Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Worin Meister Antifer und der Rheder Gildas Tregomain, zwei einander sehr unähnliche Freunde, dem Leser vorgestellt werden.
Jeden Sonnabend gegen acht Uhr abends wurde der Meister Antifer, der trotzdem seine kurze Pfeife, mehr einen Stummel, weiter schmauchte, erst blau und eine Stunde später purpurroth vor Ingrimm, nachdem er sich auf Kosten seines Freundes, des Schiffeigners Gildas Tregomain, weidlich ausgetobt hatte. Dieser Zornausbruch kam daher, daß er in einem alten Atlas, von dem eine Karte nach Mercator's planisphärischer Projection entworfen war, etwas nicht finden konnte, was er schon lange suchte.
»Verzwickte Breite! ... rief er. Verteufelte Breite! Und wenn sie den Bratofen Belzebubs durchschnitte, ich muß ihr von einem Ende zum andern nachgehen!«
In Erwartung der Ausführung dieses Vorhabens kratzte Meister Antifer die genannte Breitenlinie einstweilen mit dem Fingernagel nach. Die ihm vorliegende Karte war auch mit Bleistiftpunkten übersäet und mit Zirkelstichen wie ein Kaffeesieb durchlöchert.
»24° 59' nördl. B.«
so war die Breitenangabe, der Meister Antifer's Wuthausbrüche galten, angegeben auf einem Stück so vergilbtem Pergament, daß es mit einer alten spanischen Flagge hätte rivalisieren können.
Darunter stand, an einer Ecke des Pergaments, mit rother Tinte geschrieben:
»Meinem Jungen ausdrücklich anempfohlen, das niemals zu vergessen.«
Und Meister Antifer rief:
»Keine Angst, braver Mann und Vater, ich habe sie nicht vergessen und werde sie nie vergessen, Deine Breite! Und doch, den Segen meiner drei Taufpathen über mich, wenn ich weiß, wozu das nützen soll!«
An diesem Abend, dem des 23. Februar 1862, überließ sich Meister Antifer seinem gewohnten Wuthausbruche. Die Brust voller Sturm, fluchte er wie ein Mastwächter, dem ein Tau durch die Hände glitt, kaute wüthend am Mundstück seiner Pfeife, die zwanzigmal ausging und zwanzigmal wieder in Brand gesetzt wurde, schleuderte den Atlas in einen Winkel, zertrümmerte eine große Muschel, die den Kaminsims schmückte, stieß mit dem Fuße auf, daß die Deckenbalken zitterten und schrie mit einer Stimme, die es gewöhnt war, das Rauschen des Sturmwinds zu übertönen und wobei er sich aus einem Pappstück ein Sprachrohr zusammenbog:
Enogate und Nanon, die eine mit einer Strickarbeit, die andre nahe dem Küchenherde mit dem Plätteisen beschäftigt, hielten es nun für an der Zeit, diesem Aufruhr der häuslichen Elemente einen Dämpfer aufzusetzen.
Der Auftritt spielt in einem jener guten alten Häuser von Saint-Malo, die aus Granit erbaut sind. Seine Façade ist nach der Straße der Hautes-Salles gerichtet. Es besteht aus einem Erdgeschoß nebst zwei Stockwerken, jedes mit zwei Stuben, wovon das obere über den Rundgang auf dem Walle hinausragt. Von diesem aus sieht man seine granitnen Mauern, die dick genug sind, den Geschossen früherer Zeit zu widerstehen, seine schmalen, eisenvergitterten Fenster, die massive Thür aus bestem Eichenholz mit Metallbeschlägen und einem Klopfer, den man bis Saint-Servan hört, wenn der Meister Antifer ihn handhabt, und endlich das von Luken durchbrochene Schieferdach, durch das manchmal das lange Fernrohr des in Ruhestand getretenen Seemanns hervorlugt. Dieses Haus, halb Casematte, halb Maierhof, nahe einer Ecke der die Stadt umschließenden Mauern, bietet eine herrliche, weite Aussicht, zur Rechten den Grand-Bey, eine Ecke von Cézembre, die Décolléspitze und das Cap Fréhel, – zur Linken den Hafendamm und den Molo, die Mündung der Rance, den Strand von Prieuré nahe Dinard, und den altersgrauen Dom von Saint-Servan.
