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In Wladikawkas mußte Wilhelm ohne Jermolow zurückbleiben. Er wurde krank und lag mehrere Wochen auf einer harten Matratze in einem schlechten Gasthaus. Oktober 1821 kam er in Tiflis an.
Es gab ein freudiges Wiedersehn mit Gribojedow. Die ganze Nacht schliefen die Freunde nicht. Sie sprachen von allem auf einmal, von Europa, dem Zaren, den Carbonari, von Puschkin. Gribojedow trug einen feinen asiatischen Rock, den er nachlässig übergeworfen hatte. Sein Arm lag in einer Binde (er war ihm früher in einem Duell durchschossen worden, und auf dem Weg nach Tiflis hatte er ihn gebrochen). So saß er da und fragte seinen Freund aus; er sprach langsam, betrachtete das sonnverbrannte, abgemagerte Gesicht Wilhelms und lächelte.
»Was gibt's in Petersburg?«
»Alles beim alten, mein Lieber: Stadtklatsch, niedrige Spötter gibt es genug! Ich werde von allen verlacht. Nur dich und Puschkin habe ich, sonst niemand. Ich bin für lange Zeit zu dir gekommen. Bin müde. Es ist kein Spaß! Ich fasse nirgends Wurzel!«
»Wahrhaftig, teurer Freund, laß uns zusammenleben! Überall sonst werden wir ja von demselben Gifthauch vertrieben. Hier wenigstens hat es damit ein Ende. Hier ist das Land des Vergessens (Die letzten Worte sprach Gribojedow fast genießerisch). Wenn du dich erst einmal darin umgesehen hast, wird es dir gefallen.«
»Wen gibt es hier an interessanten Menschen? Mit wem verkehrst du?«
»Hier wie überall gibt es Menschen verschiedener Art. Mich hat man nicht sehr gern. Morgen wirst du ja sehn. Na, wer ist hier eigentlich interessant? Alexej Petrowitsch, der General, ist ein prächtiger alter Mann, aber allzu gerissen. Nimm seine Freundlichkeiten nicht besonders ernst! Er ist liebenswürdig wie eine alte Dame. Jakubowitsch ist auch noch hier. Du weißt aber wohl, ich verkehre nicht mit ihm.«
Gribojedow sah unwillkürlich auf seinen kranken Arm (Jakubowitsch war es, der ihm den Arm durchschossen hatte).
Zuletzt brachte Wilhelm zögernd heraus:
»Weißt du, Alexander, was für einen Plan ich habe? Man muß Alexej Petrowitsch dazu bringen, nach Griechenland zu ziehn.«
»Warum nach Griechenland?« meinte Gribojedow verwundert.
»Der Zar hat in Laibach die Griechen verraten. Man muß also die Sache ohne ihn machen. Geht Alexej Petrowitsch auf eigene Faust nach Griechenland, dann hat er ganz Rußland hinter sich.«
Gribojedow schwieg.
»Nein«, erwiderte er dann unzufrieden. »Laß das. Die Lage in Europa ist schwierig, bei uns noch schwieriger. Weißt du, was Metternich nach dem Kongreß von Laibach geschrieben hat? ›Göttermusik ist mir das Schimpfen der Leute, denen ich auf den Fuß trete.‹ Er hat Napoleon auf den Fuß getreten. Er erdrosselt die Carbonari. Er wird Griechenland abschlachten. Alexej Petrowitsch wird auch gar keine Lust haben. Er braucht was anderes.«
Wilhelm sprang auf.
»Wie du dich täuschst, Alexander! Ich bin durch ganz Europa gekommen. Dort wankt alles. In Deutschland wächst der Jugendbund. In Jena, in Stuttgart sind die Geister entflammt. In Paris wirken die Carbonari. Ich habe da einen prächtigen Alten kennengelernt. Sie sind zu allem entschlossen. Was bedeutet Metternich, dieser verseuchte Wüstling, gegen die Freiheit?«
Gribojedow sah Wilhelm starr an. Seine dunklen, mageren Wangen röteten sich. Mit einem plötzlichen Ruck ließ er sich in die Kissen fallen.
»Eine Volksempörung, Freundchen«, sagte er trocken, »ist etwas anderes als eine Empörung im Theater gegen die Direktion, – wenn sie ein schlechtes Stück aufführt!«
»Ach, Alexander, so glaub mir doch, glaube!« Wilhelm drückte beide Hände auf die Brust.
»Ich glaube«, sagte Alexander gleichgültig, »ich glaube schon, daß du eine Abkühlung brauchst. Sonst wird man dich trotz aller Pariser Carbonari in Ketten schmieden.«
»Schlaf dich aus, mein Freund,« lachte er den ungeschickten Küchel an, der betrübt und glühend in seiner Unterwäsche dastand. »Die Sonne wird uns morgen früh wecken.«
Nach dem Frühstück, das ihnen Gribojedows Diener – seltsamerweise ein Alexander Gribow – auftrug, gingen die Freunde zu Jermolow.
Tiflis machte einen eigenartigen Eindruck. Die Stadt wirkte wie ein Haufen zusammengeschleppter Steine. In zwei, drei größeren Straßen wurde gearbeitet. Neben dem großen, neuen Arsenalgebäude trugen halbnackte Soldaten Ziegel und Steine die Gerüste hinauf, gebeugt unter der Last der Tragbretter. Ihre Köpfe waren mit nassen Säcken umwickelt, denn die Herbstsonne war in Tiflis noch sehr heiß: Tiflis, Tbimikalar bedeutet »Heiße Stadt«. Die Hacken, mit denen die Steine zerschlagen und aneinandergepaßt wurden, klangen besonders klar in der Morgenluft.
»Arbeiten denn hier Soldaten?« fragte Wilhelm.
»Hier machen alles die Soldaten,« antwortete Gribojedow. »Das sind Militärarbeiter. Alexej Petrowitsch hat seinen Regimentskommandeuren erlaubt, Soldaten für die Arbeit zu verwenden. Bald sind sie alle im Besitz herrlicher Häuschen. Die Zivilisten können damit nicht Schritt halten. Sie müssen ja ihre Arbeiter bezahlen!«
Sie kamen an dem noch im Bau befindlichen Stabsgebäude vorbei. Reihen neuer Häuser standen neben den flachen, alten Häuschen, die dadurch gedrückt, zurückgesetzt aussahen.
»Wie kühn er die neue Hauptstadt baut!« sagte Wilhelm.
»Er«, das war Jermolow. War Küchel in jemand verliebt, dann nannte er dessen Namen nicht. Stets war er in jemand verliebt. Dieses Mal in Jermolow.
»Vielleicht sogar zu kühn«, lächelte Gribojedow. »Er spart weder Menschen noch Geld, aber er hat keinen Plan im Kopf, und viele seiner Neuerungen bringen bloß die Einwohner auf, ohne die Bequemlichkeit oder die Schönheit der Häuser zu fördern. Es ist z. B. verboten, eine gedeckte Veranda um das Haus zu bauen. Die gibt aber Schatten. Wie soll man in dieser Hölle ohne Schatten leben? Ohne Überdachung gehn hier selbst die Ziegelsteine zugrunde.«
»Ja, warum hat er es denn verboten?«
»Einfach so, ohne weiteres, weil er eben alles diktatorisch erledigt.«
Es war noch zu früh, um zu Jermolow zu gehn. Sie gingen ein wenig spazieren. Je weiter sie sich von der Festung entfernten, desto stiller wurde es. Die winkligen Gäßchen liefen kreuz und quer durcheinander. Geruch von Abfällen und Kot verpestete die Luft. Allmählich kamen sie an leerstehende Häuser.
»Weiter lohnt es sich nicht. Da wohnt kein Mensch.«
»Warum?« fragte Wilhelm etwas ängstlich.
»Die Leute fürchten sich hier vor Überfällen und ziehen näher zur Festung, von wo aus man sie wenigstens durch Schüsse decken kann. Einmal sind hier Tschetschenzen eingedrungen. Es gab ein furchtbares Blutbad. Jetzt ist es ruhiger. Jermolow hat die Kerle eingeschüchtert. Er versammelt die hiesigen oder die kabardinischen Fürsten und jagt ihnen durch Androhung von Stockschlägen, Brandschatzung und Galgen Schrecken ein. Die Dolmetscher hat er dabei fest in der Kandare. Sie wagen kein selbständiges Wort.«
»Überfälle unterdrückt er also mit Worten?« fragte Wilhelm zufrieden.
»Na«, lächelte Gribojedow schief, und ein unangenehmer Zug legte sich um seinen Mund. »Es bleibt nicht bloß bei Worten. Manchmal henkt und brandschatzt er richtig. Vorige Woche hat es hier eine Sache gegeben, die viel Lärm machte. Der Fürst Kojchosro-Guriel hatte den Oberst Pusyrewski totgeschlagen … Da gab der Alte den Befehl, das Dorf dem Erdboden gleichzumachen … Nichts blieb übrig. Die ganze Einwohnerschaft wurde abgeschlachtet.«
Wilhelm wurde verlegen.
»Dagegen ist nichts zu machen«, sagte Gribojedow schnell und sah Wilhelm von der Seite an. »Nach dem Gesetz sind manche seiner eigenmächtigen Handlungen nicht zu rechtfertigen, aber bedenke, daß er in Asien ist, wo jedes kleine Kind sofort zum Messer greift!«
Jermolows Haus stand hinter der Festungsmauer. Im Festungshof herrschte das übliche Leben. Eben zurückgekommene Geschütze wurden aufgestellt. Eine Kompagnie exerzierte. An der Freitreppe gab die Ordonnanz Befehle bekannt. Wilhelm wurde auf einen Haufen halbnackter Jungen im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren aufmerksam. Die einen spielten und haschten sich mit Gekreisch. Die anderen saßen bedrückt und unterhielten sich still.
»Was sind das für Kinder?« fragte Wilhelm.
»Amanaten sind es, Geiseln. Das ist bei uns hier so Brauch. Man macht Kinder zu Amanaten. Sie stammen alle aus vornehmen Familien.«
»Kinder zu Amanaten?«
»Was soll man sonst tun?« lächelte Gribojedow traurig. »Es ist doch Krieg! Der Alte hatte einmal Tschetschenzen gefangen. Da gab er die schönsten Frauen den Imeretenen, die übrigen verkaufte er in die Berge, zu einem Rubel das Stück.«
Wilhelm senkte den Kopf. Alles, was Alexander ihm vom »Alten« erzählte, versetzte ihn in Bestürzung. Jener liebenswürdige, geistreiche, spöttelnde Jermolow, in den er sich unterwegs verliebt hatte, erschien hier als ein ganz anderer.
Sie traten ins Haus. Jermolow hatte für sich drei kleine Zimmer. Im Vorderzimmer warteten schon mehrere Leute. Die Decken waren niedrig, die Möbel bunt zusammengewürfelt. An einer Wand stand ein riesengroßer türkischer Divan. Ein hochgewachsener, nicht mehr junger Offizier mit spitzem Fuchsgesicht und spärlichem Schläfenhaar unterhielt sich mit einem gleichgültig dreinschauenden Artilleriehauptmann in einem übermäßig langen Uniformrock. Alexander stellte vor. Der Große war Wojejkow; der Hauptmann hieß List. Aus dem zweiten Zimmer kam ein junger Mann heraus, sehr schlank, glatt gekämmt, von angenehmem Äußeren.
Er eilte sofort auf Gribojedow zu und verneigte sich höflich.
»Alexander Sergejewitsch, Alexej Petrowitsch haben schon nach Ihnen gefragt. Alexej Petrowitsch langweilen sich ohne Sie!«
»Nikolaj Nikolajewitsch Pochwisnjew!« stellte Gribojedow den jungen Mann Wilhelm vor.
Pochwisnjew drückte kräftig Küchels Hand.
»Nun, darf man jetzt bei Alexej Petrowitsch eintreten?« fragte Alexander.
