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Wie kam es nur? Wie kam es, daß er nicht in den Staatsdienst eintrat, daß er sich weder in der Literatur noch sonstwo eine feste Position schuf, sondern bei der kläglichen Journalistenarbeit für Gretsch und Bulgarin landete?
Wie alles andere in Wilhelms Leben kam auch das ganz von selber. Der Almanach, an den er nicht bloß sein ganzes Können, sondern sein Herzblut gewandt hatte, wurde nur von Puschkin, Baratynski und Gribojedow beachtet. Er trug ihm nichts als Beschimpfungen durch die Presse ein, Schulden und die feste Überzeugung, daß man von der wahren Literatur nicht existieren könne. Wilhelm hätte selber nicht genau anzugeben vermocht, wie und wovon er die letzten anderthalb Jahre gelebt hatte. Die ersten sechs Monate nach dem Landaufenthalt hatte er in Moskau zugebracht. Dunjas wegen. Die Begegnungen mit ihr waren kurz und etwas traurig; die Mutter und die Tante hatten sofort die Absichten des gefährlichen jungen Mannes erkannt, der nichts weiter besaß als ein komisches Aussehen und einen schlechten Ruf. Sie behandelten ihn sehr höflich, paßten aber genau und mit Erfolg auf, daß Dunja ja nicht allein mit ihm blieb. Es gelang ihm nicht, in Moskau Fuß zu fassen. Er besuchte öfters den Fürsten Pjotr Andrejewitsch Wjasemski, den er durch die Schroffheit seiner Ansichten in Erstaunen setzte. Mit seinen klugen Augen betrachtete Wjasemski voller Interesse den Sonderling. Er verwendete sich für ihn und suchte ihm die Gründung einer Zeitschrift zu ermöglichen. Bald aber gab er ihn auf. Er sagte zu seinen Bekannten:
»In Moskau ist kein Platz für ihn. Er muß zu essen haben. Hier aber gibt man einem Menschen, der so aussieht wie er, der einen so unseligen, ängstlichen und mißtrauischen Charakter hat wie er, kein Stück Brot.« Und bedauernd fügte er hinzu: »Er hat nichts Liebenswürdiges an sich, aber viele Eigenschaften, um derentwillen er Achtung und Teilnahme verdient.«
So siedelte Wilhelm nach Petersburg über.
Zusammen mit Semjon zog er zu seinem Bruder Mischa in die Offizierskaserne der Gardeequipage. Es blieb ihm keine andere Wahl. Der schweigsame, ernste Mischa war gegen Wilhelm voller Zärtlichkeit. Er verurteilte ihn durchaus nicht. Er wußte genau, daß das Leben eine schwere Sache sei … Zu Mischa kamen öfters Seeleute. Wilhelm unterhielt sich mit ihnen darüber, daß man unmöglich unter den jetzigen Verhältnissen weiterleben könne. Arbusow sagte kurz:
»Warten Sie noch ein wenig. Als Cagliostro bei Ludwig auftauchte, erfand der Arzt Guillotin seine Maschine. Statt des einen Cagliostro haben wir ein ganzes Dutzend Mönche und obendrein noch die Krüdener. Wir werden also ein Dutzend Guillotins bekommen.«
Wilhelm hörte gerne zu. Auch ältere Matrosen besuchten seinen Bruder oft, darunter ein gewisser Dorofejew und einer namens Kuroptjew, schlau und gewandt der eine, der andere untersetzt, selbstzufrieden, auffallend korrekt in seiner Sprechweise. Mit diesen zwei Männern sprach Wilhelm über das Dorfleben. Er frischte seine Erinnerungen an Sakup auf. Kuroptjew war nämlich aus der Smolensker Gegend. Die beiden Matrosen, die fast ständig auf großer Fahrt waren, konnten ihre ländliche Heimat nicht vergessen.
Dunja schrieb ihm kurze, lustige Briefe; sie verlor den Mut nicht. Er hatte immer noch kein Geld, keinerlei gesellschaftliche Stellung oder Aussicht darauf. Eine Zeitlang trug er sich mit der Absicht, zu Puschkin nach Odessa zu fahren. Die gute Vera Wjasemskaja, des Fürsten Pjotr Andrejewitsch Frau, bemitleidete Wilhelm auf echt weibliche Art und bemühte sich, wo sie nur konnte, für ihn. Kein Mensch aber wollte etwas davon hören:
»Was fällt Ihnen ein! Das ist doch der, der im Ausland war und bei Jermolow irgendein Duell hatte! Wir haben an Puschkin gerade genug!«
Das Gespenst der Armut reckte sich vor Wilhelm auf. Ab und zu besuchte Ustinja Jakowlewna ihren Sohn. Sie streichelte ihm mit ihrer seidenweichen, greisenhaften Hand den Kopf und fragte ihn nicht weiter aus. Er wußte: Sie würde wieder einmal ihr altmodisches Kleid anziehn und zu Barklay de Tolly fahren; sie würde wieder von ihrem Sohn sprechen, und alle Welt würde stumm bleiben.
Er begann müde zu werden. Manchmal stieg der Gedanke an Griechenland in ihm auf; aber das alles schien ihm unendlich fern; ihm war, als ob nicht er selber, sondern ein ganz anderer Mensch, ein jüngerer Bruder oder Freund, irgendwohin fliehen wolle. Das Unternehmen erschien ihm undurchführbar.
Im April 1824 starb Byron in Missolunghi und mit ihm zusammen Wilhelms und Puschkins Jugend. Wilhelm schrieb eine Ode auf seinen Tod. Darin gedachte er auch Puschkins und forderte ihn auf, ihm mit Versen zu antworten.
Wer flieht den Schlaf jetzt ganz allein?
Wer wacht allein in dieser Stunde,
Schaut auf die düstre Meeresrunde,
Getaucht in blassen Dämmerschein,
Und lauscht entrückt und erdenferne
Dem leisen Zwiegespräch der Sterne?
Sänger, geliebt im ganzen Land!
Dort, wo Ovid war einst verbannt,
Dort, wo die Ufer wild sich türmen,
Dort hörst du den Euxinus stürmen,
Dort hörst du mit berauschten Sinnen
Die Nacht in Ewigkeit zerrinnen …
Puschkin verließ damals gerade sein Exil im Süden, um von neuem in Gefangenschaft zu gehn, auf sein Gut im Gouvernement Pskow. Er nahm Abschied vom Meere und gedachte ebenfalls in seinen Versen des Sängers, der voll gewesen war vom Geist des Meeres, und ihrer gemeinsamen Jugend. Wilhelm dachte oft an Puschkin. Begegnete er Delwig, dann tauschten sie Erinnerungen aus an das Lyzeum, an Wilhelms Duell mit Puschkin – und lachten viel.
Delwig war jetzt in Sophie verliebt und widmete ihr Sonette. Er war heiter, wenn sie freundlich zu ihm war. Sah Wilhelm ihn traurig, so wußte er, daß er sich mit Sophie gezankt hatte. Delwig sprach viel mit ihm über Sophie, aus alter Gewohnheit, wie mit einem Jugendfreund.
Wilhelm besuchte Sophie nicht mehr, sah sie nie und dachte nicht einmal mehr an sie. Bei Delwigs Erzählungen aber konnte er einen gewissen leisen Ärger nicht unterdrücken. Er verstand selber nicht, weshalb er sich eigentlich ärgerte; aber jedes Mal nach Delwigs Besuch blieb er noch lange am Tisch sitzen, und die Tabakasche neben seinen Manuskripten häufte sich zu Bergen.
Eines Tages überreichte Semjon Wilhelm einen schwarzgeränderten Brief. Es war genau wie damals die Anzeige von Sophie Dmitrijewna Ponomarewas Tod.
