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Natürlich hatten sich auch schon die Naturphilosophen mit anderen Gegenständen als dem »Kosmos«, der äußeren Natur, beschäftigt. Thales selbst wird als einer der Sieben Weisen bezeichnet, deren jeder der griechischen Geistesart durch einen Sinnspruch Ausdruck gegeben haben soll; Thales durch das Wort, das auch über dem Eingang zu der berühmten Weissagestätte in Mittelgriechenland, dem delphischen Orakel, stand: »Erkenne dich selbst!« Von mehreren von uns genannten der vorsokratischen Denker wird überliefert, daß sie auch Gesetzgeber ihrer Staaten gewesen seien. Mindestens von Pythagoras und Heraklit ist starkes politisches Interesse bezeugt. Gleichwohl treten erst um die Mitte des fünften Jahrhunderts die öffentlichen Angelegenheiten und, statt der äußeren Natur, das Studium des Menschen mit seinem Wahrnehmen und Denken, seinem Wollen und Begehren, seinem öffentlichen und privaten Handeln in den Brennpunkt des philosophischen Denkens. Um das zu verstehen, müssen wir wenigstens einen ganz kurzen Blick auf die wirtschaftlich-politische Entwicklung der alten Griechen werfen.
Die etwa im zehnten Jahrhundert entstandenen berühmten homerischen Heldensagen, die Ilias (Erzählung von den Kämpfen um das kleinasiatische Troja oder Ilion) und die Odyssee (von den Irrfahrten des klugen Helden Odysseus), sind noch ganz vom »Herren«standpunkt aus gesehen. Ähnlich wie in unserem mittelalterlichen Nibelungenlied erscheint »das Volk« noch als ganz bedeutungsloser Zuschauer der Handlung, höchstens als Knechte, die sich für ihren Herrn zu opfern haben. Anders schon das Bauerngedicht »Werke und Tage« des Böotiers Hesiód, der uns zeigt, wie schon damals der arbeitende Landmann durch den reichen Besitzenden ausgebeutet wurde. Und so zeigen die im Schulunterricht gewöhnlich nur kurz gestreiften Jahrhunderte von den Perserkriegen eine fast ununterbrochene Kette von Klassenkämpfen: so in Attika, über das wir am genauesten unterrichtet sind, zwischen den Großgrundbesitzern der Ebene, den Kleinbauern des Gebirges und den Gewerbetreibenden in Stadt und Hafen. Solons politische Reform, die eine Art Vierklassenwahlrecht und eine bedeutsame wirtschaftliche Erleichterung der Ausgebeuteten schafft, hilft nur vorübergehend. Zeitweise tritt ein Alleinherrscher (Pisistratus) an der Spitze der niederen Klassen auf. Dann erfolgt – zum erstenmal 510 – eine Demokratisierung, die jedoch erst ein Menschenalter später, nach der glücklichen Vertreibung der Perser vom heimatlichen Boden, breitere Formen annimmt. Unter der Leitung seines berühmten Staatsmannes Perikles übernimmt dann Athen ein weiteres Menschenalter (etwa 460 bis 430) hindurch die Führung Griechenlands nicht bloß in politischer und wirtschaftlicher, sondern auch in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung, als die »Bildungsschule« von Hellas, wie der Geschichtschreiber Thukydides den großen Staatsmann der Epoche sagen läßt. Wer in diesem demokratischen Staatswesen zu Macht und Einfluß gelangen wollte, mußte in allen Sätteln gerecht und vor allem redegewandt sein. Das überzeugende oder überredende Wort war es, das in der Volksversammlung, im Rat, vor den Volksrichtern den Sieg errang. Diesem Bedürfnis kamen die Sophisten entgegen.
Der Name »Sophist« bedeutet ursprünglich den Meister in irgendeiner Kunst, besonders im Wissen, ungefähr wie unser heutiges Wort »Gelehrter«. Jetzt wurde es aber besonders von denen gebraucht, die, von Stadt zu Stadt wandernd und – was dem griechischen Vollbürger auffiel – gegen Bezahlung öffentliche und private Vorträge hielten, in denen sie allgemeine Kenntnisse verbreiteten, insbesondere aber die gebildete Jugend – heute würde man sagen: die Studenten – zum »richtigen Denken, Sprechen und Handeln in öffentlichen und Privatangelegenheiten« erziehen wollten. Der tadelnde Nebensinn, den wir heute mit den Bezeichnungen »Sophist« und »sophistisch« verbinden, rührt daher, daß wir sie fast nur aus der ungünstigen Beleuchtung durch ihre philosophischen Gegner Sokrates, Plato und Aristoteles oder aus ihrer Karikatur in den Komödien des witzig-geistreichen Aristóphanes kennen, und zweitens von der Tatsache, daß eine Reihe von ihnen, namentlich später, mehr auf glänzende Rhetorik und gewandte Disputierkunst als auf ernste Erforschung der Wahrheit sahen (siehe weiter unten).
Namentlich die Älteren unter ihnen erfreuten sich als kluge Männer und populäre Verbreiter von Bildung und Aufklärung bei der Mehrzahl der Gebildeten hohen Ansehens. So zunächst der Älteste von ihnen, Demokrits Landsmann,
Protágoras (480 bis 415 oder 411),
dessen Namen einer von Platos Dialogen trägt. Sein Hauptsatz lautet: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Jede Vorstellung besitzt eine relative Wahrheit, das heißt für den jedesmal Wahrnehmenden unter den Bedingungen seines Wahrnehmens; dem Kranken zum Beispiel erscheinen bestimmte Dinge anders als dem Gesunden. Infolgedessen tut der Mensch am besten, sich von den unfruchtbaren theoretischen Spekulationen ab- und den praktischen Aufgaben des Lebens zuzuwenden, um durch kluge Voraussicht und Erwägung der Folgen Beherrschung der Naturkräfte und der menschlichen, namentlich der politischen Verhältnisse zu lernen. In der Politik denkt Protagoras ziemlich konservativ; Recht und Sitte erscheinen ihm als die unentbehrlichen Stützen der Gesellschaft. Recht advokatenhaft klingt sein Ausspruch: die Kunst der Rede vermöge »auch die schwächere Sache zur stärkeren zu machen«. In betreff der Götter bekannte er, »nicht zu wissen, ob sie existieren oder nicht«. Vielleicht dieser freimütigen Äußerung oder seiner Gleichgültigkeit gegen die Verehrung der Volksgötter hatte er seine Verurteilung wegen »Gottlosigkeit« zu verdanken; seine Schriften wurden öffentlich verbrannt.
Protagoras hatte sogar die Gültigkeit der Mathematik angezweifelt, weil er die reinen Linien, Kurven usw. in der »Wirklichkeit« vermißte. Noch weiter in solcher Anzweiflung aller Wissenschaft ging
Gorgias (480 bis 380)
aus der sizilischen Stadt Leontinoi, und von dieser 427 in politischer Mission nach Athen gesandt, wo seine glänzende Beredsamkeit große Triumphe feierte. Wie Protagoras jede Meinung für berechtigt erklärte, so Gorgias eine jede für falsch. Es klingt allerdings beinahe wie ein schlechter Witz oder ein bloßes rhetorisches Kunststück, wenn er folgende drei Sätze aufstellte: 1. Es existiert nichts. 2. Wenn aber auch etwas existierte, so wäre es doch für den Menschen unfaßbar. Und 3. selbst wenn es faßbar wäre, so wäre es doch unaussprechlich und unmitteilbar. Ein solcher vollendeter Skeptizismus (Zweifel) schlägt sich selbst ins Gesicht. Von den
späteren Sophisten
wagte Pródikos von der Insel Keos schon die Entstehung der Religion in sehr aufklärerischer Weise dahin zu erklären: die Menschen der Vorzeit hätten alles vergöttert, was ihnen Nutzen brachte, zum Beispiel das Wasser als Poseidon, das Brot als Demeter, das Feuer als Hephästus usw. Bekannt ist bis heute seine moralische Fabel von »Herakles am Scheidewege«.
Der radikale politische Individualismus, der in dem demokratischen Athen herrschte, und von dessen nachteiligen sozialen Folgen bei Plato noch die Rede sein wird, zog auch theoretisch schon damals weitgehende Folgerungen. So setzte der vielseitige Polyhistor (Vielwisser) Hippias von Elis den vergänglichen Menschensatzungen das, was von Natur ewig und unveränderlich gelte, entgegen und stellte den an heutige anarchistisch-kommunistische Theorien anklingenden Satz auf: das Gesetz sei der Tyrann der Menschen und treibe sie durch seinen Zwang zu vielen naturwidrigen Handlungen an. Daraus zogen dann andere noch radikalere Schlüsse. So führt der Sophist Kallikles in Platos »Gorgias'«, ganz ähnlich wie neuerdings Nietzsche, aus: der Starke sei am glücklichsten, weil er sich am besten auszuleben vermöge, und dies könne er nur durch Verachtung von Recht und Gesetze, die ja größtenteils nur im Interesse der Masse der Schwachen aufgestellt seien. Und Kritias, der Gewalttätigste unter den »dreißig Tyrannen« nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, behauptete: ein kluger Staatsmann habe den Glauben an die Götter erfunden, um das Volk durch Furcht vor göttlichen Strafen unterwürfiger zu machen. Andere stellten im Gegenteil für die damalige Zeit revolutionäre Freiheitsforderungen. So verlangte Lykophron im Namen des gleichen Rechts für alle Aufhebung aller Vorrechte der Geburt, ja Alkidamas und andere – was selbst ein Plato und Aristoteles nicht gewagt haben – Abschaffung der Sklaverei; denn »die Gottheit hat alle frei erschaffen, die Natur niemanden zum Sklaven gemacht«. Phaleas von Chalkçdon endlich ist, wenn wir von dem ungefähr gleichzeitig lebenden Plato absehen, der erste griechische Sozialist gewesen, der Gleichheit des Besitzes, der Erziehung und Gemeinwirtschaft für alle – freien Bürger forderte, und Aristophanes' satirisches Lustspiel »Die Weibervolksversammlung« (392) beweist, daß die von ihm verspotteten Gedanken der Güter- und Frauengemeinschaft schon vor Platos Republik ihre Anhänger gehabt haben müssen.
