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V.

In dem Gildas Tregomain große Mühe hat, dem Meister Antifer nicht zu widersprechen.

 

»Bist Du endlich da, Kapitän?

– Ich bin gekommen, weil Du mich rufen läßt, lieber Freund ...

– Ohne weitere Verzögerung!

– Außer der, hierher zu gehen.

– Na, wahrlich, es sieht mir aus, als wärst Du auf der ›Charmante Amélie‹ hierher gefahren!«

Gildas Tregomain achtete nicht auf diese Anspielung bezüglich des langsamen Ganges der Lastschiffe im Vergleich mit den Seeschiffen. Er merkte, daß sein Nachbar bei schlechter Laune war, was ihn nicht besonders verwunderte, und er nahm sich vor, dessen Launen willig zu ertragen.

Meister Antifer hielt ihm einen Finger hin, den er sanft zwischen Daumen und Zeigefinger drückte.

»Eh! ... nicht so heftig, zum Teufel! Du drückst einen auch allemal wie toll!

– Entschuldige, ich hab' es nicht mit Absicht gethan ...

– Na, das hätte auch noch gefehlt!«

Mit einer Handbewegung forderte Meister Antifer seinen Freund auf, an dem Tische in der Mitte des Zimmers Platz zu nehmen.

Der Lastschiffer setzte sich also nieder, die Füße in den absatzlosen Schuhen hübsch auswärts, und breitete dann sein großes Taschentuch über die Knie, ein blau und roth geblümtes Baumwollentuch, das in jeder Ecke einen Anker zeigte.

Dieser Anker hatte das Privilegium, bei Meister Antifer stets ein starkes Achselzucken hervorzurufen ... Ein Anker bei einem Fluß-Frachtschiffer! ... Warum dann nicht auch einen Fock-, einen Großmast und einen Besan für eine Schute?

»Du trinkst doch einen Cognac, Kapitän? fragte er, während er schon eine Flasche und zwei Gläschen hinsetzte.

– Du weißt, lieber Freund, daß ich dergleichen niemals trinke.»

Das hinderte den Meister Antifer freilich nicht, die Gläser bis zum Rande zu füllen. Nach einer schon seit zehn Jahren bestehenden Gewohnheit trank er nämlich, wenn er sein Glas geleert hatte, auch das Gildas Tregomain's aus.

»Und nun wollen wir ein Garn zusammen spinnen.

– Wovon denn? antwortete der Frachtschiffer, obwohl er recht gut wußte, weshalb man ihn geholt hatte.

– Wovon, Kapitän? ... Ja, wovon sollen wir denn plaudern, wenn nicht ...

– Ah, richtig! Hast Du denn nun auf dem Dich so interessierenden Breitengrade den gesuchten Punkt gefunden?

– Gefunden? ... Wie soll ich ihn denn gefunden haben? ... Etwa beim Zuhören auf das Geschwätz der beiden Weibspersonen, die eben noch hier waren?

– Die gute Nanon und meine hübsche Enogate! ...

– Ja, ja ... weiß schon ... Du bist immer bereit, sie mir gegenüber in Schutz zu nehmen. Doch davon schweigen wir. Jetzt ist mein Vater Thomas seit acht Jahren hinübergegangen, von wo keiner wiederkehrt, und seit acht Jahren schleppt sich die Geschichte fort, ohne einen Schritt vorwärts zu kommen. Das muß ein Ende nehmen!

– Ich ... versetzte der Frachtschiffer mit den Augen zwinkernd, ich machte ihr sofort ein Ende ... ich dächte einfach nicht mehr daran ...

– Wirklich, Kapitän, das meinst Du? Und was fingst Du denn damit an, daß mein sel'ger Vater sie mir noch auf dem Sterbebette ganz besonders an's Herz gelegt hat? ... Nein, das sind geheiligte Sachen!

– Es ist zu bedauern, antwortete Gildas Tregomain, daß der gute Mann nicht noch mehr gesagt hat ...

– Du lieber Himmel, weil er selbst nichts weiter zu sagen wußte! ... Alle Wetter, soll ich denn auch nicht mehr davon wissen, wenn ich mich zum letzten Male niederlege?«

Gildas Tregomain wollte schon erwidern, daß das mehr als wahrscheinlich, und eigentlich sogar wünschenswerth sei; er hielt aber an sich, um den Brausekopf nicht noch mehr aufzuregen.