Wie damals, als Sophie ihn aufziehen wollte, legte er wieder schwarze Kleidung an und ging zu ihr. Wieder stand ein prächtiger Sarg auf einer Erhöhung mitten im Zimmer, und wieder lag Sophie darin. Doch ihr Gesicht war wächsern. Weihrauch füllte das Zimmer, und der Priester sprach Gebete für die Magd Gottes Sophie. Doch so fern fühlte sich jetzt Wilhelm, so weit entrückt all dem, was er einst hier empfunden! Im Sarg lag eine unbekannte Frau. Neben Wilhelm stand heftig schluchzend der rosige Panajew, und Gneditsch, kerzengerade aufgerichtet, betrachtete mit seinem einzigen Auge die Tote wie ein Raubvogel. Neben ihm stöhnte jemand auf. Wilhelm sah Delwig. Er weinte fassungslos, schluchzte laut, hielt dann inne, um die Brille abzunehmen und sie und die Augen zu wischen, und fing dann wieder an zu weinen. Wilhelm faßte den Freund unter und führte ihn hinaus. Dabei sah Delwig ihn zerstreut an und sagte:
»Was, Wilhelm? Hin ist das Leben! Weg! Drollig!«
Um diese Zeit geriet er in die Hände von Nikolaj Iwanowitsch Gretsch und Faddej Wenediktowitsch Bulgarin. Seitdem die beiden eine Zeitschrift herausgaben, waren sie unzertrennlich, wie Minin und Poscharski Zwei russische Volkshelden des 17. Jhdts. Anm. d. Übers. auf dem Denkmal. Stets traten sie zusammen auf: Gretsch, ein vorsichtiges, hageres Männlein mit gelblichem Gesicht, und Bulgarin, rotwangig, fleischig, mit vollen Lippen. Sie trauten sich gegenseitig nicht über den Weg. Bulgarin machte kein Hehl aus seinem Mißtrauen; den Kopf zur Seite gewandt und die Hand aufs Herz gepreßt, sagte er öfters:
»Nikolaj Iwanowitsch ist eine durchtriebene Kanaille. Er würde mich für eine Prise Tabak verraten und verkaufen.«
Gretsch trieb es nicht besser. Wenn es Schwierigkeiten mit der Zeitschrift gab, faßte er geheimnisvoll den Gesprächspartner am Rockknopf und sagte leise:
»Das ist alles Faddej Bulgarin. Hat der denn bei seiner Unbildung Verständnis für literarische Finessen? Aber was wollen Sie, ich muß mit ihm zusammen arbeiten! Ich bin Familienvater.«
Seine Augen blickten scharf hinter der Brille hervor. Der Familienvater war ein guter Menschenkenner. Er durchschaute die Leute sofort, und entweder trennte er sich dann völlig von ihnen, oder aber er begann, ihnen den Hof zu machen, und bevor sie sich umsahen, waren sie ihm irgendwie zu Dank verpflichtet. Edelmütig machte dann Nikolaj Iwanowitsch eine abwehrende Bewegung:
»Aber ich bitte Sie! Das ist doch eine Kleinigkeit!«
Doch die Kleinigkeit wurde nicht vergessen. Nach einem Jahr stak so ein brauchbarer Mann bei ihm bis an den Hals in Schulden. Nikolaj Iwanowitsch hatte die Erfahrung gemacht, daß so einer fähig war, Tag und Nacht zu arbeiten.
Nikolaj Iwanowitsch war freiheitlich, sehr freiheitlich sogar. Oft sagte er zu Wilhelm mit geheimnisvollem Blick durch die Hornbrille:
»Ist der ›Sohn des Vaterlandes‹ überhaupt eine Zeitschrift, wie man sie heute braucht? Ich weiß sehr wohl, teurer Wilhelm Karlowitsch, daß heute etwas ganz anderes am Platze wäre. Wenn aber alles sich ändert,« hier senkte er die Stimme, »dann wird auch der ›Sohn des Vaterlandes‹ so werden, wie sich's gehört.«
Nikolaj Iwanowitsch hatte höchst wichtige Beziehungen, aber nicht von allen sprach er gerne. So verschwieg er aus Bescheidenheit seine Bekanntschaft mit dem ehrenwerten Maxim Jakowlewitsch von Fock. Und dieser Maxim Jakowlewitsch war Direktor der Besonderen Kanzlei beim Innenministerium, die nur dem Namen nach eine Abteilung, in Wirklichkeit aber die Geheimpolizei war. Augenblicklich war er in Ungnade. Die geheimen Angelegenheiten bearbeitete Vogel, der Hauptspitzel des Militärgeneralgouverneurs Miloradowitsch. Das waren so Araktschejews Intrigen. Aber Maxim Jakowlewitsch wartete und gab seine Sache nicht verloren. Er stellte die Arbeit nicht ein. Vogel war ein einfacher Mann mit engem Horizont. Maxim Jakowlewitsch wartete; er wartete, bis seine Zeit wieder kommen würde, und setzte auf jeden Fall peinlich genau und aus freien Stücken seine Tätigkeit fort.
Maxim Jakowlewitsch schätzte die russische Literatur sehr. Die russischen Literaten waren eigentlich ausgezeichnete Menschen. Nikolaj Iwanowitsch Gretsch war obendrein noch ein glänzender Plauderer. Oft schloß sich der Staatsmann mit dem verführerischen Nikolaj Iwanowitsch in seinem Arbeitszimmer ein und verschwendete seine Zeit auf Unterhaltungen mit ihm. Die Eigenschaft, die der gutmütige Maxim Jakowlewitsch an dem galligen Herrn besonders schätzte, war die Feinheit seiner literarischen Beobachtungen. Die interessantesten Zusammenhänge, kaum wahrnehmbar für ein gewöhnliches Auge, nahmen in der Unterhaltung der Freunde greifbare Gestalt an. War Nikolaj Iwanowitsch gegangen, dann blieb Maxim Jakowlewitsch noch lange nachdenklich sitzen, und seine wohlgeordneten Mappen bereicherten sich um eine neue Notiz, die eine besondere Registriernummer bekam. Der Name des Kollegienassessors Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker fehlte unter den Notizen nicht.
Doch ohne Faddej Wenediktowitsch Bulgarin hätte der »Sohn des Vaterlandes« nicht bestehen können. Gretsch war innerlich zu unduldsam. Faddej Wenediktowitsch dagegen war gutmütig. Der rotwangige, heiser und laut sprechende, ewig den Schweiß von der Stirn wischende Faddej war ein gemütlicher Kerl. Er wußte so komisch über die »Tante«, seine berühmte Schwiegermutter, zu jammern, daß man ihm nicht zuhören konnte, ohne zu lachen. Er klopfte seinem Zuhörer aufs Knie, kicherte, prustete und sprach ununterbrochen. Er erzählte nie etwas, ohne zu schwindeln, gab das aber offen zu. So viel log er zusammen, daß ihm unversehens auch Wahrheiten entschlüpften. Manche hatten in seiner Nähe das Gefühl fast körperlichen Ekels, als ob sie etwas Glitschiges, etwa eine Qualle berührten. Vor solchen Menschen hatte Bulgarin Angst. Er sah sie mit den blauen, feuchten Augen von der Seite an und war gegen sie von besonders kriecherischer Liebenswürdigkeit. So ging es ihm z.+B. mit Puschkin. Andere dagegen fühlten sich zu ihm hingezogen. Der unsaubere, dicke Mann, ein ehemaliger Verräter (er hatte in Napoleons Armee gedient), ein Mann, der in seiner Jugend gebettelt hatte (er erzählte selber, wie er in seiner Jugend mit ausgestreckter Hand auf den Boulevards um Almosen bat), zog die Menschen an, so wie ein breites, abgefranstes, von Wanzen wimmelndes Sofa, das aber weich ist, einen schlaftrunkenen Reisenden im Gasthaus anzieht. Er war ein Gemisch von Aufrichtigkeit und Lüge, von völliger Würdelosigkeit und Gutmütigkeit; seine Haupteigenschaft aber war sein Leichtsinn. Bulgarins Leichtsinn war unbegrenzt. Einen Freund zu verraten oder zu bestehlen, war eine Kleinigkeit für ihn. Nach einer Stunde hatte er so etwas tatsächlich vergessen. Aus reinem Leichtsinn passierte es ihm manchmal, daß er auch Gutes stiftete. Durch seine Gutmütigkeit gewann er Gribojedow und Rylejew, durch seinen Leichtsinn Wilhelm.
