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Nikolaj Iwanowitsch Gretsch hatte heute einen unruhigen Tag. Wer wird siegen? Siegt Rylejew, dann wird die Freundschaft mit Maxim Jakowlewitsch von Fock eine teure Angelegenheit werden. Siegt der Zar, na, da kann er was erleben wegen seines tollen Liberalismus! Was hatte er für Reden geschwungen in Versammlungen! Was wurde nicht alles im Dezember in seiner Druckerei gedruckt!
Nikolaj Iwanowitsch ging auf den Admiralitätsplatz, stand dort eine Weile, betrachtete die berittene Garde, ging einmal an Nikolais Suite vorbei und machte schleunigst kehrt, als er Jakubowitsch sah. Sobald es für ihn feststand, daß alles auf dem Platz zu Ende war, fuhr er zu Maxim Jakowlewitsch von Vock. Dieser war gerade im Begriff, in Geschäften auszugehn. Er betrachtete den sehr nervösen Nikolaj Iwanowitsch und meinte wohlwollend:
»Also, mein guter Nikolaj Iwanowitsch, Ihre Freunde, die Literaten, haben sich heute, wie mir scheint, bemerkbar gemacht? Sie haben aber die Prüfung nicht bestanden, was?«
Er war bei bester Laune. Nicht bloß Nikolaj Iwanowitschs Freunde, sondern auch seine eigenen Rivalen waren heute bei der Prüfung durchgefallen: Miloradowitschs Geheimpolizei hatte sich blamiert, und den Miloradowitsch selbst hatte man um die Ecke gebracht. Großartige Aussichten öffneten sich vor ihm. Belohnungen und Auszeichnungen winkten.
Deshalb lächelte er Nikolaj Iwanowitsch aufmunternd zu:
»Beunruhigen Sie sich nicht, bester Nikolaj Iwanowitsch. Die Regierung wird zwischen dem unschuldigen Liberalismus eines reifen Mannes und dem Jakobinertum böswilliger Menschen unterscheiden können. Fahren Sie nach Hause und beruhigen Sie Ihre werte Gattin.«
Maxim Jakowlewitsch wirkte so imposant in seiner neuen Uniform (er hatte sie den ganzen Tag nicht ausgezogen), daß Nikolaj Iwanowitsch erleichtert aufatmete. Tatsächlich: Die Regierung wird doch wohl noch unterscheiden können zwischen einem reifen Mann, einem Familienvater, der Maxim Jakowlewitsch persönlich kennt, und diesen – tollen Desperados …
Beruhigt fuhr er nach Hause.
Aber noch am gleichen Abend gab es neue Unruhe. Sein Diener rüttelte ihn aus dem Schlaf und sagte mit gebrochener Stimme:
»Sie sind da, Nikolaj Iwanowitsch. Die Dragoner und Gendarmen sind da.«
Nikolaj Iwanowitsch ging in den Salon.
Dort stand Schulgin, der Polizeimeister von Petersburg, ein Hüne mit üppigen Koteletts. Zusammen mit ihm eine ganze Abteilung Wachtmeister, Gendarmen und Dragoner. Die gesamte Heilige Hermandad hatte sich im Salon eingefunden.
Nikolaj Iwanowitsch machte einen Kratzfuß. Schulgin sagte:
»Beantworten Sie diese Fragen.«
Er reichte ihm ein Papier. In schräger, deutlicher Bleistiftschrift stand darauf: Wo wohnt Küchelbecker? Wo wohnt Kachowski? Neben Kachowskis Namen stand in Klammern, mit anderen, zittrigen Buchstaben geschrieben: An der Wosnessenskibrücke, im Hotel Neapel, im Hause Mussard.
Nikolaj Iwanowitsch wußte genau, wo Wilhelm wohnte. Doch er legte die Stirn in Falten, führte mit rhetorischer Bewegung die rechte Hand ans Kinn, dachte eine Zeitlang nach und sagte dann langsam:
»Soviel ich weiß, wohnt Küchelbecker hier in der Nähe, im Haus Bulatow. Kachowskis Adresse steht schon hier. Ob sie stimmt, weiß ich nicht.«
»Stimmt das mit Küchelbecker?«
»Jawohl.«
Schulgin trat nahe an ihn heran:
»Schauen Sie nur hin! Wissen Sie, wer das geschrieben hat? – Der Zar in eigener Person! Sie bürgen mit ihrem Kopf für die Richtigkeit Ihrer Angabe.«
»Vorwärts!« kommandierte Schulgin. »Zu Bulatow!«
Die Gendarmen gingen hinaus. Nikolaj Iwanowitsch schleppte sich langsam in sein Schlafzimmer zurück.
Am Nachmittag verlor Faddej Wenediktowitsch Bulgarin gänzlich den Kopf. Er nahm eine Schlittendroschke und klapperte alle seine Bekannten ab. Der Kutscher, den er erwischt hatte, war ein wortkarger Mann. Die Stadt menschenleer und still. In der Ferne, auf der Eremitagebrücke, sah er Truppen. Zu seiner eigenen Überraschung fragte er den Kutscher: »Sag mal, Bruder, können wir nicht zum Peterplatz durchkommen?«
Der Kutscher schüttelte den Kopf:
»Unmöglich, gnädiger Herr. Dort geht alles drunter und drüber. Dort stehn Kanonen und Soldaten.«
Faddej kicherte sinnlos:
»Weshalb denn?«
»Das ist doch klar. Sie waschen das Blut ab. Sie schütten frischen Schnee auf und stampfen ihn fest!«
»Hat es denn viel Blut gegeben?« fragte Faddej mit zitternder Stimme.
Der Kutscher schwieg eine Zeitlang.
»Es muß viel Blut gewesen sein, wenn sie die Leichen in Eislöcher stoßen.«
Faddej sah sich um.
»Freund, fahr mich zur Blauen Brücke,« sagte er bittend, als ob er eine Ablehnung erwarte.
Vor dem Hause der Russisch-Amerikanischen Kompagnie stieg er aus, bezahlte nervös den Kutscher und stürmte die bekannte Treppe hinauf.
Soll ich hinein oder nicht? dachte er. Blöder Einfall! Zurück! Schnell zurück! Wozu bin ich bloß hergekommen?
Er zog an der Klingel.
Ein Diener, blaß, mit erschrockenen Augen, machte die Tür auf.
Mit kleinen Schrittchen, die Hände reibend, trat Faddej ins Eßzimmer. Am Tisch saßen Rylejew, Steinhell und noch drei Menschen. Sie unterhielten sich leise und tranken Tee. Faddej nickte rasch, lächelte schuldbewußt und trat an den Tisch. Er gab keinem die Hand, fand dann einen freien Stuhl und wollte sich schon auf den äußersten Rand setzen.
Da stand Rylejew träge auf, ging um den Tisch herum und faßte ihn am Arm:
»Du hast hier nichts zu suchen, Faddej,« sagte er langsam. Dann sah er ihn an und lächelte: »Du bleibst schon am Leben.«
Dann führte er ihn am Arm aus dem Zimmer und schloß die Tür.
Auf der Straße war er ganz niedergeschlagen:
Ich hin verloren! Bei Gott, ich bin verloren!
Er rannte die Straße entlang. Dann blieb er stehn:
Nein! Laufen ist nicht gut. Schnell nach Haus!
Keuchend erreichte er die Wohnung, wickelte sich in einen Schlafrock, legte sich hin, erwärmte sich allmählich und schlief ein.
Um zwei Uhr nachts erwachte er und sah über sich ein unbekanntes, schnurrbärtiges Gesicht.
Er richtete sich auf. Ein Gendarm stand vor ihm. In der Tür die Schwiegermutter, die »Tante«. Sie sah ihn majestätisch an: Jetzt hatte er endlich durch sein Verhalten erreicht, was er wollte!
Jetzt geht's los, dachte Faddej.
»Ziehen Sie sich unverzüglich an und kommen Sie mit zum Polizeimeister!«
»Sofort!« stammelte Faddej. »Eine Sekunde. Ich fahre sofort mit Ihnen.«
Seine Hände flatterten.
Der Gendarm brachte ihn zum Polizeimeister.
Schulgin saß am Tisch im aufgeknöpften Uniformrock. Vor ihm zwei Gendarmerieoffiziere, die seine Anordnungen entgegennahmen. Faddej verbeugte sich ehrerbietigst. Schulgin nahm keine Notiz von ihm.
Schlimm, dachte Faddej.
Als er die Offiziere entlassen hatte, sah Schulgin ihn aufmerksam an. Dann lächelte er:
»Nehmen Sie Platz.« Er zeigte auf einen Stuhl. »Warum so nervös? Was haben Sie?« Er lachte. Faddej merkte, daß er leicht angeheitert war.
»Nichts, Euer Exzellenz,« sagte er und faßte ein wenig Mut.
»Kennen Sie den Kollegienassessor Karl Iwanowitsch Küchelbecker?« Schulgins Blick bohrte sich in sein Gesicht.