Bei anderen Sophisten führte diese radikale Anzweiflung aller bisher geltenden Wahrheiten (wie schon bei Gorgias) zu leerer Wortstreiterei, oder zu absichtlich ersonnenen Fang- und Trugschlüssen (»Sophismen«), oder zu Vexierfragen, auf die weder ein Ja noch ein Nein als Antwort paßte, zum Beispiel: Hast du deine Hörner abgelaufen? Hast du aufgehört, deinen Vater zu schlagen? Oder die kniffliche Frage: Ist es eine Lüge, wenn man lügt und dabei sagt, daß man lüge? (über die ein griechischer Philosoph drei, ein anderer zwölf Bücher geschrieben haben, ein dritter gar an den vergeblichen Anstrengungen zu ihrer Lösung gestorben sein soll). Zum Teil, wie man sieht, recht grobkörnige Witze, wie sie die »Berliner« des Altertums, die Athener liebten.
Kulturgeschichtlich gewähren die Sophisten manches Interesse, philosophisch sind sie – abgesehen von jenem wichtigen Subjektivitätsgrundsatz des Protagoras – von geringer Bedeutung gewesen. Dagegen rief ihre Bestreitung aller Allgemeingültigkeit in Erkennen und Sittlichkeit als Kämpfer für diese ewigen Menschheitsaufgaben einen Größeren auf den Plan: den Athener
Sokrates, 470 als Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme zu Athen geboren, ist eine der großartigsten und charaktervollsten Gestalten der Weltgeschichte. Du siehst ihn in den Straßen, auf dem Markt, in den vielbesuchten Gymnasien (Turnanstalten) seiner Vaterstadt, die er in den siebzig Jahren seines Lebens fast nie verlassen hat, kurz überall, wo Menschen anzutreffen sind, umhergehen. Ganz ungriechisch ist schon seine untersetzte Gestalt und sein Antlitz mit den etwas hervorquellenden Augen, der stumpfen Nase. Bald mit diesem, bald mit jenem der ihm zufällig in den Wurf Kommenden fängt er ein Gespräch an. Denn die Bäume draußen und die Landschaft, meinte er, können mich nichts lehren. Den väterlichen Beruf, den er anfangs gleichfalls ausgeübt, hat er aufgegeben; Menschenbildner im tieferen Sinne des Wortes will er werden. Er beginnt sein Zwiegespräch, zu dem bald auch andere hinzutreten, mit irgendeinem Punkt, der dem Betreffenden gerade nahe liegt, etwa dessen Beschäftigung oder Beruf, und bittet ihn um Aufschluß über Wesen und Zweck seiner Tätigkeit, die er selbst nicht zu wissen vorgibt (sokratische Ironie). Dann verstrickt er ihn durch geschickte Kreuz- und Querfragen und bringt ihn schließlich zu dem Eingeständnis, daß er im Grunde doch nicht wisse, was er zu wissen vorgegeben habe, während er (Sokrates) doch wenigstens gewußt habe, daß er das, wonach er gefragt, tatsächlich nicht wisse. Falls der Angeredete sich dann durch die beschämende Einsicht in die gezeigte Unwissenheit nicht von der Fortsetzung des Gesprächs abschrecken ließ, führte er ihn in ernsthafter Unterredung, indem er aus ihm selber neue Erkenntnisse herauszulocken suchte, Schritt für Schritt weiter bis zu seinem Ziele, das heißt dem festen Ausdruck des Gesuchten im Begriff. Dieses sein Verfahren nannte er wohl in humoristischer Anspielung auf den Beruf seiner Mutter »Mäeutik«, das ist Entbindungskunst: die Wahrheit soll aus der eigenen Seele des anderen heraus geboren werden, wobei er selbst nur Hilfe leistet.
In alledem schon zeigte sich Sokrates im vollsten Gegensatz zu den Sophisten. Sie behaupteten, alles zu verstehen und lehren zu können, – er nannte sich bescheiden nicht einen Weisen (obwohl das delphische Orakel ihn für den Weisesten aller Griechen erklärt hatte), sondern bloß »Liebhaber der Weisheit« (»Philosoph«); sie machten aus ihrer Unterweisung ein bezahltes Geschäft; er nahm selbst von den Reichsten seiner Zuhörer nie einen Deut und hat an irdischer Habe kaum eine Mine (gleich 80 Mark) hinterlassen; sie suchten durch formvollendete Reden zu glänzen, er sprach mit vollendeter Schlichtheit des Ausdrucks, nur auf die Sache gehend; sie haben mehr oder weniger zahlreiche Schriften hinterlassen, er wollte nur durch den unmittelbaren Verkehr von Mund zu Mund, von Seele zu Seele wirken. Vor allem aber: sie bestritten, daß es allgemeingültige Wahrheiten gebe, sein ganzes Dichten und Trachten war auf die Behauptung derselben gerichtet.
In dem Ringen nach wahrem Wissen besteht seine ganze Philosophie, ohne die ihm das Leben nicht lebenswert erscheint, was er auch durch die Tat bis zu seinem letzten Atemzug bewiesen hat. Nicht also in einem bestimmten System, sondern im Philosophieren selbst, in der Selbstbesinnung, in der Prüfung alles vermeintlichen Wissens auf sein Begründetsein. Die Dinge interessieren ihn zunächst noch gar nicht, sondern die Problemstellung, die Methode, welche gipfelt in der Feststellung dessen, »was ein jedes Ding ist«, also in der Bestimmung seines Begriffs.
Das Anwendungsfeld dieser induktiven, das heißt vom Einzelnen zum Allgemeinen »hinführenden« Begriffsbestimmung ist vor allem die Ethik. Denn gerade deren Allgemeingültigkeit wollte er sich von den Sophisten nicht wegdisputieren lassen. Wie das Wesen und der Zweck irgendeines Dinges, zum Beispiel des Tisches da, in seiner »Güte«, seiner Tüchtigkeit zu etwas besteht, so ist es auch beim Menschen. Auch sein Wesen und Zweck besteht in seiner Tüchtigkeit oder Tugend. Und diese Tugend darf, wenn anders sie haltbar sein will, nicht auf unklaren Gefühlen oder Gewohnheit der Überlieferung beruhen, sondern auf Einsicht. Es ist ein Wissen von ihr möglich, sie ist lehrbar und erlernbar. Ja, Sokrates versteigt sich sogar zu der Behauptung: »Niemand handelt absichtlich schlecht.« Denn täte er dies, so hätte er entweder die rechte Einsicht noch nicht besessen, oder sie wäre eben noch unvollkommen oder unklar gewesen, wenn sie sich von der Unkenntnis, die in den sinnlichen Trieben liegt, hätte überwinden lassen. Wenn und solange die Erkenntnis in meiner Brust herrscht, können nicht gleichzeitig Begierde, Furcht, Zorn und andere Triebe über mich herrschen. Das Gute ist übrigens zugleich das Gesunde, Heilsame, wahrhaft Nützliche und Lustbringende.
Zur Volksreligion verhielt er sich nicht gerade feindlich, sprach aber doch mehr als von den Göttern von der Gottheit, welche die Welt und des Menschen Schicksal regiert. Ja, er fühlte das Göttliche auch in seiner eigenen Seele als eine Art innerer Stimme zu sich reden, namentlich ihn warnen. Denn als solche innere Stimme, verwandt unserem »Gewissen«, ist wohl das sogenannte »Daimonion« (Daimon gleich Gottheit) aufzufassen, von dem er zuweilen redet, und das ihm wahrscheinlich die Anklage einbrachte, er wolle »neue Götter einführen«. Ob er an eine persönliche Unsterblichkeit geglaubt hat, ist zweifelhaft. Jedenfalls war er von dem festen Vertrauen erfüllt, daß »dem Guten nichts Übles geschehen kann, weder im Leben noch nach seinem Tode, und daß seine Sache von den Göttern nicht verlassen wird«.
Ähnlich wie zur bestehenden Religion war seine Stellung auch zur bestehenden Staatsordnung. Die formale Demokratie, die zuletzt sogar Verlosung (statt Wahl) der Ämter eingeführt hatte, konnte seinen Begriff von politischer Tüchtigkeit nicht befriedigen. Wenn man überall sonst im gewöhnlichen Leben die Leute, zum Beispiel den Schuster, den Tischler, den Steuermann, nach ihrer Tüchtigkeit auswählt, wie viel mehr muß man es im Staatswesen tun! Auch sonst gab er, wo es seine feste Überzeugung galt, der Meinung der Menge nicht nach. Dazu kam, daß zu den jungen Leuten, die durch seine unwiderstehliche persönliche Anziehungskraft zu näherem Umgang mit ihm bewogen worden waren, so tyrannische und eigenwillige Naturen wie der vornehme Kritias, der leichtsinnige Alkibiades gehörten. Grund genug, den Argwohn gegen ihn bei der rückständigen Philistermasse zu steigern, ihm den Vorwurf zu machen, daß er »die Jugend verführe«.