Seltsam: Wilhelm war ein Duellant. Der Tod schreckte ihn nicht. Wiederholt hatte er seinem Ruf als toller Draufgänger Ehre gemacht. Die geringste Beleidigung, die er witterte, brachte ihn in Raserei. Trotzdem befiel ihn Schwäche, sobald Gretsch die kleinen Äuglein in ihn bohrte, oder wenn Bulgarin, mit Speichel um sich spritzend, ihm aufs Knie klopfte. Diesen beiden gegenüber war er machtlos.
Gretsch erschien bei Wilhelm, als diesem die Armut an der Kehle stand. Er tadelte ihn, weil er den Freunden nichts von seiner Lage verraten habe, versprach, ihm Arbeit, Stunden zu verschaffen, und hielt tatsächlich Wort. Dank wies er bescheiden zurück. Bulgarin klopfte Wilhelm aufs Knie, lachte, prustete, und ganz unmerklich kam es so, daß Wilhelm genau so wenig Geld hatte wie vorher, aber für Gretschs und Bulgarins Zeitschrift schwer arbeiten mußte. Ganze Tage saß er über Buchbesprechungen, Korrekturen und Durchsichten. Endlich lud Gretsch ihn ein, zu ihm in die Wohnung zu ziehn. Wilhelm dachte nach, betrachtete seine ärmliche Mönchszelle, wie er sein Zimmer nannte (Gretsch nannte es eine Höhle), beriet sich mit Semjon und willigte ein. Er zog zu Gretsch in die Große Morkaja.
Nikolaj Iwanowitsch nannte seine Wohnung »Familienarche«. Die Arche war sozusagen luxuriös ausgestattet, aber die Hinterzimmer, in denen sich die sieben »reinen Paare« drängten, waren unsauber und lagen unbequem. Der Hausherr hatte eine Leidenschaft für Luxus, aber seine Einrichtung erinnerte an eine mittlere Beamtenwohnung. Er hatte in gewissem Sinn auch eine Leidenschaft für Geld, verstand es aber nicht, sein Geld vernünftig zu verwenden. Seine Familie erinnerte eher an eine Beamten- als an eine Schriftstellerfamilie.
Er hatte zwei Töchter: die ältere, Sophiechen, mit kalten Augen, einer spitzen Zunge, gerissen und lachlustig; die jüngere, Susannchen, ein stilles, mageres Mädchen. Sie hatte Scheu vor Wilhelm und sah ihm ängstlich zu, wenn er aus Zerstreutheit mitten in einem Gespräch die Suppe mit der Gabel löffeln oder das Fleisch mit dem Löffel schneiden wollte. Solche Vorgänge benahmen Sophiechen fast den Atem. So etwas bereitete ihr höchsten Genuß. Wenn Wilhelm in Gedanken versunken beim Tee saß, schob sie ihm heimlich statt der Butter den Senf zu, den Wilhelm in seiner Kurzsichtigkeit dann aufs Brot strich. Wilhelm wurde böse. Sophiechen bekam einen Verweis und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Dort vergrub sie das Gesicht in den Kissen, schüttelte sich vor Lachen und konnte kaum aufhören. Jeden Abend holte sie ein kleines Heft hervor, ihr Tagebuch. Die Eintragungen begannen gewöhnlich mit frommen Betrachtungen über den verflossenen Tag, dann folgten strenge Urteile über Freundinnen, Berichte über Zänkereien zwischen Papa und Mama und treffende Bemerkungen über den sonderbaren Hausgenossen.
Er hatte kein Geld, er genoß kein Ansehen und was das Schlimmste war: Er erstickte fast in diesem Petersburg. Alle lebten gleichsam im luftleeren Raum und warteten auf irgend etwas. Über Rußland herrschten ungebildete Mönche, die sich am liebsten gegenseitig erwürgt hätten; die Zensur ließ keine Verse durch, in denen die Frauen etwa »himmlisch« genannt wurden. Araktschejew forschte scharf mit seinen weißlichen Augen: War da vielleicht einer, der die Ordnung störte? Könnte man die Straßen nicht noch gerader anlegen, nicht noch mehr Gärten beseitigen? Könnte man nicht aus dem unsauberen, ökonomischen Bauern mit seinem schlappen, wiegenden Gang einen Soldaten machen mit Uniform und exaktem Exerzierschritt? Aus den Militärsiedelungen sollte jene neue Opritschina Truppenkontingent, von Iwan dem Schrecklichen zu seinem persönlichen Schutz geschaffen. Anm. d. Übers. entstehen, die nach Araktschejews Plan die bisherige Garde ersetzen sollte. Seit der Meuterei des Semjonow-Regiments war auf die Garde kein Verlaß mehr. Vorläufig aber wurden die neuen Opritschniki zu Tode gepeitscht. Sie machten Marschübungen bis zum Umfallen und führten ein Hungerleben. Keinen Laut hörte man außer Griffeklopfen und Kommandorufen. Kein Gespräch hörte man außer über Gamaschen, Lederzeug, Exerzierschritt. Die Zahl der Schritte, die in einer Minute gemacht werden sollten, war streng festgesetzt; beim Parademarsch hatten es nicht weniger als hundertfünf und nicht mehr als hundertzehn zu sein. Eine Idealstrafordnung wurde geschaffen.
Als Wilhelm einmal an einem Exerzierplatz vorbeiging, beobachtete er eine Exekution. Zwanzig Soldaten wurden wegen irgendeines Vergehens bestraft.
Das Wichtigste dabei war die Ordnung.
Zwei Halbbataillone zu je siebenhundert Mann bildeten zwei mit den Gesichtern einander zugewandte konzentrische Kreise. Jeder Soldat hielt in der Linken das Gewehr bei Fuß, in der Rechten eine Spießrute, eine glatte, biegsame Gerte, eine Klafter lang, genau eine Klafter, keinen Zoll länger oder kürzer. Die unbeweglichen Soldatenreihen mit den Spießruten wirkten wie grauer Stein, aus dem junge, noch nackte Weidenbäume sprossen. In der Mitte stand ein Offizier mit einem Schriftstück in der Hand, rief die Namen auf und verkündete, wievielmal jeder zu laufen hatte. Scharf durchschnitt seine Stimme die Morgenluft. Die ersten fünf Delinquenten streiften die Hemden bis zum Gürtel ab. Ihre Köpfe waren entblößt. Sie wurden hintereinander aufgestellt, die Hände eines jeden an ein aufgepflanztes Bajonett festgebunden. Die Spitze befand sich in Bauchhöhe, so daß der Delinquent nicht nach vorn laufen konnte. Zwei Unteroffiziere zogen ihn am Gewehr vorwärts, so daß auch eine Bewegung nach rückwärts unmöglich war.
Dumpfer Trommelwirbel erscholl und gleich darauf die melodische, klare Stimme einer Flöte. Wilhelm fühlte, daß ihn die Kräfte verließen. Eine Flöte in der unmenschlichen Stille, in den Trommelwirbel hinein!
Wie Automaten unter der Macht des Magnetismus (Wilhelm hatte sie in der Kunstkammer zu Leipzig gesehen) setzten sich die Delinquenten in Bewegung. Sie bewegten sich im Kreise, einer nach dem anderen, unter Trommelwirbel und hellen Flötentönen. Jeder einzelne Soldat in den Reihen machte mit dem rechten Fuß einen Schritt vorwärts, die Spießrute flog in die Höhe, fiel nieder auf den Rücken, der Soldat trat einen Schritt zurück. Alle Bewegungen waren genau abgezirkelt wie das Auf und Ab eines Maschinenhebels. Zum Takte der Musik sausten von beiden Seiten die Spießruten und klatschten auf die Rücken. Nur noch die Stimme der Spießruten, die Stimme der Flöte, der wirbelnden Trommeln war da. Und noch fünf Menschen waren da, die sich durch die grüne Gertengasse bewegten und vor jedem Schlag schrien:
»Erbarmen, Brüder! Brüder, Erbarmen!«
Der Offizier rief neue Namen auf. –
Wilhelm kam wieder zu sich. Er lag halb unter einem Baum am Rand der Straße. Noch wirbelten die Trommeln. Über ihn gebeugt stand ein kleiner, schwarzhaariger Mann, mager, gelb, mit einer Habichtsnase: Ein Italiener? Grieche? Schweizer? Wilhelm fiel der schmutzige Kragen seines Hemdes auf. Solche Menschen trifft man zu Hunderten bei Auktionen, im Theater, in Kneipen, auf den Boulevards.