»Küchelbecker? … Ich?« stammelte Faddej. (Ich bin verloren! fuhr es ihm durch den Kopf.) »Von der Literatur her. Einzig und allein von der Literatur her. Sonst stand ich in keinerlei Beziehungen zu dieser Person. Ich kann wohl sagen, unser Verhältnis war sehr gespannt.«
»Meinetwegen von der Literatur her,« sagte Schulgin. »Sie werden ihn aber doch wohl persönlich kennen?«
Faddej ging allmählich ein Licht auf.
»Ich kenne ihn persönlich.«
»Können Sie sein Äußeres beschreiben?«
»Jawohl.«
»Schreiben Sie.« Er schob ihm eine Feder, Tinte und Papier hin. »Schreiben Sie ausführlich sein Signalement auf.«
»Küchelbecker, Wilhelm Karlowitsch, Kollegienassessor,« schrieb Faddej. »Lang, hager, Augen vorquellend, Haar braun …« Er überlegte; er erinnerte sich, daß er heute morgen bei Gretsch mit Wilhelm gesprochen hatte … »Verzieht beim Sprechen den Mund …« Faddej bemerkte Schulgins üppige Koteletts. »Keine Koteletts, Bartwuchs spärlich, Haltung schlecht, schiefer Gang …« Wilhelms gedehnte Stimme fiel ihm ein. »Spricht gedehnt, ist hitzig, aufbrausend, von ungezügeltem Wesen …«
Er gab das Blatt zurück. Schulgin las es aufmerksam durch und lächelte schließlich.
»›Hitzig, aufbrausend‹, das gehört nicht mehr zum Signalement. Wie alt ist er denn?«
»An die dreißig. Höchstens dreißig …« Jetzt fühlte er sich schon ziemlich sicher.
Schulgin notierte das.
»Für die Richtigkeit des mitgeteilten Signalements bürgen Sie mit Ihrem Kopf,« sagte er heiser und starrte ihn drohend an.
Faddej legte die Hand aufs Herz:
»Euer Exzellenz,« sagte er aufgeräumt, »Sie können ganz beruhigt sein. Nach diesem Signalement werden Sie ihn unter Hunderten herausfinden. Es ist direkt ein literarisches Werk.«
»Sie können gehn.«
Faddej erhob sich. Er fühlte eine ganze Flut freudiger Untertanengefühle in sich aufsteigen und sagte plötzlich:
»Darf man fragen, wie es Seiner Kaiserlichen Majestät geht?«
»Dem Kaiser geht es gut.« Schulgin nickte. »Sie können gehn.«
Faddej verließ das Zimmer und streckte vor Freude die Zunge heraus.
Was? Unser Brotbäcker! dachte er vergnügt. Der ist wohl geflüchtet. Wozu hätte man sonst von mir sein Signalement verlangt?
In der Ferne rhythmisches Gerassel, als ob Erbsen aus einem Sack in den anderen geschüttet würden: Die Kavallerie rückte ab. Wilhelm war schon weit vom Platz. Er blieb stehn und schaute nachdenklich zurück. Dann kehrte er um und kam schließlich vor das Katharineninstitut. Er zog an der Glocke. Die Pförtnerin machte das Tor auf und betrachtete ihn erstaunt. Erst nach einer Weile erkannte sie ihn. Wilhelm ging zu Tante Breitkopf. Schmutzig, im zerrissenen Frack, stand er mitten in ihrem Zimmer, und das Wasser rann an ihm herunter. Die Tante stand unbeweglich wie ein Monument am Tisch, und ihr Gesicht war blasser als sonst. Dann faßte sie ihn an der Hand und führte ihn in ein Zimmer, wo er sich waschen konnte. Wilhelm tat gehorsam alles, was sie sagte. Als er wieder ins Eßzimmer kam, hatte die Tante ihre Fassung wieder. Sie stellte ihm Kaffee hin, schob die Sahne näher heran, und dann saß sie da, den Kopf in die Hände gestützt und den Blick auf ihn gerichtet. Wilhelm schwieg. Er trank den heißen Kaffee aus, erwärmte sich nach und nach und stand auf, ruhig, fast munter. Er verabschiedete sich. Die Tante tagte leise:
»Willi, armer Junge.«
Sie drückte ihn an ihre majestätische Brust und brach in Tränen aus. Dann begleitete sie ihn bis zum Tor.
Wilhelm schlich durch die Straßen. Alles war still. Kurz vor der Blauen Brücke blieb er einen Augenblick stehn.
Er glaubte an Rylejews Fenstern Licht zu sehen. Plötzlich hörte er Säbelgerassel. Mehrere Gendarmen kamen an ihm vorbei. Rasch ging er weiter, ohne sich umzuschaun. In der Ferne auf dem Platz brannten große Feuer. Er bog schnell in die Seitengasse ein und ging die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.
Semjon öffnete ihm.
»Ist Alexander Iwanowitsch da?« fragte Wilhelm.
»Seine Gnaden sind noch nicht zurückgekehrt.«
Wilhelm setzte sich hin. Zerstreut betrachtete er den Tisch vor ihm und schaute nach dem Fenster. Tisch und Fenster und der Stuhl, auf dem er saß, alles war ihm fremd geworden. Das Zimmer war nicht mehr sein Zimmer. Was tun? Sitzen und warten? – Warten war schlimmer als alles andere. Wilhelm wünschte fast, die Türe wäre aufgegangen und die Gendarmen eingetreten. Nur schnell! – So saß er da, und die Minuten erschienen ihm wie Stunden.
»Semjon,« sagte er unentschlossen, »pack die Sachen.«
Ohne etwas zu sagen und ohne Wilhelm anzusehn, machte Semjon den Schrank auf und begann die Sachen zu packen.
»Ach nein, nein! Was machst du da? Gib mir einfach zwei Hemden!«
Er nahm das Bündel, sah sich um, bemerkte seine Manuskripte, seine Bücher, sah Semjon und nickte ihm zerstreut zu:
»Leb wohl! Verlaß heute noch die Wohnung. Fahre nach Sakup. Borge dir irgendwo Geld. Sag zu keinem Menschen ein Wort.«
Er zog einen alten Pelzrock an, warf den Mantel über und ging zur Tür. Semjon aber ergriff seine Hand:
»Wohin wollen Sie denn so allein, Wilhelm Karlowitsch? Wir haben zusammen gelebt. Lassen Sie uns doch auch zusammen reisen.«
Wilhelm betrachtete ihn einen Augenblick, dann umarmte er ihn, dachte eine Sekunde nach und sagte rasch:
»Dann mach dich schnell fertig. Nimm zwei Hemden für dich.«
Sie gingen bis zur Blauen Brücke. Wilhelm hatte das Gesicht im Pelzkragen verborgen. Zum letzten Male sah er das Haus der Russisch-Amerikanischen Kompagnie an, dann nahmen sie eine Droschke und fuhren nach der Obuchowbrücke.
Dort stiegen sie aus. Mit abgewandtem Gesicht bezahlte Wilhelm den Kutscher, und dann gingen sie zu Fuß die düstere Straße weiter.
Kurz vor der Stadtschranke, in einer dunklen Gasse, blieb Wilhelm plötzlich stehen, riß sich den weißen Wollhut vom Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn:
Die Manuskripte … Was soll aus den Manuskripten, aus all seinen Arbeiten werden? Alles wird verloren gehn! Er schlug die Hände zusammen.
Vielleicht zurückkehren? Auch Sascha noch einmal sehen? Man kann doch nicht so einfach weggehn?
Semjon stand und wartete. Über einer vereisten Pfütze schimmerte eine Laterne.
– Nein. Auch das ist zu Ende. Alles verloren, zerstoben. Unwiderruflich. Vorwärts! –
»Wilhelm Karlowitsch,« sagte Semjon plötzlich, »geht es denn, daß wir die Wohnung so einfach im Stich lassen? Kein Mensch paßt auf die Sachen auf. Sie werden gestohlen!«
»Still. Der Kopf ist mehr wert als jeder Besitz.«
Sie gingen um die Schranke herum und kamen auf die Landstraße, die nach Zarskoje Selo führte. Sie legten fünf Werst zurück. Die Straße war still und dunkel. Manchmal kam ein verspäteter Finne auf seinem polternden Wagen vorbei oder ein Wanderer mit seinem Stock, der sich scheu nach den zwei stummen Männern umsah.
In einem deutschen Dorf mieteten sie einen Bauer, der sie für fünf Rubel an Zarskoje Selo vorbei nach Toschestwino brachte. Als sie an Zarskoje Selo vorbeifuhren, suchten Wilhelms Augen das Lyzeum, doch es war nicht zu unterscheiden im Dunkel. Er schloß die Augen und schlief ein, ohne zu denken, ohne zu fühlen, ohne sich an etwas zu erinnern.
Geheim/Nr. 76.
Den 4. Januar 1826.
An Seine Exzellenz den Generalinspekteur der gesamten Kavallerie, Oberstkommandierenden des Litauischen Spezialkorps, Seine Kaiserliche Hoheit den Statthalter des Königreichs Polen, den Zarewitsch.
