Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

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Es war etwa zwei Monate später, als ein Paket an mich kam mit dem Poststempel Venedig. Ich öffnete sehr begierig, und da hatte ich nun die Pfahldorfgeschichte – in sauberer Reinschrift, da und dort mit Korrekturen von andrer Hand, welche die des Verfassers sein mußte. Ein Zettel lag bei; ich werde nachbringen, was darauf geschrieben stand. Es ist ein gewisses Gefühl von Bedürfnis der Abwechslung, was mich bestimmt, meinem ferneren Berichte den Abdruck der Novelle vorangehen zu lassen; ich habe so lange selbst geredet, daß es Zeit ist, unsern Freund – ich hoffe, das sei er trotz alledem – ganz zu Worte kommen zu lassen.

 
Der Besuch

Eine Pfahldorfgeschichte
von
A. E.

Wir blicken durch eine kleine Fensteröffnung in eine Hütte, die uns gar dürftig erscheinen müßte, wenn wir uns nicht Bau, Ausstattung, Schmuck unsrer Räume aus dem Sinne schlagen wollten. Die Wände bildet ein Flechtwerk, das mit Lehm bekleidet ist, daran läuft ein Bord, der einen Hausrat von äußerster Einfachheit trägt, ein roher Tisch in einer Ecke, einige Stühle von nicht feinerer Arbeit sind zu sehen, und auf dem Estrich, der eben nicht aus Parkettafeln, sondern aus einem Guß von Ton und Kohlenstaub über einer einfachen Lage von Planken besteht, erhebt sich ein Herd, dessen Form aus so höchst ursprüngliche Zustände hinweist, wie alles, was wir erblicken. Und dies alles gehört keinem armen Manne; die Matte dort aus Binsengeflecht scheidet das Ganze des Bodens in eine Schlaf- und eine Wohnstube, die freilich zugleich als Küche dient, und das ist ein Raumluxus, den nicht jede dieser Hütten aufweist. Der wohlhabende Besitzer ist ein ehrsamer Pfahlbürger des Dorfes, das sich über dem Spiegel des Sees Robanus, wenige Meilen entfernt von der größeren Wassergemeinde Turik, erhebt. Er heißt Odgal und ist augenblicklich abwesend; einige hundert Schritte entfernt sitzt er in einem Einbaum auf dem Wasser und ist mit seinen Fischernetzen beschäftigt. Dem Gemach aber fehlt es nicht an einem lebendigen Schmuck. Eine rüstige, rotbackige Dirne, von munteren Kindern umgeben, hantiert mit einem schweren runden Stein auf einer größeren Steinplatte, auf welche sie einen Haufen Weizenkörner geschüttet hat: sie mahlt. Die Arbeit ist nicht leicht, schwerlich würde auch eine starke Bauerntochter unsrer Zeit die Last des Kornquetschers so leicht heben, so geschickt und leicht handhaben, und wir bewundern dabei ein paar prächtige Arme, die auf den aufgestreiften Aermeln des einfachen Bastkleids ebenso wohlgebildet als muskulös hervorglänzen. Etwas Sonderbares erblicken wir freilich auf dem linken Oberarm: ein seltsames Bild, das ebensowohl einen Kuhkopf, als einen Halbmond vorstellen kann, ist hier mit blauer Farbe eingeritzt und längst mit der Haut verwachsen. Niemand jedoch wird sagen, daß es den schönen Arm entstellt; es sieht eben aus, als hätten die blauen Aederchen, die diese schimmernd klare Haut durchrieseln, den Einfall gehabt, sich gelegentlich zu einer Art von Verzierung zu gestalten. Also lassen wir uns die tätowierte Schöne gefallen und sehen uns weiter um in diesem Raume. Drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, treiben ihr Spiel mit einem Eichhörnchen; das kleinere ist seit einem Jahr erst aus den Windeln und erfreut sich jetzt zugleich seiner Freiheit; neben ihm liegt ein Ding, etwas wie ein eigentümliches Zaumgebilde, am Boden: es ist der Halfter, womit der arme Wurm an einem Pfosten festgebunden wird, wenn die Falltüre offen ist, die wir jetzt niedergelassen sehen; sie deckt eine Oeffnung, die sich einfach über dem Seespiegel befindet und ursprünglich zum Fischfang bestimmt war. Man ließ durch sie einen Korb ins Wasser hinab und durfte sicher sein, daß er zappelnde Beute mitbrachte, wenn man ihn nach einiger Zeit aufzog. Seit die Gemeinde stark über zweihundert Bürger zählt, ist der See so ergiebig nicht mehr, die Oeffnungen aber sind geblieben, eine Treppe führt hier ins Wasser, um schneller zum Kahn zu gelangen, als durch die spärlichen und engen Durchgänge zwischen den Häusern, die man mit wenig Recht Gassen zu nennen beliebt, und über die einzige Brücke des Dorfes. Einen eigentümlichen Gegensatz zu den Erscheinungen der blühenden Kinder und der schönen, rüstigen Jungfrau bildet eine unheimliche Alte, runzlich, von gelber Farbe, die grauen Haare hängen ihr fast ungeordnet über die Stirne; sie sitzt in einer Ecke und spinnt. Dazu singt sie in eintöniger Weise – man kann es kaum Melodie nennen, es ist nur wie ein dumpfes Murmeln – ein dunkles, uraltes Lied.

»Helft mir spinnen, spinnen,
Heil'ge Spinnerinnen,
      Die ihr schwebt im Schilf!
      Selinura, hilf!

Faden kam geronnen,
Haft die Welt gesponnen,
      Du und deine Feen,
      Geister in den Seen!

Tanze, Spindel, tanze,
Fäden, feine, ganze!
      Wirtel mit Gesumm
      Wirble um und um!

Leise rauscht's im Riede
Mir zum Spinnerliede,
      Flüstert Zaubersang
      Mir zum Spindelklang.«

Dazu hörte man die Welle unter dem hohlen Bau an den Pfählen plätschern und den Abendwind raschelnd durch den nahen Uferschilf wehen: eine Begleitung, die gar wohl zu dem geisterhaften Gesange stimmte.