Einige Tage, bevor der alte Thomas Antifer vom Leben in Tod ging, hatte sich einmal Folgendes ereignet.

Es war im Jahre 1854 – ein Jahr, das der alte Seemann nicht mehr vollenden sollte. Da er sich sehr krank fühlte, glaubte er verpflichtet zu sein, seinem Sohn eine geheimnißvolle Geschichte mitzutheilen, die er nicht zu enthüllen vermocht hatte.

Fünfundfünfzig Jahre früher – 1799 – als Thomas Antifer noch mit einem Handelsschiffe die Häfen des Morgenlandes besuchte, befand er sich gerade nahe an der Küste Palästinas, als Bonaparte die Gefangnen von Jaffa niederschießen ließ. Einer dieser Unglücklichen, der sich auf einen Uferfelsen geflüchtet hatte, wo ihn doch noch ein sichrer Tod erwartete, wurde in der Nacht von dem französischen Seemann aufgefunden, nach seinem Schiffe gebracht, da so gut wie möglich gepflegt und nach Verlauf von zwei Monaten endlich wieder hergestellt.

Der Gefangene gab sich seinem Retter zu erkennen. Er nannte sich Kamylk-Pascha aus Aegypten, und beim Abschiednehmen versicherte er dem braven Malouin, daß er ihn nicht vergessen werde. Zur gelegenen Zeit werde er die Beweise seiner Dankbarkeit erhalten.

Thomas Antifer schied von Kamylk-Pascha, setzte seine Fahrt weiter fort, dachte zuerst wohl dann und wann an das ihm gegebene Versprechen, entschloß sich aber endlich, die ganze Geschichte zu vergessen, denn es sah nicht so aus, als ob jene Zusagen sich jemals erfüllen sollten.

In höheren Jahren stehend, zog sich der alte Seemann zurück nach Saint-Malo, wo ihm nichts andres am Herzen lag, als aus seinem Sohne Pierre einen tüchtigen Seemann zu machen. Da, als er bereits siebenundsechzig Jahre zählte, ging ihm im Jahre 1842 ein merkwürdiger Brief zu.

Daß dieser französisch geschriebene Brief aus Aegypten kam, erkannte man aus dem Poststempel und zu lesen stand darin Folgendes:

 

»Der Kapitän Thomas Antifer wird gebeten in sein Notizbuch einzuschreiben: Vierundzwanzig Grad neunundfünfzig Minuten nördlicher Breite; eine dazu gehörige Längenangabe wird ihm später noch zugehen. Er möge das nie vergessen und als Geheimniß bewahren, da es sich für ihn um wichtige Dinge handelt. Eine ungeheure Summe, in Gold, Diamanten und Edelsteinen bestehend, die er unter dieser Breite und der später mitzutheilenden Länge finden wird, mag ihm als Belohnung für die Dienste gelten, die er dereinst einem Gefangenen von Jaffa erwiesen hatte.«

 

Dieser Brief war nur mit einem Monogramm, ein doppeltes K bildend, unterzeichnet.

Das erregte nun doch die Neugier des braven Mannes und würdigen Vaters seines Sohnes. Nach dreiundvierzig Jahren erinnerte sich Kamylk-Pascha also seiner noch immer! Zeit dazu hatte er sich freilich gelassen. Ohne Zweifel hatten ihn aber irgend welche Hindernisse in Syrien aufgehalten, da dessen politische Ereignisse erst 1840 durch den Londoner Vertrag, und zwar zu Gunsten des Sultans, endgiltig geregelt wurden.

Jetzt war Thomas Antifer nun glücklich »Besitzer« einer Breite, die über irgend einen Punkt der Erde verlief, wo Kamylk-Pascha sein Vermögen vergraben hatte. Und was für ein Vermögen! Seiner Meinung nach doch Millionen! Jedenfalls mußte er über diese Angelegenheit aber strenges Stillschweigen bewahren und den Boten abwarten, der ihm einmal die versprochenen Längengrade übermitteln würde, deshalb sprach er gegen keinen Menschen von der Sache – nicht einmal gegen seinen Sohn.