Seine Kaiserliche Majestät der Zar geruhen allerhöchst zu befehlen, überall Maßnahmen zwecks Ergreifung des Kollegienassessors Küchelbecker zu treffen. Sollte sich jemand dazu hergeben, denselben zu verbergen, so wird mit ihm nach aller Strenge der Gesetze gegen Personen, die Staatsverbrechern bei der Flucht Vorschub leisten, verfahren. Diesen Kaiserlichen Willen beehre ich mich, Eurer Kaiserlichen Hoheit zu übermitteln und zugleich hinzuzufügen, daß Küchelbecker lang und hager ist; Augen vorquellend, Haar braun; verzieht beim Sprechen den Mund; keine Koteletts, Bartwuchs spärlich; Haltung schlecht, schiefer Gang; spricht gedehnt. Alter: etwa 30 Jahre.
Graf A. I. Tatischtschew, Kriegsminister.
Geheim/Nr. 22. Den 12. Januar. 1826.
An Seine Exzellenz den Herrn Kriegsminister.
Nach Erhalt des Geehrten Eurer Exzellenz vom 4. dieses Monats über die zu treffenden Maßnahmen zwecks Ergreifung des Kollegienassessors Küchelbecker beehre ich mich, zu erwidern, daß ich sogleich nach Bekanntwerden der Flucht des erwähnten Küchelbecker die Verfügung seiner Festnahme erlassen habe für den Fall, daß er in den meiner obersten Verwaltung anvertrauten Gouvernements auftauchen sollte. Nach Erhalt der Mitteilung des Militärgeneralgouverneurs von St. Petersburg betr. den Allerhöchsten Willen Seiner Kaiserlichen Majestät habe ich sofort die mir unterstellten Zivilgouverneure auf die genaueste Befolgung des bezüglich der Angelegenheit ergangenen Allerhöchsten Befehls aufmerksam gemacht. Zugleich mit dieser Mitteilung erlaube ich mir, Eurer Exzellenz ergebenst zu versichern, daß ich stets mit der erforderlichen Aufmerksamkeit und in eigenster Person die notwendigen Maßnahmen zur Ergreifung wichtiger Staatsverbrecher wie überhaupt die unverzügliche und genaueste Befolgung der Allerhöchsten Befehle überwache.
Generalgouverneur von Riga.
General Marquis Paolucci,
Geheim/Nr. 77.
Warschau, den 11. Januar 1826.
An den Chef der 25. Infanteriedivision Generalleutnant und Kavalier Gogel II.
Der Herr Kriegsminister General der Infanterie Tatischtschew teilt mir in einem Schreiben vom 4. Januar mit, daß Seine Kaiserliche Majestät der Zar allerhöchst geruhen, zu befehlen, überall Maßnahmen zwecks Ergreifung des Kollegienassessors Küchelbecker zu treffen und mit denjenigen, die sich dazu hergeben sollten, ihn zu verbergen, nach aller Strenge der Gesetze gegen Personen, die Staatsverbrechern bei der Flucht Vorschub leisten, zu verfahren. Hinzugefügt wird, daß Küchelbecker lang und hager ist; Augen vorquellend, Haar braun; verzieht beim Sprechen den Mund; keine Koteletts, Bartwuchs spärlich; Haltung schlecht, schiefer Gang; spricht gedehnt. Alter: etwa 30 Jahre. In Ausführung des Allerhöchsten Willens Seiner Kaiserlichen Majestät schlage ich Ew. Exzellenz vor, diesen Befehl der Ihnen anvertrauten Division bekanntzugeben, durch strenge Maßnahmen festzustellen, ob besagter Küchelbecker sich bei den Truppen Ihrer Division befindet, und wenn es der Fall sein sollte, ihn sofort festzunehmen und unter strengster Bewachung mit Extrapost hierherzuschaffen.
Seine Kaiserliche Hoheit der Zarewitsch Konstantin,
Generalinspekteur der gesamten Kavallerie,
Oherstkommandierender des Litauischen
Spezialkorps,
Statthalter des Königreichs Polen.
Am Rande:
Am 14. Januar Befehl an alle Brigade- und Divisionskommandeure,
strengste Maßnahmen zwecks
Ergreifung zu treffen.
Gogel II, Generalleutnant.
Ein langer, hagerer Mann mit vorquellenden Augen saß allein an einem Tisch in einem Vorstadtrestaurant. Zerstreut blickte er umher und murmelte:
»Was soll nun aus mir werden? Was soll nun aus mir werden?«
Dann legte er den Kopf in die Hände und fing laut zu weinen an. Im Restaurant war lustiger Betrieb. Eine Zigeunerin sang, und ein finsterer Zigeuner mit langem, schwarzem Schnurrbart spielte Gitarre. Da tauchte am Nebentisch ein kleines, sehr anständig gekleidetes Männchen auf in der Uniform eines Obersten a. D. Lange betrachtete er seinen Nachbar, zog dann ein Papier aus der Tasche, las es durch, steckte es wieder ein und pfiff leise vor sich hin. Dann rief es den Kellner, bezahlte und ging. Nach einer halben Stunde ging auch der lange, hagere Mann schwankend aus dem Restaurant. Draußen packten ihn zwei Männer, warfen ihn in einen Schlitten und rasten mit ihm davon. Der Lange schrie durchdringend:
»Hilfe! Räuber!«
Die zwei hielten ihn an den Händen fest. Einer band ihm hastig ein Taschentuch um den Mund, der andere fesselte mit einem Strick seine Hände. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Lange die beiden an. Der Schlitten hielt. Drei Polizisten der Wache führten ihn in ein Zimmer, gaben ihm einen Stoß und sperrten die Tür ab. Die zwei, die ihn hergeschafft hatten, rieben sich müde die Hände.
»Den haben wir!« meinte der eine zufrieden.
Gleich darauf torkelte der Polizeimeister Tschichatschew herein. Er befahl, dem Gefangenen die Hände loszubinden, und begann das Verhör:
»Ihr Name, Vatersname und Stand?«
»Protassow, Iwan Alexandrowitsch.«
»Lügen Sie nicht!« sagte Tschichatschew streng. »Sie heißen Küchelbecker.«
Der Gefangene schwieg eine Sekunde.
»Wie?« fragte er dann.
»Küchelbecker, Wilhelm Karlowitsch, Kollegienassessor,« rief Tschichatschew. »Sie heißen nicht Protassow.«
»Was wollen Sie von mir?« murmelte der Gefangene.
»Geben Sie zu, daß Sie der gesuchte Staatsverbrecher Küchelbecker sind?«
»Wieso Küchelbecker?« Er war sehr erstaunt. »Ich verstehe nicht. Anna Iwanowna hat mir in aller Form einen Korb gegeben. Sie haben mich ergriffen und behaupten, ich sei Küchelbecker. Was soll das alles?«
»Sie machen uns nichts vor. Das Signalement trifft auf Sie zu.«
Er nahm ein Papier und las brummig vor:
»Lang, Augen vorquellend, Haar braun … hm … Haar braun,« wiederholte er.
Der da hatte pechschwarzes Haar.
»Nanu?« rief Tschichatschew verdutzt.
Sein Gefangener schlief im Sessel ein.
»Keine Koteletts …« Tschichatschew betrachtete ihn wieder. Richtig. Keine Koteletts.
Tschichatschew ging ein paar Mal durchs Zimmer.
»Aha!« rief er. »Jetzt hab' ich's! Er hat sich das Haar gefärbt.«
Er rief zwei Gendarmen.
»Wascht dem den Kopf, aber richtig, bis das Haar braun wird,« schärfte er ihnen ein. »Es ist Küchelbecker. Er hat sich gefärbt.«
Sie weckten ihn und führten ihn in eine Zelle. Dort wuschen sie ihm den Kopf und bearbeiteten eine ganze Stunde lang das Haar mit Bürsten. Es blieb schwarz. Tschichatschew hatte selber einen gefärbten Backenbart. Er hatte zu Hause einen Spiritus, den ihm ein deutscher Apotheker gegeben hatte. Mit diesem Spiritus ging die Farbe sehr leicht ab. Sobald der Backenbart verblaßte, wusch er den Rest der alten Farbe mit dem Spiritus ab. Er schrieb einen Zettel für seine Frau:
»Mon ange! Gib dem Überbringer den Spiritus, der in meinem Schränkchen steht. Es ist sehr wichtig, mein Herz. Verwechsle ihn nicht mit was anderem. Er ist in einem geschliffenen Flacon.«
Jetzt wuschen sie dem Gefangenen den Kopf mit Spiritus.
Aber er blieb schwarz.
Daraufhin ließ der einigermaßen verblüffte Tschichatschew durch einen Gendarmen Nikolaj Iwanowitsch Gretsch holen. Nikolaj Iwanowitsch galt als Küchelbecker-Spezialist.
Als Gretsch eintrat, machte der Polizeimeister gerade einen tüchtigen Schluck Rum und sagte ziemlich höflich:
»Ich möchte in einer bestimmten Angelegenheit Ihre Meinung hören. Sie müssen aber auf Ehre und Gewissen und unter Eid die vollste Wahrheit sagen!«
»Exzellenz werden von mir die volle Wahrheit hören,« sagte Nikolaj Iwanowitsch Gretsch mit leichter Verbeugung.