Ein frischerer, hellerer Klang, von ferneher vernehmbar, unterbrach diese düstere Musik. Es war ein Jodeln, ganz dasselbe Spiel wechselnder starker Fistel- und Baßtöne, wie man es heute noch in den Schweizer und Tiroleralpen oft und gern vernimmt. Das Mädchen strich sich die braunen Locken aus, die ihr bei der starken Arbeit über die Stirne gefallen waren, und aus ihren dunkelblauen Augen, die bisher nachdenklich, träumerisch unter den langen Wimpern dareingeschaut hatten, blitzte die helle Schalkheit hervor. Wie ein morgendlicher Strahl fuhr jetzt ihre glockenhelle Stimme durch die nebligen Laute der gespenstischen Alten

»Und mein Schatz, der kann singen
      Und jodeln dazu,
Wenn er ausi tut treiben
      Sein Kalb und sein' Kuh.
                                        Ju!

Und e schwarzbrauner Jager,
      E lustiges Blut,
Der wär' mir schon lieber,
      Mit em Gamsbart uff'm Hut!
                                      Ju! Ju!«

Das Ju denke man sich mit jenem durchdringenden gezogenen Jodelton gesungen, der fernhin durch Berg und Tal ausklingt. Man sollte meinen, der entfernte Sänger werde ihn erwidern, aber von dorther ließ sich kein Laut mehr vernehmen. Ueber die Züge der Alten ging ein Schatten, ihre finsteren Augen schickten einen stechenden Blick nach dem Mädchen, ihre Spindel stand still, und sie sagte nur die zwei Worte: »Wieder das?« »O was ist's denn weiter auch?« erwiderte das Mädchen und wandte sich nun zu den Kindern, die nach Abendbrot verlangten. Nicht so zierlich wie Werthers Lotte teilte sie mit einem Steinmeißel einen dunkeln Brotlaib, dessen Rinde in der Tat ziemlich kohlig und dessen Substanz eben nicht so weiß und porös aussah wie bei unserm leichtverdaulichen Brot, in wenig regelmäßige Schnitten; der Leser begreift, daß Messerklingen von genügender Länge aus Stein nicht herzustellen waren, so mußte denn bei Körpern, die für ein Holzmesser zu hart waren, der Meißel die Stelle versehen; man darf übrigens zugeben, daß Sigune den Druck oder Stoß von oben, womit er gehandhabt wird, mit so viel Grazie ausübt, als irgend mit dieser gröberen Bewegung vereinbar ist. Sie nimmt hierauf mit einem Holzlöffel Butter aus einem tönernen Napf, dessen Hals einige aufgemalte Zickzacklinien einfach genug verzieren, streicht sie mit dem spatelförmigen Stiele zierlich auf die Brote und sagt dann: »Wartet, weil ihr ordentlich brav gewesen, sollt ihr einen Vorschmack vom Fest haben.« Sie holt noch einen andern Topf vom Borde und schöpft daraus einen braunen Stoff, bei dessen Anblick die Kinder jubeln: es ist ein Mus von verkochten Apfelschnitzen mit etwas Zusatz von Honig. »Gsälz! Gsälz!« riefen die Kinder und konnten kaum erwarten, bis die Butterlage mit dem wohlschmeckenden Ueberzuge bedeckt war. Sigune – denn so hieß die erwachsene Schwester der Kleinen, die ihnen getreulich seit einem Jahr die tote Mutter ersetzte – vergaß sich selber nicht; der Alten wurde dann ein Becher Met gereicht und auch das Eichhörnchen nicht vergessen, ihm wurden einige Haselnüsse gespendet, und so ließ sich denn die ganze Gesellschaft ihr Vesperbrot schmecken.

»Hixi, Hixi!« rief jetzt das ältere Schwesterchen Sigunens, »komm, sing mit uns das Märchenlied von Coridwen einmal wieder!« Der Knabe stimmte mit ein, die Alte – ihr Name nicht abgekürzt hieß Urhixidur – war inzwischen munterer geworden und stellte nur die Bedingung, daß die Kinder ordentlich einfallen; sie versprachen eifrig, und so begann denn der Gesang, wobei der Leser zu merken hat, daß bei den fünf ersten Strophen je die zweite Zeile vom Knaben, die vierte vom Mädchen übernommen wird, das übrige aber mit näselndem und zugleich hohlem Tone die Alte vorträgt.

»Gwyon, dieser kleine Tropf –
      Was tut der?
Hat geschleckt vom Zaubertopf.
      Wer kommt her?
Kommt hinzu, o weh! o weh!
Coridwen, die starke Fee!

Gwyon, dieses Zwergelein,
      Was wird er?
Wird ein flinkes Häsulein.
      Wer kommt her?
Coridwen als Hündin schnell
Will zerzausen ihm das Fell.

Daß sie ihn nicht packt am Wisch,
      Was tut er?
Gwyon wird im Nu ein Fisch.
      Wer kommt her?
Coridwen als Ottertier
Jagt ihn und erhascht ihn schier.

Gwyon , Gwyon, jetzt sei flink!
      Was tut er?
Er wird flugs ein Distelfink.
      Wer kommt her?
Coridwen stößt auf den Schalk
Gleich herab als Finkenfalk.

Zu entfliehn des Falken Zorn,
      Was tut er?
Er wird rasch ein Weizenkorn.
      Wer kommt her?
Coridwen wird eine Henn'
Und verschluckt ihn, Coridwen.«

Von ihrer gelungenen Gesangleistung fast noch mehr als von dem gern gehörten Märchen beglückt, jubelten und klatschten die Kinder, während die Alte, ohne weiter auf sie zu achten, mit verändertem, tiefem, finsterem Tone den Schluß vor sich hinsang, um den sich die Kleinen niemals bekümmert hatten:

»Das Korn hat gegoren
      Im heiligen Leib,
Da hat sie geboren
      Das Wunderweib,
Die Strahlenstirne, den Taliesin,
Der da schauet allen geheimen Sinn,
Der da blicket hinaus in die Ewigkeit,
Der da ist und war in aller Zeit,
Der Druiden Vater und Geisterhaupt.
Verflucht, wer nicht an Taliesin glaubt!«