Auf diese Doppelanklage der Jugendverführung und der Einführung neuer Götter ist einer der sittlich reinsten und religiösesten Männer, die je gelebt haben, verurteilt worden, der Mann der Freiheit von der »frei« sein wollenden Demokratie. Aber er übte den von ihm stets geforderten Gehorsam gegen die Gesetze des Staates, wenngleich er von ihnen an die Richter in der Unterwelt, das heißt die ungeschriebenen, ewigen Sittengesetze, appellierte, lehnte die von den Freunden angebotene Befreiung aus dem Gefängnis ab und trank mit der heiteren Gelassenheit, die den Philosophen ziemt, den Giftbecher.
Sokrates' eigenartige Persönlichkeit hat einen mächtigen Einfluß nach den verschiedensten Seiten hin geübt. Wir wenden uns zunächst seinem größten Schüler, Plato zu.
Plato dankt einmal den Göttern für vier Dinge: daß er geboren sei 1. als Mensch, 2. als Mann, 3. als Grieche und 4. als Bürger Athens zu Sokrates' Zeit. Aus einem der vornehmsten Geschlechter entstammend – die Legende schrieb ihm später, genau wie Jesus, einen göttlichen Vater (Apollo) und eine jungfräuliche Mutter zu –, wurde er denn auch körperlich und geistig aufs sorgfältigste erzogen und mit der ganzen wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung des damaligen Athens ausgerüstet. Und doch galt ihm dies alles nichts – er soll unter anderem seine Jugendgedichte verbrannt haben – im Vergleich zu dem vertrauten Umgange mit seinem geliebten Meister Sokrates, den er von seinem 21. bis 28. Lebensjahre (406 bis 399) genoß. Nach dessen Tod verließ er die ihm auch politisch unerfreulich gewordene Vaterstadt und ging auf Reisen, die ihn unter anderem zu dem Mathematiker Theodoros in Cyrene (Nordafrika), nach dem Lande uralter Priesterweisheit am Nil, zu den Pythagoreern in Tarent und an den Hof des älteren Dionys in Sizilien führten. Nach Athen heimgekehrt, gründete er vierzigjährig, also 387 seine Philosophenschule nahe einem dem Halbgott Akademos geweihten Gymnasium, daher Akademie genannt. Hier hat er, abgesehen von zwei Reisen nach Syrakus (367 und 361), wo er vergeblich auf den jüngeren Dionys im Sinne seines Staatsideals (siehe unten) einzuwirken hoffte, zurückgezogen von den öffentlichen Angelegenheiten bis zu seinem achtzigsten Jahre gelebt und gewirkt.
Glücklicherweise sind alle seine Schriften, gegen dreißig an der Zahl, erhalten. Sie sind sämtlich in der Form von Zwiegesprächen (Dialogen) abgefaßt und zeigen eine von keinem anderen griechischen Prosaiker erreichte Künstlerschaft der Sprache, die mit plastischer Anschaulichkeit und zuweilen dramatischer Lebendigkeit des Gesprächs gepaart ist. Der Hauptredner ist jedesmal Sokrates, dem der dankbare Jünger seine eigene Philosophie in den Mund legt, während der Titel des Dialogs gewöhnlich nach dem wichtigsten Mitunterredner gewählt ist.
In den frühesten Dialogen entfernt sich Plato noch nicht besonders weit von der Lehre des Meisters. Der erste, die sogenannte »Apologie des Sokrates«, ist dessen von Plato selbst in Worte gefaßte Verteidigungsrede vor Gericht; das Thema des zweiten im Gefängnis spielenden: weshalb Sokrates die ihm von seinem alten Freunde Kriton angebotene Gelegenheit zur Befreiung nicht annehmen will. Vier andere kleinere Gespräche erörtern nacheinander die Bedeutung bestimmter Tugenden: der Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Freundschaft und Liebe. Fünf weitere Dialoge setzen sich mit den Sophisten auseinander; ebenso auch das erste Buch seines späteren Hauptwerks, des »Staates«. Seine eigene Philosophie kommt erst in den Schriften seiner Reifezeit zum Durchbruch, die seine Ideenlehre enthalten.
Mit Plato stehen wir an dem Quellpunkt des Idealismus und damit zugleich alles wissenschaftlichen Denkens. Er faßt zum erstenmal mit aller Klarheit – die Eleaten, Demokrit, Sokrates bildeten nur Vorstufen dazu – den Gedanken eines rein gedachten Seins, welches dadurch ist, daß es gedacht wird. Diese ganz neue Art des Seins und zugleich das Denken derselben bezeichnet er nun auch mit einem damals noch ganz neuen Namen: der Idee, die wörtlich ein geistiges »Schauen« bedeutet. Natürlich behandelt er auch die zu ihr führenden Vorstufen der Erkenntnis. Deren unterste Stufe stellt die sinnliche Wahrnehmung dar, die für sich allein selbstverständlich keine sichere Erkenntnis zu liefern vermag. Auch die zusammenfassende und vergleichende Überlegung, mit der die Seele die ihr gebotenen Sinneswahrnehmungen erst zur »Vorstellung« schlechtweg, dann zur richtigen Vorstellung weiter verarbeitet, führt noch nicht zur Erkenntnis des wahrhaft Seienden, des Bleibenden im Fluß der Erscheinungen, mit einem Wort zur Wissenschaft. Das vermag nur die Idee. »Auf die Idee hinschauend«, als das Muster, das ihm vor Augen steht, verfertigt schon der Tischler seine Bettstelle, der Techniker sein Modell, aber auch der größte Künstler sein Werk. Die Idee ist das sich gleich Bleibende, das dem vielen Gleichbenannten Gemeinsame, das wirklich und wahrhaft Seiende.
Um sie vor aller Versinnlichung zu schützen, stellt Plato die Ideen in seiner bilderreichen Sprache wohl auch als »thronend an einem überhimmlischen Ort«, als »unkörperliche, unräumliche, unsinnliche Wesenheiten«, als »ewig, farblos, gestaltlos« dar; Eigenschaften, die alle auch auf unsere Gedanken zutreffen. Das mag verschuldet haben, daß weniger poetische Naturen – schon sein Schüler Aristoteles beginnt damit – sie als eine Art außerhalb der übrigen Welt irgendwo ein Sonderdasein führender Geister oder persönlicher Wesen mißverstanden hat. Und doch sagt unser Philosoph ganz klar, daß seine Ideen, die es von allem möglichen, Hohem wie Niedrigem gibt – zum Beispiel von Tisch, Bett, Messer –, nur Gedankendinge sind, die unsere eigene Seele erst erzeugt. Der Drang zu ihrer Hervorbringung, zum Gebären dessen, womit die Seele schwanger geht, ist es, der den Philosophen wie den Künstler macht; es ist der Eros, das ist das liebende Verlangen, der geistige Zeugungs- und Schaffenstrieb, den der Dialog »Das Gastmahl« so unübertrefflich schön geschildert hat.
Aber Sinn und Geltung bekommen die Ideen erst dadurch, daß sie sich auf Sinnendinge beziehen. Ein Hauptmittel dazu ist die Mathematik, die zwischen dem Vernunft-Denken und den sinnlichen Wahrnehmungen in der Mitte steht. Sie wurde von Plato und seinen Jüngern aufs eifrigste gepflegt. »Kein der Geometrie Unkundiger trete ein!« soll über dem Eingang seiner Akademie gestanden haben. Vom ewig wechselnden Werden zum beständig Seienden führen die »Wecker zum reinen Denken«: die Zahlenkunst (Arithmetik) und Geometrie. Der mathematischen Methode ist auch einer der bis heute wichtigsten Grundbegriffe wissenschaftlichen Denkens entlehnt: derjenige der »Hypothese«, als der Voraussetzung, die das Gesuchte vorläufig als gefunden annimmt, um es sodann durch die aus ihr gezogenen Folgerungen und deren Verknüpfung wirklich zu finden. Auch die Idee ist eben »Hypothesis«, Grundsatz im eigentlichsten Sinne des Worts, selbst unbedingte letzte Voraussetzung und Unterlage des philosophischen Denkens. Die Wissenschaft von den Ideen nennt Plato die Dialektik, weil erst die gemeinsame Erzeugung der Begriffe in der Unterredung (dem »Dialog«) mit anderen zum Reiche der Ideen führt.
Wir müssen weitere schwierige Einzelheiten, wie die Lehre von der Materie, hier übergehen. Desgleichen seine erst in einem seiner spätesten Dialoge entwickelte Naturphilosophie. Sie bildet den schwächsten Teil von Platos philosophischem System, den er selbst gelegentlich als ein geistreiches »Spiel« bezeichnet, und für den er nur Wahrscheinlichkeit, nicht wissenschaftliche Wahrheit in Anspruch nimmt. Die Weltseele, die er hier als eine Art Mittelding zwischen dem Einen und dem Vielen, dem Schaffenden und dem Geschaffenen annimmt, und die den von dem göttlichen Weltbildner erschaffenen Urquell alles Lebens darstellt, hat allerdings genug Unheil von der spätantiken und mittelalterlichen bis zur neueren Philosophie (Schelling) angerichtet.