»Sie dürfen immer, Alexander Sergejewitsch«, antwortete Pochwisnjew liebenswürdig. »Erlauben Sie nur, daß ich anfrage.«
Und er verschwand in den hinteren Zimmern.
»Wer ist das?« fragte Wilhelm leise.
»Ein Intimus des Generals.« Alexander verzog das Gesicht. »Sein Piccolo.«
Nach einer Minute führte Pochwisnjew sie zum General.
Jermolow saß am Tisch. Auf diesem lagen Schriftstücke, eine Kartenzeichnung, ein Kontobuch, etwas abseits irgendeine Landschaftsskizze.
An den Wänden hingen Karten; unzählige graue Striche liefen darüber hin, die sich zu dunklen Kreisen verdichteten; die Gebirge waren von roten und blauen Linien durchkreuzt.
Jermolow erinnerte in diesem Augenblick nicht an das Bild, das Dawe von ihm gemacht hatte. Seine buschigen Augenbrauen waren hochgezogen; aus dem breiten, schlaffen Gesicht spähten die Elefantenäuglein, in denen ein Lächeln blitzte. Er saß da in einem dünnen orientalischen Rock, der oben aufgeknöpft war; man sah die mit krausem, grauem Haar bedeckte Brust. Er erinnerte ein wenig an Krylow. Als er die Freunde sah, erhob er sich und schien mit einem Male riesengroß. Freundlich drückte er Gribojedow die Hand und umarmte Wilhelm.
»Willkommen!« sagte er mit dumpfer, aber angenehmer Stimme. »Nehmen Sie bitte Platz.«
»Wie war Ihre Reise?« fragte er Wilhelm. »Was macht die Gesundheit?« Er betrachtete ihn mit unverhohlenem Vergnügen. »Haben Sie in Darial keine Angst gekriegt? Eine abscheuliche Gegend. – Sehen Sie hier: Ich habe in alten Papieren gekramt und ein altes Kroquis von mir gefunden. Da haben Sie das Kunstwerk.«
Jermolows Skizze war richtig gezeichnet. Sie hatte fast gar keine Schatten. Die Berge waren nur durch Linien angedeutet.
»Und ich wußte gar nicht, daß Sie Maler sind«, scherzte Gribojedow.
»Ich wußte es selber nicht«, lachte Jermolow. »Jeder Mensch bietet Überraschungen. Jeder. Sie, Wilhelm Karlowitsch, denken sicher, Schukowski sei nur ein Dichter. Auch ich war eigentlich dieser Meinung. Aber sicher wissen Sie nicht, daß Schukowski 1812 vorzügliche Bulletins geschrieben hat.«
Wilhelm riß die Augen auf.
»Was für Bulletins?«
»Für den General Skobelew. 1812. Ausgezeichnete Berichte. Er schrieb sie, verheimlichte es aber aus Bescheidenheit. Und Skobelew genoß den unverdienten Ruhm. – Na, wie steht's denn mit Griechenland?« fragte er Wilhelm listig. Er schien durch diese Fortsetzung eines alten Gesprächs ihn necken zu wollen.
»Das müssen Sie uns beantworten, Alexej Petrowitsch!«
»Was sagen Sie dazu?« wandte sich Jermolow scherzend an Gribojedow. »Bis Wladikawkas versuchte Ihr Freund immer wieder, mich zu verführen. ›Werfen Sie Ihre Truppen nach Griechenland, Alexej Petrowitsch. Ganz Rußland wird hinter Ihnen stehn.‹ – ›Aber Freundchen‹, antwortete ich, ›ich werde dann selber hinausgeworfen!‹ Fast hätte er mich wirklich verführt«, lachte er plötzlich ganz aufrichtig. »Ich bin mit ihm kaum fertig geworden. Ich sagte ihm: ›Wo denken Sie hin?? Ich habe im Kaukasus Sorgen genug!‹«
Alle drei lachten. Man fühlte sich in Jermolows Gesellschaft leicht und frei. Wilhelm betrachtete ihn mit verliebten Augen.
»Wovon mich aber Wilhelm Karlowitsch ganz und gar überzeugt hat, das ist: der Wert des russischen Volkstums. Ja, das russische Volkstum. Das Volkstum überhaupt scheint für die Poesie reiche Schätze zu bergen. So viel ich mich erinnere, haben Sie, Alexander Sergejewitsch, ebenfalls diesen Gedanken oder wenigstens etwas Ähnliches entwickelt.«
Gribojedow lächelte:
»Wilhelm Karlowitsch hat Sie, wie es scheint, auf der Reise nicht nur zu einem Griechen, sondern auch zu einem Dichter gemacht.«
»Nein, ich mache keine Gedichte. Das ist nichts für mich. Sogar ein Suworow hat abscheuliche Verse geschrieben. Aber Berichte schreiben, das kann ich. Was macht Ihr Arm, Alexander Sergejewitsch?« fragte er und gab dem Gespräch eine andere Wendung.
»Der schmerzt noch immer. Der Arzt will ihn zum zweiten Mal brechen.«
»So lassen Sie ihn brechen! In Gottes Namen! Nach Persien dürfen Sie mir nicht, es sei denn, Sie bestehen darauf. Ich habe Nesselrode schon einen Brief geschrieben. Sie werden bei uns hier als Sekretär des Auswärtigen Amtes fungieren und eine orientalische Schule einrichten. Wie ist das, studieren Sie immer noch die Perser?« Er lächelte wieder. »Sie wissen wohl schon besser Bescheid als die Scheichs selber? – Das ist ein alter Streit zwischen uns,« wandte er sich an Küchelbecker. »Ich kann die Perser nicht leiden. Ich mag ihre Sitten nicht. Ich hasse ihre Art, zu schreiben. Alexander Sergejewitsch aber verteidigt sie. Bei den Persern muß man alles, aber auch alles bis aufs Geringste hinschreiben. Wir Europäer machen einige Gedankenstriche, und das ergibt schon irgendeinen geheimen Sinn, während sie für einen einfachen Brief zehn Seiten brauchen.«
Wilhelm hörte gespannt zu:
»Das haben Sie sehr gut bemerkt, Alexej Petrowitsch. Denken Sie nur an Puschkin.«
Jermolow verneigte fast graziös den halbergrauten Kopf.
»Einmal schrieb ich an Sadr-Asam folgenden Brief (Jermolows Brust bebte vor Lachen): ›Seit dem Tage unserer Trennung,‹ so schrieb ich ihm, »leuchtet die Sonne traurig auf die Erde herab. Die Rosen sind welk und duften nach Pfefferminz. Das Licht meiner Augen ist erloschen, und meine Augen möchten in meinen Nacken umsiedeln.‹ Dabei konnten wir uns gegenseitig nicht ausstehn.«
Die Freunde lächelten.
»Und kennen Sie ihre Arabesken, ihre Malerei?« fragte er weiter und schüttelte sich vor Lachen. »Da malen sie etwas wie einen Menschen, aus dessen Nüstern eine Eiche wächst, und der mit den Zähnen die Eicheln zu fassen sucht. Herrgott, wie dumm!«
Wilhelm sagte belustigt:
»Nein, nein, Alexej Petrowitsch! Ich bin nicht mit Ihnen einverstanden. Die persischen Dichter, die Rückert uns vermittelt, sind bezaubernd.«
»Na ja, das ist eben Rückert. Der ungeschminkte Orient mit seinem Schmutz und Gestank ist etwas anderes als das, was wir aus ihm machen und wie wir ihn deuten. In der Dichtung wie in der Politik modeln die Europäer Asien auf ihre Art um.«
Pochwisnjew trat mit Papieren ein.
Wilhelm und Alexander verabschiedeten sich.
»Leider kann ich Sie jetzt nicht länger aufhalten. Geschäfte!« sagte Jermolow, nunmehr ernst und höflich. »Ich bitte Sie aber, zu einer anderen Zeit wiederzukommen. Der Dienst wird Sie hoffentlich nicht überanstrengen. Ich denke, wir werden recht bald Verse über die kaukasische Natur zu hören bekommen.«
Er sah aus dem Fenster hinaus. Draußen scholl Gekreisch: Zwei Amanaten prügelten sich.
Wilhelm faßte Mut:
»Alexej Petrowitsch,« fragte er leise, »wo sind denn die Eltern dieser Kinder?«
Jermolow wandte sich lebhaft um und sah Küchelbecker an:
»Sie fragen wegen der Amanaten? Mein Freund, das ist mehr eine wirtschaftliche Frage, keine militärische. Die erwachsenen Amanaten haben uns irrsinniges Geld gekostet. Manche bekamen drei Silberrubel pro Tag. Darum nehme ich jetzt Kinder als Geiseln. Sie vertreiben sich die Zeit bei mir im Hof mit Würfelspiel. Die Eltern kommen sie besuchen. Sie bekommen von mir Honigkuchen und sind dabei sehr zufrieden. Sie sind wirklich sehr zufrieden. Außerdem helfen sie noch beim Roden von Waldlichtungen.«
Er sah Wilhelm mit verschmitztem Lächeln an, das dieser verlegen erwiderte. Als die Türe sich hinter den Freunden schloß, setzte sich Jermolow an den Tisch. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. Erwartungsvoll stand Pochwisnjew vor ihm.
»Ein merkwürdiger Mensch,« sagte Jermolow nachdenklich. »Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker: ein Slawophile. Wassilij Karpowitsch Brotbäcker. Das klingt schon besser, nicht so deutsch. Das andere ist ja ein Widerspruch.«
Pochwisnjew lachte ehrerbietig:
»Brotbäcker,« wiederholte er mit dünner Stimme begeistert.
»Hier ist für Sie ein Paket vom Fürsten eingetroffen,« brachte er vorsichtig heraus, »vom Fürsten Wolkonski. Ganz geheim.«
Jermolow nahm es an sich.
»Sie können gehn, mein Freund,« sagte er zerstreut und machte ein strenges Gesicht.
Der Chef des Generalstabs schrieb ausführlich über den Transithandel, über die Erschließung der Naphtaquellen von Baku und auch über die fortschreitende Befriedung des Abchasischen Meeres, wobei er Seine Exzellenz ehrerbietigst über die Pläne der Regierung in Kenntnis setzte.
»Na, du mußt es ja dort besser wissen,« brummte Jermolow grob und überflog den Rest des Schreibens.
Zum Schluß erkundigte sich der Chef des Generalstabs nach einem jungen Mann, Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker, und fragte an, ob Seine Exzellenz es nicht für möglich hielte, diesen Zivilbeamten bei besonders gefährlichen Angelegenheiten zu verwenden, da er allgemein als Hitzkopf bekannt sei.
Jermolow stand vom Tisch auf. Er wußte, was das zu bedeuten hatte, und erinnerte sich an sein Gespräch mit Nesselrode. Er ging ein paar Mal nachdenklich durch das Zimmer, dann kehrte er zum Tisch zurück und blieb eine Weile in Gedanken stehn. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Der Unterkiefer schob sich vor.
»Kannst lange warten,« meinte er plötzlich und schnitt irgendeinem Unsichtbaren eine Grimasse, »kannst lange warten, bis ich ihn absichtlich den Kugeln aussetze. Prügelwerkzeug bin ich nie gewesen.«
Er setzte sich hin, um die Antwort zu schreiben:
» Ganz Geheim
Ew. Exzellenz!
Wertester Fürst!«
schrieb Jermolow mit großer, aber hübscher Schrift. »Ihr Geheimschreiben Nr. 1067 habe ich erhalten und beeile mich, Ihnen darauf zu antworten, daß ich betreffs der Befriedung des Abchasischen Gebiets einen besonderen Plan ausgearbeitet habe, den Ihnen mitzuteilen ich augenblicklich wegen Platzmangels wie wegen seiner ganz besonderen Vertraulichkeit nicht für möglich erachte …
... Die Erschließung der Naphtaquellen als Staatsangelegenheit von größter Wichtigkeit …
... Was Herrn Küchelbecker anbetrifft, so ist er wegen einer Krankheit, die ihn in Wladikawkas befallen hat, erst heute hier eingetroffen. Ich halte es daher für geboten, diesen Beamten angesichts seiner Unerfahrenheit bei besonders wichtigen Unternehmungen, die das höchste Maß von Kaltblütigkeit erfordern, nicht zu verwenden.«
Jermolow sah den Brief durch und freute sich:
»Sieh nur zu, wie du daraus klug wirst, wertester Fürst!«
Er unterschrieb:
»Eurer Durchlaucht ergebenster Diener
Jermolow.«
Er tat Wolkonskis Brief in die Mappe »Geheim«, knöpfte mit einem Seufzer den Rock zu und verließ das Zimmer.