Er wartete, wartete zwölf lange Jahre ... nichts zeigte sich. Sollte er das Geheimniß wohl gar mit ins Grab nehmen, wenn er einst die Augen schloß, ohne dem Boten des Paschas seine Thür geöffnet zu haben? ... Nein, das glaubte er wenigstens nicht. Er meinte vielmehr, demjenigen davon Mittheilung machen zu sollen, der einst an seiner Stelle Nutzen davon haben könnte, seinem Sohn Pierre-Servan-Malo. Als der alte Seebär dann 1854, das heißt, im einundachtzigsten Lebensjahre sein Ende herannahen fühlte, zögerte er nicht mehr, seinen »Jungen« und Erben über die Absichten Kamylk-Paschas zu unterrichten, und ließ ihn schwören, niemals diese Breitenangabe zu vergessen, sich die Unterschrift mit dem doppelten K genau zu merken und mit aller Zuversicht dem Erscheinen des betreffenden Boten entgegenzusehen.

Dann ging der brave Mann, beweint von den Seinen, betrauert von allen, die ihn gekannt hatten, zu seinen Vätern ein und wurde im Erbbegräbniß der Familie beigesetzt.

Bei der Gemüthsart Meister Antifer's kann man sich leicht vorstellen, welchen Eindruck jene Mittheilungen auf seine an sich lebhafte Einbildungskraft machten und welch' brennende Wünsche sie in ihm wachriefen. Er verzehnfachte in Gedanken die Millionen, die sein Vater angenommen hatte, und machte aus Kamylk-Pascha so einen Nabob aus Tausend und eine Nacht. Er träumte nur noch von Gold und Edelsteinen, die in einer verhexten Grube verscharrt lagen. Seiner natürlichen Ungeduld entsprechend, konnte er sich freilich die Zurückhaltung, die sein Vater bewahrt hatte, nicht auferlegen. Zwölf Jahre lang kein Wort verlauten zu lassen, ohne sich jemand anzuvertrauen, nicht den Versuch zu machen, zu erfahren, was aus dem Unterzeichner der zwei K geworden sein möge ... Der Vater hatte es über sich gebracht ... der Sohn war dazu unfähig. Als er daher 1855 einmal ins Mittelmeer kam, erkundigte er sich nach dem Anlaufen im Hafen von Alexandria mit aller ihm möglichen Geschicklichkeit nach jenem Kamylk-Pascha. Daß er existiert hatte, dafür lieferte ja der dem alten Seemanne zugegangene Brief von seiner eignen Hand den untrüglichen Beweis. Ob er noch existierte, das war eine schwierig zu beantwortende Frage. Was er erfuhr, lautete ziemlich entmuthigend, denn keiner wußte etwas weiteres, als daß Kamylk-Pascha vor etwa zwanzig Jahren verschwunden und seitdem verschollen sei.

Das war in der That ein harter Stoß, den das Lebensschifflein Antifer's erhielt; es ging davon wenigstens nichts unter. Jedenfalls mußte Kamylk-Pascha 1842 jenem Briefe nach noch gelebt haben. Wahrscheinlich hatte er Gründe, denen er nicht nachzuforschen brauchte, gehabt, die ihn zum Verlassen des Landes zwangen. Zur passenden Zeit würde sich der Bote, der Ueberbringer der interessanten Länge, schon einstellen, und da sein Vater nicht mehr auf dieser Erde weilte, würde er, der Sohn, jenen empfangen und natürlich mit Freuden aufnehmen.

Meister Antifer kam also nach Saint-Malo zurück und äußerte vorläufig, so schwer ihm das auch wurde, gegen niemand etwas von der Sache. Er blieb seinem Berufe getreu, bis er ihn 1857 gänzlich aufgab, und seitdem inmitten seiner Familie lebte.

