«

Der Zar neigte seine glänzende Glatze:

»Ja, nur nach Georgien, sonst nirgendshin. Der soll nur in Georgien bleiben. Eine Zeitlang dort festgelegt sein. Seien Sie so gut und sprechen Sie mit Alexej Petrowitsch.«

Am 19. September 1821 wurde der Kollegienassessor Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker offiziell im Kanzleidienst des Statthalters des Kaukasus angestellt, doch schon am 30. August war er zusammen mit Jermolow dorthin abgereist, ohne die offizielle Bestätigung abzuwarten.


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