Ehemals war Saint-Malo eine Insel und vielleicht dachte der Meister Antifer mit Bedauern an die Zeit, wo er sich einen Inselbewohner nennen konnte.
Das alte Aaron ist aber einmal eine Halbinsel geworden, und er mußte sich wohl oder übel damit abfinden. Uebrigens hat man alles Recht stolz zu sein, wenn man ein Kind dieser Stadt Armor's ist, die Frankreich so viele große Männer geschenkt hat, unter andern Duguay-Trouin, dessen Statue unser würdiger Seemann stets begrüßte, wenn er über den Square ging, Lamennais, obwohl jenen dieser Schriftsteller in keiner Weise interessierte, und Chateaubriand, von dem er nur das letzte Werk kannte. Hiermit meinen wir nur dessen bescheidnes und doch stolzes Grabmal auf dem Eiland des Grand-Bey, das den Namen des berühmten Autors trägt.
Der Meister Antifer (Pierre-Servan-Malo) war zur Zeit sechsundvierzig Jahre alt. Seit achtzehn Monaten hatte er sich vom Handwerk mit genügenden Ersparnissen zurückgezogen, um mit den Seinigen wenigstens sorgenlos leben zu können. Einige Tausend Francs Rente hatte ihm seine Dienstleistung auf zwei oder drei von ihm geführten Schiffen abgeworfen, deren Heimathafen stets Saint-Malo gewesen war. Diese Schiffe, dem Hause Le Baillif & Comp. gehörig, dienten der weiteren Küstenfahrt im Canal, in der Nord- und Ostsee und dem Mitteländischen Meere. Bevor er jene hohe Stellung erlangte, hatte sich Meister Antifer schon recht tüchtig in der Welt umgesehen. Eine Theerjacke von altem Schrot und Korn, war er unternehmend, hart gegen sich, wie gegen andre, trat überall schonungslos mit seiner Person ein und war von einer Zähigkeit, die vor keinem Hinderniß zurückbebte, von der Halsstarrigkeit des bretonischen Bretagners. Ob er es bedauerte, das Meer verlassen zu haben? ... Wohl nicht, da er es ja im kräftigsten Mannesalter gethan hatte. – Ob seine Gesundheit diesen Entschluß beeinflußt hatte? ... Gewiß nicht, denn er schien aus dem reinen Granit der amerikanischen Küsten gemeiselt zu sein.
Es genügte schon, ihn zu sehen, zu hören und von ihm einen Händedruck zu bekommen, womit er nicht besonders geizte. Stelle man sich in ihm einen stämmigen, mittelgroßen Mann mit breitem Nacken vor. Hier sein Signalement: Keltischer Dickschädel; starkes, stachelschweinartig abstehendes Haar, dunkles, doch etwas welkes Gesicht, das vom Meerwasser und der Sonne niedriger Breiten gefärbt war; Barthalskrause, dicht und stark wie die Flechten am Felsen, deren graue Strähne oben mit dem Haupthaar verschmolzen; lebhafte Augen, wahre Karfunkeln unter dem Brauenbogen, mit pechschwarzer funkelnder Iris; eine unten ziemlich dicke Nase, die auch lang genug war, um die Blättchen beim Drogue- (Soldaten-) Spiel darauf befestigen zu können, und nahe den Augen mit zwei Einsenkungen, wie die Salzfäßchen eines alten Gauls; vollständige, feste und gesunde Zähne, die unter den Zuckungen der Kinnladen krachten, vorzüglich, weil ihr Besitzer immer einen Kieselstein im Munde hatte; etwas behaarte Ohren mit trompetenartiger Muschel und herabhängenden Ohrläppchen, deren eines einen kleinen kupfernen Anker trug; endlich ein hoher etwas magrer Körper, nervöse Beine und ziemlich große Füße, die gewöhnlich so weit auseinanderstanden, um gegen jedes Stampfen und Schlingern gesichert zu sein. Aus allem erkannte man eine seltne Kraft, Dank den wie die Fasces der römischen Lictoren festvereinten Muskelbündeln, eine eiserne Gesundheit des gut essenden und tüchtig trinkenden Mannes, der gewiß noch lange auf ein klares Gesundheitspatent Anspruch gehabt hätte. Dagegen wohnte auch eine ungeheure Reizbarkeit und Nervosität in dem Männchen der vor sechsundvierzig Jahren in das Taufregister seiner Heimat unter den bezeichnenden Namen Pierre-Servan-Malo Antifer eingetragen worden war.