Gleich ihr ist auch die Einzelseele des Menschen in erster Linie jedenfalls nur Lebensprinzip, die Psychologie also – wie fast bei allen Denkern des Altertums – bloß ein Teil der allgemeinen Naturlehre. Steine werden bewegt; Pflanzen, Tiere und Menschen dagegen bewegen sich selbst, was wir leben nennen. Über die Unsterblichkeit des Einzelnen spricht er sich an verschiedenen Stellen verschieden aus; jedenfalls glaubt er sie nicht mathematisch beweisen zu können. Jener Dreiteilung der Seele in bezug auf das Erkennen (Wahrnehmung, Vorstellung, Idee) entspricht eine ebensolche für die Welt des Willens: das Begehren, das Mutartige oder die Willenskraft, das vernunftgemäße Wollen. Das letztere lenkt als Einsicht, nach dem schönen Gleichnis im Phädrus, das übrige Zweigespann, von dem das edlere Roß (die Willenskraft) das zügellose (die Begierde) bändigen hilft.
Damit stehen wir am Eingang in den dritten und letzten Teil von Platos Philosophie: seiner Ethik. Auch sie findet, gleich der Wissenschaft, ihre Begründung in der Ideenlehre. Die höchste aller Ideen ist die Idee des Guten. Auch sie muß in schwieriger Untersuchung erst gefunden werden. Denn sie ist das Letzte alles Erkennbaren, »mit Mühe nur zu schauen«, »hoch über allem Sein«, dafür auch die Erkenntnis der Wahrheit »an Würde und Kraft« noch überragend. Von allen anderen Ideen, selbst der des Schönen, gibt es Abbilder hienieden; von der des Guten nicht. Sie ist wie die Sonne, die alles Seiende erst erleuchtet und fruchtbar macht; weshalb sie gelegentlich auch mit dem Begriff gleichgesetzt wird, in den der Mensch das Höchste, was er nicht mehr auszudenken, sondern nur noch zu empfinden vermag, zu fassen sucht: der Gottheit. Der Mensch muß sich, wie das wunderbar schöne Gleichnis im siebten Buche des »Staates« ausführt, an ihre »Schau« erst gewöhnen, nachdem er bis dahin, gefesselt an die Höhle des Scheins, bloß Schattenbilder erblickt hat. Und eine zweite »Verwirrung der Augen« überkommt ihn, wenn er dann, noch geblendet von ihrem Glanz, wiederum hinabsteigt zu seinen früheren Mitgefangenen in der Höhle, das heißt der Welt des täglichen Lebens, die, weiter in ihrer Dämmerung dahinlebend, jenen Künder der Idee – wie es ja immer den großen Idealisten und Propheten einer neuen Idee ergangen ist – nicht begreifen, ja als irrsinnig verspotten. Wie bei allen großen Ethikern (Kant, Fichte), wird ferner auch bei Plato das Gute aufs schärfste vom bloß Angenehmen, also auch von der Lust geschieden, für die schon die Tiere als »vollgültige Zeugen« genügen würden. Damit wird die Freude am Natürlichen und Schönen nicht verbannt. Ist doch der Eros, das liebende Verlangen (siehe oben), auch die Wurzel alles künstlerischen Schaffens. Und die Idee des Guten stimmt die Seele zu einer inneren Harmonie, deren Seligkeit aller vergänglichen mit Irrtum und Täuschung gemischten Lust weit überlegen ist.
Aber die Ethik bedarf der Anwendung, der Verwirklichung im Leben des Einzelnen wie der Gesamtheit. Wohl möchte, wer aus der dumpf-dunklen Höhle der Alltäglichkeit zur sonnenbeglänzten Höhe der Idee emporgestiegen, am liebsten stets in ihrem Anschauen verweilen, aber gerade die Idee des Guten treibt ihn wieder hinab zu jenen Armen an Geist, den »Höhlenbewohnern«, um auch sie emporzuführen zum Licht, das sie noch nicht kennen. – Die Tugenden des Einzelnen sind: Besonnenheit oder Selbstbeherrschung, die den begehrlichen Teil des Menschen in Schranken hält, Mannhaftigkeit, die seiner Willenskraft, Einsicht oder Weisheit, die dem vernünftigen Teile der Seele entspricht. Die höchste aber, die drei andern beherrschende Grundtugend ist die der Gerechtigkeit, das Thema seines größten Werkes, der »Republik«. Denn das sittliche Leben des Einzelnen kann sich nur verwirklichen in dem Abbilde des Menschen im großen, dem Staate. Platos Hauptwerk handelt denn auch vom
In ihm gipfelt seine Philosophie. Die zehn Bücher der Politeia (Staatsverfassung), gewöhnlich mit ihrem lateinischen Namen »Republik« zitiert, enthalten theoretische Philosophie, Ethik, Geschichtsphilosophie, Gesellschaftskritik, Erziehungs- und Staatslehre, alles in einem. Die Grundzüge seiner theoretischen und Moralphilosophie haben wir schon kennengelernt. Beginnen wir also mit seinen geschichtsphilosophischen Ausführungen über Entstehung und Entwicklung des Staates. Denn es steht keineswegs so, daß der große Idealist sein sozialistisches Staatsideal ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Grundlagen des Staates und seiner historischen Entwicklung entworfen hätte. Er läßt ihn vielmehr, im zweiten Buche seines Werkes – das erste war allgemeinen Betrachtungen über den Begriff des Gerechten oder Sittlichguten gewidmet –, aus den alltäglichsten Bedürfnissen vor unseren Augen entstehen. Er schildert, wie diese Bedürfnisse dann zu verschiedenen Arten der Technik, zur Arbeitsteilung, zur Warenerzeugung und zum Warenhandel, zur Ausbildung des Geldes als Tauschmittel führten; wie dann infolge von Gebietsstreitigkeiten und Kriegen zu der erwerbenden eine kriegerische und eine regierende Klasse hinzukamen.
Er übt ferner, hauptsächlich im achten Buch seiner Politeia, eine Kritik der zu seiner Zeit bestehenden Gesellschaftsordnung, die an Eindringlichkeit und Schärfe von der sozialistischen Kritik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, von Marx bis Trotzky, kaum überboten worden ist. Die Jagd nach dem Gelde ist für einen bedeutenden Teil der Gesellschaft die alleinige Triebfeder des Handelns geworden. Durch die schrankenlose Erwerbsmöglichkeit, wie sie der wirtschaftliche Individualismus gerade dem Willensstarken und Skrupellosen, zumal unter den schon von Haus aus Begüterten bietet, wird der eine Teil der Bevölkerung überreich, der andere sinkt zum Bettlertum hinab. Neben dem »Drohnentum« der Müßiggänger und Verschwender, das den gesellschaftlichen Körper »wie Schleim und Galle« durchseucht, macht sich ein profitgieriges, unbarmherziges Spekulantentum breit, protzenhaft und ungebildet, einzig auf weitere Kapitalanhäufung bedacht; denn der Kapitalismus ist seiner Natur nach unersättlich. Seine Opfer sind mit Schulden überhäuft, ihrer Ehre und jedes Einflusses im Staate beraubt und brüten infolgedessen über Umsturzpläne. Schon bei Plato findet sich das Wort von den » zwei Staaten«, die sich in jedem derartigen Staate feindlich gegenüberstehen: dem der Armen und dem der Reichen. Von dem letzteren (der Plutokratie, der Herrschaft des Reichtums) ist der bestehende Staat immer abhängiger geworden, wie Bebel oder Liebknecht es einmal im Reichstag ausgedrückt hat: die Staatsregierung ist, ob bewußt oder unbewußt, zum »Kommis der besitzenden Klassen geworden«.
Die seelische Rückwirkung auf die Massen bleibt nicht aus. Sie sagen sich: »Unsere Herren sind nichts wert.« Schließlich wird die verhaßte Geldaristokratie gestürzt, die Demokratie (Volksherrschaft) tritt an ihre Stelle. Doch in ihr wirkt nun die vom Kapitalismus großgezogene Profitsucht weiter. Nichts gilt mehr als das materielle Interesse, alles andere erscheint dumm oder lächerlich. Es entsteht ein Kampf aller gegen alle (Marx: ein »allseitiger Kampf von Mann gegen Mann«). Sitte, Religion, Rechtschaffenheit sind außer Kurs gesetzt, in tierischem Genuß »nach Art des Viehs« lebt man dahin. Bis endlich in diesem Kampf, in dem ruinierte Nichtstuer sich oft schlau zu Führern der arbeitenden Massen emporschwingen, der Rücksichtsloseste und Stärkste siegt, die größte »Freiheit« in die schlimmste Knechtschaft, die Gewaltherrschaft eines Tyrannen umschlägt.
Was soll nun geschehen, um diesen »Fieberzustand« des Staates zu heilen? Mit kleinen Hilfsmitteln, die sich auf dem Boden der bestehenden Ordnung bewegen, ist es nach Plato nicht getan; sie gleichen dem Probieren von immer neuen Kuren, die in Wirklichkeit die tiefsitzende Krankheit des Patienten bloß mannigfaltiger machen. Es bedarf vielmehr einer Radikalkur, die auch vor dem »Brennen und Schneiden« des Gesellschaftskörpers nicht zurückscheut. Alle die schönen und nützlichen Dinge, mit denen die »großen« Führer der Demokratie, ein Themistokles und Perikles, Athen ausgerüstet: Tempel und Theater, Werften und Häfen, Flotte und Heer, ausgedehnte Festungswerke usw., können einen Staat nicht groß machen, wenn es an der inneren Einheit und Tüchtigkeit der Bürger fehlt. Eine von Grund auf veränderte Erziehung ist vonnöten, Erziehung zu einer völlig neuen Gesellschaftsordnung. So wird bei Plato die Pädagogik, wie überall, wo sie einen wahrhaft großen Zug genommen hat (Pestalozzi, Fichte, Natorp), aus einer Individual- zur Sozialpädagogik: Erziehung nicht durch einzelne, wie die Sophisten meinten, sondern durch die neue Gesellschaftsordnung selbst.