Er spritzte Wilhelm Wasser ins Gesicht und sagte französisch, aber mit deutschem Akzent:
»Jetzt ist alles in Ordnung. Es geht vorüber. Eine Kleinigkeit.«
Und verschwand.
Als Wilhelm ganz zur Besinnung kam, war der Mann nicht mehr da. Er vergaß ihn sofort. Solchen Gesichtern begegnet man eben hundertfach in Theatern, in Kneipen, auf den Boulevards.
Als er bald danach an die Exekution dachte, wußte er nichts mehr von dem schwarzen Mann. Erst viel später, nach langer Zeit kam ihm die Erinnerung an ihn, aber nur für einen kurzen Augenblick.
Am heftigsten hatte ihn bei der Exekution die Ordnung, die Schönheit, der Rhythmus jeder einzelnen Bewegung erschüttert.
Fiel ihm das ein, dann schrie er auf wie vor körperlichem Schmerz.
Jenen Ismajlow, der einen Menschen von oben bis unten mit Teer beschmiert hatte, konnte Wilhelm nicht hassen. Nur den Drang, ihn zu verprügeln, zu morden, empfand er.
Aber diese schönen, biegsamen Weidengerten, das klangvolle Singen der Flöte, die rhythmischen Bewegungen, das alles haßte er, denn davor hatte er eine Angst, die ihm Zittern in den Beinen und körperliche Übelkeit verursachte.
Nur zwei Menschen wirkten auf Wilhelm beruhigend und vermochten seine Melancholie zu zerstreuen: Rylejew und Sascha Odojewski. Jeder erreichte das auf seine Art.
Sascha Odojewski war ein Verwandter Gribojedows, ein junger Offizier der Leibgarde. Rotwangig, blauäugig sah er in die Welt. Er trug eine elegante Uniform und legte überhaupt großen Wert auf sein Äußeres. Der ganze Mensch brodelte und schäumte über. Nicht eine Minute hielt er es auf einem Fleck aus. Wie bei einem Kinde schwirrten seine Gedanken in völliger Unordnung durcheinander. Er hatte auch das Lachen eines Kindes: Der Mund öffnete sich, die weißen Zähne blitzten, und Grübchen erschienen auf seinen Wangen.
Alles bewunderte er: schönes Wetter, schöne Verse (er selber machte auch welche), schöne Frauen und edle Gedanken. Zu Wilhelm war er zärtlich wie ein junges Kalb.
Sporenklirrend platzte er bei Gretsch herein, begrüßte hastig den Hausherrn, der kein Freund von überflüssigem Lärm und Lachen war, und suchte Wilhelm aufzurütteln.
»Die Eltern werden mich sicher nicht abweisen,« erzählte er Wilhelm. (Sascha war bereit, jedes Mädchen zu heiraten, dem er gerade den Hof machte.) »Ich fahr zu ihren Verwandten, schwatze ihnen allerlei gescheites Zeug vor, klirre mit den Sporen –, mein Lieber, sie werden sich nicht widersetzen.«
Sascha trieb damit bloß Unsinn. Er wußte selber genau, daß es Unsinn war: Nach einer Woche hatte er den geplanten Heiratsantrag vergessen und entwickelte Wilhelm seine literarischen Pläne.
Er hatte einen hellen Kopf, ein feines Ohr. Sein Gefühl für Verse war frauenhaft zart. Er liebte sie auch wie eine Frau. Wenn er Puschkins Verse hörte, wurde er still und traurig.
Er war es, der in Wilhelms Stube etwas frische Luft brachte. –
Öfters ging Wilhelm zu Rylejew. Er wohnte an der Blauen Brücke, im Hause der Russisch-Amerikanischen Handelskompagnie, deren Sekretär er war. Einmal traf Wilhelm den Kaufmann Prokofjew bei ihm, den Direktor der Kompagnie, einen nicht mehr jungen, soliden Mann, der eher an einen Beamten als an einen Kaufmann erinnerte. Während er Wilhelm prüfend betrachtete, sagte er:
»Ach ja, es wäre Zeit, daß sich Mütterchen Rußland ein Beispiel an Amerika nähme. Wir sind um drei Jahrhunderte zurückgeblieben. Wir sind noch ganz primitive Heimarbeiter. Und warum? – Schauen Sie bitte dorthin!« Er zeigte nach dem Fenster.
Wilhelm sah hinaus. Über die Blaue Brücke marschierten Soldaten. Der Schritt war exakt und rhythmisch, die Bewegungen automatenhaft.
»Davon kommt alles,« meinte Prokofjew. »Statt solcher Automaten sollten wir lieber amerikanische Maschinen anschaffen.«
Rylejew trat von einem Fuß auf den anderen, irgendwie unzufrieden. Prokofjew sah ihn flüchtig an und schien verlegen.
»Ich bitte um Verzeihung!« sagte er mit kaufmännischer Verbindlichkeit.
Erstaunt sah Wilhelm Rylejew an:
»Also so denken die Kaufleute heutzutage!«
Aber Rylejew brachte sofort das Gespräch auf die Literatur, auf seinen Almanach »Der Polarstern«. Zusammen mit Bestuschew gab er Almanache heraus. Sie hatten großen Erfolg. Was er auch anfaßte, alles machte er mit Geschick und Glück.
»Du verstehst, Wilhelm,« sagte Rylejew, »unsere Almanache sind ein kommerzielles Unternehmen. Du arbeitest bei Gretsch, und Gretsch wird durch deine Arbeit reich. Die Schriftsteller müssen sich zusammentun, um die geschäftlichen Vorteile ihrer Arbeit selber zu genießen.«
Wilhelm machte ein hilfloses Gesicht. Er hatte absolut keine geschäftlichen Fähigkeiten. Sein Almanach »Mnemosyne« hatte ihm bloß Verluste und Schulden eingebracht. Er war in schwerfälligem Format gehalten, hatte barbarische Bilderbeilagen und war vollgespickt mit philosophischen Aufsätzen, während das Publikum Taschenformat, leichte Verse und unterhaltende Erzählungen mit schnell abrollender Handlung bevorzugte. Nein, das war nicht seine Sache, Almanache herausgeben!
Rylejew liebte Wilhelm. Vielleicht wegen der gleichen Dinge, um derentwillen Bestuschew auf ihn herabsah: wegen seiner Tollheiten, seines Draufgängertums, seiner Heimatlosigkeit und seiner Unbeholfenheit. Rylejew liebte Menschen, die im Leben ihren Platz nicht fanden.
Ungeduldig im Verkehr mit ruhigen Menschen, brachte er Wilhelm stets gleichmäßige Freundlichkeit entgegen.
Ganz verschiedene Menschen verkehrten bei Rylejew. Alexander Bestuschew besuchte ihn öfters. Offizier und Schriftsteller, mit schwarzem Schnurrbart und flammenden Augen. Er war Adjutant des Herzogs von Württemberg. Mit betonter Nachlässigkeit trug er den eleganten Uniformrock, den er im Freundeskreise meistens aufknöpfte. Bald war er schweigsam und hörte aufmerksam zu, bald war er geräuschvoll und machte beißende Witze.
Auch Gretsch, Bulgarin und Puschtschin verkehrten dort.
Eines Abends brachte Rylejew Wilhelm zu Pletnjew, dem schüchternen Literaten, mit dem Puschkin befreundet war. Lowuschka Puschkin sollte ein neues Poem von Alexander, »Die Zigeuner«, vorlesen. Alexander Puschkins Freunde liebten Lowuschka, weil er sie an den in der Ferne weilenden Dichter erinnerte. Sah man aber beide zusammen, dann verschwand die Ähnlichkeit, bis auf das abgehackte Lachen, die weißen Zähne und das krause Haar, die beiden Brüdern gemeinsam waren.
Lowuschka las vortrefflich und ausdrucksvoll, wenn auch ohne jede Deklamation, ohne, wie Gribojedow, zu »heulen« und ohne, wie Puschkin, zu »singen«. Um ihn zum Lesen zu bewegen, mußte man Champagner auftischen. Nicht umsonst wurde er von seinen Freunden »Kotzer« genannt. Er war ein unmäßiger Trinker.