Und heute Abend war er ganz außer sich und wetterte, daß das ganze solide Häuschen erzitterte, so als ob an seinen Grundmauern eine jener Aequinoctialfluthen rüttelte, die oft fünfzig Fuß hoch ansteigen und die halbe Stadt mit Schaum bedecken.
Nanon, Witwe Le Goât, achtundvierzig Jahre alt, war die Schwester unsres immer etwas lauten Seemannes. Ihr Gatte, eine simple Landratte und angestellt im Hause Le Baillif, war schon zeitig gestorben und hatte eine Tochter Enogate hinterlassen, der sich der Onkel Antifer angenommen hatte und der gegenüber er auch alle Pflichten des Vormundes und Pflegevaters gewissenhaft erfüllte. Nanon war eine brave Frau, die ihren Bruder liebte, vor ihm zitterte und sich vor seinen Sturmausbrüchen beugte.
Enogate hingegen, ein hübsches Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen, frischem Teint, intelligenten Zügen, natürlicher Anmuth und entschlossener als ihre Mutter, widersprach und widersetzte sich bisweilen ihrem schrecklichen Vormund.
Dieser betete sie übrigens an und behauptete, sie sei ebenso das glücklichste Mädchen von St. Malo, wie sie eines der schönsten war.
Wahrscheinlich verstand er aber unter Glück etwas, was seine Nichte und Mündel nicht ebenso auffaßte.
Die beiden Frauen erschienen auf der Schwelle des Zimmers. Die eine mit ihren langen Stricknadeln, die andre mit dem Bügeleisen, das sie eben aus der Gluth gezogen hatte, in den Händen.
»Nun, was giebt's denn wieder? fragte Nanon.
– Meine Breite ... meine verteufelte Breite!« antwortete Meister Antifer.
Dabei versetzte er sich einen Faustschlag vor die Stirn, von dem jeder andre Schädel, als der ihm von Natur verliehene, unbedingt in Stücke gegangen wäre.
»Lieber Onkel, begann Enogate, weil Dir Deine unselige Breite im Kopf herumspukt, brauchst Du doch nicht das ganze Zimmer durcheinander zu werfen ...«
Damit hob sie den Atlas auf, während Nanon die Bruchstücke der Muschel aufsuchte, die wie von einer Pulverexplosion umherlagen.
»Die hast Du zerbrochen, lieber Onkel?
– Ja, ich, Kleine, und wenn's jemand anders gewesen wäre, hätte ihm der Kuckuck in den Nacken fahren sollen!
– Warum hast Du sie denn zu Boden geschleudert?
– Weil mir die Hand durchging!
– Diese Muschel war ein Geschenk unsres Bruders, sagte Nanon, und – es war unrecht von Dir ...
– Na, und wenn Du mir bis morgen vorpredigst, daß es unrecht war, wird sie deshalb doch nicht wieder ganz!
– Was wird mein Vetter Juhel dazu sagen! rief Enogate.
– Hoffentlich gar nichts, und daran wird er sehr wohl thun! entgegnete Meister Antifer, dem man das Bedauern darüber ansah, nur zwei weibliche Wesen vor sich zu haben, über die er vernünftiger Weise die Schale seines Zorns wohl nicht entleeren konnte. – Uebrigens, setzte er hinzu, wo steckt denn der Juhel?
– Du weißt, Onkel, daß er nach Nantes gereist ist, erklärte das junge Mädchen.
– Nantes! – Ja, das ist ein ander Ding! Was hat er denn in Nantes zu schaffen?
– Aber, Onkelchen, Du hast ihn ja selbst dahin geschickt ... weißt Du nicht ... Wegen seiner Prüfung als Kapitän für lange Fahrt.
– Kapitän für lange Fahrt ... Kapitän für lange Fahrt! knurrte Meister Antifer. Ihm war's wohl nicht genug, wie ich Kapitän für Küstenfahrt zu werden? ...