Ein Huhn flog herein und pickte die Weizenkörner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen waren. Dies steigerte den Jubel der Kinder und eins ums andre riefen sie: »Schluck das Körnchen, Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!«

Inzwischen ist an der Fensteröffnung ein unbemerkter Zuschauer erschienen, ein Bursch im besten Jugendalter. Er betrachtet sich mit sichtbarem Wohlgefallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken auf der mütterlichen Schwester der Kleinen. Nachdem er manche Minute so ohne Regung gestanden, zieht er eine Binse hervor und kitzelt mit ihrem Ende Sigunen hinter dem Ohr; sie springt auf, »wart nur, wart, Alpin, ich brech' dir den Finger ab,« ruft sie, faßt seine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk, als wollte sie die Strafe vollziehen. Der Bursche grillt auf und lacht, tritt schnell in die Hütte ein, gefolgt von einem zottigen Schäferhund, der mit lustigen Sätzen, wedelnd, bellend, leckend Sigunen und die Kinder begrüßt, nimmt die Täterin um den Hals und klemmt sie ins Ohrläppchen, daß nun das Aufschreien an sie kommt. Dann wird er plötzlich ernst, setzt sich auf den Herd und sieht sie schweigend an. »Hast wieder das Gsatzli vom Jäger gesungen oder nicht?« »Ja, ja, sie hat's,« mischt sich mit angeberischem Ton die Alte ins Gespräch, setzt ein »aber« ohne Wortfolge hinzu und bricht mit ihrem Spinnrocken auf, nachdem sie den Wirtel sorgfältig eingepackt und eingeschoben hat; denn es ist einer von den kostbaren, nur von Ton, aber niedliche Verzierungen, dazwischen seltsame Runenzeichen sind darauf eingegraben. Im Abgehen klopft sie mit ihrem Kunkelstecken noch leise an den größten der Kochtöpfe, die auf dem Bord am Herd stehen, und sieht Sigunen mit einem Blick dabei an, als wollte sie sagen: »Da hab' ich zu Haus einen andern!« Diese lacht und versetzt spöttisch: »Na, ich bin dir nicht neidig auf deinen alten Krauthafen!«

»Und hab' dir grad wollen eine Freud' machen, – so etwas fürs Fest – aber ich weiß, es g'freut dich erst nicht,« sagt jetzt Alpin. Er handelt jedoch seinem eignen Worte zuwider und zieht unter seinem Schafpelz, dessen Wolle nach außen gekehrt ist, eine Schnur von glänzenden Körpern hervor. »Ah! Ei! Je, wie nett!« ruft das Mädchen, das ohne viel Umstände danach gegriffen hat und dem der freundliche Geber das kostbare Geschenk leicht in die Hand fallen läßt. Es ist ein Halsband von aufgereihten Stückchen aus Bergkristall; sie sind nicht eben ganz gleich an Form, aber man sieht, sehr sorgfältig nach annähernder Aehnlichkeit zusammengelesen; sie zu schleifen, bis sie in ihrer Durchsichtigkeit hell leuchteten, mag mühsam genug gewesen sein, noch viel mühsamer jedoch das Durchbohren. Sigune weiß wohl, was das Arbeit kostet, mit einem spitzen Splitter von Quarz oder Feuerstein einen, noch dazu kleinen, harten Körper zu durchlöchern, ohne ihn zu zerbrechen, und sie kann sich gar wohl vorstellen, wie manche lange Stunde, beim weidenden Vieh sitzend, der zärtliche Hirte daran gearbeitet haben mag. Und daß sie Sinn dafür hat, am Feste, statt mit ihrer alten Schnur von farbigen Tonperlen mit solchem Schmuck zu erscheinen, bedarf keiner Versicherung. Sie ist nun wohl herzlich gerührt, reicht auch dem Geber mit den Worten: »Bist immer gut!« einen Schmatz, aber Alpin spürt, daß er etwas kurz und oberflächlich ist, er weiß gar wohl: hätte er Sigunen einen Auerhahn oder Gemsbock zu Füßen gelegt und erzählt, wie er ihn auf gefahrvollen Wegen erschnappt habe, da hätte sie ihn an den Locken gepackt und anders geküßt. Es trat wieder eine Pause ein und Alpin, als wäre gesprochen, was er soeben nur gedacht hat, sagt mit weicher Stimme: »Ich mag halt eben die ordentlichen Tierli nicht umbringen, sie wollen halt auch leben; und weißt, neulich wieder – wie ich den angeschossenen Rehbock im Wald gefunden, mit dem Pfeil im Leib, langsam verendet, aber noch lebig von Hunden angefressen, – seitdem mag ich schon gar nicht mehr jagen; ja, wenn's auf ein recht schädliches wildes Tier geht – hab' ich je den Wolf gefürchtet? – soll ich dick damit tun, daß ich jüngst den Bären –« Hier veränderte sich der Ausdruck seiner milden, hellblauen Augen, er richtete sich stolz und steil auf und fuhr fort: »Man hat dir's erzählt – nicht ich – ich mag mich nicht brüsten – heut sag' ich dir's: sieh, so stand das Ungetüm, nahm den Kampf an, will mich umarmen – mein Speer war keiner von den starken – sonst eben gut genug zur Schippe –, ich wag's darauf und ganz nah heran, – die Spitze richtig in den Rachen – schnell nachgebohrt mit aller Kraft – 's war grad keine Kleinigkeit –«

Er erzählte nicht weiter, sondern rief heftig: »Wer das kann, der nimmt's auch noch mit manchem Jäger auf! Komm, Ryno, wir gehen! Gut' Nacht!« Und er war hinweg, begleitet von seinem Tiere, das sich eben nicht gerne von der munteren Gesellschaft zu trennen schien.