Hatte Lowuschka eine Flasche Champagner geleert, dann ließ er seinen Blick in der Runde schweifen und begann zu lesen. Alles schwieg. Puschtschin lächelte beseligt: Puschkins Gedichte verschafften ihm, ganz unabhängig von ihrem Sinn, einen fast physischen Genuß. Wilhelm saß, die Hand am Ohr, und lauschte hingerissen.
Vor dem zweiten Kapitel nahm Lowuschka einen neuen Schluck Champagner.
Der Leidenschaften wüster Lärm und greller Schall
Dringt auch ins friedliche Nomadenleben.
Die blinden Schicksalsmächte toben überall.
Der Mensch ist schutzlos ihnen preisgegeben.
Zwischen Lachen und Weinen stürmte Wilhelm linkisch auf Lowuschka zu und umarmte ihn.
»Mein Lieber,« murmelte er, »du kannst gar nicht ermessen, was du eben gelesen hast.«
Rylejew lachte und sagte schnell:
»Die Verse sind natürlich Puschkins würdig. Warum läßt er aber einen so erhabenen Helden wie Aleko mit einem Bären herumziehn und betteln? Das versteh ich nicht. Das ist ein gemeiner Zug, unwürdig eines Helden. Sein Charakter wird dadurch herabgedrückt. Hätte er Aleko lieber zum Schmied gemacht! Hammerklang hat immer noch etwas Poetisches.«
»Aber Held ist hier doch gar nicht Aleko, sondern der alte Zigeuner!« Bestuschew lächelte herablassend. »Und die Verse! Was für Verse! Und die Ermordungsszene!«
»Die Verse sind prachtvoll, der Anfang jedoch etwas schwach,« erwiderte Rylejew.
Wilhelm war ganz außer sich.
»Wozu dieses Gerede! Das ist das Schlichteste und Erhabenste, was Alexander je geschrieben hat!«
Mit Tränen in den Augen stand er mitten im Zimmer, linkisch und aufgeregt. Seine Lippen zuckten. Er wiederholte:
Die blinden Schicksalsmächte toben überall.
Der Mensch ist schutzlos ihnen preisgegeben.
Rylejew sah ihn an und lachte wieder leise und zärtlich:
»Ach, Wilhelm Karlowitsch, was bist du doch so herrlich frisch und jung!«
Wilhelm rannte auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch.
Bulgarin trug hastig etwas in ein Heft ein und betrachtete abwechselnd Rylejew, Bestuschew und Küchelbecker.
Sophiechen Gretschs Tagebuch.
7. April 1825.
(Fragmente, die sich auf Wilhelm beziehen.)
Konstantin Pawlowitsch Wahrscheinlich K. P. Besak, ein Vetter von Gretsch, den Sophiechen dann heiratete. Später war er Abteilungsvorsteher im Ministerium des Äußeren. Anm. d. Verfassers. ist entsetzlich komisch. Er kneift einen in die Wange. Kriwzow ist ein Schlingel und Komplimentenmacher. Drängt immer zur Flucht, aber das ist wohl nur Scherz. Papa hat sich neulich lange in sein Zimmer eingesperrt. Am Abend kamen verschiedene Leute. Schriftsteller. Sie sprachen alle sehr laut. Rylejew ist die Hauptperson. Er hat sich im Gespräch so aufgeregt, daß man ihm gar nicht mehr zuhören konnte. Das Scheusal So nannte Sophiechen Wilhelm. Anm. d. Verfassers. Ist so von seinem Sessel aufgesprungen, daß dieser zu Boden krachte. Es gab großen Lärm. Alles lachte. Er aber machte seine Froschaugen und schrie immer weiter, ohne etwas zu merken.
8. April 1825.
Das Scheusal las seine Gedichte vor. Papa warf uns schreckliche Blicke zu. Er aber merkte nichts und las. Papa hörte kaum zu. Als er fertig war, sagte er: »Ach, das haben Sie unvergleichlich gemacht!« Das Scheusal freute sich, Papa aber hatte gar nicht zugehört. Beim Mittagessen versank das Scheusal in Nachdenken, und ich sagte zu ihm: »Monsieur Küchelbecker, warum sind Sie heute so zerstreut?« Er erwiderte: »Merci, madame, ich bin vollkommen satt.« Ich bin fast geplatzt vor Lachen.
10. Juli 1825.
Wir sind in die Sommerwohnung umgezogen. Es ist lustig. Wir werden jeden Tag Musik haben. Das Scheusal mit seinem Diener hat sich mit umquartiert. Wie ein Verrückter rennt er durch die Alleen, hat einen Strauß Ahornblätter gesammelt und ins Wasser gestellt. Den ganzen Tag ist er im Park herumgeirrt, hat mit sich selber gesprochen und mit den Händen gefuchtelt. Papachen sah ihm aus dem Fenster zu und bestaunte ihn. Ich versteh nicht, warum er bei uns wohnt. Papachen sagt, er sei ein nützlicher Mensch.
15. Juli 1825.
Das Scheusal ist für eine Woche in Geschäften mit seinem Diener nach Petersburg gereist. Ich war in seinem Zimmer, habe die Briefe seiner Braut aus dem Tisch genommen und gelesen; manche sind ganz interessant.
17. Juli 1825.
Serge wird zu frech. Er soll gefälligst nicht glauben, daß ich ihn nicht durchschaue. Ich will ihn mit völliger Nichtachtung strafen. Das Scheusal hat einen Skandal im Hause gemacht. Er hat zu Konstantin Pawlowitsch gesagt, daß die Beamten im besten Fall nur bestechlich sind. Da fragte K. P.: »Und im schlimmsten?« – »Im schlimmsten sind sie fähig, einen Menschen zu verkaufen.« K. P. war beleidigt und ging vom Tisch weg. Das Scheusal aber tat, als sei nichts geschehen. Papachen wird wegen seiner Zeitschrift noch alle Welt verscheuchen. Nicht zum Aushalten!
Das Scheusal hat interessanten Besuch bekommen: Baron Delwig und Odojewski, der furchtbar charmant ist. Man sprach und sprach, das nahm kein Ende. Beinahe wäre man gar nicht spazieren gegangen. Wie Odojewski lacht! Ich bin, scheint es, heute in ihn verliebt. Ach, Alexandre, Alexandre!
18. Juli 1825.
Es stellt sich heraus, daß das Scheusal mich noch immer nicht kennt. Gestern sagte er »Susanne« zu mir, und die ist doch erst zehn Jahre alt. Heute traf ich ihn im Park. Er fragte, ob ich schon lange aus Petersburg weg sei. Ich sagte: »Lange.« Darauf er: »Merkwürdig, Maria Alexandrowna, daß wir uns bis heut nie hier begegnet sind!« Er grüßte und ging weiter. Ein Ausbund von Unhöflichkeit! Interessant! Was ist das für eine Maria Alexandrowna?
15. August 1825.
Wir wollen in die Stadt übersiedeln. Abscheuliches Wetter. Es regnet ununterbrochen. Endlich hat sich Papachen mit dem Scheusal gezankt! Wegen Literatur. Man sprach von Katenin und Gribojedow. Papachen kritisierte sie stark. Das Scheusal erblaßte, begann zu zittern und sagte, Papachens Verständnis für Literatur gehe nicht über Karamsin und die Grammatik hinaus. Papachen wurde böse und sagte, es sei vielleicht möglich, daß er über Karamsin hinaus nichts verstehe, das Scheusal aber sei nicht einmal über Derschawin hinausgekommen. Das Scheusal sagte, das sei für ihn das höchste Lob, aber Papachen war sehr böse und sagte heute, man könne nicht weiter mit ihm verkehren. Er sei sogar ein gefährlicher Mensch.
Tante Kathrine meinte, solche Menschen wie das Scheusal würden Papa noch ins Unglück stürzen; vor kurzem habe ihr jemand erzählt, das Scheusal werde auf höheren Befehl aus Petersburg beobachtet. Unheimlich, was für Dinge bei uns im Haus geschehen!
18. August 1826.
Das Scheusal hat uns gestern abend Hoffmanns »Sandmann« vorgelesen. Unheimlich. Er liest gut, wenn auch manchmal stockend und mit singender Stimme. Konnte die ganze Nacht vor Angst nicht einschlafen. Wenn das Scheusal gut gelaunt ist, unterhält er das ganze Haus. Heut hat er viel von seinen Reisen erzählt. Tante Kathrine sagte heute sogar, daß er ein netter Mensch zu sein scheint, wenn er auch verdreht ist.
