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Petersburg hat niemals Scheu vor dem Raum gehabt. Moskau dagegen entstand bedächtig Haus für Haus; die einzeln stehenden Häuser wurden allmählich von winzigen Häuschen überwuchert und waren schließlich auf natürliche Weise miteinander verbunden. So entstanden die Moskauer Straßen. Die Plätze sind meist kaum von ihnen zu unterscheiden, höchstens durch ihre Breite, nie durch ihr Raumgefühl. Auch die kleinen, krummen Flüßchen sind den Straßen angepaßt. Die Grundeinheit Moskaus ist das einzelne Haus. Deshalb wimmelt die Stadt von Sackgassen und kleinen Gäßchen.
In Petersburg gibt es kaum Derartiges. Die kleinste Gasse strebt danach, wie ein Prospekt zu wirken. Es gibt da Straßen, von denen es niemals feststand, ob sie als Gassen oder als Prospekte gedacht sind. Z. B. der Griechische Prospekt, den die Moskauer hartnäckig als Gasse bezeichnen. Die Petersburger Straßen sind früher als die Häuser entstanden. Die Häuser füllten bloß die leeren Straßenzeilen aus. Die Plätze sind sogar noch vor den Straßen entstanden. Deshalb sind sie absolut selbständig, ganz unabhängig von den Häusern und den Straßen, die in sie münden. Die Einheit Petersburgs ist der Platz.
Auch der Strom fließt dort ganz für sich als unabhängiger Wasserprospekt. Heute noch kennen die Bewohner der Stadt, genau wie vor hundert Jahren, keine anderen Flüsse außer der Newa, obwohl durch Petersburg mehrere Nebenflüsse laufen. Die Nebenflüsse werden einfach Newa genannt. Diese urwüchsige Unabhängigkeit verleitet den Strom alle hundert Jahre einmal zur Rebellion.
Die Petersburger Revolutionen haben sich stets auf Plätzen abgespielt. Die Dezemberrevolution 1825 und die Februarrevolution 1917 spielten sich beide an den entgegengesetzten Enden des Newski-Prospekts auf zwei Plätzen ab. Und im Dezember 1825 sowohl wie im Oktober 1917 beteiligte sich die Newa am Aufstand: Im Dezember flüchteten die Aufständischen über das Eis. Im Oktober beschoß der Kreuzer »Aurora« von der Newa aus das Palais. –
Der enge Bund zwischen Strom und Plätzen ist in Petersburg von selbst gegeben. Jeder Kampf innerhalb der Stadt muß zu einem Kampf der Plätze werden.
Im Dezember 1825 gehörten zu dem Bund: Der Peterplatz (der damals noch nicht Senatsplatz hieß), der Isaakplatz, der Admiralitätsplatz (auf dem heute die Bäume des Alexandergartens stehn), der Schloßplatz und – die Newa.
Katharina hatte auf dem Senatsplatz durch Falconet das Peterdenkmal errichten lassen. Daher der Name Peterplatz. Das andere für den Platz bestimmte Denkmal, die Peterstatue von Rastrelli, fand bei ihr keine Gnade. Paul holte es wieder zurück, wie er alle von seiner Mutter Verbannten zurückholen ließ. Aber der Platz war schon besetzt, und er stellte es vor seinem eigenen Schloß auf in ehrenvoller Abseitigkeit.
Der Admiralitätsplatz lag fast völlig frei. Erst unter Nikolaus entstand der Garten, der den Platz vernichtete und den Peterplatz einengte. Dort, wo der Boulevard verläuft, der bis zur Oktoberrevolution Gardekavallerie-Boulevard hieß, war damals ein Kanal, der Admiralitätskanal, über den eine Brücke führte.
Der Isaakplatz hat seinen Namen von der Kirche, an der ewig gebaut wurde, ohne daß sie je zu Ende kam. Mit dem Bau hatte Katharina begonnen. Es sollte ein Marmorbau werden wie das »Marmorpalais«. Als die Kirche bis zur Hälfte fertig war, gefiel sie Katharina nicht, und sie befahl, sie stehn zu lassen, so, wie sie war. Sobald Paul den Thron bestiegen hatte, befahl er, sie in Ziegelstein zu Ende zu führen. Damals kritzelte jemand den frechen Vers an die Kirchenmauer:
»Sieh diese Kirche hier! Zwei Herrschern gleicht
sie ganz genau:
Der Unterbau aus Marmelstein, aus fadem Ziegelstein
der Oberbau!«
Dem nächsten Zaren, Alexander, gefiel die Kirche wieder nicht. Er ließ sie abreißen und eine neue bauen. Deshalb lag das Material, das man aus fremden Ländern herbeigeschafft hatte, auf dem Kai des Peterplatzes herum, und die Bauarbeiten versperrten den ganzen Isaakplatz. Von den Gerüsten bis zu der Stelle, wo jetzt das Russische Institut für Kunstgeschichte steht, häuften sich Berge von Schutt, Steinquadern und Brettern. Inzwischen hatte man einen anderen Vers an die Kirche gekritzelt:
»Sieh diese Kirche hier! Von dreien Herrschern
treues Konterfei:
Zuerst Granit, dann Ziegelstein, dann Trumm und
Wüstenei.«
So lag der Peterplatz, der die Macht der Selbstherrschaft verkörperte, in nächster Nachbarschaft des Isaakplatzes, des Symbols ihres allmählichen Verfalls.
Der Aufstand des 14. Dezember war ein Kampf der Plätze.
Die Volksmassen fluteten durch die Straßen wie durch ein Strombett zum Admiralitäts- und zum Isaakplatz. Durch dieselben Straßen zogen die Regimenter, zuerst die aufständischen, dann die regierungstreuen.
Nikolaus fuhr vom Schloßplatz zum Admiralitätsplatz und machte halt vor den Löwen am Lobanow-Hause.
Von regierungstreuen Regimentern besetzt, drängten Schloß- und Isaakplatz gegen den Admiralitätsplatz an, wo das aufgeregte Volk rumorte, und gegen den Peterplatz, wo die Revolutionäre standen. Die Regierungstruppen schnürten den Peterplatz auf drei Seiten ab, warfen dann einen Teil der Revolutionäre in den Strom und drängten den anderen nach dem Engpaß der Galernajastraße.
Die natürliche Blutzirkulation der Stadt regelte den Verlauf des 14. Dezember. Durch die Straßen wie durch Adern strömten Volk und aufständische Regimenter nach den Herzkammern der Plätze. Als man die Adern nun verstopfte, wurde mit einem Ruck die revolutionäre Masse aus den Herzkammern hinausgeschleudert.
Einer Art Herzschlag erlag die Stadt, und richtiges, lebendiges Blut floß dabei.
Die einzelnen Führer liefen an diesem Tage teils durch die Straßen und trieben das Blut der Stadt und ganz Rußlands, die Regimenter, den Plätzen zu, teils blieben sie unentschlossen stehn, wo sie standen. Der ganze Tag war ein ermüdendes Auf und Nieder der Plätze, die sich die Wagschale hielten, bis ein brutaler Vorstoß der kaiserlichen Artillerie der Sache ein Ende machte. Die Entscheidung kam von den Plätzen, nicht von den Straßen. Helden gab es nicht an diesem Tag. Rylejew, der dazu berufen gewesen wäre, erriet sofort, sensibel, wie er war, das verhängnisvolle Auf und Nieder der Plätze und ging davon in ratloser Verzweiflung. Trubezkoj trieb sich die ganze Zeit irgendwo in der Nähe des Generalstabs herum.
Sie waren nicht imstande, dem gefährlichen, gespannten Gleichgewicht der Plätze zu ihren Gunsten ein Ende zu machen. Wären der Peterplatz, wo der Wind den glühenden Sand der Adelsintelligenz durcheinanderwirbelte, und der Admiralitätsplatz, wo der junge Lehm der Volksmassen sich häufte, in eins verschmolzen, sie hätten das Übergewicht gehabt über die alte Selbstherrschaft, den Ziegelsteinschutt Pauls.
So aber siegte der Ziegelstein, der sich für Granit ausgab.
Blaß und übernächtig passierte Michail um 8 Uhr morgens die Zollschranke. Es war noch dunkel. Er fuhr an den Kramläden der Vorstadt vorbei und suchte neugierig in die Fenster zu schauen, hinter denen noch die Kerzen brannten. In einem Laden machte sich der dicke, bebrillte Besitzer an seiner Kasse zu schaffen. Er schrieb etwas, kratzte sich an der Nase und überlegte.
Voller Unsicherheit und Unruhe sah Michail nach den Fenstern. Vielleicht wollte er Menschen sehn, um sich von Druck und Angst (um keinen Preis hätte er sich diese Angst eingestanden!) zu befreien, vielleicht auch nur sich überzeugen, daß alles noch auf seinem Platze stand. Ja, alles war in Ordnung. Die Läden wurden allmählich geöffnet. Durch die stillen, dunklen Straßen gingen einzelne Passanten. So kam er über den menschenleeren Theaterplatz an dem Schilderhaus vorbei, in dem der Posten, ein alter Soldat, sich hingesetzt hatte und friedlich schlief. Die Hellebarde lehnte an der Wand. Michail wollte ihn anrufen, um ihn zurechtzuweisen, ließ es aber. Über die Pozelujewbrücke kam er in die Große Morskaja. Schon wurde es hell. Aber auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehn. Das beängstigte ihn.
Was hatte diese Ruhe, diese ungewöhnliche Stille zu bedeuten? Sollte tatsächlich alles in Ordnung sein? Sollte tatsächlich keinerlei Grund zur Besorgnis sein? Die Ungewißheit schreckte ihn mehr als jede offene Gefahr. Mißtrauisch betrachtete er die stummen Häuser, die geraden Trottoirs.
»Wollen sehn, was weiter kommt,« murmelte er.
Im Winterpalais konnte er sich nur mit Mühe durch die Masse der Hofleute durchdrängen. Hohe Würdenträger in goldstrotzenden Uniformen, Hofkavaliere, Hofdamen, Generäle, alle hängten sich an ihn wie Kletten. Ein Hagel glatter französischer Wörtchen, lauter Artigkeiten, Glückwünsche und Begrüßungen, prasselte auf ihn nieder. Den Männern antwortete er abgehackt, fast grob. Vor den Damen machte er eine steife Verbeugung. Endlich drang er zu Nikolaus durch.
Der umarmte ihn und berührte flüchtig mit der kalten Wange sein Gesicht.
»Na also. Siehst du? Alles ist in Ordnung. Die Truppen leisten den Treueid. Von Unruhen keine Rede.«
Er sprach mit dem Bruder ein bißchen von oben herab, ganz anders als damals bei seiner Ankunft aus Warschau. Ohne ersichtlichen Grund war Michail diese ganze entsetzliche Woche in Nennaal geblieben. Deshalb hatte Nikolaus jedes Vertrauen zu ihm verloren. In den letzten drei Tagen hatte er gelernt, einsam zu sein. Außerdem suchte er sich durch die unklare Hoffnung zu täuschen, daß vielleicht doch noch alles glatt ablaufen werde. Die Ankunft des Bruders erinnerte ihn an die Scherereien mit Konstantin, und das war ihm unangenehm. Michael fühlte dies sofort. Er brummte vor sich hin:
»Na, Gott sei Dank! Der Tag ist aber noch lang!«
Fast wünschte er, daß etwas geschehen solle. Nikolais Verhalten reizte ihn.