»Kennen Sie Küchelbecker?«
»Leider,« seufzte Nikolaj Iwanowitsch. »Literarische Angelegenheiten zwangen mich zu dem Verkehr.«
»So. Erinnern Sie sich an sein Äußeres?«
»Natürlich, Exzellenz.«
Tschichatschew führte ihn ins Nebenzimmer. Auf dem Sofa lag ein langer, schwarzer Mensch und starrte mit wilden Augen zur Decke. Traurig betrachtete Tschichatschew den schwarzen Kopf.
»Wir haben gewaschen und gewaschen. Er wird aber nicht heller.«
»Gewaschen? Wieso denn?« Nikolaj Iwanowitsch wunderte sich sehr.
Tschichatschew machte eine verzweifelte Bewegung.
»Ist das Küchelbecker?«
»Nein.«
»Wer ist es denn?«
»Ich weiß nicht.«
Da sprang der lange Mann auf und jammerte:
»Nikolaj Iwanowitsch, ich bin doch Protassow. Wir haben uns doch bei Wassilij Andrejewitsch Schukowski getroffen!«
Gretsch sah ihn aufmerksam an:
»Ah, Iwan Alexandrowitsch,« sagte er mißvergnügt.
Tschichatschew sah den Gefangenen wütend an: »Warum haben Sie nicht gleich gesagt, daß Sie nicht Küchelbecker heißen?«
Dann winkte er ab und ging hinaus zu seinem Rum. –
In der gleichen Nacht wurden noch fünf Küchelbecker verhaftet: Naryschkins Verwalter und sein Haushofmeister, ein Sohn des Staatsrats Islenjew, dann noch zwei junge deutsche Bäcker.
Sie bekamen den Kopf nicht gewaschen. Tschichatschew ließ jedes Mal sofort Nikolaj Iwanowitsch Gretsch holen, der sich im Lauf der Woche allmählich an diese Arbeit gewöhnte.
In der Walujew-Schenke saß ein Bauer und trank seinen Tee, eine Tasse nach der anderen. Seine riesige Lammfellmütze mit dem schwarzen Oberteil hatte er auf den Tisch gelegt. Er troff von Schweiß und leerte bereits die dritte Teekanne, doch er hörte nicht auf, den Zucker abzubeißen und auf die Tasse zu pusten, und zwinkerte zwischendurch der dicken Magd im bunten Sarafan zu, die zwischen den Tischen hin- und herrannte. Es waren nur wenig Gäste da, und der Bauer langweilte sich. In einer Ecke saßen Reisende: ein langer, hagerer Mensch in weißem Wollhut und ein anderer, ein junger, blonder. Gierig aßen und tranken sie. Der Bauer schaute den Langen mit Interesse an:
Ein Herr? … Oder ein herrschaftlicher Diener? Vielleicht ein Gutsverwalter? überlegte er.
Auch der Lange betrachtete den Bauer aufmerksam, weniger wegen der Person als wegen der Fellmütze. Der Bauer merkte das, nahm die Mütze vom Tisch, wurde verlegen und setzte sie auf. Aber sie genierte ihn, und er nahm sie gleich wieder ab. Der Lange stieß den Blonden mit dem Ellbogen an, gab ihm den weißen Hut und zeigte auf den Bauer. Der Blonde ging auf den Bauer zu:
»Heh, Onkel!« sagte er lustig.
Der Bauer stellte die Tasse auf den Tisch.
»Onkel tauschen wir die Hüte! Ich geb dir den weißen, du gibst mir den schwarzen.«
Mißtrauisch sah der Bauer den weißen Hut an.
»Hab ich's nötig? Meine Mütze ist mir gut genug … Ich brauch deinen Hut nicht.«
»Hör doch auf, Onkel. Das ist ein teurer Hut aus der Stadt. Kannst ihn am Feiertag im Dorf tragen.«
»Am Feiertag? Was soll ich aber am Wochentag damit? Die Nachbarn lachen mich bloß aus!«
»Ach was!« sagte der Blonde resolut, nahm die Mütze vom Tisch und brachte sie dem Langen.
Der setzte sie auf, lächelte, schob sie mit der Hand zurecht, bezahlte, und beide gingen hinaus. –
Sie sausten schon längst in ihrem bastbeschlagenen Wägelchen über die schlechte Landstraße, als der Bauer noch immer den weißen Hut von allen Seiten prüfte, ihn immer wieder auf den Tisch legte und sich den Kopf zerbrach, wozu der Lange es wohl nötig gehabt hatte, drei Kopeken gegen eine, einen schönen, weißen Wollhut gegen eine einfache, schwarze Lammfellmütze zu tauschen.
Am Silvesterabend kam Wilhelm in die Gegend von Sakup. Es war die gleiche Landstraße, auf der er einst mit Dunja geritten war. Jetzt lag sie begraben unter Schnee, und die Felder ringsum waren leer. Bis Sakup waren es zwei, drei Werst. Er mußte noch durch das große Dorf Sagussino. Dort kannte ihn jeder Mensch. Dort wohnte sein alter Freund Iwan Letoschnikow. Wilhelm machte halt in dem Dorf, um ein wenig zu rasten, Tee zu trinken und zu erfahren, was es in Sakup gebe.
Der Dorfälteste Foma Lukjanow, ein riesiger, grauer Alter, empfing ihn vor seinem Haus, machte eine tiefe Verbeugung und sah ihn aufmerksam mit den klugen, grauen Augen an. Wilhelm fühlte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Er sprang aus dem Wagen und ging ins Haus. Foma folgte ihm langsam. Im Haus hantierte die Alte am Ofen. Sie rührte Teig. Mit strenger Bewegung wies Foma sie aus der Stube.
»Bitte ergebenst, gnädiger Herr,« sagte er und zeigte auf die Bank unter den Heiligenbildern.
»Sind alle gesund?« fragte Wilhelm, ohne ihn anzusehn.
»Gottseidank,« sagte der Alte und streichelte sich den Bart. »Ihre Schwester und Ihre Mutter sind da. Auch Awdotja Timofejewna ist hier zu Besuch. Alles in bester Ordnung.«
Wilhelm fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Dunja hier und die Mutter. Im Nu vergaß er alle seine Befürchtungen.
»Ich danke dir, Foma.« Er sprang auf. »Ich fahre hin. Wo bleibt nur Semjon?« Er wollte zur Tür.
Foma sah ihn mit tiefen Augen an.
»Warum so eilig, gnädiger Herr? Nehmen Sie doch Platz. Passen Sie auf. Ich will Ihnen etwas sagen.«
»Ein Kurier aus Petersburg war hier, um dich zu holen, mit zwei Soldaten! In Sakup haben sie gewartet. Drei Tage fast. Sie sind erst seit vorgestern weg.«
Wilhelm wurde blaß und machte ein paar schnelle Schritte durch die Stube.
»Sie haben wohl die Lust verloren, länger auf dich zu warten. Die Gnädige hat mir befohlen: ›Wenn Wilhelm Karlowitsch kommt, sagen Sie ihm, ein Kurier aus Petersburg ist da gewesen, um ihn zu holen‹.«
»Und jetzt ist er weg? Ganz weg?« fragte Wilhelm.
»Die Burschen haben mir erzählt, daß sie in Duchowschtschina auf dich warten.«
Wilhelm sah sich um wie ein gehetztes Tier. Duchowschtschina war ein Dorf, durch das er mußte, wenn er auf der Landstraße weiter wollte.
»Hör auf mich, gnädiger Herr,« sagte Foma. »Leg deinen Pelzrock ab und iß mit uns. Wir wollen auch Semjon holen. Der ist mit den Pferden wohl schon fertig. Dann wollen wir uns die Sache überlegen. Ich hab schon meinen Jungen nach Sakup geschickt. Der bringt die Nachricht hin.«
Ein glatzköpfiger, bärtiger Alter trat herein. Wilhelm sah ihn scharf an: Es war Iwan Letoschnikow. Wie immer ein wenig angeheitert. Sein Pelzrock zerfetzt.
»Ich wünsche Glück zur Ankunft, Euer Gnaden,« sagte er. »Bist sehr abgefallen.« Er sah Wilhelm ins Gesicht.
Dann sah er, daß Wilhelm einen Bauernpelzrock und eine Bauernmütze anhatte, und wunderte sich:
»Du kleidest dich immer noch gern wie ein Bauer.« Er schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich, daß Wilhelm vor drei Jahren in Sakup mit Vorliebe Bauernkleidung getragen hatte. Wilhelm lächelte:
»Wie geht's, Iwan? Wie lebst du?«
»Ich lebe nicht mehr so recht. Ich lebe bloß sozusagen meine Frist ab. Ich gehöre weder zu den Lebenden noch zu den Toten. Bei euch dort in Petersburg ist es heiß zugegangen, was?« Er zwinkerte ihm zu.