Sigune saß nachdenklich, die Halsschnur in der Hand wiegend. Es war eben so eine Sache. Alpin war ihr lieb, aber – Man wußte damals noch nichts von Ideal, und Bauernmädchen pflegen heute noch nichts davon zu wissen, sonst würden wir sagen: es schwebte ihr eben ein andres Ideal vor. Sie hatte dem guten Alpin noch nie bestimmten Anlaß zur Eifersucht gegeben, aber so viel neckische Bosheit war allerdings in ihr, daß sie ihn oft genug in ihre Gedanken hineinsehen ließ, und diese lauteten: schlank, behend, schwarzbraun blitzende dunkle Augen, Kraushaar, hübscher Schnurrbart, wo möglich an den Spitzen in die Höhe gestrichen, überhaupt keck, flott, jägerartig. Alpin aber war stämmig, langsam, hatte Augen, die wir als hellblau schon kennen und die gewöhnlich sanft und nachdenklich blickten, glattes Flachshaar und – was ihm besonders im Wege stand und allerdings ihm selbst auch Kummer machte: der Schnurrbart wollte, obwohl es längst, längst Zeit war, nicht recht kommen, sondern beharrte darauf, dem dünn bewachsenen Kornfeld nach langer Trockenheit gleich zu sehen. Man hörte jetzt unten einen Kahn anfahren, anlegen, der Vater kam zurück, brachte in einem Schaff seinen Fang, einen fetten Karpfen und ein Prachtexemplar der forelleverwandten Äsche nebst einigem Volke niedrigeren Schlags; Sigune hatte nicht Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen, Odgal bezeigte Lust, sich den Karpfen heut abend schmecken zu lassen, und die Tochter machte sich ungesäumt ans Geschäft der Zubereitung. Alpins Geschenk wurde dem Vater nicht verheimlicht, und er schien es nicht ungern zu sehen.

Wir überlassen sie ihrer Arbeit und folgen dem aufgeregten Alpin durch ein paar Zwischengänge des Pfahldorfs nach der Hütte seines Vaters. Es ist kein guter Abend heute für unsern jungen Freund. Er findet den Vater öfters niesend und hustend, dazwischen fluchend auf einen vor ihm liegenden Stein, der seiner bearbeitenden Hand sichtbare Schwierigkeit entgegensetzt. Es ist ein ovaler Kiesel von der Größe einer starken (damaligen) Männerhand, und der alte Ullin ist beschäftigt, ihn der Länge nach zu durchsägen. Seine Säge besteht aus einem nur zwei Zoll langen Stück Flints, das heißt Feuerstein, mit unregelmäßig gezahntem Rande. Der Kiesel soll zwei Aexte geben, aber die Säge stößt auf eine Verhärtung und kann nicht vorwärts kommen. Schon zwei Tage lang hat sich Ullin daran abgemüht; jetzt, eben wie der Sohn eintritt, hat er die Geduld verloren, schleudert den Stein auf den Estrich und flucht unter einem neuen Nies- und Hustenanfall: »Hol euch der höllische Grippo, Stein, Säge und Nase!« Dabei stößt er eine Schale voll Met um, die er sich eben frisch eingeschenkt hat. Mit dem süßen und eben nicht schwachen Getränke hat er sich unter der sauern Arbeit gestärkt und zugleich das Kratzen im Halse zu beschwichtigen gesucht. Die Schale ist ungleich feiner als andre Arbeiten der Pfahlbewohner, und aus einem Stoffe geschnitzt, der dort selten genug war, dem Holze des Buchsbaums, Erzeugnisses einer wärmeren Sonne. Ullin hatte das Gerät von einem Freund am Podamursee, wohin es ein Händler aus fernem Lande gebracht, um die Bälge von zwölf Edelmardern erstanden. Wer der höllische Grippo ist, werden wir erfahren; für jetzt müssen wir dem Gespräche folgen, das zwischen Vater und Sohn beginnt. Sie hatten eben auch einen Span miteinander und nicht erst von gestern her. Der Vater wollte mit dem Sohn höher hinaus, als dieser mochte. Das unzureichende Werkzeug, das ihm den Kampf mit dem spröden Stein erschwerte, brachte ihn jetzt wieder auf dieses Thema. Ging es nach seinem Willen, so sollte der Sohn Fabrikant werden, und längst hatte er ihm vorgeschlagen: entweder sollte er sich in einem Schnur- und Fadengeschäft, das sich in der großen Wassergemeinde Turik aufgetan, oder in der weitbekannten Werkzeug- und Waffenfabrik am See Podamur zum Meister ausbilden, um seinerzeit ein eignes Anwesen hier auf dem See von Robanus zu gründen. Der Leser möge nicht zu sehr staunen, wenn wir von Fabriken reden in einer Zeit, wo die menschliche Bildung auf einer Stufe stand, wie wir hier sie darzustellen haben. Wo ein Volk doch schon so weit ist, wie wir hier sehen, da hat immer auch schon eine Teilung der Arbeit und mit ihr eine Vervollkommnung durch Massenbetrieb einer Gattung von Arbeit begonnen. Wohl ist der Bauer auch Fischer, kann Netze stricken und flicken, ist Zimmermann, spitzt seine Pfähle selbst mit der Steinaxt, treibt sie mit dem schweren Holzschlegel in den Seegrund und errichtet darüber seine vier Wände, ist Wagner, baut sich einen schwerfälligen Pflug mit hölzerner Pflugschar, einen Wagen mit Rädern, aus einer, durch schwere Leisten kümmerlich gefestigten Holzscheibe, wohl kann Frau und Tochter nicht nur melken, kochen, sondern auch mahlen, spinnen, mit beinerner Nadel oder mit Fischgräte nähen und auf sehr einfachem Webstuhl, dem Kegel und Kugeln von Ton als Netzstrecker dienen, vermag sie Stoffe zu weben, nicht nur einfache, sondern sogar gemusterte von ganz niedlicher Zeichnung; aber neben solcher Vereinigung von Fertigkeiten in einer Hand haben sich doch schon die Anfänge des Handwerks eingestellt, denn bereits mußte man erkennen, daß Vervollkommnung Zeit braucht und daß nicht jeder Zeit hat, von dem Vielerlei, das er treibt, jegliches recht zu lernen. Unternehmende und kluge Männer haben da und dort sogar einen weiteren Schritt getan: sie haben begriffen, wie ersprießlich es ist, wenn man sich zusammentut zu einerlei Geschäft, viele Hände in seinen Dienst zieht und in der Teilung wieder eine Teilung vornimmt, indem man je eine der Arbeiten, die das Ganze in sich begreift, einer Anzahl dieser Hände zuweist, so daß sie darin eine ausnehmende Fertigkeit erlangen. So ist drüben am Podamursee aus kleinen Anfängen ein Anwesen erwachsen, das weit hinein die Lande diesseits und jenseits dieses großen Wassers mit Werkzeugen von Feuerstein und anderm hartem Mineral versorgt; viele Arbeiter sind beschäftigt und teilen sich, wie gemeldet, in die Arbeit; die einen fertigen Pfeil und Speerspitzen, die andern Meißel verschiedener Stärke und Breite, wieder andre, und zwar die Geschicktesten, sind Sägenschläger, und es war eines ihrer Produkte, das wir in Ullins Hand gesehen haben; sie wissen ein Stück Feuerstein durch wenige geschickte Schläge zuerst in längliche Splitter zu teilen und dann den Rand eines Splitters so zu sprengen, daß seine Zacken ungefähr den Dienst der Zähne einer metallenen Sägenklinge verrichten können. Diese kannte man ja noch nicht, und so hielt man große Stücke auf ein Werk, das uns gar dürftig erscheinen muß; man muß auch bedenken, daß kein metallener Hammer, sondern nur ein kleiner Steinschlegel zu Gebote stand, um die schwierige Spaltung vorzunehmen. Wie sehr man doch die Unzulänglichkeit des Gerätes zu fühlen bekam, haben wir aus Ullins Geduldermüdung gesehen. Er wußte aber von einem neuen, großen Fortschritt, der in dieser Fabrik gemacht worden: die durch Schlagen, Sprengen hervorgebrachte Form wurde durch Schleifen auf Granit, aus harten Quarzen geglättet, regelmäßiger gebildet, die Zähne der Säge wurden durch feilenartige Handhabung desselben Gesteins geschärft, alles bekam eine Präzision und Brauchbarkeit, die man bis dahin bitter vermißt hatte, doch länger konnte man freilich die Säge, härter Waffe und Meißel nicht machen. Unbestimmte Ahnungen von künftigen, noch größeren Fortschritten schwebten aber Ullins denkendem Kopfe vor, und es war sein Lieblingsgedanke geworden, seinen Sohn in diese große Bahn einzuschieben. Mit der Schnur- und Fadenfabrik in dem näheren Turik schien es ihm weniger Ernst zu sein, denn sein Alpin, obwohl eine stille Natur, hatte bei früheren Anläufen eine noch stärkere Abneigung gegen diese Art von Arbeit an den Tag gelegt, und der Vater selbst dachte sich in Wahrheit seinen Sohn lieber in einem luftigen Schlag- und Klopfwerk, als in einem dumpfen Gemache voll Flachsgeruch und surrenden Häspeln. Aber auch gegen den andern Vorschlag sträubte sich der Sohn heute wie immer, ja heftiger als jemals. Denn, gereizt wie er von Sigunen herkam, war er sich eben jetzt recht bewußt, daß sein Stand auch seine Ehre habe, und wollte ein Fabrikant so wenig werden wie ein Jäger. Stand dürfen wir sagen, denn allerdings war auch das Viehhüten in jener Zeit schon zum besondern Geschäfte geworden wie überall, wo ein Volk zum Ackerbau vorgeschritten ist. Und da wollte es einen Mann auf dem Platze; das haben wir aus Alpins Bärenkampf ersehen, und außer den Bären gab es nicht nur Wölfe, Luchse, Lämmergeier, sondern noch andre, nicht die Herde, aber den Hirten bedrohende schreckliche Feinde, deren einer uns im Verlauf dieser Geschichte begegnen wird. Schon darum konnte der Hirtenstand nicht verachtet sein, aber er war es ohnedies nicht, sondern etwas Ehrwürdiges. Und Alpin war ein kleiner König. Er selbst hatte sich das ernsthafte, geruhige, genährige, stille Rind vorbehalten; unter ihm stand ein Roßhirt, ein Schafhirt, ein Ziegenhirt und ein Schweinshirt, den zwar kein Homer den göttlichen Sauhirt Eumaios nannte, den aber die Welt doch nicht minder in Ehren hielt, als seine Kollegen, und diese untergeordneten Herrscher hatten sich wie der Regent selbst noch Hilfskräfte in Form von anstelligen Buben herbeigezogen. Die erwähnte Gefahr brachte es mit sich, daß der Hirte oft in den Jäger überging, aber darum war er nicht Jäger von Handwerk. Auch die Jagd, obwohl jedermann nebenher auch jagte, forderte schon einen besonderen Stand. Der gelegentliche Kampf gegen die vielen starken und wilden Feinde im Tierreich konnte nicht ausreichen, sie mußten verfolgt werden, und da bedurfte es ausdrücklich zu diesem Zwecke geübter List und Kraft; auch liebte man sehr das Wildbret, das wird uns gründlich der Festschmaus bezeugen, von dem späterhin zu berichten ist.