Plötzlich scholl draußen vor dem Schloß Trommelwirbel.
Nikolaus rannte zum Fenster. Mit starren Augen sah er hinaus, und Michail stellte mit Befriedigung fest, daß er blaß wurde. Erst nach einer Weile besann er sich und lief ebenfalls zum Fenster. Eine Kompagnie Soldaten marschierte vorbei. Die Fahne wurde ihr vorangetragen, und unter der Fahne wirbelten die Trommeln.
Nikolaus seufzte tief auf.
»Eine Kompagnie Semjonower,« bemerkte er leichthin, ohne den Bruder anzusehn. »Sie hat eben den Treueid geleistet und kehrt mit der Fahne zurück. – Ja, übrigens,« sagte er, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, »ich muß eine Anordnung treffen.« Er ging aus dem Zimmer.
Michail blieb noch am Fenster, schaute auf den Platz hinaus, auf die immer ferner rückende Fahne und lächelte:
»Du brauchst mich nicht, Freundchen? Na schön, ich kann auch ohne dich leben.«
Im Korridor traf er den Bruder wieder. Sein Gesicht war grau wie das einer Leiche, die Lippen weiß. Krampfhaft klammerte er sich an Michail:
»Die Gardefeldartillerie weigert sich, den Treueid zu leisten. Fahre hin!«
Gleich am frühen Morgen war eine beschwingte, hemmungslose Tollheit in Wilhelm gefahren. Sein Kopf war schwer, die Füße leicht und leer, und jeder Muskel wie der Teil irgendeines Ganzen, dessen Zentrum außerhalb lag. Die Willkür einer unbekannten, furchtbaren und beseligenden Macht trieb ihn an; die Schritte, die Bewegungen, die er machte und die jedem Menschen komisch und sonderbar vorkommen mußten, gehörten ihm gar nicht und entzogen sich seiner Verantwortung. Alles verlief so, wie es verlaufen mußte.
Semjon zündete eine Kerze an. Zum ersten Mal seit langen Monaten nahm Wilhelm Notiz von ihm:
»Na, Semjon, was? Man muß leben,« sagte er und lächelte unruhig.
»Leben muß man auf jeden Fall, Wilhelm Karlowitsch. Wir leben, bis wir tot sind. Das ist nun mal so. Dann kann man auch sterben.«
»Alexander Iwanowitsch ist noch nicht zurück?«
»Nein. Seine Gnaden pflegen am Montag nie vor zehn zurück zu sein.«
Hastig begann Wilhelm sich anzuziehn.
Er hatte noch allerlei in Ordnung zu bringen, Verfügungen zu treffen über seine Manuskripte. Sie gingen sicher verloren, wenn … (er hatte keine Lust, den Gedanken zu Ende zu denken). Vielleicht zu Delwig fahren? Alles zu ihm schaffen?
Er zog saubere Wäsche an, einen schwarzen Frack, warf sich den neuen, olivgrünen Wintermantel mit dem Biberkragen und der hübschen Silberschnalle über und nahm den runden Hut in die Hand.
»Wilhelm Karlowitsch, da ist jemand von Rylejew. Er will Sie sprechen.«
Im Nu hatte er die Manuskripte vergessen. In der Tür blieb er stehen:
»Semjon, warte heute nicht auf mich. Und bekomm keinen Schrecken, wenn du etwas von mir hörst.« Er schwieg einen Augenblick. »Sollte irgendwas passieren, reise sofort zu meiner Mutter.«
Semjon sah ihn an mit verstehenden Augen. Ergriffen ging Wilhelm auf ihn zu und umarmte ihn. Semjon sagte leise:
»Ich warte auf Sie, Herr. Wer weiß? Zu zweit ist's immer lustiger.«
Wilhelm lief die Treppe hinunter, nahm eine Droschke und raste nach der Blauen Brücke. Vor dem Haus der Amerikanischen Kompagnie wäre seine Droschke beinahe mit einer anderen zusammengestoßen, in der Kachowski saß mit gelbem, übernächtigtem Gesicht. Er sah Wilhelm mit schwarzen, glanzlosen Augen an und erkannte ihn nicht.
Bei Rylejew waren bereits Puschtschin und Steinhell. Noch war nichts geschehen. Schrecklich war diese Stunde vor der Schlacht. Niemand wußte, wie die Sache eigentlich losgehen solle. Die Fäden der Meuterei, die Rylejew noch in vergangener Nacht, wie es schien, fest in seiner fiebernden Hand hielt, begannen ihm jetzt zu entgleiten und einer von seinem, Puschtschins und jedem anderen Willen unabhängigen Macht zu gehorchen. Sie waren in den Kasernen gewesen, wo man jetzt, um diese Stunde, zu den Waffen griff, auf den Plätzen, die noch stumm blieben, und all die Menschen, die sich nach und nach bei Rylejew versammelten, erinnerten an Reisende, die in ein paar Minuten eine Fahrt in ein unbekanntes Land antreten sollten, aus dem es kaum mehr eine Rückkehr gab. Jeder erlebte diese Stunde auf seine Art.
Steinhell wanderte aus einer Ecke in die andere, finster und ernst; die Angst, die ihn letzte Nacht befallen hatte, zerstreute sich allmählich. Am Tisch saß Puschtschin wie ein Seemann über seiner Karte und machte irgendwelche Zeichen in den Stadtplan. Rylejew aber stand am Fenster und starrte auf das schwarze Kanalgitter, wie ein Kapitän, dessen Spürsinn in dem Schweigen draußen bereits den Ausgang wittert.
»Viele verweigern den Treueid,« sagte Steinhell zufrieden. Er schien sich selber Mut machen zu wollen. »Welche Regimenter, wie viele, weiß man noch nicht.«
Mit sachlicher Trockenheit sagte Puschtschin zu Wilhelm:
»Schaffe sofort das Manifest heran. Konstantins Verzicht steht darin. Der frühere Verzicht. Man muß den Soldaten klar machen, daß er erzwungen und gefälscht ist. Ich habe nur ein einziges Exemplar. Du bekommst es bei Gretsch. Er hat es sicher. Komm dann auf den Platz. Wenn die Truppen anmarschieren, sprich mit den Soldaten und rufe laut: »Hoch die Konstitution!«
»Man muß aber vor allem in die Kasernen,« meinte Steinhell. »Bei der Feldartillerie können wir auf zwei Offiziere rechnen. Bleibt noch die Gardeequipage. Von der haben wir vorläufig keine Nachricht.«
Kachowski kam herein und nickte den Anwesenden einen stummen Gruß zu. Er reichte keinem die Hand, als ob ihm alle fremd wären.
Rylejew riß sich vom Fenster los und winkte ihm zu:
»Fahr du zur Gardeequipage.« –
Der Platz war leer wie an jedem anderen Morgen. Ein alter Beamter eilte vorbei, die Nase im Kragen seines ärmlichen Mantels vergraben, und bog in die Galernajastraße. Dann schlurften zwei Handwerker mit ihren Stiefeln über den vereisten Schnee, und dann kam eine Bettlerin des Wegs. Sonst kein Mensch, Sogar die Türen des Senats waren geschlossen. Nicht einmal ein Schweizer war am Eingang zu sehn.
Und dieser menschenverlassene, friedliche und so alltägliche Platz sollte in einer, in zwei Stunden von Truppen überflutet und zum Schauplatz der großen Ereignisse werden? Es schien fast unmöglich. Auf den häßlichen Gerüsten der Isaakkirche tönten bereits Hammerschläge. Mit langsam rhythmischem Schritt schleppten die Maurer Mulden mit Kalk nach oben. Ein Zimmermann hobelte ein Brett und zankte sich dabei mit einem anderen herum. Alles war, wie es stets gewesen. Wilhelm ging zu Gretsch.
Bei Gretsch fand gerade eine Art Familiensitzung statt. Der Tag war außerordentlich: Dem neuen Zaren wurde der Treueid geleistet. Am Tisch saßen bereits Gäste neben den Familienangehörigen und tranken Tee: Bulgarin in kurzem Dolman; er zog an seinem Tschibuk. Dann irgendein Leutnant und ein Makler.
Blaß, die Arme schlenkernd, kam Wilhelm herein. Bulgarin stieß dem Leutnant in die Seite und sagte halblaut:
»Ein Theaterbandit ersten Ranges!«
Feierlich, laut, mit zusammengezogenen Augenbrauen und blitzendem Pincenez las Nikolaj Iwanowitsch eben ein Schriftstück vor.
Ohne zu grüßen, fragte ihn Wilhelm:
»Qu'est-ce que vous lisez là? Je crois que c'est le manifeste?«
»Oui, c'est le manifeste,« antwortete Nikolaj Iwanowitsch etwas übellaunig und fuhr mit dem Lesen fort.
Wilhelm unterbrach ihn wieder:
»Gestatten Sie, welches Datum trägt Konstantin Pawlowitschs Verzicht?«
Gretsch sah ihn aufmerksam an.
»Den sechsundzwanzigsten November.«
»Den sechsundzwanzigsten November.« Wilhelm lächelte. »Ausgezeichnet. Das ist drei Wochen her.«
Gretsch wechselte einen Blick mit Bulgarin.
»Ja,« sagte er. »Drei Wochen hat man geschwiegen. Welche Sprache wird man jetzt sprechen?«
Er zwinkerte Wilhelm zu.
»Ich hoffe, jetzt haben die anderen das Wort.«
»Erlauben Sie mir, das Manifest für eine halbe Stunde mitzunehmen.«
Damit riß Wilhelm ihm das Papier aus der Hand und lief aus dem Zimmer.
Bulgarin rannte ihm nach:
»Guten Tag, Wilhelm Karlowitsch.« Er packte ihn an der Hand. »Sie sind aber sonderbar! So sagen Sie doch ein Wort! Was wird's heute wohl geben?«
»Guten Tag! Auf Wiedersehn!« Wilhelm stieß ihn beiseite und rannte auf und davon.
»Was ist mit dem los?? Ist er ganz verrückt geworden?«
Gretsch schaute seinen Kompagnon an und kniff die Augen zusammen:
»Nein! Hier riecht es nach ganz was anderem.«
Vor Gretschs Haus stieß Wilhelm mit Sascha Odojewski zusammen. Lustig, elegant gekleidet, mit frostgeröteten Wangen ging Sascha gerade aus dem Schloß nach Hause. Er war während der Nacht auf Schloßwache gewesen.
Unter seinem Mantel am Gürtel wölbten sich zwei Pistolen.
Sie umarmten sich wie Brüder. Keiner fragte den anderen.
Wilhelm deutete bloß mit dem Kopf auf die Pistolen:
»Gib mir eine!«
Sascha hielt ihm die lange Wachtpistole hin. Ihr Ladestock war mit grünem Tuch umwickelt. Wilhelm steckte sie ein. Der Griff schaute aber aus seiner Tasche hervor.
Dann raste er los nach den Offizierskasernen der Gardeequipage, zu Mischa, und Sascha ging zu Rylejew. In der Gardeequipage erzählte Mischa, daß bei den Moskauern bereits eine große Meuterei im Gange sei; sie hätten den General Schenschin und noch zwei andere Offiziere, den Bataillons- und den Regimentskommandeur, getötet. Er schickte Wilhelm zu den Moskauern, um zu erfahren, ob sie schon losmarschiert seien. Gleich nach dem Aufmarsch des Moskauer Regiments wollten Mischa und Arbusow auch die Gardeequipage in Marsch setzen.