Diese erschlaffende Existenz mit dem Mangel an ernster Beschäftigung wurde freilich zur Veranlassung, daß er einer wahrhaft fixen Idee verfiel. Jene vierundzwanzig Grad neunundfünfzig Minuten flatterten ihm im Kopfe herum, wie Mücken vor den Augen. Endlich ging ihm die Zunge durch. Er vertraute das Geheimniß seiner Schwester, seiner Nichte, seinem Neffen, und auch Gildas Tregomain an. Natürlich währte es nun nicht lange, bis die ganze Stadt, bis über Saint-Servan und Dinard hinaus davon Kenntniß bekam. Jedermann wußte, daß eines Tages ein ungeheures, ganz unabschätzbares Vermögen dem Meister Antifer zufallen mußte. Von da an klopfte kein Mensch an seine Thür, ohne daß dieser erwartete, mit den Worten begrüßt zu werden:

»Da bringe ich Ihnen die ersehnte Länge!«

So verstrichen einige Jahre. Von Kamylk-Paschas Boten kam kein Lebenszeichen, kein Fremdling hatte die Schwelle seines Hauses überschritten, und das brachte unsern Meister Antifer immer mehr in Extase. Seine Familie glaubte gar nicht mehr an das Vermögen, und hielt den alten Brief für eine einfache Mystifikation. Ohne sich's merken zu lassen, hielt Gildas Tregomain ihn für einen Naiven erster Sorte, und das bedauerte er im Interesse der so ehrenwerthen Küstenschifferzunft. Pierre-Servan-Malo war dagegen nicht umzustimmen. Er blieb bei seiner Ueberzeugung. Er hatte die Schätze des Nabob schon so gut wie in der Tasche, und dann durfte ihm keiner widersprechen, wenn er nicht einen schrecklichen Sturm heraufbeschwören wollte. So vermied es denn auch an diesem Abend der gutmüthige Frachtschiffer, eine Explosion bei der reizbaren Theerjacke hervorzurufen.

»Nun, alter Freund, begann der Meister Antifer jenem scharf ins Gesicht sehend, antworte mir ohne Umschweife, denn manchmal sieht es aus, als ob Du mich nicht recht verständest. Na, freilich hat der Kapitän der ›Charmante Amélie‹ niemals Veranlassung gehabt, ein Besteck zu machen; das kommt zwischen den Ufern der Rance nicht vor. Auf so einem Büchlein braucht keiner die Höhe der Sonne, des Mondes und der Sterne aufzunehmen.«

Mit dieser Aufzählung der Verfahren, die die Hydrographie vorschreibt, wollte Pierre-Servan-Malo entschieden nur die große Kluft andeuten, die den Führer eines Küstenfahrzeuges von dem »Kapitän« eines Frachtschiffes trennte.

Der vortreffliche Tregomain lächelte resigniert und besah sich die bunten Streifen auf seinem unbeschreiblichen Taschentuche.

»Na, Du hörst wohl gar nicht, Frachtführer? ...

– O natürlich, lieber Freund.

– Nun also, ein für allemal, weißt Du überhaupt genau, was eine Länge ist?

– Ich denke, so ziemlich.

– Weißt Du auch, was ein Parallelkreis ist und daß der Aequator in dreihundertsechzig Grade oder einundzwanzigtausendsechshundertsechzig Bogenminuten getheilt wird, was so viel wie eine Million zweihundertsechsundneunzigtausend Sekunden ausmacht?

– Warum sollt ich das nicht wissen? antwortete Gildas Tregomain mit freundlichem Lächeln.

– Und weißt Du, daß ein Bogen von fünfzehn Graden einer Zeitstunde entspricht und ein solcher von fünfzehn Minuten einer Zeitminute, und ein Bogen vor fünfzehn Secunden einer Zeitsecunde?

– Soll ich Dir's aus dem Kopfe wiederholen?

– Nein, das ist unnöthig. Nun also, ich habe Kenntniß von jener Breite, nämlich vierundzwanzig Grad neunundfünfzig Minuten vom Aequator. Diese Parallele enthält nun dreihundertsechzig Grade – verstehst Du, dreihundertundsechzig – und über dreihundertneunundfünfzig ärgre ich mich so wenig, wie über einen Anker, dessen Schaufeln abgebrochen sind. Einen aber giebt es, den ich nicht kenne und nicht kennen werde, bevor man mir nicht die Länge, die ihn durchschneidet, angegeben hat ... und da an dieser Stelle ... da liegen Millionen ... Lache nur nicht ...

– Ich lache nicht, lieber Freund.