Diese neue Erziehung, die einen wesentlichen Teil der »Republik« ausmacht, wird nun allerdings von unserem Philosophen zunächst nur für die regierenden Klassen des neuen Staates gefordert. Das hängt mit den allgemeinen und besonders wieder mit den psychologischen, von uns schon oben (Seite 37) angedeuteten, freilich wohl auch den politisch-aristokratischen Grundanschauungen unseres Denkers zusammen. Da der Staat das im großen, was der Einzelmensch im kleinen ist, nämlich ein in sich zusammenhängender Organismus, so entsprechen die drei Grundschichten der Gesellschaft den drei Grundtätigkeiten der menschlichen Seele. Ihrem »begehrlichen« Teil, den sinnlichen Trieben entspricht im Staatswesen der größte Teil des Volkes, die Masse derer, welche für die notwendigen wirtschaftlichen Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Hausrat usw.) des Ganzen sorgen, also die Bauern, Handwerker und Kaufleute. Dem »Mutartigen« oder der Willenskraft der Einzelseele entsprechen politisch die »Wächter« oder »Hüter«, die den Bestand des Staates nach außen durch die Abwehr feindlicher Angriffe, nach innen durch die Durchführung der neuen Gesetze sichern, also unseren Heeresangehörigen und Beamten vergleichbar sind. Der Vernunftkraft des einzelnen endlich entspricht diejenige Schicht, der Plato die oberste Leitung der Gesetzgebung und vor allem des Wichtigsten, der Erziehung anvertrauen will: die Philosophen. Die Haupttugend des ersten oder Nährstandes ist die Selbstbeherrschung oder Besonnenheit, welche die Triebe zügelt, die des zweiten oder Wehrstandes die Mannhaftigkeit, die des obersten oder Lehrstandes die Weisheit. Über sie alle ragt, als sie alle beherrschende und umfassende, die Gerechtigkeit, die jedem das Seine gibt, empor. So finden wir in dem Aufbau des neuen Sozialstaates sowohl die psychologischen wie die ethischen Grundzüge der platonischen Philosophie wieder.
Für die erwerbende Masse, die »Lohngeber und Ernährer« der beiden anderen Stände, zu denen übrigens die Tüchtigeren unter ihnen emporsteigen können, bleiben Privateigentum und Sonderfamilie bestehen. Sie sind nicht bloß Bürger, sondern auch »Freunde«, ja Brüder der anderen, von denen sie geschützt und gefördert werden. Die neue Erziehung dagegen wird vorläufig nur den beiden oberen Ständen zuteil. Schon vor deren Geburt ist der Staat für die Tüchtigkeit seiner künftigen Erhalter und Leiter besorgt. Die tüchtigsten und kräftigsten Männer sollen sich mit den besten und edelsten Frauen verbinden. Nach den ersten drei Jahren vorherrschend leiblicher Pflege soll die von jetzt ab gemeinsame Erziehung, um harmonische Menschen heranzubilden, in gleichem Maße auf die körperliche wie auf die geistige Ausbildung gerichtet sein. Die erstere war ja im alten Griechenland sowieso zu Hause; ich brauche nur an die Worte Gymnastik und Gymnasium (griechisch Gymnasion, eigentlich eine Stätte, wo man unbekleidet oder leichtbekleidet turnt) zu erinnern. Sie soll auch bei Plato, durch die verschiedenen Altersstufen hindurch in verschiedenem Maß, gepflegt werden. Die geistige Ausbildung geschieht zunächst, dem frühen Kindesalter gemäß, durch Erzählungen aus der Märchen- und Sagenwelt, aus denen jedoch alle unsittlichen, der Götter oder Helden unwürdigen Züge, auch zum Beispiel Schilderungen angeblicher Schrecknisse in der Unterwelt (beim Christentum Hölle) zu verbannen sind. Dann folgt Lese- und Schreibunterricht. Der begeisterungsfähigen Jugend von vierzehn bis sechzehn Jahren werden vor allem Gedichte, namentlich lyrische (Lieder), und die damit verwandte Musik, unter Ausschaltung alles Üppigen und Weichlichen, Leidenschaftlichen und Zweideutigen, als seelische Kost geboten; dem angehenden Jünglingsalter vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre die ernsteren mathematischen Wissenschaften, einschließlich Physik und Astronomie. Nur die auf das wahrhaft Gute und Schöne gerichtete Kunst soll zugelassen sein, damit eine ernste, sittliche Gesinnung, eine reine und hohe Gottesvorstellung, eine mutvolle Verachtung des Todes und der vergänglichen Güter des Lebens in den jungen Seelen erzeugt wird. Auch das weibliche Geschlecht soll an dieser Erziehung teilnehmen. Plato ist einer der frühesten Vertreter der Frauenemanzipation (das heißt Befreiung des weiblichen Geschlechts aus seiner Sklaverei). Er meint, daß die beiden Geschlechter nur im Grad, nicht in der Art ihrer Kräfte verschieden seien. Deshalb sollen die Mädchen und Frauen auch an den gymnastischen Übungen, gegebenenfalls sogar am Kriege teilnehmen; nur sollen ihnen dabei die leichteren Beschäftigungen zugewiesen werden.
Nach Beendigung des Kursus in Musik und Mathematik erhalten sodann die Achtzehnjährigen, ähnlich wie bis vor kurzem bei uns, eine zweijährige militärische Ausbildung. Darauf tritt eine erste Auslese ein. Die wissenschaftlich weniger Begabten verbleiben im Stande der »Hüter«; die übrigen betreiben fortan die Wissenschaften eingehender und in mehr systematischer Form, etwa wie auf unseren Universitäten. Danach erfolgt eine zweite Auslese: die minder Vorzüglichen gehen nun zu allerlei praktischen Staatsämtern über; die Begabtesten aber widmen sich noch fünf weitere Jahre der Erkenntnis des Seienden (Ideenlehre), um sodann ihrerseits höhere Regierungsämter zu übernehmen. Falls sie sich in diesen fünfzehn Jahren bewähren, sind sie mit fünfzig Jahren reif, unter die Zahl der »Herrschenden« oder Philosophen aufgenommen zu werden. Ihr Beruf ist von jetzt an die Gesetzgebung und die Überwachung von deren Ausführung. Die von ihrem jeweiligen Amte, zu dem das Los sie beruft, freie Zeit widmen sie weiterer philosophischer Vertiefung.
Damit nun die beiden regierenden Stände, die Philosophen und die Hüter, durch keine persönlichen Interessen an der Hingabe für das Ganze gehindert werden, soll keiner von ihnen eigenes Vermögen besitzen: weder Gold und Silber, noch eine eigene Wohnung, noch Vorratskammern, in die nicht jeder gehen könnte. Den nötigen Lebensunterhalt empfangen sie in bestimmter Ordnung von den Bürgern der erwerbenden Stände in der Weise, daß sie keinerlei Mangel leiden, indes auch nichts für das nächste Jahr übrig behalten. Sie wohnen und speisen gemeinschaftlich. Ebenso sind ihnen auch die Frauen und Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater das eigene Kind kennt, noch das Kind den Vater. Alle bilden eben eine große Familie; teilen soweit wie möglich Freuden und Schmerzen miteinander. Erst ein solcher Zustand, in dem niemand mehr etwas sein eigen nennt als seinen Leib, wird die Befreiung von aller Zwietracht bringen sowie von allen Rechtshändeln, die jetzt um den Besitz irdischer Güter unter den Menschen entbrennen.
Wie man sieht, ein sehr weitgehender Kommunismus, der allerdings nur auf die Angehörigen der beiden oberen Stände sich bezieht, also nur einen Halbkommunismus darstellt. Von einer Ausdehnung auf das erwerbende Volk hielt Plato wohl zunächst, wie schon angedeutet, sein aristokratisches Mißtrauen gegen die »von Natur unphilosophische« Masse ab. Dann aber waren ja auch zu seiner Zeit die wirtschaftlichen Vorbedingungen (Großbetrieb usw.) für einen Voll- und Produktionssozialismus bei weitem nach nicht vorhanden. Und die Herbeiführung des neuen Sozialstaates durch völlige Umgestaltung des bisherigen kann er sich eben nur als von oben herunter geleitet vorstellen. Zuerst hoffte er wohl, daß die in seiner »Akademie« in seinem Sinne erzogenen Jünger das neue Geschlecht mit dem neuen Geiste erfüllen sollten; denn Staatsverfassungen wachsen nicht auf den Bäumen, sondern wurzeln in der Sinnesart der Bürger. In diesem Sinne war wohl auch sein bekannter Satz gemeint: »Nicht eher wird eine Erlösung von den Übeln in den Staaten, ja beim Menschengeschlecht überhaupt eintreten, ehe die Philosophen zur Regierung kommen oder die jetzigen Könige und Machthaber gründlich philosophieren.« Und er hat auch mehrmals – bei dem älteren wie bei dem jüngeren Dionys – einen praktischen Versuch gemacht. Allein seine Hoffnungen, einen ähnlichen politischen Einfluß wie einst der Bund der Pythagoreer in Griechenland (siehe Seite 18) zu gewinnen, schlugen fehl. Dennoch versiegte sein hochgespannter Idealismus nicht. Gegen Ende seines Lebens entwarf er in einem neuen Buche, den »Gesetzen«, die Grundzüge eines zweitbesten Staates, der den bestehenden Verhältnissen besser angepaßt, mehr Aussicht auf Verwirklichung böte.