Als Wilhelm in aller Hast aus der Offizierskaserne herauskam, sah er Kachowski in seinem langen Mantel über den Kasernenhof rennen. Er rannte maschinenmäßig blind drauflos. Hinter ihm her ein paar Unteroffiziere, die ihn schließlich am Mantel packten. Ohne sich umzusehn, warf Kachowski den Mantel ab und rannte weiter. Er sah aus wie ein Nachtwandler, und Wilhelm hatte plötzlich den Eindruck, als entgleite auch ihm die Wirklichkeit, als sei das Ganze ein Fiebertraum, der sich im nächsten Augenblick in nichts auflösen werde.
»Wollen Euer Durchlaucht einsteigen?« hörte er hinter sich eine Stimme.
Wilhelm setzte sich in die Droschke.
»Schnell! Schnell!«
Der Kutscher trieb das Pferd an. Mechanisch stellte Wilhelm fest: Ein junger Mann noch. Helle Haare. Krauser Bart. Sein Schlitten ist ärmlich, die Decke zerfetzt, das Pferd nichts wert.
Während sie über den Platz fuhren, schaute er hinaus voll vager Angst. Alles leer.
»Lieber Freund! Mach schnell! Treib das Pferd an!«
Der Kutscher drehte das schlaue Gesicht zu ihm herum:
»Der Weg ist schlecht, Euer Durchlaucht, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, das Vieh ist auch nicht mehr jung. Immer langsam voran!«
»Los! Los!« rief Wilhelm wild. »Los, was das Zeug hält!«
Kutscher und Gaul erschraken. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Der Gaul raste, warf die Hinterbeine besinnungslos nach außen und zog den schweren Hintern ein. Wilhelm, hager, gebeugt, mit brennenden Augen, flog bei jeder Unebenheit des Bodens in die Höhe.
In der Wosnessenskajastraße, dicht an der Blauen Brücke machte der Gaul einen verzweifelten Sprung zur Seite, und der Fahrgast landete in einem Schneehaufen.
Eine Sekunde lang lag er da, Augen und Mund von dem nassen, rasch schmelzenden Schnee verklebt. Dann hörte er über sich eine besorgte Stimme:
»So was! Das Viech ist nicht mehr jung. Die Beine wollen nicht mehr richtig!«
Schwarz lag die Pistole neben ihm. Der Lauf voller Schnee. Wilhelm suchte ihn durch Schütteln und Klopfen herauszubekommen, aber er saß zu fest. Dann stieg er wieder in die Droschke. Kopfschüttelnd legte ihm der Kutscher die zerfetzte Decke über, und der Gaul trabte weiter.
»Los! Los! Was du kannst!«
Im Moskauer Regiment war Lärm und Aufregung. Die Soldaten machten sich marschfertig. Die einen verteilten scharfe Patronen, die anderen luden die Gewehre, trugen die Fahnen herbei. Schtschepin-Rostowski war mitten unter ihnen. Abseits stand ein Offizier, den Wilhelm nicht kannte.
Alles ging kunterbunt durcheinander. Alles lärmte und schrie. Aus dem Hof drang der Lärm einer richtigen Schlägerei.
»Aha! Es geht los! Es ist so weit!«
Wilhelm sprang aus dem Schlitten, lief mit wirren Schritten auf den unbekannten Offizier zu und sprudelte leise hervor:
»Que voulez-vous que je dise à vos frères de l'équipage de la garde?«
Der Offizier sagte kein Wort. Wilhelm kam auf den Gedanken, daß er ihn vielleicht für einen Spitzel halte, und stellte sich vor. Der Offizier zeigte stumm auf die Soldaten und zuckte die Achseln. Er hatte offenbar keine Lust, zu sprechen. In diesem Augenblick sah Schtschepin Wilhelm und rief mit überschlagender Stimme:
»Wir marschieren gleich los. Bestuschew ist schon unterwegs mit seiner Kompagnie. Marschiert die Gardeequipage?«
»Noch nicht.«
»Rasen Sie hin! In zehn Minuten sind wir auf dem Platz!«
Der Gaul trabte mit Wilhelm durch dieselben Straßen zurück wie vorher. Der Kutscher trieb ihn mit der Peitsche an. Dann drehte er sich wieder zu Wilhelm um:
»Gnädiger Herr, ich will Ihnen was sagen. Wenn's nur kein Unglück gibt. Sind Sie vom Militär? Sie sehen doch, was los ist!«
»Bei der Gardeequipage steig ich aus!«
Im Nu war der Kutscher heiterer. Selbstbewußt zog er die Zügel stramm.
»Das ist ja begreiflich. Die Herrschaften fahren hin und her. Jeder hat seine Sorgen.«
Die Straßen waren schon unruhig. Allenthalben Haufen von Menschen. Die wenigen Mutigen drückten sich einzeln auf den Trottoirs herum. Drei Handwerksgesellen liefen, was sie die Beine trugen; sie hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, ihre Arbeitsschürzen abzunehmen.
»Senja! Wohin?« schrie einer einem Freunde zu.
»Auf den Platz! Den Zaren runterstürzen!« gab der andere zur Antwort und pfiff lustig.
»Sei still, du Hund!« rief ein alter Mann ihm nach. »Hast nicht genug Keile gekriegt von deinen Eltern!«
In der Ferne war ein Geräusch zu hören, das Wilhelm zuerst nicht verstand. Es klang wie der Schall der Ebbe, wenn die Wellen sich vom Strand zurückwälzen, oder wie das muntere Geklapper tausender kleiner Hämmer. Endlich war es ihm klar: Die Kavallerie ritt irgendwo vorbei.
In diesem Augenblick sauste in einem herrlichen Schlitten ein Staatsrat mit weißem Federschmuck am Hut vorbei, sah zu Wilhelm herüber und verneigte sich tief. Wilhelm erkannte ihn nicht, erwiderte aber höflich den Gruß.
Alles war in Bewegung an diesem Tage. Manche sausten im eigenen, eleganten Schlitten dahin, andere schleppten sich in einer von einem armen Gaul gezogenen Schlittendroschke oder im Dienstwagen vorwärts, und sehr viele kamen keuchend zu Fuß herbeigelaufen.
Der gleiche eisige Wind jagte all diese Menschen, Sascha, Bestuschew und auch den unbekannten Staatsrat aus der Straße auf den Platz.
Und der gleiche Wind jagte das Blut der Stadt, die Truppen, den Plätzen zu, um sie wie Herzkammern bis an den Rand zu füllen. In all den vergangenen Jahren hatte sich das Blut kaum bewegt. Jetzt sollte es endlich durch Adern und Gefäße kreisen. Und der gleiche eisige Wind war es, der Wilhelm durch die Straßen wirbelte.
In die Gardeequipage kam niemand mehr hinein. Im Hof hörte man ein Trampeln, als ob Tausende von Füßen den Boden feststampften. Die Gewehrschlösser knackten. Eine schrille Stimme kommandierte:
»Richt euch!«
Der Wachtposten streckte Wilhelm das Bajonett entgegen.
»Verboten! Niemand kommt rein!«
»Was ist denn los?«
»Ich stech dich tot!«
Wilhelm kam sich vor wie ein Gummiball, den man hin- und herwarf. Von der Equipage war er zu den Moskauern gesaust, von diesen wieder zur Equipage, und nun prallte er an dem verschlossenen Tor zurück. Ein Haufe neugieriger Straßenjungen umringte ihn. Der Posten war ganz außer Fassung. Auch er schien von dem allem nichts zu verstehn. Jedenfalls: Durchs Tor kam niemand mehr.
»Lieber Freund, ich möchte zu meinen Bruder,« rief Wilhelm ihm flehentlich zu. Dann winkte er verzweifelt ab, stolperte über einen Jungen und rannte zum Schlitten zurück.
Wohin? Nach dem Platz … Schon jagte er durch die Straßen.
»Zum Finnländischen Regiment!«
Er rief es dem Kutscher ganz zufällig zu. Er hatte sich plötzlich an eine Bemerkung erinnert, die er irgendwo gehört hatte: »Im Finnländischen Regiment haben wir Zebrikow und Rosen.«
Vor dem Kasernentor hielt ein Schlitten, in dem ein Offizier saß. Er wollte gerade abfahren und rief rot vor Aufregung zu einem anderen, der ohne Mantel dastand, hinüber:
»Enflammez! Enflammez!«
Auch Wilhelm rief er an (es war Zebrikow):
»Fahren Sie mit!« Seine Augen waren ganz irr.
»Eine Gemeinheit! Der Weg ist schlecht! Die Pferde stürzen in einem fort!«
»Wie steht's mit Ihren Finnländern?«
»Weiß der Teufel!« Zebrikow faßte ihn an der Mantelschnalle. »Verstehn Sie doch: So kann man nicht vorgehn! Ich sage zu ihm: ›Führen Sie einfach die Leute hin! Verteilen Sie Patronen.‹ – Er antwortet: ›Ich bringe die Leute … ohne deutliche Erklärung gehn sie nirgendshin.‹ (Zebrikow verhaspelte sich beim Sprechen.) »Steigen Sie ein! Ich bring Sie hin! Wollen Sie zum Platz?« Er wartete Wilhelms Antwort gar nicht ab.
»Iwan!« rief er verzweifelt dem Soldaten auf dem Kutschbock zu: »Zum Senat! Los! Los! Schnell! Zum Teufel!«
Besorgt sah Wilhelm Zebrikow an.
»Ich nehme einfach ein Seitengewehr und haue um mich,« sagte Zebrikow ohne jeden Zusammenhang. »Ich versteh nicht! Wie kann man so was tun?«
Wilhelms Herz klopfte. Wie langsam alles vor sich ging! Wie im Traum! Wozu war er bloß zu den Finnländern gefahren? Alles zerrann zwischen den Fingern. Alles zerfiel in nichts. Überall verschlossene Tore. Schnell nach dem Platz! So verging ja der ganze Tag!
An der Blauen Brücke nahm Zebrikow den Mantel ab:
»Nehmen Sie den Mantel. Dann sehn Sie wie ein Offizier aus. Das ist besser für Sie.«
Wilhelm war ratlos.
»Mir ist es zu heiß.« Zebrikow warf den Mantel in den Schnee.
Da sprang Wilhelm aus dem Schlitten und lief davon.
»Bei Zebrikow stimmt etwas nicht …!«
Auf der Brücke begegnete ihm Wassja Karatygin.