»Ja, sehr heiß,« erwiderte Wilhelm zerstreut und wandte sich halb an Foma, halb an Iwan. »Wie könnte ich bloß meine Mutter sehn?« (Eigentlich dachte er dabei an Dunja.)
»Das läßt sich schon machen. Die Damen machen einen Spazierritt nach dem Wäldchen, und Sie kommen auch dorthin. Sie treffen sich dann. Sie können mit Iwan hinfahren. Nur eins, Herr: Ziehn Sie Ihre Kleider aus. Ich gebe Ihnen richtige Bauernkleider.«
Er rief die Alte ins Haus und befahl ihr:
»Such Kleider für den Herrn zusammen: Pelzrock, Bastschuhe, Hemd und Leinenhose. – Aber schnell!« fügte er hinzu, als er ihr erstauntes Gesicht sah.
Wilhelm zog sich um.
Wenige Minuten später fuhr er mit Iwan auf einem menschenleeren Seitenweg nach dem Wäldchen.
»Mein Lieber,« sagte Iwan. »Diesen Weg kennt kein Mensch. Nicht einmal die Wölfe kennen ihn. Sei ganz ruhig. Es geschieht dir nichts. Den Kurier führen wir an der Nase herum.« (Foma hatte doch geplaudert!).
Im Wäldchen warteten schon Dunja und Ustinjka. Die Mutter hatte man nicht noch mehr aufregen wollen und sie zu Hause gelassen. Einfach, ohne jede Heimlichkeit umarmte Dunja Wilhelm und berührte mit ihren vom Frost gekühlten Lippen Wilhelms Mund. Ustinjka rang die Hände und konnte sich nicht sattsehen an Wilhelm. Dann flüsterte sie ängstlich:
»Hast du einen Paß?«
Wilhelm erwachte:
»Einen Paß? Nein.«
»Hast du Semjon mit?«
»Ja. Er wollte mich nicht allein lassen.«
»Braver Kerl!« sagte Ustinjka, und eine Träne lief über ihre Wange. Sie merkte es nicht. Dann schob sie den Schal auf dem Kopf zurecht und sagte hastig:
»Warte hier mit Dunja. Ich bring dir einen Paß. Ich packe auch ein paar Sachen für die Reise zusammen. Du kannst doch nicht so ohne alles fahren.«
»Pack nichts für mich ein, um Himmels willen! Was soll ich damit?« Er lächelte der Schwester zu. Ustinjka ritt weg. Er blieb mit Dunja allein.
Nach einer halben Stunde kehrte Ustinjka mit einem Paß für Wilhelm und einem Urlaubsschein für Semjon zurück.
»Fahre nach Warschau,« flüsterte sie. »Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Grenze. Vergiß nicht den Namen: Baron Morenheim. Es ist ein Cousin von Mama. Ein sehr einflußreicher Mann, der dich nicht im Stich lassen wird. Behältst du den Namen?«
»Baron Morenheim,« wiederholte Wilhelm gehorsam.
Dunja sah ihn lächelnd an, aber Tränen liefen über ihr Gesicht. So stand sie nun immer vor seiner Erinnerung: mit frostgeröteten Wangen, kühlen Lippen, lachend und weinend.
»Herr, Herr,« sagte Iwan, als sie zurückkehrten, »höre auf mich. Dein Semjon, das ist so 'ne städtische Pflanze. Er hat keine Ahnung von den hiesigen Wegen. Ich bin ein berühmter Kutscher. Ich bin vielleicht zwanzig Jahre lang zwischen Smolensk und Warschau gefahren. Nimm mich lieber mit.«
»Nein, Iwan,« Wilhelm lächelte müde. »Wie willst du in deinem Alter so weit fahren?«
Eintönig ist die Landstraße mit ihren weißen Meilensteinen. Wilhelm schlief zusammengekauert in einer Ecke des Wägelchens und die langen Beine weit ausgestreckt. Semjon betrachtete bald die schneebedeckten Felder, bald nickte er ein, bald drehte er sich um und schaute unter das Wagenverdeck, wo Wilhelms unbewegliches Gesicht wie leblos hin- und herschaukelte. Semjon schüttelte den Kopf, sang leise vor sich hin und munterte die Pferde mit der Peitsche auf. Ustinja Jakowlewna hatte ihnen gute Pferde mitgegeben. Das braune mit dem Fleck auf der Stirn war ruhig und kräftig; das graue etwas faul. Semjon gab ihm von Zeit zu Zeit die Peitsche.
Am Morgen des sechsten Januar, halb besinnungslos von der langen Fahrt, erreichten sie den Schlagbaum, hinter dem das Weichbild von Minsk begann.
Den Kopf tief einziehend trat Wilhelm ins Wachthäuschen und warf sofort den Pelz ab. Am Tisch entzifferte der Soldat mühsam mit den Fingern ein paar zerfetzte Schriftstücke. Neben ihm saß noch ein Militär, im Mantel, mit kleinem, trocknem Mund und galligen Augen, so etwas wie ein Gendarmerieunteroffizier oder ein Polizeikommissar aus der Stadt. Wilhelm warf seinen Paß und Semjons Urlaubsschein auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank. Er streckte die Beine aus und wartete. Er spürte Müdigkeit im ganzen Körper und einen bohrenden Schmerz in der Schulter. Er war schläfrig und dachte gelassen daran, daß der Soldat im nächsten Augenblick seinen Paß lesen und ihn verhören, daß er dem Soldaten darauf irgendeinen Unsinn sagen und einen fremden Namen nennen werde. – Was macht bloß Semjon so lange bei den Pferden? Er hat doch sicher Hunger!
Plötzlich riß er die Augen auf und sah, daß der Militär hinter dem Soldaten stand und aufmerksam, die Augen anstrengend und die Lippen bewegend, den Paß las. Der Soldat schrieb Wilhelms Paß in das Stationsregister ab und buchstabierte jedes einzelne Wort vor sich hin:
»Musketier im Kecksholmer Infanterieregiment, Matwej Prokofjew, Sohn der Sakrewskaja … weißrussisches Gouvernement …, adlig …«
»Sakrewskaja,« wiederholte der andere und warf einen schnellen Blick auf Wilhelm. Wilhelm fühlte, daß er nicht zum ersten Mal ihn so ansah. Sein Herz begann derart zu hämmern, daß er Angst bekam, die anderen könnten es hören. Er senkte die Lider in dem Augenblick, als seine Augen fast denen des Mannes begegneten. Er wußte genau: Alle Einzelheiten seines Gesichtes, alle Einzelheiten seiner Kleidung wurden jetzt betastet, geprüft, abgewogen.
»Wie alt?« fragte der Kommissar leise den Soldaten.
»Der Paß ist in St. Petersburg am 4. November 1812 ausgestellt. Damals alt: 26 Jahre.«
»26 Jahre. Im Jahre 1812.« Der Kommissar überlegte. »Neununddreißig also.« Er musterte Wilhelm von der Seite.
Wilhelm schloß die Augen und stellte sich schlafend. Wegen der Jahre machte er sich keine Sorgen. Mit seinen achtundzwanzig Jahren hatte er schon graue Haare.
Endlich schrieb der Soldat Namen und Stand des früheren Musketiers im Kecksholmer Infanterieregiment, der keine Feldzüge mitgemacht, keinen Heimaturlaub gehabt hatte und nicht vorbestraft war.
»Fertig!«
Wilhelm steckte den Paß in die Brusttasche und stand auf. Der Kommissar schrieb noch etwas am Tisch, wobei er ab und zu einen Blick nach dem Fenster warf, durch das man Semjon sehen konnte; er laborierte am Achsennagel des Wagens herum.
Wilhelm trat gebückt hinaus – immer noch fühlte er die Augen an sich herumtasten – und stieg in den Wagen. Der Wachtsoldat zog den Schlagbaum hoch.
»Jetzt schnell!« sagte Wilhelm leise zu Semjon.
Der Soldat sah ihnen nach und ging zum Hause zurück. Am Eingang erwartete ihn schon der Kommissar.
»Schnell anspannen!« rief er und machte eine rasende Bewegung mit der kleinen, gelben Hand. »Sofort anspannen!« Er griff in die Seitentasche und las hastig ein eng beschriebenes Blatt durch.
Fünf Minuten später jagte er in die Stadt. Er hatte ein Papier in der Tasche mit dem genauesten Signalement des Reisenden.
Am Abend des gleichen Tages, als Wilhelm auf seinem Wagensitz in schwerem Schlummer lag, weckte ihn lautes Sprechen Semjons.
»Wilhelm Karlowitsch, wachen Sie auf! Da stimmt was nicht. Berittene sind hinter uns her!«
Wilhelm erwachte nicht gleich. Er sah im Schlaf irgendwelche Fetzen von Bildern, Gesichtern: Ein kleiner, schwarzer Mann mit einer Habichtsnase, Rittmeister Rautenfeld oder Rosenberg, sprach etwas mit einem Mann, der eine weiße Feder auf dem Hut hatte. Wilhelm erriet, daß man von ihm sprach.