20. August 1825.
Wir ziehen bald um. Das Wetter ist schlecht. Papa hat in der Stadt viel zu tun. Das Scheusal hat mich unglaublich belustigt. Er kaufte einen Riesenblumenstrauß, schenkte ihn mir und sagte mir eine Masse Komplimente. Er war sehr höflich und gütig gegen mich. Er tat mir sogar leid.
27. August 1825.
Ein Skandal nach dem anderen. Tante Kathrine hatte Papa erklärt, sie bleibe nicht länger im Haus, wenn es so weitergehe. Alles wegen des Scheusals. Er benimmt sich skandalös gegenüber Faddej Wenediktowitsch. Faddej ist furchtbar drollig, wenn auch mauvais genre. Ununterbrochen trinkt er Porter, pafft die Pfeife und macht seine Witze. Er kam auf den unseligen Gedanken, auch mit dem Scheusal einen Scherz zu machen. Er sagte zu ihm: »Wilhelm Karlowitsch, seit zwanzig Jahren bleiben Sie sich treu. Voriges Jahr haben Sie über mich geschimpft, und jetzt schimpfen Sie wieder über mich. Sie haben noch viel Jugendfeuer!« Dabei klopfte er ihm aufs Knie. Dem Scheusal wollten die Augen schier aus den Höhlen treten. Er sagte: »Jawohl, ich bin treu. Verrat ist nicht mein Beruf.« Faddej ließ diesmal sogar die Pfeife fallen und fragte heiser: »Worauf spielen Sie eigentlich an?« Jener wurde rot und sagte: »Ich spiele nicht auf etwas an, sondern sage Ihnen unumwunden: Verrat an Meinungen und Menschen ist ein schlimmer Beruf.« Faddej begann wahrhaftig zu weinen. Die Tränen kamen ihm, und er sagte: »Halten Sie mich denn für einen Verräter, W. K.?« Wie es schien, tat Faddej dem Scheusal leid, denn er sagte: »Ich spreche nicht vom Verrat am Vaterland, sondern vom Verrat an Meinungen.« Das kränkte Faddej noch mehr. Er sprang auf, wurde puterrot und sagte: »Vergessen Sie diese Äußerung nicht, W. K. Das werde ich Ihnen gedenken. Die Dienste, die ich Ihnen erwiesen habe, haben Sie wohl ganz vergessen?« Jener wurde wieder wütend und sagte: »Ich vergesse nichts, F. W. Ich habe Sie sogar in der literarischen Übersicht erwähnt.« Faddej rannte aus dem Zimmer. Als das Scheusal weg war, sagte Faddej zu Papachen: »Machen Sie, was Sie wollen, Nikolaj Iwanowitsch, der tolle Narr kommt mir nicht mehr in die Zeitschrift!« Es gab ein langes Hin und Her, bis Papachen ihm das ausgeredet hatte.
Auf den regnerischen Sommer folgte ein sehr klarer Herbst. Wilhelm bekam das Leben bei Gretsch satt. Er trug sich wieder mit dem Plan einer Zeitschrift. Einmal begegnete er auf dem Newski Sascha Odojewski. Dieser schlug ihm plötzlich vor:
»Wilhelm, du bist einsam, und ich bin einsam. Wir gehören zueinander. Laß uns zusammen wohnen. Was hast du bei dem Grammatiker Gretsch zu suchen? Wenn es sich bloß um Gretsch allein handelte! Aber da ist ja noch die Gretschin und die jungen Gretschlein. Rette dich!« Er lachte laut.
»Zieh zu mir. Ich hab eine schöne Wohnung. Zwei Zimmer stehn ganz leer … Weißt du was,« Sascha ergriff begeistert Wilhelms Hand, »wir wollen das gleich in Angriff nehmen. Du ziehst morgen um. Du hast doch nicht allzuviel Sachen!«
Kaum war das gesagt, da rasten die beiden schon in einer Droschke zu Gretsch. Dort überwachte Sascha das Einpacken der Sachen. Am nächsten Tag zog Wilhelm um.
Sascha hatte helle, geräumige, freilich bescheiden eingerichtete Zimmer. Er wohnte an der Ecke Potschtamtskaja und Isaakplatz. Von den Fenstern aus konnte man den ganzen Platz überblicken. Er war verunziert durch Gerüste, Baumaterial und wirre Steinhaufen; die Isaakkathedrale wurde gebaut.
Sascha Odojewski war wenig zu Hause. Meist war er verliebt und machte Besuche. Spät in der Nacht kam er zurück, weckte Wilhelm, um endlose Gespräche zu führen, und machte dabei eine Miene, als breche die Weltordnung zusammen, wenn er sein Philosophieren auf den Morgen verschiebe. Kaum zweiundzwanzig Jahre war er alt, schien aber einen Energievorrat zu haben für zweihundert Jahre. Er war Dichter und schrieb leichte, klangvolle Verse, die ihm glatt aus der Feder flossen, anders als Wilhelm, der manchmal ganze Nächte beim Dichten zubrachte. Dann wurde er nachdenklich. Seine Augen verdunkelten sich. Er ging aus einer Ecke in die andere und bewegte rhythmisch die rechte Hand; er setzte sich hin, arbeitete eine halbe Stunde und lief dann zu Wilhelm, um ihm seine neuen Verse vorzulesen. Was Wilhelm noch mit ihm verband, war seine Liebe zu Gribojedow. Dieser war mit Sascha verwandt, der ihn seit seiner Kindheit liebte und auch ein wenig fürchtete.
»Weißt du,« sagte er zu Wilhelm, »er ist unglaublich frech. In meiner Gegenwart hat er einmal im Theater den Polizeimeister beinahe einen Idioten genannt. Der konnte kein Wort erwidern, so fein und vornehm hatte Gribojedow das gesagt.«
Betrübt, aber nachsichtig sagte Wilhelm zu Sascha:
»Mein Lieber, du beurteilst ihn oberflächlich!«
Oft versammelten sich bei Sascha seine Freunde, die Gardeoffiziere. Er war ein guter Kamerad und im Regiment beliebt. Es gab bei ihm Feuerbowle, Punsch, Ai und viel Radau. Da er gerne Lieder hörte, wurde viel bei ihm gesungen. Man begann mit der »Nachtigall«:
Nachtigall, du Nachtigall …
Wilhelm hatte das Lied sehr gern. Der Text war von Delwig. Er sang mit, trotzdem er immer den Ton verfehlte. Dann ging man zu lustigeren Liedern über:
Ein Diplomat mit Krone
Sitzt auf dem Russenthrone.
Ist das ein Zar, ist das ein Zar,
Orthodox bis auf das Haar!
Sascha stampfte den Takt mit dem Fuß:
Fürst Wolkonski, das Weib,
Regiert den Stab mit Seel und Leib.
Dann kamen Karten auf den Tisch. Sascha nahm aber das Spiel nicht ernst und hatte bald genug davon. Ärgerlich wies ihn der lange Schtschepin-Rostowski, ein ernster, erprobter Spieler, zurecht:
»Ach, Freund, du deckst ja nach rechts auf statt nach links. Mit dir kann man nicht spielen.«
Gegen Morgen versank die Gesellschaft in müden Ernst. Blaß und finster stimmte Sascha die Hymne an, eine Art russische Marseillaise, um deretwillen Katenin schon seit über vier Jahren als Verbannter auf seinem Gut lebte:
Das Vaterland stöhnt voller Qualen
Unter deiner entsetzlichen Fron,
Despot, das sollst du uns bezahlen!
Wir stürzen den Zaren und den Thron!
Begeistert fiel alles in den Gesang ein, am begeistertsten Wilhelm:
Freiheit, o Freiheit,
Dir folgen unsre Reihn;
Lieber tot als Sklave sein!
Das schwören wir.