»Wohin um Himmels willen?! Auf dem Platz ist Meuterei! Entsetzlich, was dort vorgeht!«
»Aha! Meuterei auf dem Platz! Also doch!«
Sinnlos glücklich lächelnd rief Wilhelm ihm im Laufen zu:
»Ich weiß! Das ist unsere Sache!«
Der Platz war schwarz von Menschen. Aus irgendeinem Grunde rissen Maurer und Handwerker Bretter vom Gerüst. Vor dem Senat, die Front dem Peterdenkmal zugekehrt, standen die Moskauer in unordentlichem Haufen. Volk umdrängte sie. Wilhelm bahnte sich einen Weg. Die Soldaten sahen völlig ruhig aus. Er hörte, wie ein alter, grauer Gardist zu einem jungen sagte, der eben das Gewehr anlegte:
»Runter damit! Wir zielen später!«
Jakubowitsch mit der schwarzen Stirnbinde und Alexander Bestuschew, rot, in strammer Haltung wie auf einer Parade, gingen vor den Soldaten auf und ab. Jakubowitsch grüßte Wilhelm im Vorbeigehn, ohne ihn anzuschauen, verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse und legte die Hand auf die Binde:
»Weiß der Teufel! Das tut weh!«
Bestuschew kommandierte:
»Das Gewehr über!«
Und begeistert rief Wilhelm das Kommando nach: »Das Gewehr über!«
Bestuschew fuhr herum, rot vor Wut, und schnauzte ihn an:
»Kümmern Sie sich um Ihre Dinge!«
Sascha lief vorbei:
»Ich fahre zu den Pionieren. Der General Friedriks ist tot! Weißt du schon?«
Und rannte weiter, ohne die Antwort abzuwarten.
Kachowski, im Frack, in der Hand eine Pistole, lief in der Ferne vorbei und verschwand am Denkmal unter der Menge.
Wilhelm strebte nun auch dorthin. Dicht am Denkmal sah er Rylejew, Puschtschin und jenen unbekannten Staatsrat mit der weißen Feder am Hut, der ihn vorhin gegrüßt hatte.
Rylejew machte hastig sein Koppelschloß zu und hängte sich eine Patronentasche um. Über die Menschenköpfe hinweg sah er regungslos nach dem Isaakplatz hinüber:
»Wann kommt die Gardeequipage?«
»In der Equipage ist Meuterei! Das Tor ist zu.«
Puschtschin zuckte die Schultern und wandte sich an Rylejew:
»So geht das nicht! Wo bleibt Trubezkoj? Ohne Diktator können wir nichts anfangen.«
Jakubowitsch kam auf sie zu, mit trübem Blick, die Hand auf der Binde:
»Ich mach' jetzt meine Sache!«
Er verschwand in der Menge.
Wie verzaubert betrachtete Wilhelm den unbeweglichen Mann mit der weißen Feder, der plötzlich seinen Mantel abwarf und mit großen, automatischen Schritten durch die Menschenmasse ging. Überall unter den Schirm- und Pelzmützen tauchte die weiße Feder auf. Der Mann gab den Leuten Anordnungen, und alles drängte sich um ihn. Fortwährend liefen Arbeiter und Handwerker nach der Stelle, wo das Baumaterial lag, und kamen mit Holzstücken und Steinen in der Hand zurück.
Ein kleiner, schwarzer Mann löste sich von ihnen los und trippelte flink auf den Platz. Sein Hemdkragen war schmutzig. Er hatte unruhige Augen, hastige Bewegungen und eine Habichtsnase. Wo hatte Wilhelm ihn schon gesehen? Ein Gesicht, wie man es zu Hunderten auf Auktionen, auf Boulevards, im Theater trifft. Das Kerlchen sprach lebhaft auf die Soldaten ein und lief dann zur Volksmenge zurück. Jetzt stand es bei dem Mann mit der weißen Feder. Wilhelm holte die Pistole aus der Tasche, steckte sie wieder ein, holte sie wieder hervor.
»Aber wo bleibt Trubezkoj?«
Wilhelm sah Puschtschin an, faßte sich am Kopf und rannte dann, was ihn die Beine tragen konnten, nach dem Kai, nach dem Haus von Laval, wo Trubezkoj wohnte. Unterwegs stolperte er. Puschtschin rief ihm nach:
»Steck doch die Pistole ein!«
Als er den baumlangen Küchel mit der Pistole fuchtelnd dahinrennen sah, erinnerte er sich eine Sekunde lang an das Lyzeum und lächelte.
Der glattrasierte Schweizer ließ den schwer atmenden Mann mit den irrsinnigen Augen nur zögernd ein, betrachtete ihn mißtrauisch und half ihm dann aus dem Mantel. Jetzt erst merkte Wilhelm die Pistole in seiner Hand und steckte sie ein. Eine breite Treppe mit weißen Marmorstatuen und Pflanzen auf jedem Treppenabsatz wand sich nach oben. Wie aus weiter Ferne klang das Brausen der Straße, obwohl es nur wenige Schritte waren bis zum Platz. Das alte, herrschaftliche Haus lebte sein eigenes Leben und nahm keine Notiz von dem Straßengeschrei und den Schüssen auf dem Platz. Seine Mauern waren dick.
»Wen darf ich melden?«
Wilhelm stutzte. Wozu ihn noch melden?
Vielleicht wurde schon im nächsten Augenblick das Winterpalais von den Soldaten besetzt und der Senat zerstört. Solange aber dies Haus hier stand, würde der Diener dem Hausherrn jeden Besucher melden, obwohl dieser Besucher vielleicht schon drei Stunden später auf allen Vieren über den Platz kroch, um sein nacktes Leben zu retten, und der Hausherr am nächsten Morgen in Ketten gelegt wurde. Wilhelm schrieb auf ein Stück Papier:
»Guillaume Küchelbecker. Empfangen Sie mich unverzüglich.«
Es dauerte eine Weile, bis der Diener zurückkam:
»Die Fürstin läßt bitten.«
Jetzt kamen lautlose Säle mit kostbarem Porzellan auf Marmortischen, mit Bildern alter Meister. Wilhelm ging an einem Bild vorbei, das ein halbentblößtes Mädchen mit einer Weinrebe in der Hand darstellte. Verständnislos sah er hin, während seine Hand krampfhaft die Pistole festhielt. Dieses alte Haus mit seiner peinlichen Sauberkeit und Ordnung wurde ihm allmählich unheimlich. War denn tatsächlich Meuterei auf dem Platz? Vielleicht tauchte im nächsten Augenblick Trubezkoj auf, sah ihn erstaunt an, zuckte die Schultern, lächelte und sagte, das Ganze wäre bloß Einbildung …
Die Fürstin erschien. Erleichtert seufzte Wilhelm auf: Ihr Gesicht war blaß, ihre Lippen zitterten. Nein, tatsächlich. Auf dem Platz war Meuterei. Soldaten standen dort. Tod und Teufel! Heute floß Blut!
»Er ist nicht zu Hause,« sagte die Fürstin liebenswürdig, und ihre vor Schreck geweiteten Augen sahen auf Wilhelms Hand.
Wilhelm merkte, daß er schon wieder die Pistole in der Hand hatte. Er wurde verlegen und steckte sie weg.
»Wo ist der Fürst? Alles wartet auf ihn, Fürstin.«
»Ich weiß nicht,« sagte die Fürstin leise. »Er ist heute ganz früh weg.«
Wilhelm sah sie an und fragte erstaunt:
»Wie kann er denn weg sein? Auf dem Platz ist er nicht.«
Die Fürstin senkte den Kopf.
Jetzt wurde ihm alles klar. Er riß sich los und rannte, ohne sich umzuschauen, mit schlenkernden Beinen die breite, kühle Treppe hinunter.
»Trubezkoj kommt nicht. Er ist ein Verräter oder ein Feigling.«
Am Admiralitätskanal stand bereits neben den Moskauern das schwarze, geschlossene Karree der Gardeequipage. Davor eine Schützenlinie unter dem Kommando Mischas. Die Equipage und die Moskauer hatten zwischen sich eine kleine Gasse freigelassen nach dem Senatstor zu, das die Galernajastraße offen hielt. Auch die Moskauer standen im Karree. Sie hatten sich von selber so aufgestellt. Kein Mensch kommandierte sie.
Wilhelm hatte noch nie eine solche Masse Menschen gesehen. Überall Menschen. Sogar zwischen den Senatssäulen standen sie in schwarzen Haufen und auf den Dächern der Nachbarhäuser. Auch um das Denkmal herum und in der Admiralitätsstraße wimmelte es von Menschen.
Zwei Handwerker hatten in der Menge einen Offizier gefaßt und hielten ihn fest:
»Du hast die Leute aufgefordert, auseinanderzugehn! Du sagst, man betrügt das Volk! Sag das noch mal! Riskier's noch mal!«
Wilhelm griff ein und flehte:
»Laßt ihn doch laufen!«
In diesem Augenblick sah er hinter dem Offizier Kachowski mit starren Augen, gelbem Gesicht. Blitzschnell fuhr er mit der Hand in seinen Frackschoß, zog einen Dolch und gab dem Offizier einen wuchtigen Stich in den Kopf. Der Getroffene stöhnte auf und knickte zusammen. Neben dem rosigen Ohr tauchte ein schmaler Blutstrom auf, der weiterkroch, auseinanderfloß und Kopf und Augen bedeckte. Sterbend scharrte er mit den Händen auf der Erde, murmelte etwas und fiel der Länge nach hin.
»So ist's recht! Schlagt sie tot, Freunde! Zeigt's Ihnen, Brüder!«
Flink schlängelte sich Kachowski davon.
»Schlagt sie tot, die Feiglinge und Spione!« rief Puschtschin laut vom Denkmal her.
Ein Handwerker hatte einem Gendarmen den Säbel entrissen und schlug ihm mit der flachen Klinge über den Kopf.
»Was hast du hier zu suchen? Was willst du hier, du Biest?!«
Wilhelm machte eine unwillkürliche Bewegung (es war ihm unerträglich, wenn ein Mensch geschlagen wurde). Der Handwerker zwinkerte ihm zu und lächelte:
»Euer Hochwohlgeboren! Sie gehn ja bloß mit 'ner Pistole herum. Nehmen Sie den Säbel. Sie werden ihn brauchen.« Er drückte ihm den schweren Säbel in die Hand.
Der merkwürdige, kleine, ärmlich und nachlässig gekleidete Mann mit dem braunen Gesicht und der Habichtsnase kam auf sie zu. Ein Gesicht, wie man es zu Hunderten im Theater, in Kneipen, auf den Boulevards trifft. Seine Stimme war heiser. Er sprach französisch, aber mit deutschem Akzent:
»Ich bin der Führer der Volksmenge. Wir müssen uns vereinigen. Wir müssen die Menge organisieren. Waffen verteilen.«
»Wer sind Sie?« fragte Wilhelm leise. Angestrengt dachte er nach, wo er den Menschen schon gesehen hatte.
»Rautenfeld, Rittmeister a. D., Capitaine de cavalerie. J'ai là chez moi, si vous voulez, une quantité de sabres et tout ce qu'il faut. Wer ist euer Anführer? Das Volk will sich mit euch vereinigen.«
Da tauchte in Wilhelms Erinnerung ein früher Morgen auf, entblößte Soldatenrücken, melodischer Flötenklang, pfeifende Spießruten. Verwirrt betrachtete er das Männchen, hatte es aber gleich wieder vergessen, denn vor ihm tauchte ein wohlbekannter Krauskopf auf, ein wohlbekanntes, freches Lächeln.
»Ah, Lowuschka!«
Lowuschka Puschkin war auch hergekommen, um ein wenig mitzugaffen. Wilhelm faßte ihn unter, drückte ihm freudestrahlend seinen Säbel in die Hand und zog ihn mit zum Denkmal. Den Rautenfeld – oder hieß er Rosental? Rosenberg? – hatte er inzwischen ganz vergessen. Er führte Lowuschka zu Puschtschin:
»Prenons ce jeune soldat.«
Und rannte davon, um überall auf dem Platze zu sein.