Als Pochwisnjew eine Stunde später das Zimmer betrat, war es leer. Er schlich zum Tisch, fand die Mappe, las Wolkonskis Brief und verfiel in Nachdenken.
Alexander und Wilhelm befolgten Jermolows Rat und überanstrengten sich nicht im Dienst. Morgens ritten sie aus, am Abend gingen sie in den Klub oder saßen auf dem Balkon, betrachteten die Gebirgskette des Kaukasus oder hörten den Hausfrauen zu, die unten eifrigst in ihrer von Kehllauten durchsetzten Sprache die Tagesereignisse von Tiflis beklatschten. Der Diener Alexander huschte leise schlurfend in Pantoffeln herum, brachte irgend etwas in Ordnung, sang leise ein Liedchen vor sich hin. Nachts trat Gribojedow ans Klavier, setzte sich dann hin und spielte stundenlang Field. Das Klavier war ganz besonders für ihn eingerichtet, da sein rechter Arm sehr behindert war. Jakubowitsch hatte bei dem Duell absichtlich darauf gezielt, damit sein Gegner nicht mehr spielen könne.
Einmal sagte Gribojedow verlegen zu Wilhelm:
»Es ist noch zu früh für den Klub. Wenn du willst, lese ich dir etwas aus meiner neuen Komödie vor.«
Wilhelm hatte längst beobachtet, wie Gribojedow ganze Stunden in sich versunken am Fenster stand, wie er, über irgendwelchen geheimnisvollen Papieren sitzend, ungeduldig an der Feder nagte, wie er von Schlaflosigkeit geplagt war. Er hatte es sich bereits gedacht, daß sein Freund dichtete. Doch heute sprach Alexander zum ersten Mal davon.
»Mein Stück ›Vernunft schafft Leiden‹ ist eine Charakterkomödie. Der Held ist einer der Unseren. Er hat etwas von mir, aber noch mehr von dir. Er ist eben aus dem Ausland zurückgekehrt wie du. Eine Frau hat ihn betrogen. Mit wem? Stell dir nur, sagen wir, so einen Pochwisnjew vor: einen ordentlichen, diensteifrigen Kerl mit einer gemeinen Dreckseele. Daher die Katastrophe, die natürlich komischer Art ist.«
Er ging durchs Zimmer, als wäre er unzufrieden mit dem, was er sagte.
»Das ist aber nicht die Hauptsache,« fuhr er fort. »Das Wichtigste sind die Charaktere. Es ist Zeit, die Komödie, in der eine kleine Intrige sich in die andere verflicht, in der überhaupt keine Menschen, sondern nur Soubretten aus der französischen Komödie vorkommen, zu verdrängen. Du verstehst, worauf es ankommt.« Er blieb vor Wilhelm stehn. »Nicht Handlung, sondern Bewegung will ich in die Komödie bringen. Diese ewige Schürzung und Lösung des Knotens hab ich satt! Die Schrauben unserer Komödie haben sich gelockert. Ich lasse meinen Helden mit gegensätzlichen Charakteren zusammenstoßen. Eine ganze Galerie von Porträts will ich auf die Bühne loslassen. Mögen sie da Leben gewinnen!«
Gespannt hörte Wilhelm zu.
»Was für ein einfacher Gedanke!« sagte er. »Wie einfach dein Plan einer Revolution des Theaters! Wie willst du das aber durchführen? Ich habe lange über unsere Komödie und unsere Lyrik nachgedacht. Auch ich hab es satt, immer wieder Seufzerelegien zu schreiben. Ich weiß selber, daß sie alle nach ein und demselben Muster geschrieben werden. Wie soll man aber ohne die französische Soubrette auf der Bühne auskommen, wenn die kraftlose Sprache unserer Stücke nur für Soubretten taugt? Auch ich würde gern mit der Elegie Schluß machen. Man kann doch nicht ewig der entschwundenen Jugend nachjammern. Aber sobald ich zu schreiben anfange, wird doch eine Elegie daraus. Die heutige literarische Sprache führt ganz von selber zur Elegie.«
»Und Krylow?« fragte Gribojedow schroff.
Wilhelm verstand nicht.
»Und Krylow?« wiederholte Gribojedow. »Und Derschawin? Haben die vielleicht eine kraftlose Sprache?!« Seine Augen flammten. »Mein Freund, solange wir den Karamsin-Rummel mitmachen, kommt nichts Gescheites heraus. Unsere Sprache muß entweder grob und einfach sein, die Sprache der Straße, des Vorzimmers, oder aber erhaben. Die goldene Mitte kann ich nirgends ertragen. Ich weiß, Alexej Petrowitsch sagt, meine Verse verursachen ihm Gähnkrampf. Meinetwegen! Aber lieber sollen die Kiefer leiden als die Literatur. Sogar die übertriebene Genauigkeit des Versmaßes ist schon eine Ziererei. Man muß schreiben, wie man lebt: frei und nochmals frei.«
Wilhelm jubelte innerlich.
»Auch ich hab schon darüber nachgedacht, Bruder,« sagte er leise. »Oh, wie gut ich das verstehe! Alle schreiben bei uns wie Ausländer, – zu richtig, zu schön. Im alten Athen erkannte ein Marktweib den Ausländer daran, daß er richtig sprach. – Jetzt hab ich alles begriffen!« rief er und sprang von seinem Platz auf. »Ich weiß jetzt, wie ich meine Tragödie schreiben muß.«
»Schreibst du eine Tragödie?« fragte Gribojedow aufmerksam.
»Ja, aber nicht für die Öffentlichkeit. In meiner Tragödie wird ein Tyrann ermordet. Das ist für die Zensur zu stark.«
»Auch in meiner Komödie geschieht ein Mord, glaube ich,« sagte Gribojedow langsam. »An meiner teuren Vaterstadt, am lieben Moskau. Dort gibt mein Onkel Bälle über Bälle. Im übrigen interessiert er sich auch für nichts anderes.«
Er begann zu lesen.
Wilhelm saß wie festgewurzelt. Seine Wangen glühten. Er sah im Geist den jungen Mann auf dem Ball, dem niemand zuhören will, der seine giftigen Worte ins Leere hineinspricht … Wilhelm erkannte bald Alexander, bald sich selber. Gribojedow las ruhig und sicher und begleitete die Verse mit leichten Bewegungen.
Sobald Tschatzki sprach, wurde Gribojedows Stimme dumpfer, gespannter. Tschatzki spielte er, während er die übrigen Rollen einfach sprach.
»Wie findest du das?« fragte er.
Gerührt, tief aufgewühlt stürzte Wilhelm auf ihn zu und umarmte ihn.
Gribojedow war zufrieden. Er ging ans Klavier und spielte. Dann nahm er die Brille ab und wischte sich die Augen.
Als er sich wieder umwandte, war sein Gesicht völlig heiter.
»Verstehst du, Wilhelm,« sagte er. »Das alles hab ich mir zuerst viel großzügiger gedacht. Das alles sollte einen höheren Sinn haben. Aber was tun? Ich liebe das Theater, Theatergespräche, Theaterbetrieb. Für mein Leben gern möchte ich mein ›Vernunft schafft Leiden‹ auf der Bühne sehn. Darum verderbe ich manches, passe es der Bühne an. Wollen wir jetzt ausreiten?« –
Wenn Wilhelm den Klub verließ, begleiteten ihn spöttische Blicke. Der langaufgeschossene Deutsche mit seiner schlechten Körperhaltung, den vorstehenden, unruhigen Augen, den schroffen Bewegungen und seiner hastigen und verworrenen Sprechweise war ein Rätsel für Nikolaj Nikolajewitsch Pochwisnjew. Während er sich in Wilhelms Abwesenheit jedes Mal über ihn lustig machte, war er, sobald er sich ihm persönlich gegenüber befand, von äußerster Zurückhaltung und Höflichkeit. Die Anwesenheit Gribojedows, der empfindlich war wie eine gespannte Saite, legte allen Zurückhaltung auf.
Eines Tages erschien im Klub ein stattlicher, dicker Major mit langem, schwarzem Schnurrbart. Riesengroße, starre Augen und ein maskenhaftes, dunkelgelbes Gesicht fielen stark an ihm auf. Höflich und doch etwas nachlässig grüßte er Gribojedow und ging schnell in die hinteren Räume, wo gespielt wurde.
»Wer ist das?« fragte Wilhelm.
»Jakubowitsch,« antwortete Gribojedow mißmutig.
Das war also Jakubowitsch, der Held, der seine und Puschkins Phantasie beherrscht hatte, der tolle Duellant, der finstere Draufgänger!
»Na also! Der tragische Mensch!« meinte Alexander und lächelte schief. »Wenn du willst, erzähl ich dir seine letzte Heldentat. Nicht weit von hier, bei Baksan sollten unsere Truppen den Gebirgsleuten in den Rücken fallen. Dazu mußten sie einzeln, Mann für Mann, durch eine Bergschlucht hindurch. Die Schluchten sind hier eng, so daß immer nur einer sich hindurchzwängen kann. Jakubowitsch stieg hinunter, blieb aber stecken. An den Beinen mußte man ihn herauszerren. Stell dir das Bild vor!« Er lachte lustig. »Seitdem heißt die Schlucht ›Jakubowitsch-Loch‹.« –
Wilhelm konnte sich nicht an Alexanders Art gewöhnen. Von frühester Kindheit an mußte er immer einen Helden haben. Er »verliebte« sich bald in Derschawin, bald in Schukowski, bald in Jermolow. Jedes Mal, wenn er dann von seinem Helden, wie man damals sagte, »enttäuscht« war, brachte ihm das viel Schmerz und Kümmernis. Sobald nun Alexander merkte, daß Wilhelm »verliebt« war, überschüttete er ihn mit Spott wie mit kaltem Wasser. Wilhelm wußte, daß sein Freund schlaflos manche Nacht durchstöhnte. Er hatte in solchen Nächten seine trockenen, tränenlosen Augen gesehen. Darum verzieh er ihm immer wieder wie eine Frau, doch nach jedem spöttischen Ausfall Alexanders sank er in Betrübnis. Alexander wußte wohl, wie seine ernüchternden Reden auf Wilhelm wirkten, doch er wollte und konnte nicht anders. Es bereitete ihm sogar eine gewisse Freude, den wehrlosen Freund ein wenig zu quälen. Seine Gefühle waren stets unveränderlich, aber immer wieder standen seine sichtbaren Handlungen zu ihnen im Widerspruch. –
Begleitet von Pochwisnjew und zwei Militärs, erschien Jermolow im Klub. In seiner Anwesenheit nahmen sich alle zusammen. Die Herren vom Militär traten besonders schneidig auf. Die Zivilisten gaben sich besonders geistreich.
Jermolow war heute schlecht gelaunt. Mit höflichem Lächeln drückte er rechts und links die Hände, doch dies Lächeln erschien Wilhelm unangenehm, ja unnatürlich. Der General ging schnell in sein Zimmer, einen kleinen Raum mit türkischer Ottomane, breiten Sesseln und kleinem, rundem Tisch, wo Jermolow manchmal mit der Jugend Karten spielte.
Er setzte sich. Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Pochwisnjew, der um eine Sekunde länger im ersten Zimmer zurückgeblieben war, hatte doch etwas von einem nicht allzu gnädigen Reskript flüstern können, das Alexej Petrowitsch erhalten hatte. Dann schlüpfte er sofort Jermolow nach.