»Berittene!« sagte der Rittmeister. »Wachen Sie auf!«
Der Wagen machte einen Ruck an einer holprigen Stelle. Wilhelm sprang in die Höhe und wachte auf.
»Wo?« fragte er, ohne zu verstehn, was los war.
Semjon zeigte mit der Peitsche nach rückwärts, nach links. Wilhelm streckte den Kopf aus dem Wagen und wurde endgültig wach. Weit hinten, an der Straßenbiegung, galoppierten ihnen drei Reiter nach. Sie waren noch weit, ihre Gesichter und Kleidung noch nicht zu unterscheiden.
»Schnell!« rief er leise. »So schnell, wie du kannst!«
Semjon schrie die Pferde an, schlug sie mit der Peitsche, und der Wagen ratterte dahin. Bald kam der Rand eines Waldes und ein Haus in Sicht.
Die Pferde rasten.
Im Herbst 1825 hatte man gerade begonnen, die Minsker Chaussee auszubessern. Die alte Landstraße von Minsk nach Wilna taugte schon längst nichts mehr. Sie war unterspült und die Mitte der Straße ein richtiger Sumpf. Provisorisch legte man hundert Klafter abseits eine andere Straße an. Aber der Winter kam, und die Arbeit wurde eingestellt. An der betreffenden Stelle teilte sich die Chaussee und ging in zwei Richtungen auseinander. Die eine war unpassierbar. Sie führte nach einem Sumpf.
Wilhelm sah aus dem Wagen.
»Warum fährst du nicht weiter? Los doch, Semjon!«
»Wohin sollen wir denn fahren?« erwiderte Semjon, ohne sich umzudrehn. »Links oder rechts?«
Wilhelm sah sich um. Die Reiter waren nicht zu sehen. Sie wurden von einer Straßenbiegung verdeckt.
Links? Rechts? Wie soll man wissen, welche Richtung die Verfolger nehmen werden? »Links!« rief er.
Der Wagen rollte nach links. Sie kamen an den Sumpf.
Kaum zwanzig Minuten waren vergangen, als die drei Reiter die Stelle erreichten, wo die Chaussee sich teilte.
»Wohin jetzt?« fragte der eine, ein untersetzter Mann in Polizeiuniform, der ungeschickt im Sattel saß. »Es ist kaum anzunehmen, daß sie den alten Weg genommen haben.«
»Wie soll man das wissen?« erwiderte der andere, ein Militär mit dünnen Lippen und bösen Augen. Er überlegte.
»Sykin,« rief er dann und zügelte das ungeduldige Pferd. Der Soldat richtete sich stramm im Sattel auf. »Sykin, reite links! Hast du die Pistole mit?«
»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!« Der Soldat gab dem Pferd die Sporen.
Der Weg ging nicht weiter. Vor ihnen breitete sich ein unpassierbarer, mit dünner Eiskruste bedeckter Sumpf. Die müde gehetzten Pferde keuchten schnarrend, trabten nur noch langsam und fuhren bloß zusammen, wenn ein Peitschenhieb sie traf.
»Wenn man sie wenigstens hinter die Bäume bringen könnte!« bemerkte Semjon düster.
»Wo sind Bäume?« fragte Wilhelm und sah sich um. Abseits, rechts von der Straße standen zwei Reihen schwarzer, nackter Bäume.
Er sprang aus dem Wagen. Semjon stieg vom Bock und führte die Pferde am Zügel, während Wilhelm den Wagen von hinten schob. Mit vieler Mühe erreichten sie die Bäume. Sie suchten eine möglichst geschützte Stelle, legten den Wagen auf die Seite und banden die Pferde fest. Dann versteckten sie sich hinter dem Wagen und warteten. Die Bäume standen etwa zweihundert Schritt von der Stelle, wo der Weg ganz aufhörte.
Nach zehn Minuten hörten sie Pferdegetrampel. Ein Reiter erschien. Aufmerksam betrachtete er die Wagenspuren und sprang vom Pferd. Deutlich konnte Wilhelm sein mageres, blauäugiges Gesicht erkennen. Der Soldat blieb stehen, holte den Tabakbeutel aus der Tasche und steckte sich eine Zigarette an.
Nachdem er das getan hatte, betrachtete er noch einmal die Furchen im Schnee und machte ein ratloses Gesicht. Wilhelm kauerte sich hinter dem Wagen zusammen und hörte neben sich Semjons lauten Atem.
»Mein Gott, wenn die Pferde bloß nicht zu wiehern anfangen!« dachte er. Die Pferde rührten sich nicht. Semjon spähte über den Wagen hinweg nach dem Soldaten.
Aber dieser stand unbeweglich auf dem gleichen Fleck und konnte sich nicht entschließen, entweder den unbekannten Weg weiterzuverfolgen oder kehrtzumachen.
Schließlich sah er sich noch einmal nach allen Seiten um, machte eine träge Bewegung mit der Hand, warf den Zigarettenstummel hin, zertrat ihn im Schnee und spuckte aus. Dann stieg er in den Sattel und trabte langsam zurück.
Nr. 146.
Wilna, den 17. Januar 1827.
An Seine Exzellenz den Herrn Kriegsminister.
Anläßlich des in Befolgung des Allerhöchsten Befehls Seiner Kaiserlichen Majestät unter Nr. 76 hier eingegangenen Schreibens Ihrer Exzellenz vom 4. Januar dieses Jahres habe ich am 12. dieses Monats an die Zivilgouverneure von Wilna und Grodno die Verfügung ergehen lassen, an Hand des mir übermittelten Signalements genaueste Nachforschungen anzustellen zwecks Auffindung und Festnahme des flüchtigen Meuterers Kollegienassessors Küchelbecker, der an den Vorkommnissen des 14. Dezember 1825 beteiligt war, item die allerorten zu verbreitende Bekanntmachung, daß, wer ihm auf der Flucht Beihilfe leistet, der ganzen Strenge der Gesetze wegen Beihilfe zur Flucht von Staatsverbrechern verfallen ist. Gestern um 6 Uhr abends erhielt ich durch besonderen Kurier des Zivilgouverneurs von Minsk unter Nr. 466 ein Schreiben vom 15. Januar, worin mir mitgeteilt wird, daß zwei Personen, auf deren eine das Signalement des Küchelbecker paßt, unlängst auf der Wilnaer Chaussee durch Minsk gekommen sind; weswegen er, der Gouverneur, zu ihrer Verfolgung den Minsker Polizeikommissar Bobrowitsch ausgeschickt hat, der bis nach Wilna und nötigenfalls auch weiter ihre Spur verfolgen soll. Unter Beifügung der genauen Beschreibung aller Merkmale besagter zwei Personen bezüglich Kleidung, Schuhwerk, Pferde und Wagen bittet er um weitere Maßnahmen meinerseits zwecks Unterstützung seines Beamten.
Nach Ankunft in Wilna überreicht mir der erwähnte Polizeikommissar Bobrowitsch die Meldung, daß er auf der Chaussee Minsk-Wilna die Spur besagter zwei Personen nicht auffinden konnte. Weshalb der Zivilgouverneur von Wilna am 16. durch Eilkuriere an alle Landschaftspolizeivorsteher die Verfügung erlassen hat, auf allen Straßen zwischen Wilna und der Grenze nach besagten zwei Personen zu fahnden und sie im Fall ihres Auftauchens oder ihrer Entdeckung festzunehmen. In diesem Zusammenhang ist von Seiten des Vorstehers des Zollbezirks von Kowno, ebenso von meiner Seite am selben Datum durch Kurier dem Zivilgouverneur von Grodno die genaue Beschreibung des Wagens, der Kleidung und des Schuhwerks (die mir der Gouverneur von Minsk übermittelt hat) zugegangen, samt der Verfügung, allen Landschaftspolizeivorstehern, besonders in den Grenzbezirken, und dem Stadtoberhaupt von Brest durch Eilkurier zu befehlen, besagte zwei Personen im Fall ihres Auftauchens im Bezirk oder an der Grenze des Gouvernements Grodno an Hand der Merkmale des bereits mitgeteilten Signalements oder womöglich neuer Merkmale zu ergreifen, in Ketten zu legen und unter strengste Bewachung zu stellen. Sollte hingegen bekannt werden, daß sie die Richtung auf das Gouvernement Wolynsk eingeschlagen haben, so soll der Polizeivorsteher die Verfolgung anordnen und besagte zwei Personen nach ihrer Festnahme in Ketten legen und unter strengste Bewachung stellen. Die gleichen Maßnahmen wurden durch die Vorsteher der Zollbezirke Kowno und Grodno den Grenz- und Zollbehörden anempfohlen. Unter gleichem Datum überreicht mir der Gouverneur von Wilna eine Meldung, die ich im Original beilege, wonach ein Polizeibeamter nach dem Ort Polangen geschickt worden ist, nach dessen Rückkehr ich die Ehre haben werde, Ew. Exzellenz über die Ergebnisse zu benachrichtigen.
Der Generalgouverneur von Litauen:
Rimski-Korssakow, General der Infanterie.