Lowuschka stand eine Weile da, dann legte er heimlich den Säbel auf die Erde, drängte sich tief in die Volksmenge und verschwand.
In diesem Augenblick bog eine sonderbare Kutsche in die Gasse ein zwischen dem Karree der Moskauer und dem der Gardeequipage. Die Pferde waren langgespannt. Ein Vorreiter sprengte voraus. In der Kutsche saß ein stark gepuderter junger Herr in Kniehosen, mit prächtigem Samtkamisol und einer Brille auf der Nase. Sorglos betrachtete er die Soldaten, die hin- und herrennenden Menschen, die lärmende Volksmenge. Neugierig und zufrieden streckte er den Kopf zum Fenster hinaus. Als er an der Gardeequipage vorbeikam, bemerkte er Wilhelm, sah ihn einige Sekunden lang an, rückte die Brille zurecht und rief lustig: »Küchelbecker? Du?«
Wilhelm riß den Kopf herum, sah das auffallende Gefährt, den jungen Herrn und wußte plötzlich nicht, wo er war. Er trat an die Kutsche heran und blickte dem Herrn aufmerksam ins Gesicht:
»Gortschakow?«
Der junge Herr mit der gepuderten Perücke war Wilhelms Lyzeumskamerad Fürst Gortschakow. Er kam eben aus London und wollte ins Palais, um den Treueid zu leisten.
»Was für ein Menschengewimmel habt ihr hier!« sagte er zerstreut. »Ganz wie in London. Weißt du, von London her bin ich es gewöhnt, große Menschenmassen zu sehn.«
Sein zerstreuter Blick streifte die Moskauer und die Gardeequipage. Gelassen fügte er hinzu:
»Auch die Truppen versammeln sich schon. Ich glaube, ich habe mich verspätet.«
Mit den kurzsichtig zusammengekniffenen Augen betrachtete er Wilhelm, nickte ihm herablassend zu und sah plötzlich die lange Pistole in seiner Hand.
»Was ist das?« Er schob die Brille zurecht.
»Das?« wiederholte Wilhelm ebenso zerstreut und sah sich selber auf die Hand. »Eine Pistole.«
Gortschakow wurde nachdenklich, schaute sich nach allen Seiten um und rief dem Vorreiter zu: »Vorwärts, Freund!«
Zum Abschied nickte er freundlich und fuhr weiter, ohne von der Sache das Geringste zu verstehen.
Divisionskommandeur Orlow führte die Gardekavallerie zur Attacke gegen die Meuterer. Er hatte den Befehl, sie niederzureiten und an Ort und Stelle zu vernichten.
Die Pferde glitten auf dem vereisten Pflaster aus und stürzten in einem fort. Dunkle Gestalten lösten sich aus der Menge, rannten nach dem aufgestapelten Baumaterial und kamen eilig zurück. Andere bückten sich einfach und bewaffneten sich mit Steinen. Der Mann mit der weißen Feder und das kleine, schwarze Kerlchen schrien der Menge Befehle zu. Die Moskauer gaben eine Salve nach der anderen ab. Aus der Menge flogen Holzstücke und Steine.
Noch hatten die Reiter ihre Säbel nicht gezogen. Wilhelm sah, wie der Divisionskommandeur sich an die Brust faßte. Verwundet. Die Hufe schlurften über das Eis. Dumpf und schwer klatschten die stürzenden Tiere hin. Da plötzlich machten die Reiter kehrt. Ein junger Rekrut flog komisch, wie ein Brett, kopfüber vom Pferd. In der Ferne hörte man Schreien und Fluchen und das abgehackt rhythmische Getrampel der abrückenden Kavallerie.
»Brüder! Schießt nicht auf die Leute! Zielt auf die Pferde!« rief Sascha Odojewski.
»Ja, ja,« nickte Wilhelm. »Brüderchen, zielt auf die Pferdeschnauzen! Es ist schade um die Menschen!« Er lächelte.
»Hat man so was schon gehört?« brummte ein alter, grauer Gardesoldat. »Bloß Munition verschwenden! Kämpfen wir denn gegen die Pferde?!«
Die Attacke war zurückgeschlagen.
Wieder begann das stumme Herumstehn. Denn es war im Grunde nur ein Herumstehn trotz des Gerennes, ein stummes Herumstehn trotz des Geschreis und der ab und zu schallenden Kommandos. Jetzt hatten die froststarren, vereisten Plätze zu entscheiden, nicht mehr der Wille einzelner Menschen.
Nikolaus kam ohne Gefolge aus dem Palais gelaufen. Er hatte nur den Uniformrock mit dem Schulterband an, merkte aber nichts von der Kälte. Die Menge lärmte. Nikolaus ahnte nicht, daß die Leute auf dem Schloßplatz nur Spritzer des großen Menschenstromes waren, der unaufhaltsam über den Admiralitäts-, Isaak- und Peterplatz flutete.
Sein Gesicht war grau. Vielleicht vor Kälte. Er warf sich in die Brust und schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um. Hatte die Parade begonnen? Er lauschte. In einem der Menschenhaufen schrie man:
»Her mit Konstantin!«
Er schaute sich um und sah beklommen zwei Hofleute an, die in der Nähe standen. Benkendorff streckte ihm ein Blatt Papier entgegen, und er verstand: Er sollte das Manifest vorlesen … Er machte eine Bewegung mit der Hand und fing an, langsam und gedehnt zu lesen. Die Menschen in unmittelbarer Nähe wurden ruhig und hörten zu. Aber er las eintönig, und das Manifest war lang. Der Platz fuhr fort zu summen und zu rumoren, und kein Mensch verstand ein Wort.
Ein betrunkener Gerichtsschreiber drängte sich durch die Menge zu ihm durch und suchte seine Hand zu küssen. Die Lage wurde schwierig. So verging eine Viertelstunde. Nikolaus stand da und betrachtete die Menge, und die Menge betrachtete ihn. Allmählich gewöhnte sie sich an seinen Anblick, und er kam sich vor wie ein langweiliger Schauspieler, den die Zuschauer satt hatten. Benkendorff neigte sich zu ihm:
»Majestät, befehlen Sie der Menge, auseinanderzugehn!«
Nikolaus zuckte die Achseln. In der Ferne, in der Richtung der Millionaja-Straße hörte man das rhythmische, schallende Geräusch marschierender Truppen.
Er sah die Menge an, dann Benkendorff.
»Geht auseinander!« sagte er halblaut, mehr für die Hofleute als für die Menge. Keiner hörte auf ihn. Der betrunkene Schreiber faltete die Hände und lallte:
»Aber natürlich, Gottseidank, Majestät, wir verstehen ja … Erlauben Sie, geben Sie das Händchen …«
In diesem Augenblick sah er: Die Große Millionaja entlang marschierte ein Bataillon Soldaten. Er nahm Haltung an. Die Preobraschenzen rückten vor das Schloß und stellten sich in Reih und Glied.
»Guten Tag! Brave Leute!« rief er etwas unsicher (werden sie antworten oder nicht?).
»Guten Tag, Majestät!« Die Antwort klang nicht allzu laut, und Nikolaus merkte, daß nicht alle antworteten.
Er rief dem Kommandeur zu:
»Linksum kehrt! Marsch!«
Miloradowitsch kam auf ihn zu gelaufen. Sein Mantelkragen war zerrissen, die Uniform halb offen, unter dem Auge ein blauer Fleck, die Nase geschwollen.
Seelenvergnügt hatte er gerade bei seiner Tänzerin gefrühstückt, als man ihm die Meldung von der Meuterei brachte. Als Generalgouverneur der Hauptstadt bekam er die Nachricht spät genug. Es hätte wenig gefehlt, und er hätte bei seiner hübschen Teleschowa überhaupt den ganzen Aufstand verpaßt. Er ritt in aller Eile nach dem Senatsplatz, dorthin, wo der Pöbel am dichtesten stand, und rief drohend:
»Auseinandergehn!«
Er wurde vom Pferd gerissen und verprügelt. Zwei Soldaten schleppten ihn dann bis zur Ecke des Stabsgebäudes und ließen ihn laufen. Als er den Zaren sah, eilte er auf ihn zu, warf den zerrissenen Mantel ab und rief:
»Wir müssen sofort schießen!« Er sah seinen halbgeöffneten Rock, knöpfte ihn hastig mit greisenhaft zitternden Fingern zu und jammerte:
»Voyez, Sire, dans quel état ils m'ont mis!«
Nikolaus preßte die Lippen zusammen und sah ihn an. Das war der Mann, der ihm den Weg zum Thron hatte versperren wollen! So sprach der Diktator mit den sechzigtausend Bajonetten hinter sich! Er machte einen Schritt auf ihn zu:
»Als Generalgouverneur der Hauptstadt haften Sie mir für alles! Begeben Sie sich auf Ihren Posten!«
Miloradowitsch ließ den Kopf hängen.
»Machen Sie schnell!« sagte Nikolaus und betrachtete mit Ekel das zerschundene Gesicht.
Miloradowitsch salutierte in völliger Verwirrung und wankte davon.
Die Kompagnie setzte sich in Bewegung und rückte langsam gegen die auseinanderweichende Menge vor. Die Soldaten schauten finster drein. So bogen sie um die Ecke des Stabsgebäudes. Dicht an der Ecke bemerkte Nikolaus die auffallende Gestalt eines Offiziers in Generalstabsuniform, der abseits von der Menge stand und sich schroff abwandte, als er Nikolaus sah. Dieser erkannte ihn:
»Oberst Trubezkoj … Sonderbar …«
Ein vorbeireitender Adjutant, der den Zaren zu Fuß sah, sprang vom Pferd und übergab es ihm. Jetzt hatte Nikolaus eine Kompagnie Preobraschenzen und ein Pferd. Die Meuterer aber hatten das Moskauer Regiment.
Als sie die Gorochowaja-Straße passierten, kommandierte er an der Ecke rechts vom Lobanow-Haus mit den Löwen Halt. Weitermarschieren war zu riskant. Die Moskauer standen in gerader Diagonale über die Straße und den Platz. Ringsum wogte eine bunte, respektlose, vielleicht sogar feindliche Menge. Er fing schräge, geheuchelt gleichgültige Blicke auf. Auch das Gerüst der Isaakkirche war vollbesetzt mit Pöbel. Aus irgendeinem Grunde rissen einige Handwerker Bretter los und schleppten Steine herbei. Also der Pöbel meuterte auch! Vorne auf dem Platz hörte man Rufe:
»Hurra!«
»Konstantin!«
Ein Schuß, dann ein zweiter, ein dritter. Plötzlich fror er. Er merkte, daß er keinen Mantel hatte.
In diesem Augenblick trat ein Offizier auf ihn zu mit einer schwarzen Binde um die Stirn, mit schwarzem Schnurrbart und unangenehmen Augen. Eine Hand hielt er auf der Brust unter dem Rock versteckt. Nikolaus sah ihn prüfend an: Er trug die Uniform des Nischni-Nowgoroder-Dragonerregiments.
»Was wünschen Sie?« Abwartend betrachtete er das dunkelgelbe Gesicht.