»Bitte doch mal Gribojedow, Wojejkow und auch diesen Brotbäcker her, Freundchen,« sagte Jermolow verdrießlich.
»Na, meine verehrten Herrschaften,« wandte er sich an die Eintretenden mit dem gleichen unangenehmen Lächeln, »haben Sie Lust, sich ein wenig mit mir zu langweilen?«
Er war unruhig, und sein Scherz klang unecht.
»Sie können triumphieren,« wandte er sich an Gribojedow, »ich habe da ein nettes Reskriptchen inbetreff Persiens erhalten. Ich soll mich mehr um Persien als um Rußland kümmern. Meinetwegen. Mir ist das egal. Da stecken die Ratgeber dahinter, Dibitsch und Paskewitsch. Wollen sehn, wie weit Rußland mit den zwei Wanjkas Wanjka: Abkürzung des Namens »Iwan«, volkstümliche Bezeichnung des Droschkenkutschers. Anm. d. Übers. kommen wird!«
Das Wortspiel verfehlte seine Wirkung nicht. Alle lachten. Auch Jermolows Gesicht hellte sich auf. Paskewitsch und Dibitsch hießen beide Iwan. Gribojedow schnitt eine Grimasse. Er war mit Paskewitsch entfernt verwandt und machte, wenn auch ungern, manchmal von seiner Protektion Gebrauch.
»Halten Sie die zwei denn für ein gleiches Paar, Alexej Petrowitsch?« fragte er unzufrieden.
»Ach, Väterchen,« erwiderte Jermolow lebhaft, »ich habe von Jugend auf schlechten Geruchssinn. Ob Rose oder Reseda, für mich ist das alles ein und dasselbe. Zum Kuckuck, was wollen sie nur von mir? (»Sie« waren für ihn sowohl die Regierung, wie der Zar, wie überhaupt ganz Petersburg.) Ich will nichts. Ich verlange nichts. Ich habe mich in eine gottverlassene Gegend verkrochen und das Feld vor ihnen geräumt. Ich bitte um keine Belohnung. Können sie mich da nicht in Ruh lassen?«
»Sie, Nikolaj Petrowitsch, schreiben doch sicher Memoiren,« wandte er sich an Wojejkow. »Schreiben Sie bitte von mir: Er wollte nichts haben, nur seine Ruhe.«
Pochwisnjew teilte die Karten aus. Jermolow betrachtete die seinigen mit zusammengekniffenem rechtem Auge. Spielte er eine Karte aus, so kniff er das Auge noch mehr zusammen. Es machte ihm Freude, im Spiel zu gewinnen.
»Trotzdem, es ist schade,« warf er auf einmal verschmitzt Gribojedow zu, »wirklich schade, Alexander Sergejewitsch, daß man mir solche netten Reskripte schickt. Mit Persien und der Türkei ein wenig Krieg führen, – auch China und Indien könnte man dabei mitnehmen –, das wäre doch bei Gott nicht übel!«
Er wollte Gribojedow aufziehn.
»Alexej Petrowitsch,« erwiderte dieser, »es ist ein wahrer Fehlgriff, daß Sie nicht Pjotr Alexejewitsch Peter der Große. Anm. d. Übers. heißen. Sie haben sich seinen griechischen Plan ausgezeichnet zu eigen gemacht.«
»Das ist gar kein schlechter Gedanke, mein Lieber,« meinte Jermolow so obenhin. »Handel, Orienthandel brauchen wir, wie das Leben. Sehen Sie nur, wieviel Engländer sich in Tiflis herumtreiben! Die sind nicht um meiner schönen Augen willen da. Persien, Türkei, China und dann auch Indien, – was, Brüder, wollen wir hin? Es kommt nur darauf an, einen Weg zu haben!«
»Ne nous sacrifiez pas, Excellence, si jamais vous faites la guerre à la Perse,« bemerkte Gribojedow mit kaltem Lächeln.
Jermolow achselzuckend:
»Ach, Bruder, es wird doch nichts draus. Die können ganz ruhig sein!«
»Die?« neckte Gribojedow.
»Die!« Jermolow stampfte leicht mit dem Fuß auf. »›Die‹, diese trostlos langweiligen Menschen. In Tilsit bin ich dem Zaren gegenüber gesessen. Er sagte zu mir: ›Sie sehen ja aus, Alexej Petrowitsch, als ob Sie den Purpurmantel nur noch umzuwerfen brauchten!‹ – ›Ja,‹ antwortete ich, ›so gehört es sich eigentlich!‹ Ich bemerkte jedoch, daß er ganz blaß wurde, und fügte daher hinzu: ›Unter jedem anderen Zaren.‹ …«
Er liebte solche Scherze, wenn er mit der Jugend zusammen war. Sie galten gewöhnlich dem Zaren, der ihn fürchtete und haßte.
Wojejkow faßte Jermolow scharf ins Auge:
»Der Orientstaat, das ist eine gewaltige Idee. Ganz Asien ist dann mit uns. Können Sie sich aber, Alexej Petrowitsch, den ›Kollegienassessor aus dem auswärtigen Amt‹ im Purpurmantel eines orientalischen Königs vorstellen?«
Puschkin pflegte damals den Zaren »Kollegienassessor« zu nennen. Das Wörtchen machte die Runde durch ganz Rußland.
»Warum nicht?« versetzte Jermolow und kniff die Augen zusammen. »Aus dem Purpurmantel läßt sich ein Uniformrock zurechtschneiden. – Und Sie, Wilhelm Karlowitsch,« wandte er sich an Küchelbecker, »warum sind Sie heute so wenig in Stimmung?«
Wilhelm erwiderte mit verschleierter Stimme:
»Die Menschheit ist der Kriege müde, Alexej Petrowitsch!«
»Nanu?« meinte Jermolow erstaunt. »Eben noch wollten Sie mich nach Griechenland locken!«
»Griechenland ist etwas ganz anderes. Ein Krieg für die hellenische Freiheit ist etwas anderes als ein Krieg aus Geschäftsinteresse.«
Jermolow verfinsterte sich.
»Und ich sage Ihnen,« sprach er hart, »daß es nur dann Zweck hätte, für Griechenland zu kämpfen, wenn man dadurch die Türkei kleinkriegen könnte. Was sind die Griechen? Schwammhändler. Von Hellas seh ich keine Spur. Hellas, das ist was für Poeten, Wilhelm Karlowitsch!«
Wilhelm sprang auf:
»Sie scherzen, Alexej Petrowitsch. Den Griechen aber, die um ihre Freiheit kämpfen, ist es bitter ernst zumute.«
Jermolow lächelte.
»Sie sind sehr hitzig, Wilhelm Karlowitsch. Jeder tut, was er kann. Ich kann zum Beispiel lachen. Deshalb lache ich, sonst hätte ich vielleicht geweint.«
Alle schwiegen, und das Bostonspiel begann.
Wilhelm und Alexander gingen stumm nach Hause.
»Ich hab nichts übrig für diese dreimal hohen Herrschaften,« unterbrach Alexander das Schweigen. »Wenn es ihm einfällt, gegen Persien zu ziehn, dann müssen's die anderen bezahlen.«
Wilhelm ging traurig neben ihm her. Er hatte seine eigenen Gedanken. Mit seinem »Griechenlandplan« ging es nicht vorwärts.
Sie wurden von Wojejkow eingeholt, der aufgeregt schien:
»Ich begleite Sie ein Stück,« sagte er und fuhr dann leise, wie verlegen fort: »Wilhelm Karlowitsch, Sie beschäftigen sich mit Griechenland. Auch ich habe ein Projekt. Alexej Petrowitsch sprach von China, Buchara, Indien! Ist das nicht eine grandiose Idee?«
»Nein,« erwiderte Gribojedow schroff, »man muß die Grenzen des Staates innehalten. Man kann nicht ewig Krieg führen.«
»Der Orient. Ein großes Orientreich,« fuhr Wojejkow fort – sein schwindsüchtiges Gesicht war blaß –, »das ist der Gedanke Alexanders des Großen. Nicht des unseren, nicht Alexanders I. … Im Vertrauen,« schloß er aufgeregt, »wir brauchen ein Orientreich unter der Herrschaft Alexej Petrowitschs.«
Gribojedow blieb erstaunt stehen.
»Also eine Jermolow-Dynastie?«
»Ja. Eine Jermolow-Dynastie.« Wojejkow erwiderte fest seinen Blick.
Schweigend gingen sie eine Zeitlang weiter. Endlich warf Gribojedow hin:
»Und wie soll's mit dem Erben werden? Wir müssen Alexej Petrowitsch schleunigst verheiraten.«
Wilhelm ging nicht mehr zu Jermolow. Sein Lächeln wurde ihm unangenehm. Er mochte sein etwas dumpf klingendes, liebenswürdiges »Brüderchen« nicht mehr hören. Zu tun gab es wenig. So ging man viel spazieren oder ritt aus. Wilhelm befreundete sich mit List. Wenn der graue Hauptmann ihn mit seinen klugen Augen ansah, fühlte sich Wilhelm an seinen Vater erinnert, der auch so ein hochgewachsener, grauberockter Deutscher von ernstem und traurigem Charakter gewesen war. Der Hauptmann wohnte in Gombory. Wilhelm ritt oft zu ihm auf einem feurigen Hengst, den ihm der dienstbeflissene Pochwisnjew verschafft hatte. In letzter Zeit drängte sich Pochwisnjew immer mehr an Wilhelm heran, suchte eifrig seine Gesellschaft, erspähte jede Gelegenheit, ihm nützlich zu sein. Gribojedow traute der Sache nicht. Er warnte Wilhelm:
»Mein Lieber, verkehre nicht mit diesem Piccolo. Wenn's drauf ankommt, verkauft er dich für einen Groschen.«
Aber Wilhelm, der allem gegenüber, was nach Spott aussah, argwöhnisch war, brachte den Menschen sehr leicht Vertrauen entgegen. Alexander gab es nach einiger Zeit auf, ihn zu warnen. Oft begleitete er Wilhelm zu List. Die Gegend dort war herrlich. Drei bis vier Werst unterhalb der Stadt lag in der Kura eine Insel, auf der es einen weitläufigen Garten mit einem wahren Weinreben-Labyrinth gab. Er gehörte einem alten Trunkenbold namens Dschafar. Der Besitzer empfing sie mit großer Würde. Am Morgen war er nüchtern und vornehm wie ein regierender Fürst. Er machte sich im Garten zu schaffen, in dem seine Söhne arbeiteten, aber nur zum Schein. Er schätzte Gribojedow, weil er arabisch verstand, List, weil er vom Militär war; Wilhelm schenkte er kaum Beachtung. Wenn die Freunde erschienen, lud Dschafar sie mit breiter Geste ein, sich unter einer Kastanie niederzulassen. Unter dem gigantischen, Jahrhunderte alten Baum war es kühl. In der Nähe rauschte monoton die Wasserleitung. Das war das wirkliche Land des Vergessens. Hier vergaß List sein ödes Soldatenleben, seine greise Mutter, die in Petersburg auf der »Wassili-Insel« lebte. Die unvermeidliche Pfeife paffend, erzählte er den Freunden von seinen Feldzügen. Er erinnerte sich, wie der alte Kojchosro-Guriel sich allein mit zehn Mann herumschlug, wie ein Offizier ihm den Arm absäbelte und wie der Alte sich mit seinem einzigen Arm tötete. Wilhelm hörte mit Schaudern die blutigen und tragischen Geschichten. Einmal gab der Hauptmann zum besten, wie Jermolow deutsche Sektierer zur Vernunft gebracht hatte. Die Leute wohnten vorher in Württemberg. Sie glaubten, die Ankunft des Messias sei nahe; er werde aus der Türkei oder aus Persien kommen und seinen Weg über Georgien nehmen. Sie zogen aus Deutschland fort und siedelten sich im Kaukasus an. Jermolow schlug ihnen vor, Boten nach Persien und nach der Türkei zu schicken, um zu erkunden, ob der Messias schon erschienen sei. Nach einem Monat kehrten die Abgesandten zurück, hungrig, erschöpft und völlig zerlumpt. Seitdem glaubte man in der deutschen Kolonie nicht mehr an die Ankunft des Messias.