Laut vorliegenden Nachrichten über den auf Allerhöchsten Befehl gesuchten Meuterer Kollegienassessor Küchelbecker ist bekannt, daß seine Schwester mit dem Gutsbesitzer Glinka in Smolensk verheiratet ist, bei welcher Schwester er, Küchelbecker, sich aufgehalten und nach Mitnahme zweier Pferde und eines Menschen sich nach Minsk begeben hat. Am 6. oder 7. Januar hat er die Station Juchnowka auf der Chaussee Smolensk–Minsk passiert. Am 10. wurden zwei Personen ähnlichen Signalements beim Passieren der Stadt Minsk gesehen. Von da ab verliert sich ihre Spur. Da aber anzunehmen ist, daß der Verbrecher die Absicht hat, ins Ausland zu gelangen, ist es sehr wahrscheinlich, daß er die Richtung nach Polangen eingeschlagen hat, woselbst er bequeme Gelegenheit zum Grenzübertritt findet, da die Grenze der Aufsicht eines Verwandten seiner Schwester, der oben erwähnten Glinka, unterstellt ist. Die Merkmale, unter denen sich der Verbrecher verbirgt, sind folgende: Zwei Bauernpferde, das eine rötlichbraun mit Fleck auf der Stirn, das andere grau. Mit Bast ausgeschlagener Wagen. Personen: Nr. 1 (wahrscheinlich Küchelbecker): lang, hager, Augen vorquellend, Haar braun, verzieht beim Sprechen den Mund, keine Koteletts, Bartwuchs spärlich, Haltung schlecht, schiefer Gang; spricht gedehnt; Alter: etwa 30 Jahre. Kleidung: Einfacher Bauernpelzrock, darüber ein mit Rips oder ähnlichem Stoff überzogener, gelblichgrüner Mantel; um den Hals großes, gelbes Tuch; Bauernmütze aus schwarzem Lammfell, rund, oben schwarzes Tuch. Nr. 2: mittelgroß. Kleidung: Schlechter Pelz, darüber Mantel aus blauem Tuch, hellgraue Schirmmütze. Beide tragen bald Stiefel, bald Bastschuhe.
Der Polizeimeister von Wilna:
Schlykow.
Von Minsk nach Slonim, von Slonim nach Wengrow, von Wengrow nach Liwo, von Liwo nach Okunjew, an lärmenden Nestern, jüdischen Städtchen, litauischen Dörfern vorbei holperte der mit zwei Pferden bespannte, bastbeschlagene Wagen. Das eine Pferd war rötlichbraun, mit einem weißen Fleck auf der Stirn, das andere grau.
Das graue war sehr mitgenommen, und Wilhelm verkaufte es in Ruschany an einen Zigeuner, der mit Pferden handelte.
Kurz vor Zechanowitzy übernachteten sie in einem Bauerngasthaus. Kaum hatten sie sich hingelegt, als es vorsichtig an das Fenster klopfte. Wilhelm richtete sich auf seiner Bank auf.
»Es klopft,« sagte er leise zu Semjon.
Der Wirt kam.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren.«
Drei junge Juden traten in die Stube. Ihnen folgte ein älterer.
Sie nahmen Platz und unterhielten sich.
Wilhelm verstand ihr Gespräch. Zu seinem Erstaunen sprachen sie einen singenden Dialekt, der an das alte Hochdeutsch erinnerte. Es waren Schmuggler. Wilhelm näherte sich ihnen vorsichtig und sprach sie deutsch an, wobei er sich Mühe gab, die Aussprache möglichst an ihren Dialekt anzupassen.
»Können Sie mich nicht über die Grenze bringen?«
Sie sahen ihn aufmerksam an und verständigten sich mit einem Blick. Der Ältere sagte:
»Das kostet zweitausend Zloty.«
Wilhelm wandte sich ab und setzte sich wieder auf seine Bank. Er besaß bloß die zweihundert Rubel, die Ustinjka ihm gegeben hatte. –
In einem Gasthaus zwischen Orscha und Dubrownaja kamen ihm allerlei Bedenken. Er durfte nicht mehr länger mit Semjon in dem bastbeschlagenen Wagen zusammenbleiben. Er mußte sehen, allein weiterzukommen. Er sah Semjon an:
»Jetzt sind wir genug gefahren, Semjon.«
Der Weg hatte ihn furchtbar müde gemacht, und Semjon glaubte, daß er in dem Gasthaus übernachten wolle.
»Wir können hier bleiben. Es ist doch bald Nacht,« erwiderte er.
»Nein, nicht das,« meinte Wilhelm. »Fahr nach Hause. Hast dich genug mit mir herumgetrieben. Wir können unmöglich weiter zusammen fahren.«
Semjon schwieg.
Wilhelm verlangte beim Wirt Papier und Tinte und setzte sich an den Tisch, um an Ustinjka zu schreiben. Er nahm Abschied von ihr, bat sie, für ihn zu beten und seinen Freund Semjon Balaschow freizugeben. Semjon saß da und schaute ihn finster an.
»Was soll das? Wir waren immer zusammen. Warum sollen wir uns jetzt trennen?« fragte er plötzlich Wilhelm. Seine Stimme klang fast wütend.
Wilhelm lachte traurig.
»So ist das Leben, mein Lieber. Eine Zeitlang ist man zusammen, dann trennt man sich. Sag mal,« erinnerte er sich plötzlich, »hast du auch dein Papier bei dir?«
Semjon griff in die Brusttasche.
»Nein,« sagte er verwirrt, »es ist nicht mehr da. Verloren.«
Wilhelm schlug entsetzt die Hände zusammen:
»Wie willst du denn jetzt nach Hause kommen?«
Er überlegte, holte dann den Paß hervor, den Ustinjka ihm gegeben hatte, und reichte ihn Semjon.
»Da. Nimm das. Ganz egal. Ich komme schon durch.«
Semjon nahm den Paß, blätterte darin mit düsterem Gesicht und sagte entschlossen:
»Nach dem Paß müßte ich neununddreißig Jahre alt sein. Die Mädchen geben mir höchstens zwanzig. Sie können selber den Paß brauchen.«
Semjon war fünfundzwanzig Jahre alt, sah aber viel jugendlicher aus.
»Dann schmeiß ihn weg,« sagte Wilhelm gleichgültig. »Er ist doch nichts mehr wert. Man hat ihn damals genau abgeschrieben, und jetzt kennen ihn alle. Fahre mit Gott. Grüße alle zu Hause. Verlier den Brief nicht. Gib ihn Ustinja Karlowna.«
Er begleitete ihn in den Hof. Semjon setzte sich in den Wagen, schluchzte auf, sprang wieder hinaus, umarmte Wilhelm zärtlich und gab dem Braunen einen Peitschenhieb.
Semjon kam bis nach Ruschany. In Ruschany war Jahrmarkt. Er ging hin, um Umschau zu halten. Er hatte kein Geld und wollte den Braunen und den Wagen verkaufen. Zwei Zigeuner hielten ihn an. Sie handelten lange, schauten dem Pferd ins Maul, beklopften die Beine, untersuchten den Wagen. Endlich kam der Handel zustande, und die zwei gaben ihm zwanzig Silberrubel. Als er aber damit im Gasthaus seine Zeche bezahlen wollte, prüfte der Wirt einen Rubel mit den Zähnen und erklärte gleichgültig:
»Der ist falsch. Den nehm ich nicht.«
Es wurde ihm dunkel vor den Augen. Er raste nach dem Jahrmarkt zurück, fand die Zigeuner wieder und schrie sie an: Sie sollten entweder Wagen und Pferd zurückgeben oder mit richtigem Geld bezahlen! Da kreischte der eine gellend:
»Der will uns falsches Geld andrehn!«
Semjon bekam einen Hieb gegen die Schläfe. Drei Kerle packten ihn an den Händen, und die Schlägerei ging los. Hören und Sehen verging ihm. Dann wurde es plötzlich still, und die Zigeuner liefen davon. Als er die Augen öffnete, sah er zwei Gendarmen vor sich stehn.
Am 19. Januar kam Wilhelm zu Fuß in Warschau an. Er irrte durch die entlegensten Straßen des Vororts Praga und suchte ein billiges Gasthaus. Er fand auch eins, aber direkt daneben drängte sich eine große Menschenmenge um eine Anschlagsäule.
»Es ist u-n-be-din-gte,« buchstabierte; mühselig ein dicker Mann in blauem Überrock, ein Krämer offenbar. Er kam aber nicht weiter und blieb stecken.
»Pflicht,« las er dann endlich und räusperte sich zufrieden.
»Kannst du denn nicht lesen?« fragte ihn einer.
»Unbedingte Pflicht aller Hauswirte.«
Der Krämer sah ihn finster an, sagte:
»Du bist mir ein Gelehrter!« und ging davon
Silbe für Silbe, feierlich las der Kleinbürger die Bekanntmachung vor:
»Den 30. Dezember 1825. Der Oberpolizeimeister von St. Petersburg, Schulgin I.« schloß er voller Bewunderung für den Stil der amtlichen Sprache.