– Höre, Bruder, fiel da Nanon schüchtern ein, Du hast es ihm ja selbst angerathen ... es war Dein Wille ...
– Aha, mein Wille! Ein hübscher Grund! ... Und wenn's mein Wille nicht gewesen wäre, ... na, da wäre er eben auch nach Nantes gegangen ... Er wird das Examen übrigens nicht bestehen ...
– Doch, lieber Onkel.
– So, liebe Nichte? ... Wenn er aber durchfällt, dann soll ihm eine Böe in den Rücken fahren, an die er denkt sein Leben lang!«
Man sieht, daß sich niemand mit diesem Manne verständigen konnte. Auf der einen Seite wollte er, daß Juhel sich der Prüfung als Kapitän für lange Fahrt nicht unterzog, und auf der andern würde genannter Juhel einen Empfang finden, in dem »jene Esel von Examinatoren, jene hydrographischen Händler« auch nicht zum Besten weggekommen wären.
Enogate hatte jedoch das sichre Vorgefühl, daß der junge Mann nicht durchfallen werde, zunächst weil es ihr Vetter, dann, weil er ein gescheiter und fleißiger junger Mann war, endlich, weil er sie und sie ihn liebte und sie sich einmal heiraten wollten. Bessre Gründe als diese drei kann man doch gar nicht haben.
Wir müssen hier einfügen, daß Juhel ein Neffe des Meister Antifer und bis zur erreichten Majorennität sein Mündel gewesen war. Zeitig verwaist durch den Tod seiner Mutter, einer Morlaiserin, der seine Geburt das Leben gekostet hatte, und durch den, nur wenige Jahre später erfolgten Tod seines Vaters, eines Schiffsofficiers, war er, noch ein Kind, der Fürsorge seines Onkels anheimgefallen. Als ein Wunder kann es gewiß nicht erscheinen, daß es ihm in den Sternen geschrieben stand, einst Seemann zu werden. Enogate hatte übrigens ganz recht zu glauben, daß er sein Patent als Kapitän für lange Fahrt ohne Mühe erhalten werde. Der Onkel zweifelte daran auch nicht, er war jetzt nur in zu abscheulicher Laune, es zuzugestehen.
Die Sache hatte für die junge Malouine aber weit mehr Bedeutung, weil die zwischen ihrem Vetter und ihr geplante Heirat schon sehr bald nach Erlangung des betreffenden Patentes stattfinden sollte. Die beiden jungen Leute waren sich in warmer Liebe zugethan, die ja für das Glück zweier Herzen genügen kann. Nanon sah mit Freuden den Tag herankommen, wo diese von der ganzen Familie gewünschte Verbindung stattfinden sollte. Woher hätte ein Hinderniß kommen sollen, da das allmächtige Haupt derselben, der Onkel und Vormund, seine Zustimmung dazu gab, oder sich wenigstens vorbehalten hatte, diese zu geben, wenn der Zukünftige Kapitän wäre?
Es versteht sich von selbst, daß Juhel von unten auf gedient hatte, erst als Schiffsjunge und als Leichtmatrose auf Schiffen der Firma Le Baillif, als Matrose im Dienste des Staats und endlich drei Jahre lang als Deckofficier in der Handelsmarine. So fehlte ihm weder die Theorie noch die Praxis, und Meister Antifer war im Grunde recht stolz auf seinen Neffen. Vielleicht hatte er aber für ihn von einer reicheren Partie geträumt, weil er dessen vorzügliche Eigenschaften kannte, und ebenso für seine Nichte, weil diese das lieblichste Mädchen des ganzen Arrondissements war.
»Und sogar in l'Ille-et-Vilaine!« wiederholte er, die Augenbrauen runzelnd und bereit, seine Behauptung auf die ganze Bretagne auszudehnen. Und wenn ihm etwa eine Million in die Hände gefallen wäre – ihm, der mit seinen fünftausend Livres Rente zufrieden war – so wär's nicht unmöglich gewesen, daß er gar selbst den Kopf verloren und sich unerfüllbaren Träumen überlassen hätte ...
Inzwischen hatten Enogate und Nanon in der Stube, wenn auch nicht im Gehirn des schrecklichen Menschen, wieder etwas Ordnung hergestellt. Freilich im Gehirn wäre das am nöthigsten gewesen, um die Käfer, die darin umherflatterten, auszutreiben, und womöglich auch die Spinnen an der Decke ...