»Ich war bei denen dort,« sagte der Offizier dumpf. »Als ich aber hörte, daß sie für Konstantin sind, habe ich sie verlassen und komme zu Ihnen.«
Nikolaus streckte ihm die Hand entgegen:
»Ich danke Ihnen. Sie kennen Ihre Pflicht.«
Die schwarzen Augen wirkten unangenehm auf ihn. Gern hätte er diesen Offizier freundlich gestimmt.
»Majestät, ich schlage Ihnen vor, mit dem Moskauer Regiment zu verhandeln!« Der Offizier steckte seine Hand wieder unter den Rock.
Nikolaus machte ein höfliches Gesicht:
»Ich werde mich Ihnen dankbar erweisen. Ja, es ist Zeit, dem Mißverständnis ein Ende zu machen.«
Aber die Hand unter dem Rock zitterte. Nikolaus sah das und ließ das Pferd einen Schritt zurückweichen. Schroff machte Jakubowitsch kehrt und verschwand. Was für ein verdächtiger Mensch! Überhaupt diese Unsicherheit ringsumher!
Ein Ziegelstein sauste vor den Füßen des Pferdes nieder, und das Pferd bäumte sich. Hoch oben auf dem Gerüst stand ein junger Mann und schaute seinem Wurfe nach. Nikolaus beugte sich über den Hals des Pferdes, riß die Zügel zurück und sprengte zum Admiralitätsplatz. Der Adjutant holte ihn ein:
»Majestät, General Miloradowitsch ist tot. Den General Woinow hat der Pöbel mit Holzstücken mißhandelt.«
Nikolaus zuckte die Schultern und wendete das Pferd.
Er winkte Adlerberg heran und fragte leise: »General, was soll mit dem Palais geschehn? Das Palais ist ohne Deckung.«
»Ich habe Reisewagen vorbereitet, Majestät. Äußerstenfalls werde ich die kaiserliche Familie unter dem Schutz der Kavaliersgarde nach Zarskoje Selo geleiten.«
Wieder Schüsse auf dem Platz. General Toll, der eben aus Nennaal eingetroffen war (Michail hatte ihn überholt), näherte sich dem Zaren. Er saß schwer im Sattel und machte ein finsteres Gesicht:
»Majestät, die zweite Kavallerieattacke ist zurückgeschlagen. Ich habe nach Artillerie geschickt.«
Er sah Nikolais leere Augen, dachte eine Sekunde nach und raffte sich dann zusammen:
»Majestät, gestatten Sie, die Artillerie einzusetzen!«
Nikolaus nickte, ohne hinzuhören.
»Was ist mit dem Palais?«
Adlerberg flüsterte ihm ins Ohr:
»Majestät, marschieren Sie mit der Kompagnie zum Palais.«
Gehorsam gab er das Kommando. Am Hauptstab hörte er ungewöhnlichen Lärm vom Schloßplatz her. Unruhig hob er sich im Sattel hoch und hielt Ausschau. Ein kompakter, ungeordneter Haufe Leibgrenadiere kam im Laufschritt mit übergehängtem Gewehr aus der Millionaja-Straße und stürmte auf das Palais zu. Allen voran ein junger Offizier mit dem Degen in der Faust. Am Schloßtor wurden sie durchgelassen und verschwanden im Hof. Nikolais Herz hämmerte und pochte unter der dünnen Uniform. Das Palais besetzt! Alles zu Ende! So vergingen einige Minuten. Doch die Grenadiere tauchten bald wieder im Tor auf. Sie kamen näher. Allen voran der kleine, krummbeinige Offizier. Nikolaus konnte die ersten Reihen schon deutlich sehen; er unterschied die grauen Borsten auf den unrasierten Gesichtern, die aufgeknöpften Uniformen und sah deutlich das rote, aufgeregte Gesicht des kleinen Offiziers – und verstand nichts von dem allem. Wohin wollten sie? Warum hatten sie das Palais verlassen?
Jetzt waren sie unmittelbar vor ihm.
»Guten Tag, Grenadiere!«
Schweigen.
»Halt!«
Schweigen.
Der Offizier ging an ihm vorbei, ohne zu salutieren.
»Wohin, Leutnant?«
»Zu den Moskauern!« rief der Leutnant fröhlich.
Nikolaus verlor ganz die Fassung und hörte mit Entsetzen seiner eigenen Stimme zu, als er automatisch zu dem Leutnant sagte und nach dem Senat zeigte:
»Dann müssen Sie über den Peterplatz!«
Der Leutnant lachte:
»Dorthin wollen wir eben.«
(Schande! Schande! Sofort hineinreiten in die Bande!)
Doch schon ließen seine Soldaten die Grenadiere durch. Einige berührten seine Sporen beim Vorbeigehn.
Nikolaus setzte ein undurchdringliches Gesicht auf und kommandierte seinen völlig verwirrten Leuten:
Die vier meuternden Kompagnien der Leibgrenadiere marschierten nach dem Peterplatz.
Langsam zogen sich Nikolais Truppen zusammen. Ganz allmählich sperrten sie den Peterplatz ab.
Vom Admiralitätsplatz kam die berittene Garde aus ihren Kasernen angerückt. Michail, der genau wie Wilhelm in holperndem Schlitten auf dem Glatteis der Straßen herumgesaust war, von den Artilleriekasernen im Taurischen Palais zu den Preobraschenzen und von diesen zu den Moskauern, brachte die drei noch übrigen Kompagnien der Moskauer mit und stellte sie gegenüber der Admiralität auf. Jetzt rückten die Semjonower an, und Michail wurde ihnen entgegengeschickt. Sie nahmen Aufstellung an dem Marmorschutthaufen links vom Gerüst der Isaakkirche, gegenüber der Gardeequipage. Die Preobraschenzen, das ganze zweite Bataillon und drei Kompagnien des ersten vereinigten sich auf dem rechten Flügel mit der berittenen Garde und standen frontal zum Senat.
Das Pawlowski Regiment besetzte die Galernaja-Straße.
Die Moskauer schossen. Die Gardeequipage stand unbeweglich in schwarzem, dichtem Karree. Die Leibgrenadiere standen auf dem linken Flügel.
Wer konnte sich auskennen in diesem sonderbaren, schwankenden Gleichgewicht der Plätze?
Rylejew ertrug den Lärm nicht mehr, denn hinter dem Lärm hörte er deutlich die Stille dieses Gleichgewichts wie die Stille einer Wage, deren Schalen sich das Gewicht hielten. Gesenkten Hauptes verließ er den Platz.
General Toll wußte nichts von Gleichgewicht und schwankenden Wagschalen. Er wußte, daß Kartätschen Menschen niederstrecken. Er hatte nach Artillerie geschickt.
Das Kräfteverhältnis war ganz unsicher. General Toll wußte das ausgezeichnet. Einzelne Preobraschenzen lösten sich aus den Reihen und gingen rasch in die Volksmenge. Nikolaus tat so, als ob er es nicht merke. Doch er wußte: Das waren die Parlamentäre der Soldaten. Deshalb zog er es vor, eigene Parlamentäre auszuschicken. Woinow wurde mit einem Hagel Holzstücke empfangen. Vielleicht hatte der Metropolit mehr Glück! Er war alt, schwach und hilflos und deshalb für die Rolle eines Parlamentärs besonders geeignet.
Vor der Gardeequipage fuhr ein Schlitten vor. Der altersschwache Metropolit in der Mitra saß darin, neben ihm ein feister, vornehmer Pope. Mühsam, in dem langen Priestergewand sich verwickelnd, stieg der Metropolit aus dem Wagen. Der Pope stützte ihn. Der Metropolit sprach etwas mit blassen Greisenlippen. Wilhelm sah, wie Mischa, der mit seinen Schützen vor der Gardeequipage stand, seinen Nachbarn etwas zuflüsterte und wie gleich darauf einige junge Unteroffiziere den Metropolit umringten. Der rief mit brüchiger, zitternder Stimme:
»Seine Hoheit Konstantin Pawlowitsch lebt, Gott sei's gedankt!«
Wilhelm schrie dazwischen:
»Dann gebt ihn her! Zeigt ihn uns!«
Einige Soldaten wiederholten: »Her mit Konstantin!« Doch der Metropolit fuhr fort, als höre er nicht:
»Seine Hoheit lebt, Gott sei's gedankt!«
Der Pope neben ihm begann mit gesalbter Stimme:
»Liebe Brüder, denkt an das Gebot des Herrn!«
Da kam Mischa mit raschem Soldatenschritt auf die beiden Geistlichen zu. Er beugte sich über den altersschwachen Mann und brüllte ihm ins Ohr:
»Vater, machen Sie, daß Sie wegkommen! Sie haben hier nichts zu suchen!«
Der Metropolit schüttelte den Kopf, starrte mit fahlen Greisenaugen den jungen Offizier an und schlug hastig die langen Rockschöße übereinander. Der feiste Pope half ihm wieder in den Schlitten.
Mischa rief ihm noch nach:
»Schicken Sie Michail her zum Verhandeln! Wir schießen nicht.«
Da knallte ein Schuß. Der Metropolit fuhr zusammen, klammerte sich an seinen Popen, und der Kutscher raste mit ihnen zurück.
Entsetzt sah Wilhelm Mischa an:
»Wozu forderst du Michail auf, zu kommen? Wozu verbürgst du dich für seine Sicherheit? Wer hat dich dazu ermächtigt?«
Mischa lächelte böse. Er wußte, was er tat. Er ließ sich nicht dreinreden von dem Bruder.
Eine Stimme im Hintergrund rief:
»Herrliche Gelegenheit! Die darf man nicht verpassen!«
Wilhelm drehte sich um und sah Kachowski.
Instinktiv packte Sascha Odojewski Wilhelm an der Hand:
»Reg dich nicht so auf!«
Spöttisch flüsterte Puschtschin:
»Sie werden uns willkommen sein, Hoheit!«
Sie standen in der Mitte der lebendigen Gasse zwischen dem Karree der Moskauer und dem der Gardeequipage. Wilhelm hatte noch immer die Pistole in der Hand, die ausgezeichnete Pistole, die er heute morgen von Sascha bekommen hatte und die infolge der Ungeschicklichkeit des Kutschers an der Blauen Brücke mindestens zwei Minuten im Schnee gelegen hatte. Solche Pistolen pflegen sehr gut zu schießen, besonders wenn das Pulver auf der Zündpfanne trocken ist.
Dort, wo Nikolaus stand, sah es böse aus: Handwerker, Kleinbürger und Arbeiter bombardierten ihn vom Gerüst der Kirche herab mit Steinen. Die Kugeln der Moskauer sausten dicht an ihm vorbei. Die Moskauer wußten, wo er stand. Es war Zeit, eine andere Stelle zu suchen, sich unter Michails Deckung zu begeben. Nikolaus zog den Kopf ein und ritt zu den Semjonowern.
Michail war sich seiner Bedeutung voll bewußt. Sein Selbstbewußtsein stieg.
»Erlaube, daß ich mit ihnen unterhandle. Man hat mir gemeldet, daß die Offiziere der Gardeequipage mich zu sprechen wünschen.«
Nikolaus sah den Bruder von der Seite an. Sein Selbstbewußtsein war ihm peinlich.
»Was haben wir schon Parlamentäre ausgeschickt!« sagte er und machte eine verächtliche Handbewegung. »Selbst der Metropolit hat nichts ausgerichtet!«
»Ja, aber sie haben es mir gerade durch den Metropolit melden lassen.«
Wie in der Kindheit rivalisierten die Brüder miteinander. Michail wollte unter keinen Umständen Nikolaus nachgeben.