– Jawohl, Millionen, die mir, mir gehören, die auszugraben ich das Recht habe, sobald mir die Oertlichkeit, wo sie verscharrt sind, angegeben wird.

– Ja, erwiderte der Frachtschiffer, da mußt Du eben geduldig warten, bis der Bote mit jener erfreulichen Meldung kommt.

– Geduldig ... geduldig! Was hast Du denn eigentlich in den Adern?

– Ich glaube Syrup, nichts als Syrup, antwortete Gildas Tregomain.

– Ich aber Quecksilber ... und Salpeter, der in meinem Blute aufgelöst ist ... ich kann einmal nicht ruhig bleiben ... ich zehre mich auf.

– Du mußt Dich aber beruhigen ...

– Beruhigen? ... Denkst Du gar nicht daran, daß wir schon zweiundsechzig schreiben, daß mein Vater vierundfünfzig gestorben ist, nachdem er das Geheimniß seit zweiundvierzig besessen hatte ... und daß es bald zwanzig Jahre sind, seitdem wir auf die Lösung dieses verteufelten Räthsels warten ...

– Zwanzig Jahre, murmelte Gildas Tregomain. Wie die Zeit vergeht! Vor zwanzig Jahren, ach, da führte ich ja noch die ›Charmante Amélie‹ ...

– Wer spricht denn von Deiner ›Charmante Amélie‹, rief Meister Antifer heftig. Ist denn von der ›Charmante Amélie‹ oder von der Breite die Rede, die in diesem Briefe angegeben ist?«

Dazu ließ er vor den blinzelnden Augen des Frachtschiffers den berühmten, schon vergilbten Brief umhertanzen, der das Monogramm Kamylk-Paschas trug.

»Ja ... dieser Brief ... dieser verdammte Brief ... fuhr er fort, dieser verteufelte Brief, den ich zerreißen, in Asche verwandeln möchte ...

– Das wäre vielleicht das klügste, wagte der Frachtschiffer zu bemerken.

– Hollah ... Kapitän Tregomain, rief Meister Antifer flammenden Auges und drohender Stimme, daß es Dir nie wieder beikommt, mir so zu antworten, wie Du's eben gethan hast!

– Nimmermehr!

– Und wenn ich in einem Anfalle von Tollheit diesen Brief zerreißen wollte, den Brief, der für mich ein Eigenthumsdocument darstellt, wenn ich unvernünftig genug wäre, zu vergessen, was ich mir und den Meinen schuldig bin, und Du hindertest mich nicht daran ...

– Ich würde Dich daran hindern, alter Freund, verlass' Dich darauf« ... beeilte sich Gildas Tregomain zu versichern.

Ganz gerührt ergriff der Meister Antifer sein Glas, stieß damit an das des Nachbars und sagte:

»Auf Deine Gesundheit, Kapitän!

– Wohl bekomm's Dir!« antwortete Gildas Tregomain, der das Glas bis zur Höhe seiner Augen hob und es dann wieder hinsetzte.

Pierre-Servan-Malo war nachdenklich geworden, er fuhr sich mit fiebernder Hand durch's Haar, murmelte, von Flüchen und Seufzen unterbrochen, Worte und kaute dabei seinen Kiesel im Munde hin und her. Plötzlich kreuzte er die Arme und ließ den Blick auf dem Freunde ruhen ...

»Weißt Du wenigstens, was dieser vermaledeite Parallelkreis durchschneidet ... dieser vierundzwanzigste Grad nördlicher Breite?

– Warum sollt' ich das nicht wissen? erwiderte der Frachtschiffer, der dieses kleine Examen in der Geographie schon oft genug zu bestehen gehabt hatte.

– Glaube, Kapitän, solche Sachen kann man gar nicht genau genug wissen!«

Damit schlug er im Atlas die Planisphärenkarte auf, die ein Bild der ganzen Erdoberfläche zeigte.

»Sieh, hier! kommandierte er mit einem Tone, der kein Zögern und keine Erwiderung zuließ.

– Du siehst doch Saint Malo, nicht wahr?

– Ja, und hier die Rance ...

– Von der Rance ist keine Rede! Du wirst mich toll machen mit Deiner Rance! ... Nun also, lege den Finger auf den Meridian von Paris und gleite dann bis zum vierundzwanzigsten Grad hinunter.