Wilhelm hatte kein Geld. Er hatte nicht einmal etwas Anständiges zum Anziehn. Manche Nacht durchstöhnte er ohne Schlaf. Sascha wußte, warum. Er hörte ihn jedes Mal stöhnen, wenn Briefe aus Moskau eintrafen: Wilhelm hatte eine Braut, die er nicht der Armut preisgeben wollte. Sascha war reich genug, aber Wilhelm wollte nichts bei ihm borgen, und sie hatten sich schon einmal ernstlich deswegen gezankt. Dabei hatte sich das Verhältnis zwischen Wilhelm und Gretsch sehr verschlechtert. Bulgarin suchte ihn kurzerhand aus der Zeitschrift hinauszuekeln und brachte seine Sachen nur auf Drängen der Freunde. So saß Wilhelm ohne einen Groschen auf dem Trocknen. Seine Lage war verzweifelt … Eines Morgens, als Wilhelm und Sascha ihren Tee tranken, läutete es plötzlich. Semjon meldete:
»Wilhelm Karlowitsch, da ist ein Mann, der Sie sprechen will.«
Ein älterer Diener trat ein, verneigte sich, fragte, ob er mit dem Herrn Kollegienassessor Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker spreche, und überreichte einen Brief.
»Von Pjotr Wassiljewitsch Grigorjew.«
»Von wem?« fragte Wilhelm erstaunt.
Der Mann wiederholte den Namen.
»Nie gehört.« Wilhelm öffnete den Brief.
Ein Päckchen Geldscheine fiel heraus. Mit offenem Mund starrte Wilhelm sie an. Er las den Brief. Sein Gesicht wurde immer erstaunter.
Der in altmodischer Schrift, offenbar von einer Greisenhand geschriebene Brief hatte folgenden Inhalt:
»Sehr geehrter Herr Wilhelm Karlowitsch!
Ihr seliger Vater war mein Wohltäter. Seit langer Zeit schulde ich ihm tausend Rubel. Widrige Umstände haben mich bisher verhindert, die Schuld zu begleichen. Nunmehr übersende ich Ihnen die besagten tausend Rubel und bitte ergebenst, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung entgegenzunehmen, in der ich, verehrter Herr, die Ehre habe zu verbleiben
Ihr gehorsamster Diener Pjotr Grigorjew.
St. Petersburg,
den 20. September 1825.«
»Na also,« meinte Sascha lustig, »das nenne ich vornehm!«
Wilhelm zuckte die Schultern.
»Ich kenne keinen Grigorjew.«
»Macht nichts. Dein Vater hat ihn doch sicher gekannt.«
»Nie hat einer von meinen Verwandten den Namen erwähnt.«
Wilhelm überlegte, sah den fremden Diener mißtrauisch an und sagte dann:
»Ich kann das Geld nicht annehmen. Ich habe nicht die Ehre, Pjotr Wassiljewitsch zu kennen.«
Der Diener erwiderte ruhig:
»Ich habe den Befehl, es da zu lassen. Ich weiß von nichts.«
Aufgeregt sah Wilhelm sich im Zimmer um und dachte wieder nach.
»Nein, nein,« sagte er mißtrauisch. »Hier liegt irgendein Mißverständnis vor.«
»Was für ein Mißverständnis soll denn da vorliegen?« erwiderte Sascha. »Hier steht doch schwarz auf weiß dein Name.«
»Ich versteh das nicht,« brummte Wilhelm.
»Ich rate dir,« sagte Sascha und sah ihn möglichst harmlos an, »diesen Mann, der so edel handelt, nicht durch eine Zurückweisung zu kränken. Nimm das Geld.«
Wilhelm sah ihn forschend an.
»Du hast recht, Sascha. Ich danke dir. Er wäre sicher beleidigt. Aber ich gehe zu ihm und werde persönlich mit ihm sprechen.«
»Wo wohnt dein Herr?« fragte er den Diener.
»Im Serpuchowviertel, das Haus von Ogarew,« sagte der Diener, ohne ihn anzusehn.
»Und wann kann man ihn persönlich sprechen?«
Der Diener dachte nach.
»Seine Gnaden sind bis neun Uhr morgens immer zu Hause.«
»Ich lasse dem Herrn danken, mein Lieber,« sagte Wilhelm. »Bestelle ihm, daß ich morgen bei ihm vorsprechen werde.«
Der Diener verneigte sich tief und ging.
Gleich am nächsten Morgen machte sich Wilhelm auf den Weg.
Er blieb lange aus und kam ganz ratlos zurück.
»Ich habe ihn nicht gefunden,« sagte er verzweifelt zu Sascha.
»Wen den?« fragte Sascha erstaunt.
»Grigorjew!« Wilhelm machte eine noch verzweifeltere Bewegung mit der Hand. »Ich hab das ganze Serpuchowviertel abgelaufen. Es gibt dort überhaupt kein Haus Ogarew. Ich habe einen Polizeikommissar geholt und mit ihm zusammen die ganze Gegend abgesucht, auch das Ismajlowviertel. Alles vergebens.«
»So was!« meinte Sascha mit einigem Staunen.
Wilhelm schwieg eine Zeitlang und sagte dann:
»Hol's der Teufel! So eine Geschichte! Ich weiß nicht, was ich mit dem Geld machen soll. Ich kann es doch nicht als mein Eigentum betrachten. Ich setze eine Annonce in die Zeitung.«
Nach zwei Tagen erschien im »St. Petersburger Anzeiger« eine Annonce des Kollegienassessors Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker, in der die rätselhafte Geschichte mit den tausend Papierrubeln ausführlich geschildert und die Handlungsweise des Herrn Grigorjew als ehrlich und vornehm bezeichnet wurde; gleichzeitig aber wurde Grigorjew aufgefordert, sich unverzüglich mit Küchelbecker in Verbindung zu setzen und seine Adresse mitzuteilen, falls er Wert darauf lege, daß Küchelbecker die tausend Rubel als sein Eigentum betrachte.
Daraufhin kam Pjotr Wassiljewitsch persönlich.
Er war so etwas wie ein Gerichtsschreiber mit einem Fuchsgesicht und farblosen Augen. Wilhelm hatte den Eindruck, daß er nach Schnaps roch, wies jedoch diesen unwürdigen Gedanken sofort zurück.
Voller Rührung nannte ihn Pjotr Wassiljewitsch immer wieder »mein Wohltäter« und »Sohn meines Wohltäters« und suchte immer wieder, das kam Wilhelm eigentlich etwas merkwürdig vor, ihm die Schulter zu küssen.
Er war ein kleiner Gutsbesitzer. Adlig. Vor etwa dreißig Jahren hatte ihm eine Strafe gedroht. Wegen einer schlimmen Handlung, zu der ihn sein jugendlicher Leichtsinn verleitet hatte. – Als er das erzählte, traten Pjotr Wassiljewitsch die Tränen in die Augen. – Er wäre verloren gewesen, wenn Karl Iwanowitsch, der selige Wohltäter – hier faltete Pjotr Wassiljewitsch fromm die Hände – ihm nicht geholfen hätte. Dreißig Jahre lang habe die heilige Schuld auf ihm gelastet, bis er endlich in diesem Jahre die Möglichkeit gefunden habe, sie zu begleichen.
Wilhelm war sehr gerührt.
»Warum haben Sie mir aber Ihre richtige Adresse verheimlichen wollen?« fragte er weich.
»Einzig und allein aus Scham,« meinte Pjotr Wassiljewitsch und preßte die Hand aufs Herz. »Einzig und allein, um nicht durch die Erinnerung an meinen Wohltäter und die verflossene Jugend in Aufregung zu geraten.« Pjotr Wassiljewitschs Augen wurden wieder feucht.
Lebhaft fiel Sascha ins Gespräch ein:
»Wenn du fertig bist, Wilhelm, muß ich dir etwas Wichtiges erzählen.«
Pjotr Wassiljewitsch verabschiedete sich. Wilhelm begleitete ihn bis zur Tür und drückte ihm warm und gefühlvoll die Hand.
»Das ist ein Edelmut, wie man ihn heutzutage nur noch selten findet,« sagte er, als er ins Zimmer zurückkam. Er hatte Tränen in den Augen. »Was wolltest du mir erzählen?«
Was Sascha zu erzählen hatte, war höchst belanglos.
Wilhelm ließ sich einen dunklen, olivgrünen Wintermantel mit Biberpelzkragen und Silberschnalle machen, und auch Semjon bekam einen neuen Anzug.