Wir kehren zum einredenden Vater und ablehnenden Sohne zurück.

»Ach, laß, Vater! Wenn ich so bei meinen Tierlein sitze und denke so allerhand über ihre Art und Tun und kenne sie auseinander und wundre mich, wie sie doch verschieden sind, und wenn ich so weiter denke und kommt mir als großmächtig Geheimnis vor, wie alles das so sein mag, auch Gras und Laub und die großen Berge und die Sterne, und wenn ich dann nicht weiter weiß und blase oder jodle oder blättle – –«

Der Vater unterbrach ihn: »Was nützt mir das Jodeln und Blätteln!« Aber Alpin war stolz auf sein Jodeln und noch mehr auf sein Blätteln, und dies mit Grund: er entlockte dem Buchenblatt zwischen seinen Lippen Töne und Melodien, wie sie jetzt ein Virtuos auf Klarinette oder Fagott bezaubernder nicht hervorbringen könnte. Und nun war das Gespräch natürlich schon im unebenen Geleise. »Und blättle,« nahm Alpin in gereiztem Tone wieder auf, »und denke dagegen, ich sollte zu Zwanzigen klopfen und hämmern an dem toten Gestein und mein eigen Wort nicht hören vor dem Lärm – und so immer das gleiche den ganzen Tag – und dann der Herr oder die Herren – ich arbeite ja dann nicht für mich – was krieg' ich von denen?«

Geld gab es dazumal, in jenen Gegenden wenigstens, noch keins. Der Vater konnte nichts nennen, als die Tauschmittel: Geräte, Kleider, Schmuck, Vieh, Felle, Wolle, Getreide.