– Ich gleite schon.

– Nun durch Frankreich und Spanien hindurch ... nach Afrika hinein ... durch Algerien ... da kommst Du nach dem Wendekreis des Krebses ... da oberhalb Timbuktu ...

– Bin schon da.

– Also richtig, da sind wir an der berühmten Breite.

– Ja, ja, da wären wir nun.

– So begeben wir uns nach Osten zu, durchmessen ganz Afrika, waten durch's rothe Meer ... fallen in Arabien oberhalb Mekkas ein ... begrüßen den Iman von Mascat ... setzen nach Indien über und lassen dabei Bombay und Calcutta auf Steuerbord ... dann streifen wir den untern Theil Chinas, die Insel Formosa, den Stillen Ocean, die Gruppe der Sandwichinseln ... aber folgst Du auch ordentlich nach?

– Ob ich Dir folge, seufzte Gildas Tregomain, der sich mit dem großen Taschentuche die Stirn abtrocknete.

– Nun, jetzt bist Du in Amerika, in Mexiko ... dann im Golf ... nachher neben Habanah. Du begiebst Dich durch die Meerenge von Florida ... steuerst auf den Atlantischen Ocean hinaus ... an den kanarischen Inseln vorüber und kommst wieder nach Afrika. Jetzt marschierst Du am Meridian von Paris hinauf und bist in Saint Malo zurück nach einer Rundreise um die Erde auf dem vierundzwanzigsten Breitengrade.

– Uf! stieß, der gefällige Frachtschiffer hervor.

– Und kannst Du mir nun, fuhr Meister Antifer fort, nachdem wir die ganze Reise zurückgelegt, Meere durchkreuzt, Inseln überflogen und Länder durchwandert haben – kannst Du mir, Wasserlastträger, wohl sagen, wo die Stelle liegt, die meine Millionen festhält?

– Ja, das weiß man leider nicht ...

– Wird es aber erfahren ...

– Natürlich ... sobald der Bote eingetroffen ist ...«

Der Meister Antifer langte sich das zweite Gläschen Cognac zu, da der Kapitän der »Charmante Amélie« es nicht geleert hatte.

»Dein Wohlsein! sagte er.

– Wohl bekomm' Dir's! antwortete Gildas Tregomain, der mit dem leeren Glase an das gefüllte seines Freundes stieß.

Eben schlug es zehn Uhr. Ein heftiger Schlag mit dem Klopfer machte die Hausthür erzittern.

»Wenn das der Mann mit der Länge wäre!« rief der allzu nervöse Malouin.

– Oho! sagte sein Freund, der diesen kleinen Ausdruck des Zweifels nicht zurückhalten konnte.

– Und warum nicht? versetzte Meister Antifer, dessen Wangen schon mehr als purpurroth wurden.

– Ja freilich ... Warum könnte er's nicht sein?« gab der Frachtschiffer nach und begann schon eine begrüßende Bewegung, um den Ueberbringer der guten Nachricht zu empfangen.

Plötzlich erschallten aus dem Erdgeschoß laute Freudenrufe – ja, Freudenrufe, die, da sie von Nanon und Enogate ausgingen, dem Abgesandten Kamylk-Paschas wohl nicht gelten konnten.

»Er ist es! Er ist es! wiederholten die beiden Frauen.

– Er? ... Welcher er ...?« knurrte Meister Antifer.

Schon wollte er sich nach der Treppe begeben, als jemand die Thür seines Zimmers öffnete.

»Guten Abend, liebster Onkel, guten Abend!«

Diese Worte ertönten von einer heitern, offenbar zufriedenen Stimme, die den Onkel in leise Verzweiflung zu setzen vermochte.

»Er,« das war Juhel, der eben zurückkam. Er hatte den Zug von Nantes nicht versäumt und sein Examen auch bestanden, denn er rief:

»Erhalten, lieber Onkel, erhalten!

– Erhalten! wiederholten die bejahrte Frau und das junge Mädchen.

– Erhalten ... Was denn? ... versetzte Meister Antifer.