»Mach, was du willst,« meinte Nikolaus trocken.
Michail ritt zur Gardeequipage, mit ihm ein General der Suite. Seine schwarze Hutfeder hüpfte. Er zügelte das Pferd. An der vordersten Linie des Karrees angelangt, wurde ihm plötzlich klar, daß es tatsächlich besser gewesen wäre, nicht hierher zu kommen.
In den hinteren Reihen wurde es still. Einige altersgraue Soldaten schauten ihn finster unter buschigen Augenbrauen hervor an. Auf die Soldaten durfte er offenbar nicht rechnen. Er mußte mit den Offizieren sprechen.
Liebenswürdig sprach er Mischa Küchelbecker an:
»Darf ich zu den Soldaten sprechen?«
»Also, Brüder,« begann Michail (er sprach zu laut; seine Worte hatten deshalb keinen Ausdruck), »mein Bruder Konstantin hat auf den Thron verzichtet. Ihr habt gar keinen Grund, Nikolaus Pawlowitsch den Treueid zu verweigern.«
Michail legte die Hand an die Brust:
»Ich flehe euch an, kehrt in die Kasernen zurück!«
»Gebt den Konstantin her!« rief ein untersetzter Matrose (es war Kuroptjew, der zusammen mit Dorofejew in der Gasse neben Wilhelm stand).
»Her mit ihm!« scholl es aus den Reihen.
Mitten in der Gasse unterhielten sich ein paar Menschen leise. Sie unterhielten sich nicht bloß; in aller Stille bereiteten sie etwas vor. Michail begann die Leute heimlich zu beobachten.
Ein langer, hagerer Mensch ließ seinen Mantel zu Boden gleiten. Er hatte einen schwarzen Frack an, in der Hand eine Pistole. Neben ihm ein Mann im Dolman, mit ruhigen Augen, blühendem Gesicht.
Michail versuchte den Soldaten etwas zuzurufen, aber jetzt schrien sie:
»Hoch die Konstitution!«
Seine Stimme wurde von Geschrei übertönt.
In diesem Augenblick sagte Puschtschin etwas verlegen zu Wilhelm:
»Voulez-vous faire descendre Michel?«
Er hält die Augen halb gesenkt und schaut zur Seite.
Und Wilhelm antwortet kaum hörbar:
»Oui, Jeannot!«
Unmerklich bewegt er sich vorwärts.
Michails Blick fällt auf den langen, hageren Menschen. Irgendwo muß er dieses Scheusal schon einmal gesehen haben. Das Gesicht kommt ihm bekannt vor.
Sascha Odojewski sagt zu Wilhelm:
»Hast du genug Pulver auf der Pfanne?«
Er betrachtet seine eigene Pistole, die Wilhelm mit langen Fingern fest umklammert hält.
»Ja,« erwidert Wilhelm tonlos.
Teufel! Der Lange zielt! Auf den General neben mir! Weg von hier! So schnell wie möglich weg! – Michail macht dem General ein Zeichen und sieht voller Entsetzen, daß der kleine, schwarze Pistolenlauf sich immer mehr nach rechts schiebt und ihm jetzt direkt in die Augen starrt.
In der Gasse leise Worte:
»Ich bin kurzsichtig. Welcher ist Michail?«
»Der mit der schwarzen Feder,« antwortet Bestuschew.
Dorofejew berührt Wilhelms Hand und schüttelt den Kopf:
»Stürzen Sie sich nicht ins Unglück, gnädiger Herr!«
Wilhelm lächelt ihm zu, ohne ihn anzusehn, und erwidert mit einem Flüstern, das jener kaum hören kann: »Mein Lieber, alle müssen sterben.«
Er zielt auf die schwarze Feder.
Und drückt ab. Statt des Schusses hört man ein dumpfes Knacken. Michails Pferd tänzelt ungeduldig, wendet sich um und galoppiert davon. Wilhelm, in völliger Verwirrung, schaut zuerst die Pistole an, dann die in der Ferne flatternde schwarze Feder. Er versucht tief zu schießen.
Wieder ein Knacken.
»Verflucht!«
Er hebt die Augen zu Puschtschin. Er ist ratlos. Er hat das Gefühl fast körperlichen Schmerzes, als ob er weit ausgeholt habe, um einen Stein zu schleudern, der Stein ihm aus der Hand gefallen sei und nun der ganze Arm schmerze von der Wucht des Ausholens.
Jemand wirft ihm den Mantel um die Schultern. Dorofejew. Ihm ist unerträglich heiß, Schluchzen schnürt seine Kehle. Er wirft den Mantel wieder ab, führt die eiskalte Linke an die brennende Stirn. Die Rechte umklammert noch immer die Pistole. Puschtschin sagt bedauernd zu Dorofejew und Kuroptjew:
»Ach, Kinder, hättet ihr nur schnell Schluß gemacht!«
Nebel, dunkler Nebel steht vor Wilhelms Augen. Wankend starrt er zu Boden, holt ein Taschentuch hervor und preßt es an die Stirn. Wenn er sich bloß den Kopf verbinden könnte! Er hebt die Augen! Vor dem Karree ein Hut mit einer weißen Feder.
Er hört rufen:
»Woinow! Das ist General Woinow!«
(Woinow hatte sich doch durchgedrängt, um mit der Equipage zu sprechen.)
»Welcher ist Woinow?« fragt Wilhelm mit Anstrengung.
»Der mit der weißen Feder,« sagt eine sonderbare Stimme im Nebel. »Der dort in der Generalsuniform.«
Eine andere ruhige Stimme neben ihm:
»Geben Sie die Pistole her. Man muß Pulver auf die Pfanne tun. Ihr Pulver ist naß.«
Wilhelm sieht, wie Kachowski Pulver auf die Zündpfanne schüttet. Er sagt höflich:
»Merci.«
Mit Mühe sein Bewußtsein zusammenraffend, tritt er aus den Reihen vor und zielt auf die weiße Feder, die in der beginnenden Dämmerung sich deutlicher abzeichnet als Michails schwarze Feder.
Das Pulver fängt Feuer. Kein Schuß! Nichts.
Entsetzt – o Schicksal! Schicksal! –, ohne seine Finger zu spüren, drückt er abermals ab.
Abermals nichts.
Er wankt. Jemand faßt ihn unter den Armen, wirft ihm den Mantel um und führt ihn weg. Der Mantel ist schwer. Er wirft ihn ab. Er schauert vor Kälte. Wieder wirft man ihm den Mantel um. Wieder fällt er ihm von den Schultern.
Er schaut sich um.
Dort hinten stehn Puschtschin, Sascha Odojewski, Kachowski.
»So was!« sagt Puschtschin angeekelt. »Dreimal nichts!«
Sascha betrachtet Wilhelm mitleidig, wie eine Frau, und auf Wilhelms Lippen erscheint sekundenlang ein blasses Lächeln. Alle, alle ohne Ausnahme sehn ihn vorwurfsvoll an.
Was ist da zu machen? Sollen sie nur … Er macht ein paar Schritte.
Plötzlich steht vor ihm eine sonderbare Gestalt: Jakubowitsch in strammer Haltung mit hoch erhobenem Degen. Am Degen baumelt ein weißes Taschentuch. Wie versteinert steht er da. Dann kommt er zur Besinnung, senkt den Degen, reißt das Taschentuch ab und wird flammend rot.
»Das ist bloß Maskerade,« stammelt er. »Ich habe mich als Parlamentär angeboten.«
Wilhelm sieht ihn ruhig an.
»Bleibt fest!« sagt Jakubowitsch heiser und zieht mit wichtiger Miene die Augenbrauen zusammen. »Man hat große Angst vor euch.«
Strammen Schrittes, den nackten Degen in der Faust, verläßt er den Platz. –
Langsam wich der Bann von Wilhelm. Sein Hals war ausgetrocknet. Er nahm etwas Schnee auf und aß ihn gierig. Wie wohltuend! Wie kalt! Der Nebel zerstreute sich ein wenig. Er sah sich um. Von den Moskauern sprengt eben ein General davon. In vollem Galopp holt er die Feder vom Hut und winkt mit ihr. Wilhelm reibt sich die Augen. Wieder ist alles klar, seine Beine leicht, jeder Muskel wieder Teil eines Ganzen, dessen Zentrum außerhalb liegt. Und das Erste, was er deutlich und genau erkennen kann: Die regierungstreuen Regimenter ihm gegenüber haben ihre Front geöffnet, und zwischen ihnen im fahlen Dämmerlicht steht eine Batterie mit gähnenden Mäulern.
General Suchosanet hatte die Batterie der Gardeartilleriebrigade auf den Platz geführt. Sie stellte sich quer auf dem Admiralitätsplatz auf; der rechte Flügel richtete seine Geschütze auf den Senat, der linke auf den Newski Prospekt; zwei Geschütze konnten den Prospekt bestreichen.
Aber die Geschosse fehlten; man hatte sie nicht mitgenommen.
Eben raste der Adjutant zum Laboratorium hinüber, um wenigstens ein paar Geschosse zu holen, da kommandierte Suchosanet:
»Batterie! Laden!«
Er will die Menge erschrecken. Aber die Menge rührt sich nicht und lacht. Das Moskauer Regiment schießt. Die Leibgrenadiere und die Equipage stehn wie angewurzelt. Das Bataillon gibt Feuer.
Doch es sind keine Geschosse da.
General Suchosanet sprengt zu Nikolaus, der ziellos hin- und herreitet, und sagt:
»Hoheit! Befehlen Sie die Säuberung des Platzes durch Geschützfeuer!«
Mit verzweifeltem Eifer sucht er sich hervorzutun. An diesem Tage ist man ihm zuvorgekommen. Er hat sich verspätet. Vielleicht weiß Nikolaus nichts davon, daß keine Geschosse da sind. Vielleicht wird man die Geschosse bald bringen?
Doch Nikolaus hält das Pferd an, betrachtet wütend den General mit weit geöffneten Augen; die Zähne Seiner Majestät klappern; ohne ein Wort zu sagen, läßt Nikolaus ihn stehn und reitet weg.
In seinem glühenden Diensteifer hatte der General sich vergessen und Nikolaus mit »Hoheit« angeredet.
Der General ist ganz verzweifelt. Er faßt sich an den Kopf und reitet langsam hinter dem Zaren her. Er wartet. Er sucht ihn wieder zu fassen. Die Dämmerung rückt heran.
Es ist bald vier Uhr.
Die Moskauer schießen noch immer, und die Gardeequipage steht da in schwarzem, zusammengedrängtem Karree. Vier Kavallerieangriffe sind unter Verlusten abgewiesen, und die Leibgarde steht bei den Meuterern auf dem linken Flügel. Nikolaus sieht, wie einzeln, in kleinen Haufen, in Massen der Pöbel auf den Peterplatz zu den Meuterern läuft.
Wenn die Sache sich in die Länge zieht und bis zur Nacht dauert, dann steht es schlimm.
Wer weiß, was kommt, wenn der gesamte Pöbel sich den Meuterern anschließt? Wer weiß, was z. B. das Ismajlow-Regiment im Schilde führt? Das Finnländische Regiment ist unruhig. Es hat auf der Brücke der Wassili-Insel haltgemacht. Nachts ist das eine dunkle Sache.