Er denkt ihn sich als eine Art Agrarkolonie im Innern der großen Insel Kreta, die, nebenbei bemerkt, ebenso wie das alte Sparta in vergangener Zeit allerlei sozialistische Einrichtungen besessen hatte und so einen gewissen Anknüpfungspunkt bot. Das ganze Staatsgebiet ist, ähnlich wie im Sparta des sagenhaften Gesetzgebers Lykurg, in lauter gleiche »Landlose« (5040 an Zahl) für alle Vollbürger aufgeteilt. An die Stelle völliger Aufhebung der Familie für die beiden oberen Stände ist eine sorgfältige Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens aller, an die Stelle der »Ideen«erkenntnis eine mathematisch-musische (siehe oben) Ausbildung nebst einer geläuterten Staatsreligion getreten, an Stelle der »Philosophen« regiert eine Vereinigung der einsichtigsten und bewährtesten Bürger nach geschriebenen, aber fortbildbaren Gesetzen. Mit dieser Abschwächung des Staatsideals der »Republik« sind jedoch andererseits wesentliche Fortschritte (in unserem Sinne) verbunden. Die starre Trennung der Stände ist gemildert, die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten beinahe geschlossen; der Wert der wirtschaftlichen Arbeit wird stärker gewürdigt, der Volksbildung aller Klassen, nicht zu vergessen der weiblichen Jugend, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Der bedeutsamste Fortschritt aber ist der, daß im Gegensatz zum Halbkommunismus der »Republik« der Vollsozialismus, das heißt die volle Wirtschaftsgemeinschaft für sämtliche Staatsbürger – zu denen allerdings die unfreien Landarbeiter nicht gehören – wenigstens grundsätzlich ins Auge gefaßt wird. Jeder soll sein Ackerlos, ja »sich selbst und seine Habe« als »Gemeingut des ganzen Staates« ansehen. Eine Gemeinsamkeit alles Eigentums und der gesamten Bewirtschaftung von Grund und Boden wäre noch »zu groß für das heutige Geschlecht und die Art, wie es aufwächst und erzogen wird«. Es bleibt, zusammen mit der Gemeinsamkeit der Frauen und Kinder und aller Habe, ein Ideal »vielleicht für Götter und Göttersöhne«, von dem der Philosoph nicht weiß, »ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen wird« (Fünftes Buch der »Gesetze«).
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Wir haben den Hauptinhalt von Platos Staatslehre auch deshalb etwas ausführlicher dargestellt, weil man darin noch einmal den ganzen Plato mit seiner Ideenlehre, Psychologie und Ethik, überhaupt in seiner Eigenart wie in einen Brennpunkt zusammengefaßt erblickt. Die Hoffnung, die er auf seine Schüler setzte, erfüllte sich nicht. Wohl hat die »Akademie« länger als irgendeine andere Philosophenschule, beinahe noch ein Jahrtausend hindurch bestanden. Aber in all dieser Zeit hat sie wohl manchen redlichen Mann, aber keinen einzigen hervorragenden Kopf hervorgebracht, außer dem erst sechs Jahrhunderte später lebenden Plotín. Sie haben sich gerade an das weniger Dauerhafte in ihres Meisters Lehre, an die mystischen Neigungen und pythagorisierenden Gedanken seines Alters, die wir mit Absicht übergangen haben, angeschlossen und außerdem populären praktisch-ethischen Erörterungen sich zugewandt, denen wir in anderem Zusammenhang noch begegnen werden. Der einzige seiner Schüler, der weltgeschichtliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann, schlug völlig andere Bahnen ein. Es war Aristóteles.
bildet so ziemlich in allen Beziehungen das Gegenstück zu seinem Lehrer Plato. Aus dem Mittelstand, in der griechischen Kleinstadt Stagira an der mazedonischen Küste als Sohn des königlich mazedonischen Leibarztes Nikomachos geboren, der übrigens früh starb, trat auch er später etwa acht Jahre in den Hofdienst, und zwar – als Erzieher des später so berühmt gewordenen Kronprinzen Alexander (des Großen), ohne daß dies Verhältnis besondere Spuren bei einem der beiden hinterlassen hätte. Auch in der von ihm 334 zu Athen begründeten und elf Jahre lang geleiteten Philosophenschule, nach den dem Apollo Lykaios geweihten Gymnasium, in dessen schattigen Laubengängen er seinen Schülern, am Nachmittag auch einem größeren Publikum Vorlesungen hielt, Lyzeum genannt, scheint er mehr doziert, als nach sokratischer Methode Zwiesprache mit seinen Jüngern gehalten zu haben. Dagegen war er ein vielseitiger Gelehrter, der auf allen Gebieten damaligen Wissens bewandert war. Schon Plato, dessen Unterricht er von 368 bis 347 genoß, soll ihn »den Leser« genannt haben; er zuerst legte sich eine eigene größere Bücherei an, hat auch schon als Schüler Platos selbständig geschriftstellert und die Redekunst gelehrt. Dagegen mangeln ihm die Kühnheit und Tiefe des Denkens, die einen Plato auszeichneten, dem seine Nüchternheit nicht gerecht wurde. Und ebenso der Idealismus von dessen Wollen. Er bleibt in Sittenlehre und Politik der Mann der »richtigen Mitte«. Trotzdem wurde auch er wegen »Gottlosigkeit«, das heißt Vernachlässigung der Götterverehrung, angeklagt – in Wahrheit mögen ihn wohl in dem nach Alexanders Tod »patriotisch« gewordenen Athen seine Beziehungen zum mazedonischen Königshause verdächtig gemacht haben – und rettete sich nach der benachbarten Insel Euböa. Dort ist er im folgenden Jahre (322) an einer Magenkrankheit gestorben.
Aristoteles' Verdienste liegen vor allem auf einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Einzelgebieten, auf denen er als kluger Kopf das Wissen seiner Zeit zusammenfaßte, zum Teil darüber hinausging und Selbständiges geleistet hat. So ist er
1. der Vater der formalen, das ist praktisch-schulmäßigen Logik geworden. Er zuerst hat die heute in jedem Handbuch der Logik zu findenden Einteilungen der Urteile, Schlüsse, Beweisführungen geschaffen, hat gezeigt, wie eine richtige Definition (Begriffsbestimmung) zustande kommt, hat die Begriffe in zehn »Kategorien«, das heißt Hauptgattungen von Aussagen über das Seiende gegliedert, die wir mit ihm selbst entnommenen Beispielen hier anführen wollen: 1. Substanz (Ding), zum Beispiel der Mensch, das Pferd; 2. Quantität (Größe), z. B. zwei oder drei Ellen lang; 3. Qualität (Beschaffenheit), z. B. weiß, gebildet; 4. Relation (Verhältnis), z. B. doppelt, größer; 5. Ort, z. B. auf dem Markte, im Lyzeum; 6. Zeit, z. B. gestern, voriges Jahr; 7. Lage, z. B. liegt, sitzt; 8. Zustand oder »Haben«, z. B. ist beschuht, bewaffnet; 9. Tätigkeit, z. B. schneidet, brennt; 10. Leiden, z. B. wird geschnitten, wird gebrannt. Wie man sieht, entsprechen die meisten von ihnen den grammatischen Wortarten. Philosophisch am wichtigsten sind die vier zuerst genannten, besonders der Substanzbegriff. Durch das ganze Mittelalter hindurch, ja noch bis tief in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein, in den scholastisch-katholischen Seminarien wohl noch heute, hat man nach der aristotelischen Logik unterrichtet, und ein großer Teil der gebräuchlichen philosophischen Kunstausdrücke stammen von ihm. Für die Methode tiefer dringender Wissenschaft reichte allerdings dieses Schema nicht aus, das nur einer autoritätsgläubigen Scheinphilosophie genügen konnte, die nicht neue Wahrheiten finden, sondern nur angeblich vorhandene »beweisen« wollte.
2. Die eigentliche oder »erste« Philosophie des Aristoteles findet man in den vierzehn Büchern seiner »Metaphysik«. Der heute so viel gebrauchte Name (wörtlich: »nach der Physik«) rührt von dem rein äußerlichen Umstand her, daß das Werk von einem späteren Ordner seiner Schriften hinter seine »Physik« gestellt wurde. Aristoteles' Grundphilosophie stellt nicht, wie Platos Ideenlehre, zuerst einmal die Frage nach der Gewißheit der Erkenntnis, sondern geht sofort von der gewöhnlichen Vorstellungsweise des Durchschnittsmenschen, den sogenannten Einzeldingen, etwa dem Manne hier oder dem Pferde dort, aus. Von ihnen will sie zum Allgemeinen, vom Zufälligen zum Wesentlichen oder, wie es mit einem dritten ebensolchen Begriffspaar ausgedrückt wird, vom Stoff zur Form emporleiten. Der Stoff (die Materie) ist das gestaltlos zugrunde Liegende, die Form seine Gestaltung. Das Bauholz zum Beispiel ist die Form des unbehauenen Baumstammes, dagegen wieder, zusammen mit Erde und Steinen, »Stoff« zu einem Haus. Beim Menschen ist der Leib der Stoff, dessen Form die Seele, die ihrerseits wieder den Stoff für die Vernunft, die »Form der Form« darstellt. Ja, der Stoff sinkt schließlich zur bloßen »Möglichkeit« herab, deren Verwirklichung die Form bildet, wie im Keime schon der zukünftige Baum, im Knaben der künftige Mann steckt. Der Übergang aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit geschieht durch Bewegung beziehungsweise Veränderung, deren letzter Grund ein »erstes Bewegendes« ist, das, selbst unbewegt und unbeweglich, unveränderlich, schlechthin vollkommen, unkörperlich, mithin ein vernünftiges Wesen, kurzum der göttliche Geist ist, der keinen anderen Zweck außer sich selbst besitzt.