– Das Patent eines Kapitäns der langen Fahrt ... mit Auszeichnung!«

Und da sein Onkel ihm die Arme nicht öffnete, fiel er in die Gildas Tregomain's, der ihn an's Herz drückte, daß dem jungen Mann der Athem ausging.

»Sie werden ihn ersticken, Gildas, bemerkte Nanon.

– Ei was, ich hab' ihn doch kaum umarmt!« meinte lächelnd der Exkapitän der »Charmante Amélie«.

Inzwischen war Juhel wieder zu sich gekommen und wandte sich nun an Meister Antifer, der unruhigen Schrittes im Zimmer auf- und abging.

»Und nun, lieber Onkel, wann soll nun die Hochzeit sein?

– Welche Hochzeit?

– Die meinige mit der lieben Enogate, antwortete Juhel. Ist das nicht ausgemacht?

– Ja, freilich, schon lange, bestätigte Nanon.

– Wenigstens, wenn Enogate mich noch mag, seitdem ich Kapitän für lange Fahrt ...

– Ach, mein Juhel!« rief das junge Mädchen, indem sie ihm eine Hand hinstreckte, in der der gute Tregomain – er hat es wenigstens behauptet – zu sehen glaubte, daß sie ihr ganzes Herz hinein gelegt hatte.

Meister Antifer antwortete nicht und schien nur zu schnüffeln, woher der Wind wehte.

»Nun, lieber Onkel?« fragte der junge Mann noch einmal, während er seine hübsche Gestalt aufrichtete, sein Gesicht leuchten und seine Augen von Glück erglänzen ließ. Hast Du, lieber Onkel, fuhr er fort, nicht gesagt: die Hochzeit findet statt, wenn Du Dein Patent erhalten hast, und wir bestimmen die Zeit dafür am Tage Deiner Heimkehr?

– Ich glaube, das hast Du gesagt, alter Freund, wagte der Frachtschiffer zu bemerken.

– Nun also, mein Patent hab' ich, wiederholte Juhel, hier bin ich auch zurück, und wenn Du nichts einzuwenden hast, lieber Onkel, bestimmen wir die Sache für die ersten Tage des April ...«

Pierre-Servan-Malo schnellte in die Höhe.

»In acht Wochen, warum nicht gleich in acht Tagen, in acht Stunden ... oder gar in acht Minuten? ...

– Wahrhaftig, wenn das ausführbar wäre, lieber Onkel, ich hätte wahrlich nichts dagegen.

– Nein, nein, das will Zeit haben, meinte Nanon. Da giebt es Vorbereitungen zu treffen, Einkäufe zu machen ...

– Ja, ich muß mir auch einen neuen Anzug dazu bauen lassen, sagte Gildas Tregomain, der zukünftige Brautführer.

– Nun also ... am fünften April? fragte Juhel.

– Meinetwegen, stieß Meister Antifer hervor, der sich gar zu sehr in die Enge getrieben fühlte.

– Ach, mein liebster guter Onkel! jubelte das junge Mädchen, sich ihm an den Hals werfend.

– O, mein bester Onkel!« rief der junge Mann.

Und da er diesen von der einen Seite und Enogate ihn von der andern Seite umarmte, ist's nicht ganz unmöglich, daß die Lippen der jungen Leute sich dabei ein wenig berührten.

»Gut ... also abgemacht ..., ließ der Onkel sich vernehmen ..., am fünften April ... doch unter einer Bedingung ...

– O, keine Bedingungen ...

– Noch eine Bedingung? rief Gildas Tregomain, der einen listigen Schachzug seines Freundes fürchtete.

– Ja freilich ... eine Bedingung noch ...

– Und die wäre, lieber Onkel? fragte Juhel mit leichtem Stirnrunzeln.

– Sie besteht darin, daß ich bis dahin meine Länge noch nicht erfahren habe.«

Alle seufzten auf.

»Ja! ... Ja wohl!« riefen die andern wie aus einem Munde.

Es wäre ja grausam gewesen, dem Meister Antifer diese kleine Genugtuung zu versagen. Welche Wahrscheinlichkeit lag auch dafür vor, daß der nun seit zwanzig Jahren erwartete Sendling Kamylk-Paschas gerade noch vor dem für Juhels und Enogates Hochzeit bestimmten Tage eintreffen könnte?


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