»Und wer hilft mir, wenn ich zu wenig krieg' und mit dem, was ich krieg', was soll ich anfangen?«

Der Vater fand sich in einige Konfusion versetzt und antwortete nach einer Pause: »Wieder tauschen oder aufsparen und Land kaufen.«

»Wozu brauch' ich aber so viel Zeug? Und Land haben wir ja genug!«

Man war an einem Punkt angekommen, wo kein Teil weiter wußte. In beiden Köpfen bohrte etwas, wollte ein Gedanke zur Geburt dringen, der doch unmöglich geboren werden konnte. Zwei Pfahlbauerngehirne, Gehirne, wie sie organisiert sein konnten vor etwa sechs Jahrtausenden, an dem Punkte einer Vorstellungsreihe angekommen, der sie in logischer Linie hätte auf die Perspektive weisen müssen: die Arbeiterfrage! Geld! Geldspekulation, Geldhandel, Geld aus Geld! Banken! Gründungen! –

In der Tat machten beide jetzt so unkluge Gesichter, daß ein moderner Zuschauer sich des Lachens nicht hätte enthalten können. Der Vater nahm zur Beruhigung seiner so ungewohnt arbeitenden Zentralnervenstränge wieder einen langen Schluck Met. Der Sohn, dem Schwindel zu entgehen, den ihm das Stieren in diesen kohlrabenschwarzen Abgrund erregen mußte, packte jetzt die Sache von einer andern Seite, die ihm ein klein, ein ganz winzig klein wenig deutlicher vorschwebte:

»Und dann – mithelfen soll ich, daß das Zeug aufkommt? Und so fortwächst, daß am End' kein Tal in diesen ganzen Landen vor dem Pick-, Klopf- und Hämmer- und Haspelwesen mehr sicher ist? Kein Bächlein lauter und lieblich mehr gehen kann, weil sie's verschmutzen mit Waschereien und – mit« (man erkennt, daß er Mühlwerke und Fabriken mit Wassertrieb ahnt und nicht nennen kann, daher setzt er nur hinzu): – »und daß am Ende der Kuhreigen verstummen muß?«

Mit dem Wort wurde ihm ganz erbärmlich zumute. Er war Meister auf dem langen Hirtenhorn so gut wie im Jodeln und auf dem Buchenblatt. Er konnte blasen, daß es in die innerste Seele ging. Ihm kam in diesem Augenblick das Heimweh, als ob er schon weit, weit weg in dem steinklappernden Hämmerwerk wäre. Sein See, seine Schafe, seine Rinder, voran die Pracht- und Staatskuh, die graue Lisel, die so sanft blinzte, wenn er sie hinter dem Ohr kratzte, seine Berge, die fernen silberblitzenden Gletscher – alles kam ihm vor, als sehe er es bereits kaum noch nur ganz ferne – und ebenso ferne Sigunen. –

Auch seine gute Mutter Minona fiel ihm ein, die draußen am Lande seit zehn Monden im stillen Eichenhaine den ewigen Schlummer schlief. Sie hatte freilich ihrem Alpin auch manchmal eine schwere Stunde bereitet, da sie ihm mit einem Lieblingsgedanken anlag, der dem braven Sohne so wenig ein wollte, als die weltmäßigen Ideen des Vaters. Sie wünschte, er solle studieren. So dürfen wir wohl sagen, da es etwas dem ganz Aehnliches, was wir so nennen, schon in jenen Zeiten allerdings gab. In Turik war nicht bloß die große Schnur- und Fadenfabrik, sondern unter anderm auch ein Druidenorden mit seiner Pflanzschule, einem großen Seminar, und neben ihm eine Bardenschule, die zusammen das bildeten, was wir jetzt eine Universität nennen. Der Druidenorden mit seiner klösterlichen Lehranstalt entspricht dem, was jetzt theologische Fakultät heißt; die Bardenschule daneben umfaßt als große, weltliche Fakultät manche Zweige, die jetzt an mehrere sich verteilen, als da sind: die juristische, kameralistische, medizinische, die philosophische mit Katheder für Naturwissenschaften, Geschichte, namentlich Kulturgeschichte, Metaphysik, Aesthetik, insbesondere Poetik, die jedoch mit der Musik auch praktisch gelehrt wird, also mit einer Dichterschule und einem Konservatorium verbunden ist. Wenn wir uns hiemit einiger moderner Namen bedienen, so wollen wir andurch dem Leser nicht verwehren, sich den Zustand bemeldeter Wissenschaften noch etwas primitiv, gewissermaßen steinern vorzustellen. Die Barden waren im Grund eigentlich ein Zweig des Druidenordens, wir werden aber im Verlaufe noch allerhand vernehmen von bedenklichen Spannungen zwischen diesem Zweig und seinem ursprünglichen Stamme. – Der stolzeste Traum von Alpins Mutter war denn, ihr Sohn sollte in Turik studieren, und zwar Theologie; sie hoffte, ihn einst als Druiden zu sehen, und da stieg ihre Phantasie von Sprosse zu Sprosse; wir würden sagen: Pfarrer, Diakonus, Superintendent, Prälat, aber darüber gab es noch eine Spitze, zu der sie in ihren kühnsten Phantasiegebilden schwindelnd emporglomm: Coibhi-Druid! Druidenhaupt! Und das war keine Kleinigkeit, denn der war Oberpriester und Fürst in einer Person, da es Könige zu selbiger Zeit noch keine gab. Der Coibhi-Druid war zudem unfehlbar, und vernichtend wirkte sein Bann, der den Getroffenen von den Opfern ausschloß. So hoch nun aber die gute Minona träumte, Unmögliches träumte sie nicht. Denn der Coibhi-Druid wurde (auf lebenslänglich) von seinem Orden gewählt, und wenn es denn bei der Wahl nur auf Würdigkeit ankam, warum sollte nicht einst möglich sein, daß –?