General Toll reitet an Nikolaus heran:
»Sire, je crois mettre fin à ce désordre en faisant mitraille.«
Nikolaus nickt düster.
Nachts ist das eine dunkle Sache, eine zweifelhafte Sache. General Suchosanet möchte sich auszeichnen. Aber man hat zu wenig Geschosse gebracht. Die halten nicht lange vor.
Der General gibt aber die Hoffnung nicht auf, sich auszuzeichnen. Er hört, was General Toll sagt, reitet an Nikolaus heran, beugt sich zu ihm, die Stimme dämpfend:
»Majestät (sicher ist sicher!), die Dämmerung rückt vor. Die Kräfte der Meuterer wachsen. In dieser Lage ist die Dunkelheit gefährlich.
Nikolaus schweigt.
»Sind Sie Ihrer Artillerie ganz sicher?« fragt er dann finster und, ohne Antwort abzuwarten: »Versuchen Sie noch einmal, mit ihnen zu sprechen.«
General Suchosanet reitet an die Front der Moskauer heran und ruft:
»Jungens, legt die Gewehre hin, sonst laß ich die Geschütze auf euch los!«
Alexander Bestuschew ruft ihm zu:
»Suchosanet, da hättest du einen tüchtigeren Kerl herschicken sollen!«
Ein junger Gardist legt auf den General an. Von hinten ruft man dem Gardisten zu:
»Rühr den Dreckkerl nicht an. Er ist keine Kugel wert!«
Rufe über dem Platz:
»Hoch die Konstitution!«
»Hoch Konstantin!«
Puterrot vor Zorn wirft Suchosanet das Pferd herum. Hinter ihm Pfiffe, Schmährufe. Alles bespuckt ihn heute, das Soldatenpack wie der Zar.
In vollem Galopp reißt er sich die Feder vom Hut und schwenkt sie in der Luft. (Das war es, was Wilhelm sah, als er aus seiner Erstarrung erwachte.) Das war das Signal, die erste Salve.
Eine Schrecksalve.
Die Moskauer stehen fest. Die Leibgrenadiere stehen fest. Die Menge drängt sich immer dichter um die Truppen.
General Suchosanet bekommt von General Toll den Befehl, planmäßiges Geschützfeuer zu eröffnen.
Erste Salve.
Die Kartätschen singen winselnd pi-uh, dann donnerndes Platzen. Manche Kugeln schlagen ins Straßenpflaster ein und wirbeln Schnee auf; andere fliegen über die Köpfe und treffen die Menschen, die an den Senatssäulen und auf den Dächern der Nachbarhäuser stehn: verirrte Kugeln. Andere wieder mähen die Soldatenfront nieder. Der Staub fliegt hoch, Schreie, Stöhnen. Ein Schrei klingt besonders entsetzlich. Wie das Geheul eines Tieres.
Die Truppen halten sich.
Obolenskis klare Stimme:
»Feuer!«
Und als Antwort auf das dünne Gewinsel der Kartätschen das trockene Knattern der Gewehre.
Und wieder der dünne Gesang pi-uh und wieder donnerndes Getöse. Die Fensterscheiben des Senates klirren. Kugeln schlagen in die Mauern. Der Stuck fällt ab. Die Menschen liegen in Haufen da. Sie fallen hin wie gemähte Ähren und bleiben liegen.
Dennoch halten die Truppen stand, und dem Schrapnellgesang antwortet das trockene Geknatter. Doch es bröckelt schon ab. Es fängt an zu stottern. Das Feuer wird ungleichmäßig.
Und zum dritten Mal dünner Gesang und Getöse und als Antwort einzelne trockene Aufschreie der Gewehre: tra-tat-ta, wie Trauerwirbel von Trommeln.
Und zum vierten Mal. Dann schweigen die Gewehre.
Mit furchtbarer, messerscharfer Deutlichkeit sieht Wilhelm das alles: Wie die vorderste Kolonne wankt, wie die Matrosen in Verwirrung geraten, wie ein alter, pockennarbiger Matrose sein Gewehr hinwirft, als ob er ausgleite auf dem Eis und liegen bleibt. Ein langsamer Stoß. Wilhelm wird von der davonlaufenden Menge vorwärtsgedrängt, an der Manege vorbei, und die Füße stolpern über Leichen und Verwundete. Noch einmal spürt er das Knacken von Knochen, dann überläßt er sich der Menge. Im Laufen sieht er zwei Soldaten, die sich zwischen den Fundamentvorsprüngen der Manege verbergen.
Die Menge trägt ihn an Sascha vorbei. Der steht da und reißt die weiße Feder vom Hut. Bald wird auch er von der Menge weggespült.
»Sascha! Sascha!«
Doch Sascha hört nicht.
Die Kartätschen singen.
Wut überwältigt Wilhelm. Er wird gestoßen. Etwas trägt ihn mit sich wie ein Stäubchen, und die blöden, singenden Kartätschen werfen die Menschen um wie Hammel. Ein Gefühl der Schmach. Wut. Kein bißchen Angst. Die erstarrte Hand hält die Pistole festgepackt. »Halt!« schreit er mit wilder Stimme.
Doch die winselnden Kartätschen ersticken seinen Schrei.
Die Menge schleudert ihn in einen engen Hof neben der Manege.
Der unveränderlich wütende, klare Haß läßt ihn nicht los.
Sein Bewußtsein ist klar. Er bemerkt die kleinen Einzelheiten, Ort und Stelle, wo er ist, Anzahl der Menschen, ob sie bewaffnet sind oder nicht. Die letzte Menschenflut wirft seinen Bruder Mischa in den Hof; er ist ohne Mantel, der Uniformkragen aufgerissen, die Augenbrauen staunend hochgezogen.
Wilhelm freut sich nicht, den Bruder zu sehn. Es ist ihm alles gleich.
Er ruft:
»Halt!«
Und alle richten sich gehorsam auf.
Wilhelm kommandiert im Halbdunkel:
»Richt euch!«
Und der magere, lange Mensch, das Gesicht verzerrt, mit der Hand krampfhaft die Pistole umfassend, bekommt die Menschen in seine Gewalt. Alle gehorchen seiner Stimme.
Er stellt sie in Reih und Glied auf, und die Soldaten folgen ihm mit strengen Gesichtern.
Mischa tritt an Wilhelm heran:
»Geh weg!« Weiter kommt er nicht, bewegt nur die Lippen und sieht entsetzt den Bruder an.
Wilhelm drängt ihn herrisch zur Seite.
Seine Stunde hat geschlagen, und er ist Herr dieser Stunde. Für diese Stunde wird er später bezahlen.
»Bajonett pflanzt auf!«
Er führt die Leute auf die Straße. Er will sie zum Nahkampf gegen die Feinde, gegen die Geschütze führen.
»Es geht nicht,« sagt ein Matrose ruhig zu ihm. »Wohin wollen Sie mit den Leuten? Man schießt mit Kartätschen.«
Wilhelm erkennt Kuroptjew.
Und als Antwort der Gesang der Kartätschen, das verhaßte, dünne Gewinsel und einen Augenblick später donnerndes Platzen der Geschosse.
Wilhelm steht da mit gesenktem Kopf, die Pistole in der verkrampften Hand. Alle haben sich zu Boden geworfen. Er allein steht da.
Kuroptjew ruft leise von unten herauf: »Hinlegen!« und Wilhelm legt sich gehorsam hin.
Sie kriechen einige Schritt und Kuroptjew sagt zu ihm:
»Auf die Mitte des Platzes!«
Der Isaakplatz verschwindet im Dunkel. Wilhelm folgt Kuroptjew. Sie kriechen bis zur Mitte.
In diesem Augenblick geht mit ihm eine unbegreifliche Veränderung vor sich. Die Schärfe des Bewußtseins bleibt, aber seine Wut ist nicht mehr da. Es bleibt nur die vorsichtige Schläue, die irrsinnige Schläue eines gehetzten Tieres. Jetzt heißt es, am Semjonow-Regiment vorbeizukommen. Auch jetzt bleibt alles deutlich erkennbar für ihn. In einem einzigen kurzen Augenblick kommt ihm zum Bewußtsein, daß er ohne Mantel, im Frack ist, daß seine Hand noch die Pistole umfaßt hält und daß sie gleich nahe am Semjonow-Regiment vorbei müssen. Er bückt sich tief und läßt die Pistole lautlos in den Schnee gleiten. Seine Hand ist erstarrt und trennt sich nur schwer von der Waffe, an die sie sich während des ganzen Tages gewöhnt hat. So kommt er an dem Regiment vorbei.
Im Halbdunkel schauen ihm zwei Soldaten mißtrauisch nach.
Das Letzte, was er noch sieht, ist, wie die Offiziere der Gardeequipage einer nach dem anderen vor den Kommandeur treten und sich ergeben.
Dann geht er leicht und beschwingt weiter. Sein Körper ist leer. In der leeren Brust klopft automatisch das gänzlich entspannte Herz.
An der Blauen Brücke eine schlanke Gestalt. Wilhelm holt Kachowski ein. Dann gehn sie nebeneinander. Wilhelm fragt ihn leise:
»Wo ist Odojewski, Rylejew, Puschtschin?«
Kachowski sieht ihn von der Seite an mit ruhigen, erloschenen Augen und schweigt.
Im Dunkel trennen sie sich.
Eine halbe Stunde später ist alles finster. Der Winterabend des 14. Dezember, dicht, dunkel, frostig. Der Abend. Die Nacht.
Auf dem Platz Feuer, Rauch, die Rufe der Wachen, die Geschütze, deren Läufe nach allen Richtungen starren, die Sperrketten der Wachen, die Patrouillen, die Bajonettreihen der Kosaken, der fahle Glanz der nackten Kavalleriesäbel, das rote Knistern der brennenden Holzklötze, an denen sich die Soldaten wärmen, die Gewehrpyramiden.
Nacht.
Durchschossene Mauern, ausgeschlagene Fensterrahmen in der ganzen Galernaja-Straße, Flüstern und leises Rumoren in den ersten Etagen der umliegenden Häuser, Gewehrkolben, die auf Menschen niedersausen, leises, unterdrücktes Stöhnen der Verwundeten.
Nacht.
Die mit Blut fächerartig bespritzten Senatsmauern. Leichen. In Haufen, einzeln, schwarz, blutig. Mit Bastdecken verhüllte Wagen, von denen Blut heruntertropft. Auf der Newa vom Isaakplatz bis zur Kunstakademie eine lautlose Arbeit: Leichen werden in die engen Eislöcher gestoßen. Mitten unter den Toten stöhnt es. Zusammen mit den Toten werden Verwundete in die engen Eislöcher gestoßen. Lautlose Arbeit. Flüstern. Scharren. Die Polizisten ziehn den Toten und Verwundeten die Kleider ab, reißen ihnen die Ringe von den Fingern, untersuchen die Taschen.
Die Toten und die Verwundeten werden fest an das Eis anwachsen. Im Winter wird man dann das Eis hacken und in den durchsichtigen, bläulichen Eisblöcken Menschenköpfe, Arme und Beine finden. So bis zum Frühling.
Im Frühling wird das Eis zum Meere treiben. Und das Wasser wird die Toten ins Meer tragen. – Der Peterplatz ist wie ein geharktes, gepflügtes, verlassenes Feld. Fremde Menschen irren darüber hin wie dunkle Vögel.