So erscheint hier zum erstenmal in rein begrifflicher Formulierung der Monotheismus (Glaube an eine Gottheit), wohl mit einzelnen pantheistischen Zügen, aber im ganzen doch im Gegensatz zu Xenophanes außerweltlich, im Gegensatz zu Sokrates' und Platos ethischer Auffassung wesentlich verstandesmäßig gedacht: seine Selbstanschauung bildet Gottes einzige Seligkeit. Dagegen sehnt sich die Welt nach ihm, wie das Unvollkommene zu dem Vollkommenen hinstrebt, alles Werden zu seinem Zweck.
Damit sind wir zu dem letzten und wichtigsten philosophischen Grundprinzip des Aristoteles gelangt: dem Zweckbegriff, den eigentlich erst er bewußtermaßen in die Philosophie eingeführt hat. Er tritt damit in offen bekannten Gegensatz zu Demokrits mechanisch-kausaler Erklärung der Natur. So gebraucht er ausdrücklich das Beispiel: das Wasser des Wassersüchtigen fließe nicht aus wegen des ärztlichen Messers, sondern nur durch das Messer wegen der Gesundheit. Auch die Natur schafft nach dem ihr vorschwebenden Zweck die einzelnen Exemplare der Tier- oder Pflanzengattung. Die Blätter der Pflanzen sind zu ihrem Schutz, die Wurzeln zu ihrer Nahrung da; der Zweck des Samenkorns ist der Baum usw. Wo ein Zweck nicht offen zutage liegt, darf man sich ihn erdenken, denn »die Natur tut nichts umsonst«. Keine Frage, daß mit dieser Lehre vom Zweck (Teleologie) ein vielfach nützlicher Gesichtspunkt in die Naturwissenschaft, vor allem die organische, hineinkommt; aber als Erklärung gedacht doch ein Rückschritt hinter die schon von Demokrit gelehrte strenge Naturnotwendigkeit, der darum auch von der wiedererwachenden Naturwissenschaft zur Zeit der Renaissance entschieden bekämpft wird und noch den Ärger Goethes erregte.
Seine vier »Grundprinzipien« legt der Philosoph einmal zusammenfassend an dem Beispiel des Hauses dar: den Stoff bilden die Bausteine, die Form der »Begriff« des Hauses, die bewegende Ursache ist der Baumeister, der Zweck das fertige Haus. Es gibt also bei ihm eigentlich vier verschiedene Arten von Ursachen: eine begriffliche, eine Bewegungs-, eine Stoff- und eine Zweckursache. Fragen wir nun nach Sinn und Bedeutung dieser ganzen »Metaphysik«, so fehlt völlig die platonische Frage nach der Gewißheit und den Bedingungen menschlicher Erkenntnis. Dagegen war doch ein wissenschaftlich äußerst fruchtbarer Gedanke in dieser Vorstellungsweise enthalten; nämlich derjenige der Entwicklung. Aristoteles' Denken bleibt vielfach in Formeln wie vom »Wesen« der Dinge, in allerlei Gegensätzen befangen, aber es baut doch grundsätzlich eine ungeheure Stufenleiter denkbarer Zustände und Wesen auf, von der »ersten«, noch ungeformten »Materie« bis empor zu den höchsten Formen geistiger Tätigkeit.
3. Dies an sich etwas abstrakte Gedankengerüst bekleiden dann mit Fleisch und Blut seine Schriften aus dem Gebiet der Einzelwissenschaften, vor allem die naturwissenschaftlichen, welche die Mehrzahl unter ihnen bilden. Er hat eine Astronomie (»Vom Himmel«), eine Meteorologie, eine Physik, eine Schrift vom Entstehen und Vergehen, eine große Tiergeschichte, eine Schrift über die Seele und eine ganze Anzahl kleiner zoologischer Abhandlungen geschrieben und ist durch sie der Lehrer nicht bloß für seine Zeitgenossen, sondern auch für achtzehn folgende Jahrhunderte geblieben.
Die Welt besteht nach Aristoteles von Ewigkeit her. Ihr vollkommenster Teil ist das Himmelsgewölbe mit seinen von beseelten Geistern gelenkten Fixsternen. Niederer, und zwar nicht bloß im örtlichen Sinne, ist schon die Sphäre (Umkreis) der Planeten, einschließlich Sonne und Mond, am unvollkommensten die Welt »unter dem Monde«, unsere Erde, die gleichwohl den Mittelpunkt des Weltalls bildet. Ihre Urbestandteile sind die vier bekannten, von Empedokles übernommenen Elemente, die beständig ineinander übergehen oder sich miteinander vermischen. Die Physik ist die Lehre von der Bewegung oder Veränderung, die in Orts-, Stoffveränderung und Ab- oder Zunahme bestehen kann, und so je nachdem die Grundlage für unsere heutige Mechanik, Chemie, organische Naturwissenschaft bildet. Für die beiden ersteren und ihre mathematische Grundlegung ist jedoch unser ganz vom Zweckgedanken erfüllter Denker wenig interessiert; er bekämpft deshalb auch Pythagoras, Plato und Demokrit. Die Natur ist ihm vor allem ein großer Organismus, eine von dem »ersten Beweger« zweckvoll geordnete Einheit. Sein Hauptinteresse gehört daher der Wissenschaft von den Lebewesen oder der
Biologie. Die niedersten Tiere entstehen ihm zufolge durch Urzeugung aus Schlamm oder tierischen Aussonderungen, die höheren dagegen nur aus gleichartigen. Überall spielt der Zweck hinein. Das Niedere dient stets dem Höheren: die Pflanze dem Tier, das Tier dem Menschen, das Weibliche dem Männlichen (im Gegensatz zu Plato!), der Leib der Seele. Der Leib verhält sich zur Seele wie der Stoff zur Form, das Auge zur Sehkraft. Trotzdem ist auch bei Aristoteles, wie fast bei allen Denkern des Altertums, die
Psychologie nur ein Teil der Biologie. Auch von der Seele gibt es drei Stufen: 1. die Pflanzen- oder vegetative Seele, die bloß der Ernährung und Fortpflanzung dient, 2. die Tier- oder Sinnenseele, 3. die menschliche oder Vernunftseele, der allein die bewußte Erinnerung, das Sicherinnern an etwas zukommt. Er spricht auch, bereits von einer Einheit der Sinnestätigkeit, einer Art Gemeinsinn, dessen Sitz er nur auffallend erweise, damit hinter Demokrit und Plato zurückgehend, statt in das Gehirn in das Herz verlegt! Wie er denn auch auf dem Gebiete der Zoologie trotz seines großen Tatsachensinns und seiner guten Beobachtungsgabe zuweilen noch recht rückständige Ansichten äußert, wie zum Beispiel, daß die Raben durch die Kälte weiß, Rebhühner durch einen von Menschen her streichenden Windhauch befruchtet werden könnten und anderes mehr. Jedenfalls hat er aber, wie auf zahlreichen anderen Gebieten der beschreibenden Naturforschung, so auch auf dem des Seelischen, manche wertvolle Anregungen gegeben und ist so der Begründer der empirischen Psychologie (Erfahrungs-Seelenlehre) geworden. Die dem Menschen eigentümliche Form der Seele ist das Denken oder der Geist. Von dem tätigen unterscheidet er merkwürdigerweise noch einen »leidenden« Geist, welcher einer unbeschriebenen Tafel gleicht, die bestimmt ist, vom »tätigen« Geiste beschrieben zu werden. Erst wenn er losgelöst sein wird von diesem seinem vergänglichen Bruder, wird der reine oder göttliche Geist, der von oben herab in uns gelegt ist, zu seinem wahren Sein gelangen. Ob damit eine persönliche Unsterblichkeit behauptet ist, darüber haben Aristoteles' Anhänger von Anfang an bis in den Beginn der Neuzeit lebhaft gestritten.