Der Hauptmann konnte nur wenig mit den Freunden zusammen sein, da er viel Dienst hatte.
Einmal sagte Gribojedow zu Wilhelm, als sie unter der alten Kastanie saßen:
»Ich kann so nicht weiterleben. In ruhigen Zeiten, mein Lieber, tauge ich gar nichts. Weißt du: Jermolow sagt, ich sei Derschawin ähnlich, in allem, in der Dichtung wie im Leben. Das ist in seinem Mund ein sehr fragwürdiges Kompliment. Er hält Derschawin für den unruhigsten und unbrauchbarsten Menschen in ganz Rußland. Ach, die Menschen sind kleinlich, ihre Taten dumm, ihre Herzen hart.«
An diesem Morgen war Gribojedow zerstreut und gereizt. Er schien über etwas nachzudenken.
»Ich fühle auch,« sagte Wilhelm, »daß wir nicht mehr lange hier bleiben. Ich habe ein untrügliches Zeichen dafür: Ich sehne mich nach den Verwandten … Was hältst du davon, Alexander,« flüsterte er und sah Gribojedow unruhig an, »könnte man nicht von hier nach Griechenland fliehen? Mein Lieber, erinnerst du dich noch an Puschkins ›Vom Durst nach Untergang gequält‹ …? Wie gut Puschkin so etwas versteht!«
Gribojedow wiederholte dumpf:
»Durst nach Untergang. Vielleicht ist es so. Die Zeit entflieht, in meinem Herzen lodert Feuer, mein Kopf gebiert eine Fülle von Gedanken, und doch kann ich nichts unternehmen, denn die Wissenschaft schreitet fort, und ich finde nicht einmal Zeit zum Lernen, geschweige denn zum Schaffen. Was ist das für ein Verhängnis, das auf uns lastet, Wilhelm? Als ob sich an mir das prophetische Wort erfüllen wollte: Unstet und flüchtig sollst du werden!«
»Fahren wir nach Hause,« sagte Wilhelm, »fahren wir zurück nach dem Norden! Hier gehn wir zugrunde an Untätigkeit. Wir können doch nicht ewig die Landstraßen entlangstrolchen.«
»Wenn du willst, kann ich dir verraten, woran ich zugrunde gehe.«
Gribojedow hatte gar nicht hingehört. »Mein Lieber, ich sterbe an Langeweile. Der dicke Schachowski hat einmal zu mir gesagt: ›Alles, was du schreibst, ist ausgezeichnet, aber die Langeweile führt deine Feder …‹ Wie trostlos! Was ist das Ergebnis unserer literarischen Arbeiten nach einem Jahr, nach hundert Jahren? Nichts haben wir geleistet, und was hätten wir nicht alles leisten können!«
Wilhelm sprang in die Höhe und begann auf und ab zu gehn. Plötzlich machte er halt vor Gribojedow. Tränen standen ihm in den Augen.
»Ich bin zum Laster bereit, zum Verbrechen, nur nicht zu diesem sinnlosen Leben. Wohin fliehen?«
Auch Gribojedow erhob sich vom Rasen:
»Es gibt für uns keine Flucht. Hier ist das Land des Vergessens. Das ist auch was wert. Irgendwie werden wir schon weiterleben. Sollen wir etwa nach Moskau, um Bälle zu besuchen und uns mit den Zeitschriften, mit literarischen Kindereien und Klatsch abzugeben? Mein Onkel in Moskau träumt nur davon, daß ich endlich Staatsrat werde.«
Eines Tages hörten Wilhelm und Alexander ungewöhnlichen Lärm auf der Straße. Sie schauten aus dem Fenster. Die Leute eilten alle zur Festung. Der kleine Sohn der Wirtsleute, der halbnackte Suren, rannte aus Leibeskräften, die Fersen verzweifelt nach außen werfend. Gribojedow fragte:
»Was ist los?«
»Dschambot!« rief ihm im Vorbeilaufen ein Armenier zu.
»Dschambot ist da!« ergänzte ein anderer grinsend.
»Schnell!« sagte er zu Wilhelm, »das wird ernst.«
Kutschuk Dschanchotow war der reichste Besitzer im Land. Sein Name hatte besonderen Klang bei den Tschetschenzen wie bei den Abasechen. Der alte Kutschuk war ein großer Diplomat; er wollte auf keinen Fall seine Viehherden und Weideplätze einer Gefahr aussetzen. Wenn seine Jasyren, die Sklaven, einer Tschetschenzenabteilung begegneten, ertrugen sie ihren Spott mit geduckten Köpfen. Hatte Kutschuk doch noch in lebhafter Erinnerung, wie Jermolow einem benachbarten Aul in aller Seelenruhe 15+000 Stück Vieh wegtrieb, weil dieses Dorf die Transkubaner hatte passieren lassen. Er suchte deshalb auf jede Weise seinen Sohn Dschambulat Jermolow näherzubringen. Dschambulat oder, wie die Tscherkessen ihn nannten, Dschambot war sein einziger Erbe. Doch der war aus anderem Holz geschnitzt. Jermolow hatte ihn zwar der Gesandtschaft in Persien zugeteilt, doch knüpfte er mit den Persern geheimnisvolle Verbindungen an und führte irgendwelche Verhandlungen, so daß der General ihn von dort ausweisen ließ. Als die Transkubaner wieder eindrangen, war Dschambot einer ihrer Führer. Eine unangenehme Sache! Der Mann war berühmt im ganzen Tschetschenzengebiet, in ganz Abasechien. In vollem Ritt traf er den Adler, schlug er einem jungen Bullen den Kopf ab. Sein Ruhm stieg immer höher. Alle kabardinischen Mädchen kannten das Lied von Dschambot. Jermolow selber hatte bei seiner letzten Reise das Vergnügen, daß in einer kaukasischen Berghütte ein schlankes Mädchen dieses Lied sang, in dem jedes zweite Wort Dschambot war. Seit der Niederlage der Transkubaner wohnte Dschambot bei seinem Vater.
Bereits vor einer Woche hatte Jermolow an Kutschuk einen sehr freundlichen Brief gesandt, in dem er bat, ihn zusammen mit seinem Sohne Dschambot zu besuchen; eine äußerst wichtige Angelegenheit sei zu besprechen. Kutschuk sicherte er freies Geleit zu. Alle Welt wollte den jungen Dschanchotow sehn und rannte zur Festung.
Die Freunde kamen gerade noch rechtzeitig, um den Alten und seinen Sohn in die Festung einreiten zu sehn. Vor dem Tor staute sich die Menge, der man den Eintritt verwehrte. Kutschuk und Dschambot ritten langsam des Wegs. Der Vater hatte auf dem Kopf einen riesigen weißen Turban. Er war nämlich nach Mekka und Medina gepilgert. Die weniger vornehmen Grundherren folgten in einiger Entfernung, während die Diener die Spitze des Aufzugs bildeten. Dschambot ritt neben seinem Vater. Er war prächtig gekleidet. Ein bunter Rock fiel über seinen Panzer. An der Hüfte trug er Säbel und Dolch. Der Sattel war reich verziert. Ein pfeilgespickter Köcher hing ihm auf dem Rücken.
Wilhelm betrachtete ihn mit gespanntem Interesse. Dschambots Gesicht war länglich, schmal, fast mädchenhaft. Lebhaft leuchteten die braunen Augen. Leicht und lässig saß er im Sattel.
Vor dem Tor stiegen sie von ihren Pferden und überließen sie den Dienern. Wilhelm und Gribojedow drängten sich zum Hof durch. Jermolow stand mit seinem Gefolge an der Freitreppe. Sein Gesicht war finster, der Stiernacken etwas gebeugt. Seine Hand ruhte auf dem Degenknauf. Vor ihm der Dolmetscher, ein schüchterner Mann in Pelzmütze. Rechts in Reih und Glied die Festungssoldaten. Als Jermolow Kutschuk und Dschambot erblickte, machte er ihnen einen Schritt entgegen und blieb stehen.
Kutschuk verneigte sich tief und legte seine Hand an Stirn, Lippen und Brust. Jermolow neigte den Kopf. Die Begrüßungsansprachen begannen. Der Dolmetscher übersetzte gewissenhaft. Dann trat Kutschuk beiseite. Seinen Platz nahm Dschambot ein. Sein Gang war elastisch wie der eines jungen Mädchens. Er verneigte sich leicht vor Jermolow und sprach die übliche Begrüßung.
Jermolow stand unbeweglich.
»Sag ihm,« befahl er dem Dolmetscher, »es ist mir angenehm, den Sohn meines Freundes Kutschuk Dschanchotow zu sehen; noch angenehmer wäre es mir aber gewesen, ihn vor zwei Monaten bei mir zu sehen, damals, als er bei den Transkubanern war.«
Der Dolmetscher übersetzte. Dschambot erwiderte etwas in seiner gewandten, raschen Art.
»Er sagt,« sprach der Dolmetscher, »daß er auf die freundliche Gesinnung des Generals hofft.«
Jermolow sah noch düsterer drein.
»Seine Reue freut mich,« sagte er dumpf, »aber er muß das Alte büßen. Er soll Dolch und Säbel herausgeben.«
Der Dolmetscher zitterte am ganzen Leib und hauchte kaum hörbar etwas.
Dschambot trat einen halben Schritt vor. Sein Hals reckte sich. Der ganze Körper machte einen Ruck nach vorn. Langsam stieg dunkle Röte in sein Gesicht.
Gribojedow, der mit Kutschuk sprach, stellte sich mit einer geschickten Bewegung so vor diesen hin, daß sein Rücken Jermolow und Dschambot verbarg. Der Alte sprach langsam und gewichtig, fast ruhig, doch seine Augen, die Gribojedow ansahen, waren halb geschlossen, und er wurde immer blasser.
Wilhelm drängte sich bis zum Gefolge vor. Er sah Jakubowitsch in der Nähe, regungslos wie eine Statue, mit schimmerndem Glanz in den schwarzen Augen.
Dschambot machte eine schroffe, kurze Bewegung; er faßte den Griff seines Dolches. Neben Wilhelm stand Wojejkow. Er zog die Pistole und entsicherte sie. Im selben Augenblick zückten zwei, drei aus dem Gefolge ihre Säbel. Jermolow warf ihnen einen Blick zu und hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Schwer, unbeweglich stand er da, die Rechte auf den langen Säbel gestützt.
Schlangenartig reckte sich Dschambot mit dem ganzen Körper ihm entgegen. Gelbe Blässe überzog sein Gesicht. Die weißen Zähne blitzten. Seine schmalen, braunen Augen bohrten sich in die kalten, grauen Augen Jermolows.
Dann stieß er mit einer plötzlichen Bewegung den Dolch in die Scheide zurück und rief irgend etwas. Seine Stimme klang gepreßt und schrill. Er streckte die magere Hand nach den kaukasischen Bergen aus und schrie Jermolow etwas ins Gesicht.
»Übersetze,« befahl Jermolow dem bleichen Dolmetscher. »Übersetze alles.«
»Er nennt Eure Exzellenz,« stammelte der Dolmetscher, »einen Schakal und einen Feigling. Er spricht von der Niedertracht Eurer Exzellenz.«
Dschambot schrie.
Kutschuk faßte automatisch Gribojedows Hand, lauschte, und sein Kopf bebte.
»Schau hin,« schrie Dschambot, »schau dir die Berge an und bedenke, daß das dieselben Gegenden sind, wo unsere Ahnen den Nadir-Schah zu Staub zermalmt haben. Nadir-Schah aber war was anderes als du, du Schakal, was anderes als du, du Hund!«
Der Dolmetscher übersetzte stockend.