Die noch immer Blitze schleudernden Augen rollend, lief Meister Antifer hin und her – ein Beweis, daß das Unwetter noch lange nicht am Ende war und daß jeden Augenblick ein Donnerschlag erfolgen konnte. Und wenn er nach dem an der Wand hängenden Barometer sah, schien sein Zorn sich noch zu verdoppeln, weil dies gewissenhafte und treue Instrument immer auf schön Wetter zeigte.
»Juhel ist also noch nicht zurück? fragte er, sich an Enogate wendend.
– Und es ist schon um zehn Uhr!
– Nein, lieber Onkel.
– Ihr werdet sehen, daß er den Zug verpaßt!
– Ach nein, Onkelchen!
– Alle Wetter! Wirst Du nun aufhören, mir zu widersprechen?
– Nein, bester Onkel.«
Trotz der verzweifelten Winke Nanons war die junge Bretagnerin entschlossen, ihren Vetter gegen die ungerechten Beschuldigungen dieses, in seinen Ausdrücken nicht gerade wählerischen Onkels in Schutz zu nehmen.
Offenbar waren Blitz und Donner jetzt nicht mehr weit. Gab es denn aber keinen Ableiter, der geeignet gewesen wäre, alle in den Reservoirs des Meister Antifer angesammelte Elektricität auszugleichen?
Doch vielleicht. Deshalb beeilten sich auch Nanon und ihre Tochter, ihm zu gehorchen, als er mit Stentorstimme rief:
»Holt mir Tregomain!«
Sie verließen das Zimmer, öffneten die Hausthür und gingen, den Verlangten aufzusuchen.
»Guter Gott! Wenn wir ihn nur antreffen!« sagten sie für sich.
Er war zum Glück zu Hause, und fünf Minuten später saß er dem Meister Antifer gegenüber.
Gildas Tregomain, einundfünfzig Jahre alt. Aehnlichkeiten mit seinem Nachbar: ist Hagestolz wie dieser und hat zu Wasser gefahren wie dieser; führt nicht mehr wie dieser, ist Malouin wie dieser. Hiermit hören die Aehnlichkeiten auf. Gildas Tregomain ist nämlich ebenso ruhig und gelassen, wie Meister Antifer lebhaft, ebenso viel Philosoph, wie Meister Antifer es wenig ist, ebenso fügsam, wie Meister Antifer halsstarrig. So viel bezüglich der geistigen Seite. Physisch sind die beiden Genossen einander wenn möglich noch unähnlicher. Sehr aneinander gefesselt, ist diese Freundschaft Pierre Antifer's gegen Gildas Tregomain recht erklärlich, während sie seitens des letzteren gegen Pierre Antifer nicht so tief wurzeln zu scheint. Der Freund eines solchen Mannes zu sein, hat ja zuweilen auch sein Unangenehmes.
Wir sagten eben, daß auch Gildas Tregomain zur See gefahren sei, es ist aber ein Unterschied zwischen Seefahrer und Seefahrer. Wenn Schiffer Antifer alle bedeutenderen Meere der Erde, zum Theil auf Kauffahrteischiffen, zum Theil in der Küstenfahrt besucht hatte, so traf das nicht auf seinen Nachbar zu. Gildas Tregomain, als Sohn einer Witwe vom Staatsdienst frei, war nicht als Matrose gefahren und überhaupt niemals auf dem Meere gewesen.
Nein, niemals. Den Canal la Manche hatte er sich von der Höhe von Cancale oder vom Cap Frehel aus angesehen, sich aber nie auf denselben hinausbegeben. In der gemalten Cabine eines Lastschiffes geboren, war auch sein Leben in einem solchen verlaufen. Erst Schiffsführer, dann Eigner der »Charmante Amélie«, fuhr er die Rance auf und ab, von Dinard nach Dinan, von Dinan nach Plumaugat, um dann mit einer Ladung Bretter, Wein oder Kohlen, je nach Bedarf, zurückzufahren. Kaum waren ihm die andern Küsten der Departements von l'Ille-et-Vilaine und der Côtes-du-Nord bekannt geworden. Er war ein Süßwasser-Seemann, nichts weiter, während der Meister Antifer durch und durch Salzwasser-Seemann war – ein simpler Lastfuhrmann, gegenüber einem Schiffer von der Küstenfahrt. Deshalb senkte er auch die Flagge in Gegenwart seines Nachbars und Freundes, der sich gar nicht genierte, ihn in ehrerbietiger Entfernung zu halten.