All diese Hoffnungen gründete sie auf Alpins stille und sinnige Gemütsart. Aber der sonst so lenksame Sohn stemmte sich, wie schon erwähnt ist, dagegen nicht minder fest, als gegen die Pläne des Vaters. Alpin hatte mehr als einen Grund gegen das Geistlichwerden. Der erste, allein schon entscheidende war: er mochte überhaupt nicht. Warum? Das konnte er nicht so recht erklären. Das eine Mal sagte er, der lange weiße Rock sei ihm zu vornehm, er bleibe lieber in seiner Juppe von Schafpelz; das andre Mal: die geistlichen Herren wissen alles so gar gewiß, davor sei ihm bange. Kurz, er respektierte die Priester, mochte aber keiner werden. Nun kam aber freilich noch ein Grund, den er selbst der lieben Mutter nicht gestehen mochte. Die geistlichen Herren durften nicht heiraten. Die Mutter aber fing an, zu merken, und als sie deutlicher und deutlicher merkte, stand sie sanft von ihrem Zureden ab, denn sie war Sigunen gut, sie mochte das frische Mädchen gar gerne leiden. Der Sohn merkte, daß sie merkte und nicht ungern sah, und als sie starb, betrauerte er in ihr nicht nur die Mutter, sondern auch eine Stütze für den Wunsch seines Herzens.

Davon konnte er nun dem Vater, wie er ihn kannte, kein Wörtchen sagen. Der Mann, der so weit hinaus wollte mit dem Sohn, was war von dem zu erwarten, wenn er ihm sein Herz eröffnete! Es mußte freilich um jene Zeit auch dem Vater schon zugetragen sein, was in der Gemeinde kein Geheimnis mehr war. Er hatte nicht darauf geachtet, weil er nicht hatte achten wollen; er hatte beschlossen, es für eine Jugendspielerei anzusehen und totzuschweigen.

Nehmen wir abermals das Gespräch wieder auf, das wir nur zu lange unterbrochen haben. Die wehmütigen Worte vom Kuhreigen hatten den Alten nicht im geringsten gerührt. Daß dem Sohne vor Leid die Stimme brechen wollte, merkte er gar nicht. Er griff eben wieder nach seiner Metschale, hielt sie betrachtend in der Hand und begann seinem Sohne noch einen andern Plan zu empfehlen: er solle sich dahin ausbilden, daß er seinerzeit eine große Holzschnitzanstalt errichten könne. Es ließe sich, meinte er, wohl die Quelle erkunden, woher die Schale einst gekommen, ein ergiebiger Verkehr mit dem fernen Land einleiten, man könnte geschickte Hände heranbilden, um Geräte verschiedener Art mit so zierlichen Gliedern, wie sie den Rand dieses Runds einfaßten, zu einträglichem Verkaufe zu schnitzen. Inzwischen kam dem gequälten Sohne die liebe Natur selbst zu Hilfe. Der Alte hatte des wirksamen Getränkes nachgerade doch stark über Durst geschluckt und es kam ein gewisser milder Nebel über ihn, der sich in der Erscheinung des Lallens oder sogenannten Zungenschlags äußerte. Er wollte sagen, er vermute oder mutmaße, daß sich mit Schnitzereien aus Buchsmaser etwas Tüchtiges anfangen, ein gutes Geschäft gründen ließe. Die Aehnlichkeit der Silben in: Mutmaßen, Vermuten und Buchsmaser wurde ihm zur Klippe, woran er scheiterte. Er produzierte Wortmischungen wie Verbuchsmaserung, Vermasmutbuchserung, Buchsvermutmaserung, Mutverbuchsmaserung, Maßverbuchsmuterung und ähnliche. Dem Sohne war es nicht danach zumut, daß er hätte lachen können, aber er nahm die Zeit wahr, sagte gute Nacht und ging.

Am Ende des Pfahldorfs standen drei große Ställe für die Herden, die untergeordneten Hirten schliefen auf Heu- und Strohlagern bei dem Getier, Alpin, der Oberhirt, hatte seine besondere kleine Hütte daneben. Dorthin schlich er nun in seines Herzens Weh und streckte sich auf seine Felle nieder. Lange wollte sich der Schlaf nicht einstellen, als aber endlich die Natur ihr Recht in Anspruch nahm, ließ sie sich auch durch ein sonderbares Geräusch, das ringsherum anhub und immer stärker wuchs, nicht aus ihrer wohltätigen Ordnung bringen, um so weniger, da dem Schläfer diese Erscheinung nichts Neues war.

Ehe wir dem Ursprung des Lärms nachforschen, müssen wir uns erst nach einer andern Stelle begeben. Wir lassen die Nacht bis zum Morgengrauen verstreichen, verfügen uns ans Land und sehen in der Dämmerung einen schlanken Burschen dem See zuschreiten. Eine Pelzmütze bedeckt sein dunkles Lockenhaupt; sie ist mit einer Spielhahnfeder geschmückt, die aus einem Kreise von Gemshaaren aufsteigt, und sie ist breit verbrämt mit einer Borte aus zusammengefügten roten Federn vom Kopfe des Steinhuhns. Er trägt einen Gürtel, vorn mit einer großen Erzplatte geschmückt, deren dünne Fläche mit einer reichen Zusammenstellung von Linien und kleinen, getriebenen Buckeln verziert ist, – wer weiß, ob nicht das Urbild des breiten Mittelschilds am Ledergurt, der heute noch in den benachbarten Gebirgen Tirols getragen wird und an dessen weiß eingestickten Verzierungen man ganz ähnliche Zeichnung bemerken will, wie an jenen uralten Mustern; bei Arthur aber ist in der Mitte der Ornamente ein Kreis und im Kreise ein Dreieck zu sehen; an diesem Gürtel hängt links ein ehernes Schwert in eherner Scheide und rechts ein breiter, stark kegelförmig in die Spitze zulaufender Dolch von demselben Metalle. Ein Sack aus Rehfell hängt auf seinem Rücken, mit einer Schnur zusammengezogen, der jetzt noch übliche Rucksack unsrer Gebirgsbewohner. Er ist sichtbar gefüllt und wird wohl nicht leicht sein, doch der Träger erscheint von seiner Last so wenig als von seinem Marsch ermüdet, das Haupt hängt ihm nicht vor, sondern steht aufrecht auf dem schwungvoll aufsteigenden Halse, und rasch, mit elastischem Schritte bewegt er sich vorwärts nach dem Seeufer, es ist ein Gang, wie man ihn jetzt nur noch bei Völkern sieht, deren Füße nicht Schuh und Stiefel, nur Sandalen kennen. Ein Hund begleitet ihn, ein großer braungestriemter Hatzrüd; er mochte der Wachsamkeit, des Beistands des treuen Tieres wohl bedurft haben auf der gefährlichen Wanderung, die er heute schon mehrere Stunden vor Tag angetreten.