»Er war etwas anderes als ihr russisches Gesindel, Feiglinge, Brandstifter!« schrie Dschambot. »Wer von euch der Feigste ist, der wird euer Anführer. Wer der Niederträchtigste ist, wird euer Pascha. Der größte Feigling, der größte Schuft aber ist euer armseliger Herrscher. Wir werden euch von den Bergen hin unter schleudern wie trocknen Dreck!«
»Übersetzen!«
Er übersetzte schlecht und recht, stammelte und ließ Worte aus.
Unheimliches Schweigen. Dann nickte Jermolow dem Kompagnieführer zu. Der trat vor die Kompagnie und nahm stramme Haltung an.
»Wegen öffentlicher Beleidigung der Allerhöchsten Gewalt,« rief Jermolow heiser, »erschießen!«
Fünf Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett traten auf Dschambot zu. Ein leises Aufstöhnen flog über das Gefolge. Am Tor ein durchdringender Schrei. Aus Wilhelm brach ein Brüllen. Einen Augenblick sah er Jakubowitschs unbewegtes Gesicht mit den starren Augen. Dann warf er sich zwischen Dschambot und die Soldaten. Die Arme in die Höhe geworfen, schrie er mit einer Stimme, die nicht mehr die seine war.
Jermolow trat wütend auf ihn zu, packte seine Hand und zischte ihm ins Gesicht:
»Sie sind verrückt geworden! Kommen Sie mit!«
Mit seiner riesenhaften Hand faßte er Wilhelm und zog ihn schnell die Treppe hinauf. Ihnen folgten Wojejkow und Pochwisnjew. Jermolow schloß die Tür hinter sich, stieß Wilhelm auf das Sofa, goß schnell und geschickt Wasser in ein Glas und führte es ihm an den Mund. Wilhelms Zähne klapperten. Die hervorgequollenen Augen irrten wild umher. Jermolow sagte – er betonte jedes Wort und faßte Pochwisnjew und Wojejkow fest ins Auge:
»Herr Küchelbecker leidet an Nervenanfällen.«
Im Hof krachte eine Salve.
Wilhelm stieß Jermolow beiseite und rannte hinaus. Gribojedow, kreidebleich, mit zitternden Lippen umarmte Kutschuk. Der Alte war unheimlich ruhig. Sein Kopf sank auf die Brust. Er flüsterte lautlos, vielleicht war es ein Beten.
In einer Ecke des Hofes machten sich die Soldaten etwas zu schaffen. Vor dem Festungstor sah man keinen Menschen mehr.
Nachts wurde Gribojedow durch einen seltsamen, bellenden Laut geweckt. Wilhelm weinte. Krampfhaft umklammerten seine Hände das Eisen des Bettes.
Jermolow hatte von Wilhelms Benehmen weiter kein Aufsehen gemacht. Er grüßte ihn flüchtiger und lächelte gezwungener. Dafür wurde Pochwisnjew besonders liebenswürdig zu Wilhelm. Sein Eifer kannte keine Grenzen. Er wies ihn auf besonders schöne Gegenden für Reitausflüge hin, empfahl ihm den einsamen, verlassenen, schwierigen Weg nach dem Manglis. Das Leben wollte kein Glück bringen, und so gab es nur eine Freude: mit verhängtem Zügel dahinrasen und sich vom Sturmwind umspielen lassen.
Eines Tages warnte ihn List:
»Reiten Sie lieber anderswohin, Wilhelm Karlowitsch!«
»Sie können von einem Tschetschenzen erschossen werden.«
»Ich habe Pistolen bei mir.«
List schüttelte den Kopf.
Auf einem seiner Spazierritte begegnete er Jakubowitsch. Zur großen Unzufriedenheit Gribojedows traf sich Wilhelm jetzt öfters mit Jakubowitsch. Dieser war in dienstlichem Auftrag nach Karagatsch gekommen und saß infolge irgendwelcher Umstände in Tiflis fest. Auch er ritt oft aus; finster, riesengroß auf seinem schwarzen, karabachischen Hengst, erinnerte er Wilhelm an ein Monument, das er in Paris gesehen hatte. Jakubowitsch schaute Wilhelm prüfend an und sagte:
»Ich begleite Sie. Wohin wollen Sie?«
»Zum Manglis.«
Sie setzten die Pferde in Trab. Dicht neben ihnen fiel der Weg ab zum Kuratal.
»Ich habe Sie in der Festung beobachtet,« begann Jakubowitsch langsam. »Über Sie laufen verschiedene Gerüchte um. Menschen, über die geredet wird, hab ich immer gerne. Doch Sie sind im Unrecht. Kriege und Hinrichtungen sind noch nicht das Schlimmste.«
Wilhelm sah auf:
»Was wollen Sie damit sagen, Alexander Iwanowitsch?«
»In unserer Gesellschaft ist der Krieg eine Erholung. Man braucht da an nichts zu denken.«
Er drehte seinen schwarzen Schnurrbart.
»Ich kann in Rußland nicht leben,« sagte er und zog die Augenbrauen zusammen. »Nur der todbringende Krieg belebt mich. Nur im Pfeifen der Kugeln vergesse ich die Unterdrückung. Deshalb bin ich froh, hierher, nach dem Kaukasus verbannt zu sein. Ist es nicht gleichgültig, wo mich die Kugel trifft?«
»Sie sind verbittert, Alexander Iwanowitsch,« erwiderte Wilhelm schüchtern.
»Ich verbittert?« Jakubowitschs Augen blitzten. »Nicht verbittert bin ich, nein! Nach Rache dürste ich. Mein Degradierungsbefehl begleitet mich auf allen Wegen.«
Er zog ein zerfetztes Schriftstück aus der Tasche und schwang es in der Luft.
»Hätte der Zar gewußt, was er sich mit diesem Schriftstück eingebrockt hat, er hätte mich nicht als Major aus der Garde hierher versetzt. – Wilhelm Karlowitsch,« fuhr er mit unverändertem Gesicht fort, obwohl er dem Gespräch eine andere Wendung gab. »Ich möchte Sie in ein Geheimnis einweihen.«
Wilhelm lauschte gespannt.
»Ich schreibe eine Arbeit. Zu einem gewissen Zweck. Der einzige Mensch, dem ich sie zeigen könnte und der Verständnis dafür hätte, ist mein Feind. Sie wissen, von wem ich spreche.«
Wilhelm nickte. (Jakubowitsch meinte Gribojedow.)
»Nur Wojejkow weiß etwas davon,« fuhr Jakubowitsch geheimnisvoll fort. »Ich schreibe über die Bedrückung der Bauernschaft, über die Demoralisation des Beamtentums, die Unwissenheit der Offiziere und den von Allerhöchster Stelle vorgeschriebenen moralischen Mord an den Soldaten.«
Jakubowitschs schwarze Augen füllten sich mit Blut. Seine großen Nüstern blähten sich. Er spornte das Pferd zum Galopp. Eine Zeitlang ritten sie stumm und in Gedanken.
»Alexander Iwanowitsch,« sagte Wilhelm. »Über all das denke ich schon lange nach. Ich sehe die Tränen des einfachen Volkes, kann aber keinen Ausweg finden.«
Sie ritten durch eine steile Schlucht. Jakubowitsch hielt das Pferd an.
»Ich muß zurück, Wilhelm Karlowitsch,« sagte er langsam. »Wollen Sie den Ausweg wissen? – Man muß mit der Heilprozedur beim Kopf anfangen. Dschambot hat da neulich die Wahrheit gesagt, das mit dem armseligen Herrscher. Der einzige Ausweg, den ich kenne, ist die völlige Ausrottung der kaiserlichen Familie. Leben Sie wohl!«
Wilhelm sah ihm lange nach. Dann, wie von einem Peitschenhieb getroffen, gab er dem Pferd die Sporen und jagte dahin, ohne zu sehen und zu denken. Weit hielt er den Mund dem entgegenschlagenden Wind geöffnet.
So ritt er lange. Es begann zu dunkeln. Das Pferd stolperte plötzlich und sprang erschrocken zur Seite. Wilhelm sah sich um. Unbekannte Gegend. Er hielt hart am Abgrund. Unten dehnte sich die Sandwüste. Hinter dem Gebüsch tauchte ein Gewehrlauf auf. Eine Kugel sauste über seinen Kopf.
Ein heiserer Ruf. Auf den Weg sprang ein Mann mit hoher Mütze und legte auf Wilhelm an. Der riß die Pistole aus dem Gürtel.
Gribojedow saß auf dem Balkon. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Dämmerung brach herein. Vor seinen Augen entschwand im Norden das Gebirge. Die Brille hatte er abgelegt und blickte zerstreut vor sich hin. Dann wandte er sich um und sah in das dunkle Zimmer. Drinnen hantierte der Diener mit den Kerzen. Langsam und faul steckte er sie in die Leuchter, rieb umständlich das Schwefelhölzchen, machte Licht und schlurfte in den Pantoffeln hin und her. Am wenigsten kümmerte er sich um Gribojedow. Leise sang er:
Bruder, schwer drückt die Gefangenschaft, Aber wer weiß was davon? –
Gribojedow betrachtete ihn aufmerksam. Alexander Gribow war sein Milchbruder. Fünfzehn Jahre lebten sie nun nebeneinander. Fünfzehn lange Jahre schienen sie voneinander keine Notiz zu nehmen. Aber sie kannten sich in- und auswendig. So wußte Alexander Gribojedow z.B.: Wenn Alexander Gribow von Gefangenschaft sang, dann bedeutete das, daß er sich bald fein machen und zu einem Tanzvergnügen irgendwo in Sallalaki gehn werde. Gribojedow war heute nicht ausgeritten. Er spielte auch nicht Klavier und sprach kein Wort. Das zeigte an, daß er bald Tintenfaß und Papier verlangen und befehlen werde, die Feder möglichst gut anzuspitzen. Gribow gab sich Haltung, trat ans Klavier, öffnete es und setzte sich auf den Klaviersessel. Er schlug leise die Tasten an. Alexander Gribojedow sah Alexander Gribow an. Er war einigermaßen erstaunt.
»Spielst du Klavier?« fragte er unzufrieden.
»Ja,« antwortete Gribow gleichgültig.
Gribojedow ging auf ihn zu. Gribow erhob sich halb.
»Was kannst du denn spielen?«
»Verschiedenes,« antwortete Gribow widerstrebend. »Barynja zum Beispiel.«
»Dann spiel mal was.«
Gribow setzte sich wieder mit gelangweiltem Gesicht und begann die Melodie zusammenzusuchen:
Meine Herrin, meine Dame,
Strecken Sie das Füßchen vor.
Aufmerksam hörte Gribojedow zu.
»Dreck!« Er verzog plötzlich das Gesicht. »Du kannst nichts, du Fatzke! Kannst nicht spielen, verdirbst mir bloß das Klavier. Spiel lieber mit Würfeln. Weg da! So spielt man!«
Er setzte sich hin und ließ die Finger über die Tasten gleiten.
Gribow war unzufrieden.
»Das ist eben Ihr Geschmack,« meinte er ausweichend.
»Und dein Geschmack, du Fatzke?« Gribojedow sah ihn erstaunt an.
Gribow schwieg.
Gribojedow wanderte durchs Zimmer. Die Langeweile trieb ihn aus einer Ecke in die andere, zwang ihn, um den Tisch herumzugehn, dieselbe wohlbekannte Langeweile, die ihn aus Petersburg nach Georgien, aus Georgien nach Persien trieb, die ihn zwang, Duelle anzustiften zwischen seinen Bekannten und den Frauen Grobheiten zu sagen.
»Wo ist Wilhelm Karlowitsch?« fragte er Gribow.
»Der Herr ist ausgeritten.«
»Wohin so spät? Weißt du nicht?«
»Nach dem Manglis, glaube ich.«
Gribojedow wurde unruhig.