Gildas Tregomain bewohnte ein kleines nettes Häuschen, etwa hundert Schritte von dem des Meister Antifer und am Ende der Toulousestraße, nahe dem Bollwerk. Es bot von der einen Seite Aussicht auf die Mündung der Rance und auf der andern hinaus auf's offne Meer. Sein Eigenthümer war ein großer starker Mann mit fast einem Meter Schulterbreite und fünf Fuß sechs Zoll Körperlänge, einem Brustkasten wie ein Reisekoffer, stets bekleidet von einer Weste mit einer Doppelreihe von Beinknöpfen, nebst braunem, stets sauberem Kittel, der auf dem Rücken und in den Aermeln weite Falten schlug. Aus dieser Büste traten ein Paar starke Arme hervor, die einem Manne von mittlerer Größe hätten als Schenkel dienen können und die in ein Paar Hände ausliefen, die für einen Grenadier der alten Garde groß und fest genug gewesen wären. Begreiflicher Weise erfreute sich Gildas Tregomain unter solchen Umständen auch einer wahrhaft herkulischen Kraft. Er war jedoch ein gutmüthiger Herkules. Seine Kraft hatte er niemals mißbraucht und er drückte Jedem die Hand, aus Furcht, sie zu zerbrechen, nur mit dem Daumen und dem Zeigefinger. Seine Kraft war eben eine latente – sie trat niemals gewaltthätig hervor.
Will man ihn mit einer Maschine vergleichen, so war er nicht der Dampfhammer, der das glühende Eisen mit furchtbarem Schlage bearbeitet, sondern vielmehr eine hydraulische Presse, die das stärkste Blech kalt ohne Schwierigkeiten biegt.
Auf den Schultern erhebt sich ein mächtiger, dicker Kopf, auf dem gewöhnlich ein hoher, breitkrämpiger Hut saß, ein Kopf mit schlichtem Haar, nicht allzu starkem Backenbart, eine gebogne Nase, die dem Profil Charakter verleiht, ein lachender Mund, zurückstehende Oberlippe, vorspringende Unterlippe, Fettfalten um's Kinn, schöne weiße Zähne, mit Ausnahme eines fehlenden obern Schneidezahns – Zähne, die nicht zwecklos zubeißen und die nie vom Rauche einer Pfeife berührt worden waren – ein wässriges, sanftes Auge unter dicken, rothen Brauen, ein röthlicher Teint, den er den Winden der Rance und nicht den rauhen Stürmen des Oceans verdankte ...
Das war Gildas Tregomain, einer jener liebenswürdigen Menschen, von denen man sagt: Ob zu Mittag, ob um zwei Uhr, man wird sie immer zu jeder Gefälligkeit bereit finden. Es war auch eine Art unerschütterlichen Felsens, an den der Wogenschwall des Meister Antifer spurlos anprallte. Jetzt wurde er geholt, als sein Nachbar das richtige Südsüdwestgesicht zeigte, und er stellte sich ein, bereit, dieser stürmisch bewegten Persönlichkeit entgegenzutreten.
Der Expatron der »Charmante Amélie« war im Hause auch ein gern gesehener Gast – bei Nanon, die sich seiner als Schutzwall bediente, bei Juhel, der ihm eine aufrichtige Freundschaft bewahrte, und bei Enogate, die sich gar nicht genierte, ihm einen Kuß auf die rundlichen Wangen oder die glatte Stirn zu drücken – und eine glatte Stirn soll nach Aussage der Physiognomiker das unzweifelhafte Zeichen eines ruhigen Temperaments sein.
Jetzt, gegen viereinhalb Uhr nachmittags, bestieg also der Lastschiffer die hölzerne Treppe, die nach dem Zimmer des ersten Stockwerks hinaufführte, wobei freilich die Stufen ein wenig krachten, und bald darauf befand er sich dem Meister Antifer gegenüber.