Wilhelm zog den Kopf ein, schlich um die Ecke und wartete, bis die Leute weg waren. Dann ging er zu der Anschlagsäule und las:
Bekanntmachung.
Auf Anordnung der Polizei wird in hiesiger Stadt der Kollegienassessor Küchelbecker gesucht. Derselbe hat folgende Merkmale: lang, hager, Augen vorquellend, Haar braun, verzieht beim Sprechen den Mund, keine Koteletts, Bartwuchs spärlich, Haltung schlecht, schiefer Gang; Alter: etwa 30 Jahre. Es ist unbedingte Pflicht aller Hauswirte und –Verwalter, falls ein Mann mit diesen Merkmalen irgendwo als wohnhaft festgestellt wird oder Unterkunft für die Nacht sucht, ihn unverzüglich der Polizei zu übergeben. Im Falle der Zuwiderhandlung wird mit Personen, die ihn verbergen, nach aller Strenge der Gesetze verfahren.
Der Oberpolizeiminister von St. Petersburg:
Schulgin I.
Wilhelm betrachtete den Anschlag. Sein Name, dessen Buchstaben sich deutlich von dem grauweißen Papier abhoben, erschien ihm fremd. Nur der aufgeregte Schlag seines Herzens sagte ihm, daß er es war, nach dem man fahndete, auf den man Jagd machte.
Er ging weiter.
Er wußte, was er zu tun hatte: Er mußte sofort Jessakow aufsuchen, seinen Lyzeumsfreund, oder den Baron Morenheim, von dem Ustinjka ihm gesprochen hatte. Das war nicht schwer. Doch ein sonderbares Gefühl kam über ihn. Alles war so ungewöhnlich kompliziert. Tausend Kilometer hatte er mit Semjon zurückgelegt; jetzt aber, wo es höchstens noch fünfzehn waren, begann er unschlüssig zu werden. Nicht das machte ihm Angst, daß man einen Steckbrief hinter ihm hergejagt hatte, daß man ihn jeden Augenblick verhaften konnte. Jedesmal, wenn er an ein kleines Dörfchen, an ein Gasthaus gekommen war, hatte er sich darauf gefaßt gemacht, verhaftet zu werden. Das war nicht weiter schlimm gewesen. Was ihm jetzt Angst machte, war der Gedanke, daß er vielleicht in zwei, drei Stunden für immer frei sein werde. Als man ihn verfolgt hatte, war er weggelaufen und hatte sich versteckt. Jetzt aber war die Verfolgung in tausend Atome zersprengt, von denen die ganze Luft zitterte. Er wußte nicht, was er damit anfangen sollte, wie ein Schachspieler, dem sich eine unendliche Zahl von Kombinationen bietet.
Sein ganzes Leben lang hatte er Pech gehabt.
Gab es denn eine Möglichkeit, dem Untergang zu entrinnen?
Wieder dieselbe Bekanntmachung, an der Wand eines Hauses, eines friedlichen Hauses mit hellen Vorhängen an den Fenstern.
In einem Fenster spielte ein Junge mit einem fetten Kater und kitzelte ihn. Der Kater lag auf dem Rücken, kniff die Augen zusammen und haschte nur ab und zu, anstandshalber, mit der Pfote nach dem Jungen. Hingerissen schaute Wilhelm den beiden zu.
Was für ein Blödsinn, dieses lächerliche Signalement, dieses tolle Nebeneinander, sein Name und der irgendeines Polizeibeamten: »Schulgin I.« Er zuckte die Achseln.
Automatisch entfernte er sich von den zwei Bekanntmachungen, den zwei grauweißen Blättern, als ob sie die letzten Reste einer weit hinter ihm gebliebenen Meute wären.
Nach einer halben Stunde verlor er gänzlich den Faden. Der Vorort mit den unrussischen Straßen und Häusern kam ihm bereits wie eine Stadt im Ausland vor. Den ganzen Vorrat an Furcht hatte er während der Reise verausgabt. Neugierig betrachtete er die seltenen Passanten, las die Schilder. Die Gefahr, der Abgrund, der eben noch vor ihm gelegen hatte, alles schien ihm wie in weite Ferne gerückt, alles lag weit zurück, alles war nun überstanden. Der »Küchelbecker« der Bekanntmachung, das war bloß sein Name, nicht er selber, genau so wie Schulgin bloß ein Name war. Manchmal besann er sich, zwang sich zur Furcht, suchte sich klar zu machen, daß er noch in Rußland war, daß er die Grenze noch nicht passiert hatte, daß er erst noch hinüberkommen mußte. Er gab sich alle Mühe, daran zu denken, doch verstehen konnte er es nicht. Sein Gehirn war wie gelähmt … Jeder lesekundige Mensch hätte sich leicht den Dank Schulgins I. erwerben können. Dazu genügte ein einziger Blick auf den langen, hageren Menschen mit den vorquellenden, versonnenen Augen, der ziellos durch den Warschauer Vorort Praga irrte. Auf einem Platz kurz vor dem Grochowskitor begegnete er zwei Uniformierten. Der eine war ein Gardeunteroffizier, nach den Achselschnüren zu urteilen, der andere ein Gemeiner. Der Unteroffizier hatte eine Aktenmappe. Er sah Wilhelm aufmerksam an.
Weg! Weg! Schnell weg! dachte Wilhelm. Trotzdem ging er auf den Unteroffizier zu.
»Würden Sie so freundlich sein, mir zu sagen,« fragte er mit leichter Verbeugung, »ob hier die Gardeartillerie in Garnison liegt?«
Der Unteroffizier sah ihn prüfend an. Der Mann da, der mit Bauernpelz, Pelzrock, Gürtel und Mütze ganz wie ein Bauer gekleidet war, drückte sich auffallend höflich aus!
»N–nein,« sagte er, ohne den Blick von Wilhelm abzuwenden, »die Feldartillerie liegt in der Stadt. Hier das ist Praga. Worum handelt es sich?«
»Ich möchte da einen Offizier besuchen. Er kommandiert eine Batterie. Er heißt Jessakow,« antwortete Wilhelm und staunte selber über seine Gesprächigkeit.
»Ich kann Sie begleiten,« meinte der Unteroffizier mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Verbindlichsten Dank.« Wilhelm sah in die kleinen, grauen Augen.
Weg! Schnell weg!
Ohne sich umzusehn, ging er schnell davon.
Nicht mich umsehn! Nur nicht mich umsehn! – Aber er sah sich um.
Der Unteroffizier stand noch immer mit dem Soldaten auf derselben Stelle und beobachtete, wie Wilhelm mit eingezogenem Kopf den Platz überquerte. Dann sagte er schnell etwas zu dem Soldaten und rief Wilhelm zu:
»Warten Sie!«
Wilhelm ging schleunigst in eine Straße.
Da gab der Unteroffizier dem Soldaten seine Mappe und rannte ihm nach. Er packte Wilhelm an der Hand.
»Halt! Wer bist du?«
Wilhelm blieb stehen. Er sah den Mann an und gab ruhig, fast gelangweilt, die erstbeste Antwort, die ihm einfiel:
»Leibeigener des Barons Morenheim.«
»Du suchst die Feldartillerie, sagst du?« Er sah mit dem sommersprossigen Gesicht ganz nahe in Wilhelms Augen. »Komm mit. Ich bring dich hin.«
Wilhelm sah ihn an und lächelte:
»Machen Sie sich doch keine Mühe. Ich finde selber den Weg in die Stadt.«
Er hörte der eigenen Stimme zu. Sie war dumpf und gedehnt.
»Das macht mir keine Mühe,« sagte der Unteroffizier streng und winkte den Soldaten herbei.
Er empfand keine Angst, nur Langeweile und fast körperlichen Druck. Außerdem auch vielleicht die heimliche Sehnsucht, daß alles bald ein Ende nehme … So oft schon hatte er in Gedanken den Augenblick erlebt, wo er verhaftet wurde, daß ihm alles wie eine Wiederholung, wie eine ungeschickte, grobe Wiederholung erschien.
Er machte ein paar Schritte, um loszukommen. Er wußte, daß das mit zu diesem Augenblick gehörte.
»Halt!« brüllte der Unteroffizier und packte seine Hand.
»Was wollen Sie?« fragte Wilhelm leise. Die Berührung der fremden, harten Hand ekelte ihn. »Lassen Sie mich!«
»Er verzieht den Mund!« rief der Unteroffizier und zog das Seitengewehr.
»Nehmen Sie Ihre Hand weg!« schrie Wilhelm rasend, ohne zu merken, daß er die französische Sprache gebrauchte.
»Halt ihn fest, Waßjka!« Der Unteroffizier sprach bereits mit sachlicher Ruhe. »Das ist der Mann, von dem neulich im Parolebefehl die Rede war.«
Mit irren Augen starrte Wilhelm das sommersprossige Gesicht von der Seite an.
Wie einfach! Und wie schnell!
Nach einer Stunde saß er in einer kahlen Kasematte mit dicken Mauern. Die Tür öffnete sich. Man kam, um ihn zu fesseln.