»Wilhelm Karlowitsch meinten, Sie sollten sich nicht beunruhigen. Ihre Gnaden werden heute später kommen.«
Gribojedow setzte sich an den Tisch und schrieb einen Zettel an Wojejkow:
»Ich vergehe vor Hypochondrie und fühle, daß ich eine unruhige und aufwühlende Nacht vor mir habe. Tun Sie mir den Gefallen, werter Nikolaj Nikolajewitsch, und schicken Sie mir alle Nummern des ›Boten‹ vom vorigen Jahr, womöglich auch das letzte diesjährige Heft. Vielleicht finde ich etwas Angenehmes darin.
Ihr ergebener Gribojedow.
Wenn dieser Zettel Sie nicht zu Hause antrifft, senden Sie bitte die Hefte nach Ihrer Rückkehr durch Ihren Diener.«
Er reichte Gribow das Schreiben: »Trag das zu Wojejkow.«
Noch eine halbe Stunde verging. Es war schon ganz dunkel. Auf der anderen Straßenseite ging Pochwisnjew schleichenden Schrittes vorbei. Gribojedow erkannte ihn am Gang. Er wurde plötzlich ernstlich unruhig.
»Wo steckt bloß Wilhelm?«
Er eilte hinaus, sattelte das Pferd und sprengte in der Richtung zum Manglis davon.
Als der Mann anlegte, feuerte Wilhelm rasch und gab dem Pferd die Sporen. In vollem Ritt, über den Hals des Pferdes gebückt, sah er sich um. Der Mann jagte ihm nach. Ohne zu zielen, schoß Wilhelm nochmals.
»Teufel! Gefehlt!«
Und sofort sauste wieder eine Kugel an seinem Ohr vorbei. Das Pferd scheute. Wilhelm raste dicht am Abgrund, die gerade Zeile der Straße entlang, die Zügel fest in die Hand gepreßt. Ungewöhnlich leicht und schnell lief der Mann hinter ihm her. Wieder eine Kugel. Das Pferd wieherte plötzlich, zuckte auf, begann zu röcheln, wankte und stürzte zu Boden. Wilhelm fand keine Zeit, den Fuß aus dem Bügel zu befreien; der Fuß hatte sich darin verwickelt. Schwer schlug er bei dem Fall auf. So lag er eine Minute, vor Schmerz sich krümmend, bemüht, sein Bein unter dem Pferd frei zu bekommen. Bald mußte der Verfolger da sein. Mit letzter Kraft riß Wilhelm sich los und zog den Fuß unter dem Pferd hervor. Als er aufstehn wollte, schrie, er laut auf. Wie eine lange Kröte kroch er möglichst rasch vorwärts, den schmerzenden Fuß nachschleppend, und stöhnte dabei in merkwürdig regelmäßigen Abständen. Vor sich sah er eine Rieseneiche, dicht am Rand des Weges. Ihre unteren Zweige ragten über den Abgrund. Rasch entschlossen kroch er zu dem Baum. Es war genau so eine Eiche, wie sie im Garten von Zarskoje Selo standen. Wilhelm konnte ausgezeichnet klettern. Mit schmerzhaft verzerrtem Gesicht schwang er sich auf einen Ast. Fast verlor er das Bewußtsein, doch er umklammerte den Ast genau so fest wie eben noch die Zügel. Noch ein Ruck, und der zweite Ast war erreicht, noch einer, und er hing am dritten. Weiter oben klaffte im Stamm eine Höhlung, so groß wie ein Mensch. Wilhelm sah nicht hinunter. Unten gähnte der Abgrund. Er machte eine Bewegung mit dem Fuß, schrie auf vor Schmerz und fiel in die Baumhöhle. Kühler Fäulnisgeruch umwehte ihn. Eine Sekunde lang war es dunkel wie in einem kalten, tiefen Fluß. Eine Welle trug ihn im Kreise. Ein Wirbel zog seinen Fuß in die Tiefe. Er öffnete die Augen. Die Höhle war finster, trocken und tief. Über seinem Kopf sang eine Mücke. Ein leichtes Klirren: ein Zweig flog an ihm vorbei. Der Tschetschenze stand unten und schoß nach der Eiche. Er hatte Wilhelm bemerkt und wollte ihn ohne Gefahr in aller Ruhe wie einen Vogel herunterholen. Wilhelm betastete seinen Gürtel. Eine Pistole steckte noch darin. Er legte an. Seine Hand zitterte. Ein Schuß, doch er ging daneben. Noch einer – wieder daneben. Man mußte sorgfältig zielen. Es war eine unerträgliche Qual, so in der Baumhöhle zu sitzen und auf den Tod zu warten. Er zielte und gab noch einmal Feuer. Der Tschetschenze schrie auf, faßte sich am Bein und legte schnell nochmals an. Wilhelm beugte den Kopf. Die Kugel fuhr in den Stamm, dicht über der Höhle. Er hatte noch eine Patrone.
Gribojedow war lange geritten. Es war schon dunkel.
»Durchgebrannt! Durchgebrannt! Dieser verzweifelte Bursche!« weinte er fast. »Will nach Griechenland, wird aber doch nur gefangen genommen und irgendwo in einem Keller sitzen. Ach, Wilhelm, du Don Quijote, du armer, lieber Kerl …«
Das Pferd schnaubte und fuhr zur Seite. Mitten auf dem Weg lag ein Pferdekadaver. Von jäher Angst gepackt, wandte Gribojedow automatisch um und ritt in vollem Galopp zurück. Bald aber überzog leichte Röte sein gelbes Gesicht. Er riß am Zügel und kehrte wieder um. Bei dem gefallenen Pferd angelangt, stieg er vom Sattel und betrachtete es. Es war der Hengst Pochwisnjews. Wilhelm also … Wo war Wilhelm nur? Er trat an den Rand des Abgrunds und sah hinunter. Hat man ihn getötet und in die Tiefe gestürzt?
Hilflos spähte er in das Dunkel. Nichts zu sehen. Über ihm ertönte ein Stöhnen.
Was ist das wieder? »Wer ist da?« rief Gribojedow und bekam wieder große Angst.
»Wer ist da?« schrie er.
»Seien Sie so gut und helfen Sie mir aus dem Baum heraus,« rief eine Stimme.
»Das ist ja Hexerei! Bist du es, Wilhelm?«
»Alexander!« rief es freudig aus der Höhle.
Gribojedow brach in Lachen aus, in lautes, überwältigendes Lachen.
»Warum bist du denn in das Loch geklettert, mein Lieber?«
Ein sehr schwaches, kurzes Lachen antwortete:
»Ich mußte mich mit der Pistole verteidigen.«
Dann nach einem kurzen Augenblick:
»Mein Bein ist anscheinend gebrochen.«
Gribojedow wurde ernst. Er schwang sich hinauf und stellte sich mit dem Rücken zur Höhle:
»Halt dich an meiner Schulter fest!«
Er zog Wilhelm in die Höhe. Da merkte er, wie schwach und blaß der war. Er setzte ihn aufs Pferd.
»Wer hat denn auf dich geschossen? Wo ist er denn?«
Wilhelm zeigte nach dem Abgrund.
Er mußte drei Wochen das Bett hüten. Alexander pflegte ihn mit zärtlicher Hingabe. Zweimal kam Jermolow, doch er blieb nur kurz und verhielt sich sehr zurückhaltend. Seine Scherze klangen unecht, und Wilhelm merkte sofort, daß Jermolow nicht mehr der Held seiner Phantasie war. Eines Tages meldete der Diener:
»Nikolaj Nikolajewitsch Pochwisnjew.«
Gribojedow wandte ruhig den Kopf und sagte, ohne aufzustehn:
»Wilhelm Karlowitsch kann Herrn Pochwisnjew jetzt nicht empfangen.«
Während dieser ganzen drei Wochen war Alexander düster. Abend für Abend machte er einen ausgedehnten Ritt und kehrte spät zurück. Wilhelm erfuhr nicht den Zweck dieses abendlichen Ausbleibens. Gribojedow konnte sich die Angst nicht verzeihen, die er gehabt hatte, damals in der Nacht, als er Wilhelm suchte. Jeden Tag ritt er den Weg nach dem Manglis, hielt lange bei der Eiche und wartete auf einen Überfall.
Sobald Wilhelm sich wieder erholt hatte, begann das alte Leben: Dschafars Garten, Unterhaltungen mit List, der Klub.
Einmal, als er gerade eintreten wollte, fiel ihm im Vorzimmer des Klubs ein, daß er zu Hause das Buch für Wojejkow vergessen hatte. Im ersten Zimmer unterhielt man sich und lachte.
»Nein, ich stelle mir nur diesen Brotbäcker in der Baumhöhle vor,« kicherte jemand.
Wilhelm wurde rot. Er lauschte.
»O nein, Sie kennen ihn nicht,« antwortete ein anderer, – Wilhelm erkannte Pochwisnjews Stimme. – »Glauben Sie mir, unser Brotbäcker weiß genau, was er tut. Unter der Maske der Einfalt versteht er es, sich in das Vertrauen der maßgebenden Personen einzuschleichen.«
»Wirklich?« fragte man ungläubig.
»Aber gewiß,« antwortete Pochwisnjew gedehnt in beleidigtem Ton. – »Wie glänzend hat er es fertig gebracht, sich an Alexej Petrowitsch heranzuschlängeln! Ich habe sogar nach dieser Geschichte mit der Baumhöhle einen Verweis von ihm bekommen: ›Wie konnten Sie ihm zureden, in so eine Gegend zu reiten?‹ sagte er zu mir. Ich will Ihnen aber ganz im Vertrauen etwas verraten …« Die Stimme ging in Flüstern über. Wilhelm hörte nichts mehr.
Er schloß die Augen und lehnte sich an die Wand. Sein Herz klopfte. Rasende Wut tobte in ihm. Die Tür öffnete sich, und Pochwisnjew trat ins Vorzimmer. Sofort ging Wilhelm auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Der Getroffene gab keinen Laut von sich. Er faßte sich an die Wange und lief hinaus. Wilhelm ging nach Hause. Dort erwartete ihn Gribojedow. Betroffen über Wilhelms Aussehen fragte er:
»Was hast du?«
Wilhelm schwieg eine Weile.
Auf einmal aber durchlief ein Zittern seinen Körper. Er stieß hervor:
»Dieser Schuft! Erzählt, ich hätte mich unter der Maske der Einfalt in Jermolows Vertrauen eingeschlichen! Du mußt mein Sekundant sein.«
Interessiert lehnte sich Alexander in den Sessel zurück. Er brachte Wilhelm dazu, ihm in Ruhe alles zu berichten.
»Mein Lieber,« meinte er mit wichtiger Miene, »Pochwisnjew wird sich nicht schlagen. Du hast ihn nur unter vier Augen beleidigt. Er wird keinen Wert auf Satisfaktion legen. Sein Leben ist ihm dafür zu lieb.«
»Sollte er so gemein sein, zu kneifen?« fragte Wilhelm mit großen Augen.
»Natürlich! Den Fatzken kenne ich ganz genau. Auf ein Duell läßt er sich nicht ein. Er wird sich über dich bei Alexej Petrowitsch beschweren. Der wird euch beide kommen lassen, euch eine Komödie vorspielen und damit basta.«
»Nein,« sagte Wilhelm. Sein Aussehen wurde beängstigend. Schaum trat ihm vor den Mund. »Das Spiel soll ihm nicht gelingen. Er bekommt noch eine Ohrfeige von mir.«
»Aber nur öffentlich,« ergänzte Gribojedow sachlich.
Wilhelm wartete zwei Tage. Es kam keine Forderung. Jermolow schien auch nichts zu wissen. Nach zwei Tagen ging Wilhelm in den Klub. Alexander hatte ihm gesagt, Pochwisnjew werde heute da sein. Als er eintrat, war das übliche Kartenspiel im Gang. Dichter Rauch füllte das Zimmer. List lehnte einsam am Fenster; er rührte nie eine Karte an. Pochwisnjew saß an einem kleinen Spieltisch mit Wojejkow und zwei Offizieren. Als er Wilhelm sah, wurde er blaß und zuckte zusammen. Wilhelm ging direkt auf ihn zu.