Neben der »tätigen« und »leidenden« gibt es drittens noch eine »praktische« Vernunft, die unser Wollen und Handeln lenkt. Damit sind wir auf dem Gebiete der aristotelischen
4. Ethik. Aristoteles ringt nicht, wie Plato, mit der Frage: Gibt es überhaupt reine Sittlichkeit? Und eine wissenschaftlich begründbare Ethik? Er bekennt, nicht zu verstehen, was »ein Gutes an sich«, was die »Idee« des Guten bedeute. Das Gute ist vielmehr, so beginnt seine für seinen Sohn Nikomachos geschriebene (»nikomachische«) Ethik, in jeder Kunst und bei jedem Tun »das, wonach alles hinstrebt«, mithin der Zweck des betreffenden Tuns: für die Heilkunst die Gesundheit, für die Kriegskunst der Sieg, für die Wirtschaftslehre der Reichtum usw.! Maßstab ist demnach der unmittelbare Nutzen. »Nicht damit wir wissen, was die Tugend ist,« treiben wir Ethik, »sondern damit wir tüchtige Leute werden«. Oberster aller Zwecke, höchstes aller Güter ist die Glückseligkeit, die freilich nicht im Sinnengenuß oder im bloßen Besitz äußerer Güter besteht, aber letztere doch mit einschließt. Von den einzelnen Tugenden setzt er die des Denkens, als da sind Vernunft, Weisheit, Kunst, praktische Einsicht, über die des Charakters: Mannhaftigkeit, Mäßigkeit, Selbständigkeit. Wahrhaftigkeit usw. Eigentlich »denkselig« sind nur die Götter und die theoretisch begabten Menschen; für die gemeine Masse hat der vornehme Gelehrte wenig übrig. Von den »ethischen« oder Charaktertugenden bildet eine jede die richtige Mitte zwischen zwei zu tadelnden Extremen: so die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Mäßigkeit zwischen Wollust und Stumpfsinn, die Freigebigkeit zwischen Geiz und Verschwendung. Der philosophische Wert der aristotelischen Ethik liegt somit nicht in der theoretischen Erörterung, sondern in seiner reichen Menschenkenntnis und guten seelischen Beobachtung. Besonders eingehend erörtert er die beiden Tugenden, welche die sittliche Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in Familie und Staat bilden: die Freundschaft und Nächstenliebe und die Gerechtigkeit. Damit stehen wir bei Aristoteles'
5. Politik oder Staatslehre. Ist doch die Aufgabe der Ethik nach griechisch-römischer Auffassung nur im Staate lösbar. Von Aristoteles stammt das berühmte Wort: »Der Mensch ist ein staatbildendes Lebewesen.« Entstanden um des nackten Lebens willen, besteht der Staat zum Zweck des Gutlebens, das heißt, wie wir bereits aus seiner Ethik wissen, des wahren Glückes aller seiner Bürger. Wie Plato, eifert auch er gegen die Gewinnsucht, sofern sie über die Befriedigung des naturgemäßen Bedürfnisses hinausgeht, gegen Kapitalanhäufung, ja gegen den Geschäftssinn überhaupt, der ihm des freien und gebildeten Mannes unwürdig erscheint, und scheut auch vor starken Eingriffen des Staates in das wirtschaftliche Leben nicht zurück. Aber sein Maßstab bleibt doch bei alledem der Durchschnittsmensch, seine Staatskunst wie seine Sittenlehre eine solche der rechten Mitte, die den Anschluß an das historisch Gegebene sucht. Die Abschaffung des Privateigentums geht »Wider die Natur«! Die Tugend bedarf der Muße. Der Schwerpunkt fällt demnach für ihn in den wohlhabenden, rentnerhaften Mittelstand, dessen Angehörige dann freilich gleiche politische Rechte besitzen sollen. Indes gehört zu diesen Vollbürgern nicht der erwerbende und Arbeiterstand. Noch weniger natürlich die Sklaven. Es gibt von der »Natur« zu niedriger Arbeit bestimmte Völker (die »Barbaren«, d. i. Nichtgriechen) und Menschenklassen! Der Sklave ist eine »lebendige Maschine«, gewissermaßen »ein Teil seines Herrn«; das wird so lange dauern, bis einmal – eine bemerkenswerte Vorausahnung des neunzehnten Jahrhunderts! – Maschinen erfunden sein werden, welche die bisherige Sklavenarbeit verrichten. Zu seiner uns schon bekannten einseitigen Überschätzung des Denkerstandes stimmt es, daß er trotz seiner eigenen freien Anschauung ganz wie gewisse Leute noch heute die bestehende Religion für – »das Volk« erhalten wissen will.
Von Interesse ist seine Lehre von den Staatsverfassungen; den drei zweckmäßigen: Monarchie, Aristokratie, gemäßigte Volksherrschaft und ihren drei Ausartungen: Tyrannis, Oligarchie (Herrschaft von wenigen) und Pöbelherrschaft. Sehr anzuerkennen ist auch hier wieder der scharfe psychologische Blick und die reiche politisch-historische Erfahrung, mit der er Entstehen, Entwicklung und Untergang dieser Staatsformen sowie ihren Übergang ineinander zu schildern weiß. Als Mann der »rechten Mitte« ist er natürlich ein Anhänger der gemäßigten »Volks«herrschaft, die auch wirtschaftlich in der Mitte zwischen Platos Sozialismus und dem radikalen Individualismus oder Liberalismus des »Allesgehenlassens« steht. Und selbst die Verwirklichung dieses seines sehr »gemäßigten« Staatsideals erklärt er für sehr schwierig, »da allezeit nur die Schwächeren, nicht die Mächtigeren sich um Gleichheit und Gerechtigkeit ernstlich kümmern«.
Daß seine »Politik« unvollendet geblieben ist, ist besonders wegen der auf diese Weise fehlenden Lehre von der Erziehung, auf die auch er großen Wert legt, sehr zu bedauern. Auch von seiner
6. Kunstlehre ist nur eine »Rhetorik« und die Schrift »Über die Dichtkunst« erhalten. Die erstere, die Überzeugung durch Wahrscheinlichkeitsgründe zum Zwecke hat, enthält neben der Behandlung der noch bei Cicero eine Rolle spielenden verschiedenen Redegattungen (Staats-, gerichtlichen und Prunkrede) auch anziehende Ausführungen über die für den Redner in Betracht kommenden Charaktertypen, Stimmungen und Lebensalter seiner Zuhörer. – Von seiner Poetik ist in der Hauptsache nur der die Tragödie und das Epos (Heldenerzählung) behandelnde Teil erhalten. Ob er bei seiner Trockenheit die Lyrik überhaupt näher erörtert hat? Jedenfalls leitet er die Kunst nicht wie Plato aus der schöpferischen Zeugungskraft des Eros ab, sondern recht nüchtern aus – dem Nachahmungstrieb der menschlichen Natur. Der Zweck der Kunst ist, abgesehen von dem rein praktischen Zweck der technischen Künste, zunächst Erholung und edle Unterhaltung des Geistes, aber daneben doch auch ein höherer: zeitweilige Läuterung und Befreiung der Seele von den sie überwältigenden Leidenschaften, wie in seiner durch Lessings »Hamburgische Dramaturgie« berühmt gewordenen Begriffsbestimmung der Tragödie zum Ausdruck kommt.
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Aristoteles' Schule, die von dem Umherwandeln in den Peripatoi (Spaziergängen) des Lyzeums den Namen Peripatetiker erhielt, hat zwar noch jahrhundertelang bestanden, aber ebensowenig wie die platonische besonders hervorragende Köpfe hervorgebracht. Gewiß hat sein unmittelbarer Nachfolger Theophrast von Lesbos durch seine Botanik das ganze Mittelalter unterrichtet und durch seine Schilderung menschlicher Charaktere in einer besonderen Schrift noch das achtzehnte Jahrhundert unterhalten, hat Aristóxenos, von den Pythagoreern in Tarent herkommend, sich als Theoretiker und Historiker der Musik einen Namen gemacht und die Seele einer Harmonie von Tönen verglichen, während Dikäarch von Messana in seiner Kulturgeschichte den Naturzustand verherrlichte und die Entwicklung des Privateigentums als Abfall vom Naturgesetz ansah, andererseits Strato der Physiker statt der Zweckbetrachtung eine rein physikalische Erklärung der Natur verlangte und ganz materialistisch den Sitz des menschlichen Geistes zwischen die Augenbrauen verlegte. Indessen auf die Entwicklung der griechischen Philosophie haben alle diese Denker keinen Einfluß von Bedeutung gehabt. Die späteren Peripatetiker scheinen sich denn auch fast nur als Philologen betätigt, das heißt mit der Neuherausgabe und ausführlichen Auslegung der Schriften ihres Meisters beschäftigt zu haben.
Um so größer ist dessen Einfluß auf die Folgezeit, namentlich das gesamte Mittelalter, gewesen. Gerade seine nüchterne, niemanden durch allzu scharfe Betonung von Grundsätzen abstoßende, vielmehr sich dem Bestehenden anschmiegende und vermittelnde Art erleichterte diesen Prozeß. Sie kam insbesondere der Kirche wie gerufen, als diese sich mit der Zeit nach einer philosophischen Begründung des nicht unmittelbar von der Offenbarung abhängigen Teiles ihrer Lehren umsah. Seit dem achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurden seine Schriften auch von den Arabern und Juden studiert (siehe viertes Kapitel) und dadurch auch dem Abendlande wieder gründlicher bekannt. So haben wir denn die merkwürdige Tatsache festzustellen, daß der »Heide« Aristoteles geradezu »der« Philosoph für die mittelalterliche Kirche geworden ist, daß der größte Meister der Scholastik, Thomas von Aquino, ihn in allen Fragen weltlicher Wissenschaft empfiehlt und auch noch Melanchthon ihn in etwas modernisierter Form auf den protestantischen Hochschulen des sechzehnten Jahrhunderts eingeführt hat. Erst die neuzeitliche Philosophie und Naturwissenschaft, die durch die Namen Descartes, Galilei, Kant bezeichnet wird, macht dieser Autorität ein Ende. Seitdem haben, abgesehen von seinen natürlich unbestreitbaren Verdiensten auf Einzelgebieten, wie der Logik, empirischen Psychologie und Naturbeschreibung, bezeichnenderweise immer nur die Verfechter des Bestehenden oder rückwärts gerichtete Naturen an ihn angeknüpft.
Plato und Aristoteles sind, obwohl unter sich ganz verschieden, die beiden großen Systematiker und sozusagen klassischen Vertreter der griechischen Philosophie. Wir müssen uns nun zunächst wieder zu der Zeit um Sokrates' Tod zurückwenden, um die Entwicklung der griechischen und später römischen Philosophie außerhalb dieser beiden klassischen Denker zu verfolgen.