Das erwähnte Geräusch ist inzwischen zu gewaltiger Stärke angewachsen. Es erinnert bald an das gebellartige Schreien des Schuhus, bald glaubt man schmetternde Posaunenklänge, bald das schrille Kreischen großer Sägen zu vernehmen – ein Durcheinander von Tönen, als brüllte ein Chor von unbekannten, geisterhaften Ungeheuern.

Der Bursche lächelt und streicht sich den Schnurrbart. Er kennt das. – Auch das wachsame Tier wird nicht stutzig, schont längst Gewohntes zu vernehmen.

Nahe dem Ziele führt unsern Wanderer sein Weg an vier grauen, dunkeln Steinmalen vorüber. Sie scheinen gottesdienstliche Bedeutung zu haben. Eines derselben besteht in einer rohen, mächtigen Granitplatte, die wagerecht auf vier ebenso rohen steinernen Stützen ruht. Es wird wohl ein heiliger Tisch, ein Altar sein. Rechts davon, etwas rückwärts, befindet sich, senkrecht als hochragender Steinpfeiler aufgestellt, ein zweiter Granitblock, unbehauen wie jener; auf seinem Gipfel erscheint ein Gebilde des Meißels, so unbeholfen, als es herzustellen ist, wo alle Geräte selbst noch aus Stein bestehen und nur der härtere in weicherem arbeitet. Es gleicht der Form, die wir auf Sigunens Arm eingeritzt gesehen haben: zwei ausgebogene Hörner stellen wohl einen Halbmond vor, scheinen aber auch an den Stirnschmuck des Rindes erinnern zu wollen. Links vom Steintisch, ebenfalls etwas zurücktretend, ragt ein zweiter Pfeiler, gleich massig und roh, nur etwas niedriger; er trägt auf seiner Spitze ein Bild, so ungeschlacht wie jenes, nur etwas erkennbarer; es ist offenbar ein Molch, was es darstellt. Unbekrönt dagegen steht in gerader Richtung hinter dem Altare, tiefer zurückgestellt als die beiden Seitenpfeiler, ein dritter, der größte, er besonders altersgrau, rauh und gemahnend, als schwebten uralte Ahnungen der Völker, die in unvordenklicher Zeit solche Felsen aufgerichtet, um seine moosbewachsenen Hüften.

Arthur – so heißt der Wanderer – geht mit gleichgültigem Blicke vorüber. Er unterläßt es, die Steinmale mit einem Zeichen der Ehrfurcht zu begrüßen; er beschreibt nicht, wie es der fromme Brauch verlangt, mit drei Fingen einen Kreis, dann eine Schlangenlinie auf seiner breiten, wohlgewölbten Brust. Nach den fernen Gebirgsstöcken, Gräten und Spitzen ist sein Auge gekehrt. Der breite Glärnisch, der steile Reiseltstock, der stolze Tödi, die schimmernden Klariden tauchen ihre Rücken, Zacken und Häupter in den ersten Strahl der Morgensonne; jene Firnfläche, die jetzt Brenelis Gärtli heißt und schon damals von alten Sagen umwoben sein mochte, leuchtet in rein bläulichem Weiß herüber; weit sind Arthurs Augen geöffnet und ein Ausdruck ist in ihrem feuchten Glanze zu lesen, der zu sagen scheint, daß schon die Seele eines Pfahlbewohners im Bilde bestrahlten Hochgebirges mehr zu fühlen fähig war, als nur Stein, Erde, Schnee und Eis.

»Halt, wer da?« schrie eine rauhe Stimme.

»Gut Freund!«

Der Wächter oben an der Pfahlbaubrücke hatte bei seinem Anruf den Eibenbogen von der Schulter genommen, einen Pfeil aufgesetzt und lag im Anschlag. Es war herkömmliche Form, so oft ein Bewaffneter sich der Brücke näherte, aber diesmal zielte er so scharf, daß es fast aussah, als könnte es Ernst werden, denn er hatte die ungewöhnlichen Waffen gesehen; das Erz schimmerte in der Morgensonne.

»Sag an, was willt du schaffen
Mit deiner Wehr und Waffen?« –

      ›Will euch lassen in Frieden!‹

»Sollst sie wieder haben beim Druiden.«

Man erkennt auch aus diesem Anruf und der Antwort einen bestehenden Brauch, der dem Ankömmling geläufig sein muß. Er löste Schwert und Dolch von dem schimmernden hohen Hüftgurt, von dem sie an zierlichen Ketten niederhingen, und legte beide Waffen vor sich nieder. Der Wächter ließ jetzt das bewegliche Stück der Brücke herab, nahm die Waffen auf und führte ihn zum Druiden. Wir begleiten die zwei zu seiner Wohnung. Sie war inmitten der übrigen Häuser der geräumigste Bau des Dorfes, eine Art von Apsis, ein halbkreisrunder Anbau befand sich an der hinteren Seite des Vierecks, man sah schon von außen, daß darin mehr Bequemlichkeit sein müsse, mehr Teilung für verschiedene Zwecke des Tuns und Lassens, als in den gewöhnlichen Bauernhütten. Während der Wächter dreimal an der Tür klopfte, zog eben Alpin mit seiner Herde vorüber; es war die Stunde, wo er austrieb. Er maß den Fremden mit erstaunten Blicken; als er auf der Mütze die Spielhahnfeder und den Gemsbart bemerkte, verdunkelte sich das Licht in seinen weit geöffneten Augen und zog sich eine Falte über seine Brauen. Zögernd und noch ein paarmal sich umsehend trieb er weiter.


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