»Mein Herr, ich fordere eine Erklärung von Ihnen,« sagte er abgehackt, mit bebender Stimme.
Pochwisnjew erhob sich. Seltsamer Glanz trat in seine Augen. Er war bleich, sah Wilhelm nicht an. Kein Laut mehr war im Zimmer zu hören.
»Ich ersuche Sie,« fuhr Wilhelm fort, und seine Stimme klang unnatürlich dünn, »vor allen Anwesenden das zu wiederholen, was Sie vorgestern hier im Klub von mir gesagt haben.«
»Ich habe nichts gesagt,« hauchte Pochwisnjew und wich zurück.
»Dann werde ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen,« schrie Wilhelm, »und die, in deren Gegenwart es gesagt wurde, werden sich nicht weigern, es zu bestätigen. Sie sagten, daß ich mich unter der Maske der Einfalt in das Vertrauen Alexej Petrowitschs einschleiche.«
Man umringte sie.
Weit ausholend schlug Wilhelm Pochwisnjew ins Gesicht.
»Da haben Sie meine Antwort!«
Und er schlug noch einmal.
Man trennte sie mit Gewalt. Pochwisnjew schrie zähneklappernd:
»Idiot!«
Dann begann er zu weinen und zu lachen. Schwer atmend stand Wilhelm da, die fiebernden Augen rot unterlaufen.
Ruhig und korrekt trat Gribojedow auf List zu:
»Wassilij Franzewitsch, Sie werden es natürlich nicht ablehnen, Wilhelm Karlowitschs Sekundant zu sein.«
List verbeugte sich bekümmert.
Pochwisnjew stand mit seinem üblichen Bericht am Tisch.
Jermolow war schlechter Laune. Er zerdrückte fast den Tschibuk zwischen den Zähnen und paffte dicke Wolken.
Er warf nur einen flüchtigen Blick auf zwei der Schriftstücke.
»Sonst haben Sie mir nichts zu sagen, Nikolaj Nikolajewitsch?«
Pochwisnjew stockte:
»Ich wollte Ihnen eine Beschwerde vortragen, Alexej Petrowitsch!«
»Gegen wen?« fragte Jermolow harmlos.
»Gegen Herrn Küchelbecker.« Pochwisnjew wurde zuversichtlicher. »Er hat mich schwer beleidigt, Alexej Petrowitsch, ohne daß ich ihm den geringsten Anlaß dazu gegeben habe.«
»Warum hat er Sie denn beleidigt, Nikolaj Nikolajewitsch?« fragte Jermolow verwundert. »Wie kam er denn dazu?«
»Alexej Petrowitsch, Sie kennen selber sein ungezügeltes Wesen. Als Grund gab er an, ich hätte behauptet, er schleiche sich mit Hilfe seiner Einfalt in Ihr Vertrauen ein.«
»So?« Jermolow machte ein ernstes Gesicht. »Nun, und wie steht's damit? Sie haben doch nichts Derartiges gesagt?«
Pochwisnjew trat von einem Fuß auf den anderen.
»Wo hat sich das denn abgespielt?« fragte Jermolow interessiert.
»Im Klub. Vor ein paar Tagen,« erwiderte Pochwisnjew widerstrebend.
»Hol's der Teufel!« Jermolow wurde böse und zog die Augenbrauen zusammen. »Das werde ich so nicht hingehn lassen.« Er war wirklich böse.
»Na, und was wollen Sie nun unternehmen, Nikolaj Nikolajewitsch?« fragte er mit besonderer Betonung.
Pochwisnjew lächelte schief:
»Zuerst wollte ich mich unbedingt schlagen, Alexej Petrowitsch; dann habe ich mir überlegt, daß doch Herr Küchelbecker, der, wie auch Sie, Alexej Petrowitsch, wissen, an Anfällen leidet, nicht als gesunder Mensch betrachtet werden kann, und daß es deshalb vielleicht richtiger wäre, die Sache vor Gericht zu bringen.«
Jermolow nickte gleichgültig mit dem Kopf.
»Gut, mein Freund, Sie können jetzt gehn,« sagte er einfach.
Als Pochwisnjew fort war, stand Jermolow auf und ging durchs Zimmer. Dann setzte er sich wieder hin, nahm einen Zug aus der Pfeife und lächelte bitter. Er rückte an den Tisch und schrieb:
»Mein prächtiger Herr, Nikolaj Nikolajewitsch!
Ich habe ganz vergessen, Sie daran zu erinnern, daß die an uns gelangenden Berichte von Zivilbehörden durch besondere Numerierung als Eingangspapiere zu kennzeichnen sind. Die Schreiber, diese Kanaillen, bringen alles so durcheinander, daß die Übersicht sehr erschwert wird. Das wäre das Dienstliche. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie damit belästige. Was die schwere Beleidigung anbelangt, die Ihnen Herr Küchelbecker zugefügt hat, so denke ich, daß eine Satisfaktion durch Zivilbehörden nicht genügt und daß Sie sich unbedingt schlagen müssen. Leben Sie wohl!«
Er klingelte. Es erschien ein zufällig anwesender Schreiber; der diensttuende war weggegangen. Jermolow beauftragte ihn, den Brief Pochwisnjew zu überbringen. Er sah den Schreiber prüfend an.
»N–ja,« brummte er, als er allein war, »nicht nur die Auditoren, sogar die Schreiber bilden sich ein, ganz besondere Wesen zu sein.«
Morgen soll das Duell stattfinden. Vielleicht liege ich morgen, wenn der fahle Tag aufdämmert, im Grabe. Sei's drum! Kühler Lethetrank wird mich erquicken. – Er sah das Gesicht der Mutter, der Schwester vor sich. Sie werden sich abfinden. In Gedanken küßte er die welke Hand der Mutter. Dunja kam ihm in den Sinn, und es durchschauerte ihn. Ja, ja, – mag mich dieser zufällig aufgetauchte Schuft nur töten! Das wäre eine Lösung für alles. Ich würde mich nicht mehr mit mir herumquälen müssen, mit meinem närrischen, kindlichen Herzen, das mir immer neue Rätsel aufgibt. –
Er schrieb Briefe. Einen kurzen in deutscher Sprache an die Mutter, den zweiten an Alexander Puschkin.
Der andere Alexander, Gribojedow, ist hier. Er wird schon das Nötige berichten. Und die ärmliche Abrechnung wäre beendet. So weit also hat mich das Leben gebracht! – Er dachte plötzlich an Papa Fleury. – Griechenland? Oder … Oder Petersburg? Was gab es aber in Petersburg außer Hohn, ungestilltem Sehnen, außer der Protektion Alexander Iwanowitschs und dem Brummen Anton Jegorowitschs?
Er lauschte. Ein Ton. Noch einer. Unsicher zuerst, dann immer klarer. Ein Walzer erklang im Nebenzimmer. Wilhelm hatte ihn bisher nie gehört. Es war Alexander, der komponierte.
Plötzlich begriff Wilhelm:
Wenn ich morgen am Leben bleibe, muß ich in einem Feuerbrand vergehen, ganz gleichgültig wo, aber restlos, sofort, so schnell wie möglich. Ich muß untergehn, doch so, daß das Leben am nächsten Tag ein anderes wird, daß meine Freunde mich ihr ganzes Leben lang nicht vergessen! –
Fünf Uhr morgens. Die Sonne steht schon am Himmel. Das grüne Tal von Artatschilach. Vier Männer. Der eine im grauen Militärrock mißt gewissenhaft zehn Schritte ab und markiert die Barriere. Der andere, ein kleiner Mensch, macht sich an den Pistolen zu schaffen.
Dicht vor Wilhelms Gesicht hängt ein grüner Zweig herab. Gierig, aufmerksam betrachtet er ihn. Wenn er sterben muß, wird die letzte Erinnerung von dem dunklen, saftigen Grün dieses Zweiges erfüllt sein.
Der graue Artillerist bleibt vor den Duellanten stehn.
»Meine Herren, ich schlage Ihnen zum letzten Mal vor, sich zu versöhnen.«
Schweigen. Wilhelm schüttelt den Kopf. Pochwisnjew winkt ab.
Der erste Schuß steht dem Beleidigten zu.
Bleich, unsicher macht Pochwisnjew einen Schritt vorwärts. Wilhelm sieht den kleinen Lauf vor sich. Zitternd steigt der Lauf immer höher. Er steht halb abgewandt. Teufel! Er zielt auf die Stirn! Nein, es scheint, er will sich die Karriere nicht verderben. Der Lauf kriecht nach unten. Er zielt auf das Bein.
Der Hahn knackt. Ein Versager. Verwirrt schaut Pochwisnjew um sich.
Jetzt ist die Reihe an Wilhelm.
Wilhelms Blick streift den Himmel, die grünen Bäume, die von schwacher Sonne beleuchteten Berge. Tief seufzt er auf, sieht den blassen Mann vor sich und feuert in die Luft.
Jermolow rauchte seinen Tschibuk und schrieb ein Zeugnis für Küchelbecker. Finster brachte er die üblichen Formeln zu Papier und setzte plötzlich, unerwartet für ihn selber, darunter: »und erfüllte bei lobenswertem Bemühen gewissenhaft alle ihm zuteil werdenden Aufträge.«
Er warf sich in den Sessel zurück und dachte einen Augenblick nach. Seine Hand sträubte sich entschieden, dem alten Weib von Minister die Wahrheit über diesen Brotbäcker zu schreiben. Aber dann erinnerte er sich an das Gesicht mit den vorquellenden Augen und den klappernden Kiefern, an Küchelbeckers Schrei, an sein Griechenland und strich den letzten Satz aus. Einen Augenblick noch dachte er nach.
Dann schrieb er hastig: »Wegen der Kürze seines hiesigen Aufenthaltes wurde er dienstlich wenig verwendet. Infolgedessen können seine dienstlichen Fähigkeiten kaum beurteilt werden.«
»Hauptsache, man hat's vom Halse!« Er machte eine ärgerlich abwehrende Bewegung, die halb Küchelbecker, halb dem Zeugnis galt.
»Alexander,« sagte Gribojedow zu Gribow, während er zerstreut Wilhelms Reisevorbereitungen zusah, »Alexander, pack die Sachen! Ich fahre zusammen mit Wilhelm Karlowitsch!«
Wilhelm wandte sich schnell nach ihm um:
»Wirklich, Sascha?«
Gribow rührte sich nicht.
»Hast du gehört, was ich dir befohlen habe?«
Gribow ging ruhig hinaus. Nach drei Minuten kehrte er mit einem Haufen Pelze zurück.
»Wozu die Pelze?« fragte Gribojedow erstaunt.
»In Rußland kann es noch kalt sein,« antwortete Gribow gleichgültig.
Gribojedow erschauerte plötzlich.
»Nein, nein,« rief er schnell dem verdutzten Wilhelm zu. »Fahr allein, mit Gott, mein Freund! Bleibe gesund. Ich wage mich nicht in das teure Vaterland.« Schaudernd zeigte er auf die Pelze.
»Leichen! Füchse, Hasen, Wölfe! Sie verpesten die Luft.« (Die Pelze rochen nach Kampfer.) »Erst muß man ein Tier abschlachten und sein Fell umtun, wenn man die herrliche Luft des Vaterlandes atmen will.«
»Sascha, Lieber, vielleicht fährst du doch mit?« Aufmerksam sah Wilhelm ihn an.
Gribojedow hob einen Pelz auf und zog ihn über.
»Schwer,« meinte er mit zerstreutem Lächeln. »Drückt die Schultern zu Boden.« Mit unbegreiflichem Widerwillen warf er den Pelz ab.
»Fahr, Wilhelm, fahr du nur, mein Lieber! Das ist nichts für mich. Ich kann nicht.« Und er umarmte Wilhelm.
»Alexander,« wandte er sich streng an Gribow und zeigte auf die Pelze, »räume das weg!«
Draußen läuteten traurig die Schellen; das Maultier war müde vom Warten und trat hin und her.