Wilhelm schaute nun vertrauensvoller in die Zukunft. Wenn es noch solche ehrliche Menschen gab wie diesen drolligen Alten, Pjotr Wassiljewitsch, dann war das Leben erträglich.
Nie erfuhr er, daß Pjotr Wassiljewitsch gar kein Pjotr Wassiljewitsch war, sondern Stepan Jakowlewitsch, ein alter Gerichtsschreiber, daß Karl Iwanowitsch ihm niemals Geld geborgt und ihn überhaupt nie gekannt hatte. Zu Tränen gerührt war Stepan Jakowlewitsch nur infolge seiner Vorliebe für geistige Getränke. Für die kleine Komödie, die er ziemlich geschickt spielte, hatte ihn Sascha engagiert und mit zwei Rubeln belohnt. Der Diener war auch nicht Grigorjews, sondern Mischa Puschtschins Diener. Hinter der ganzen Sache steckten drei Personen: Sascha, Puschtschin und Delwig. Sie waren ganz entzückt von der romantischen Farce und lachten Tränen, wenn Sascha zeigte, wie »Pjotr Wassiljewitsch« Wilhelm auf die Schulter zu küssen suchte.
Eines Tages fragte Sascha Wilhelm: »Warum verkehrst du nicht bei Alexander Gribojedows Feind?«
»Wen meinst du denn?«
»Jakubowitsch,« erwiderte Sascha sehr ernst. »Sie haben sich duelliert. Das weißt du doch. Im übrigen ist er auch ein Feind des anderen Alexander (Sascha meinte den Zaren). Ein unheimlicher Mensch!«
Sascha liebte und verehrte alles Unheimliche.
»Ist Jakubowitsch denn hier?« fragte Wilhelm lebhaft. »Ich glaubte, er wäre im Kaukasus.«
»Eigentlich müßte er längst dort sein, aber seine Abreise hat sich verzögert. Sehr interessante Menschen verkehren bei ihm. Es ist immer lustig dort. Komm mit. Ich geh heute hin.«
Jakubowitsch hatte an der Roten Brücke, Ecke Mojka, eine geräumige, luxuriöse Wohnung. Die Sessel waren weich gepolstert, die Tische breit, die Sofas bequem und einladend.
Er war noch immer der gleiche; groß, düsteres, braunes Gesicht, zusammengewachsene Augenbrauen und riesiger Schnurrbart. Um den Mund spielte ein sardonisches Lächeln. Eine schwarze Binde bedeckte die Stirn. Eine kaukasische Kugel saß dort. Er empfing Wilhelm ausgezeichnet, und auch die anderen Anwesenden freuten sich über sein Kommen. Ringsum auf den Sofas saßen Rylejew, Bestuschew und einige Gardeoffiziere, unter denen Schtschepin-Rostowski durch seinen Riesenwuchs und das rote Gesicht auffiel. Dann waren noch Wassja und Petja Karatygin, Katenins Schüler, da. Wassja war ein aufgehender Stern am Alexandrinski-Theater, während Petja mit seiner Schlagfertigkeit und Lustigkeit einmal ein guter Komiker, vielleicht sogar ein Charakterdarsteller zu werden versprach. Alle waren in gehobener Stimmung. Auf dem Tisch standen Früchte und Wein. Bestuschew und Schtschepin hatten die Uniform aufgeknöpft und rauchten lange Pfeifen. Rylejew bat Wassja und Petja Karatygin, etwas vorzutragen, aus irgendeiner Tragödie. Wassja stand auf, stellte sich in tragischer Positur hin und begann den Monolog des Vitellius aus Knjaschnins Trauerspiel »Titus' Barmherzigkeit« zu deklamieren. Petja stellte sich ihm gegenüber in der gleichen Pose auf. Wassja sprach mit singender Stimme. Am Ende der Verse hob er den Ton und begleitete jede Tirade mit entsprechenden Gesten.
Die Arme tragisch über der Brust gekreuzt, antwortete Petja mit dem Monolog des Lentulus.
Mit Vergnügen sah Rylejew den zwei jungen Menschen zu. Nachdenklich und finster paffte Jakubowitsch seinen Tschibuk. Mit halb geöffnetem Mund lauschte Sascha den vibrierenden Stimmen. Petjas Stimme klang in wütendes Geflüster aus.
Alles klatschte. Von plötzlicher Schüchternheit erfaßt, setzten sich Wassja und Petja auf ein Sofa und erhoben sich dann ungeschickt, um für den Applaus zu danken. Rylejew machte ein paar Schritte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar:
»Die Sklaven mögen seine Hände küssen,« wiederholte er.
Plötzlich sagte Bulgarin mit vorgestreckten Lippen:
»Warwara ist meine Tante, aber eigentlich meine Schwester … Daran kann ich keinen Geschmack finden … ›Wütiger Ausbruch‹, was für ein Wort!«
Rylejew wurde rot und ging auf ihn zu:
»Du, Faddej, seit einiger Zeit findest du an ganz anderen Sachen Geschmack: Du küßt den Leuten zu gerne die Hand. Wart, wenn die Revolution kommt, hacken wir dir samt deiner ›Nordbiene‹ den Kopf ab!«
Bulgarin fuhr zusammen. Er lachte heiser:
»Robespierre Fjodorowitsch, um eines flehe ich dich an: Spendiere mir in meiner Todesstunde ein Glas Porter.«
Alle lachten. Rylejew hatte Bulgarin gleich wieder vergessen. Er ging auf und ab in tiefem Nachdenken. Dann wandte er sich an Bestuschew:
»Es ist Zeit, daß wir den Gesang den Sängern überlassen. Schukowski wird schon alleine damit fertig. Wir müssen Scherzlieder schreiben, die ins Volk dringen. Für uns die Tragödie, für das Volk den Scherz. Damit erreichen wir dann etwas gar nicht Scherzhaftes! Die Zeit der leichten Poesie ist vorbei.«
»Ja,« brummte Bestuschew, eine Zigarre in der Hand. »Schukowski locken wir nicht mehr aus dem Palais heraus. Er treibt dort Hofromantik mit den Hofdamen. Soll ich euch etwas vortragen?«
Sporenklirrend stellte er sich in Positur und deklamierte, Schukowski imitierend, in gedehntem Tonfall mit zur Decke erhobenen Augen:
Das Leichentuch hat er vertauscht mit der Livree.
Und seinen Lorbeerkranz mit Hofperücken.
Die Fibel in der Hand, schlich er sich ins Palais,
Beugt dort vor hohen Herrn devot den Rücken
Und kriecht im Staub vor all dem Hofgelichter.
Armer Dichter!
Gretsch lachte und klatschte in die Hände:
»Bravo! Bravo! Wenn man das bloß drucken könnte! Den Chwostow, den darf man drucken! Was Vernünftiges nie!«
»Bleiben Sie noch lange hier, Alexander Iwanowitsch?« fragte Wilhelm Jakubowitsch.
Der zuckte finster die Achseln:
»Ich bin nicht Herr meines Schicksals, Wilhelm Karlowitsch!«
Ein Diener trat ein und übergab ihm einen Brief. Jakubowitsch zog die schwarzen Augenbrauen in die Höhe, öffnete den Brief und durchflog ihn. Dunkle Röte stieg ihm ins Gesicht.
»Da! Eine offizielle Anfrage, warum ich noch nicht nach meiner Dienststelle im Kaukasus gereist bin. Dabei wissen sie ganz genau, daß ich hier meine Wunde kurieren muß.« Er zeigte auf die schwarze Binde, »im Dienste des Tyrannen hab ich den Kugeln meine Stirn geboten. Verfolgung und Schmach sind der Lohn.«
Er holte aus der Seitentasche ein vergilbtes Schriftstück. Es war der Befehl, der seine Entfernung aus der Garde anordnete.
»Nur Alexander Pawlowitsch und sein Lakai Araktschejew können annehmen, daß die Carbonari ganz von selber entstehen. Der Zar selber schafft sie. Durch solche Pillen.«
Rylejew trat auf Wilhelm zu:
»Wilhelm Karlowitsch, ich möchte gern wegen des ›Polarsterns‹ verschiedenes mit Ihnen besprechen. Besuchen Sie mich doch öfters!«