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Das Gesetz der Wellenbewegung, wonach Tal auf Berg, Berg auf Tal folgt, gilt auch auf geistigem Gebiet. So auch für die Philosophie. Der Hegelsche Satz, daß die »These« (Behauptung ) die »Antithese« (Gegenbehauptung) hervorruft, sollte sich in der Geschichte seiner eigenen Schule erfüllen. Konnte man doch von seinem »Selbstbewußtsein« aus zu den verschiedensten Folgerungen fortschreiten, mit seiner Philosophie, wie nicht ohne Grund gesagt worden ist, »alles beweisen«. Sie zerfiel schon wenige Jahre nach dem Tode ihres Meisters in die verschiedenen, zum Teil ganz entgegengesetzten, bisher in ihr vereinten Elemente. Den äußeren Anlaß gab das 1835/36 erschienene »Leben Jesu« eines der Ihrigen, des Tübinger Theologen David Friedrich Strauß, das die Überlieferung der Evangelien größtenteils in Sagen auflöste und Gott mit »dem Unendlichen« gleichsetzte. Nur wenige, vorzugsweise die streng kirchlich und politisch konservativ Gerichteten, blieben dem Althegelianismus treu. Andere, wie J. Ed. Erdmann, Eduard Zeller, Schwegler und Kuno Fischer, wandten sich der Geschichte der Philosophie zu und haben sich auf diesem Felde einen Namen erworben; wieder andere auf Sondergebieten, wie F. Th. Vischer als Ästhetiker, Gans als liberaler Rechtsphilosoph, Baur und Pfleiderer als freier gerichtete protestantische Theologen. Am meisten Leben aber herrschte bei den sog. Junghegelianern, die jedoch unter sich wieder je nach ihren Hauptinteressen auseinandergingen.
Strauß' (1808 bis 1874) theologische Kritik wurde fortgesetzt und überboten von den Brüdern Bruno (1809 bis 1882) und Edgar Bauer, vor allem aber durch den philosophisch bedeutendsten dieser Junghegelianer
Ludwig Feuerbach (1804 bis 1872)
Dieser selbst hat seine philosophische Entwicklung einmal charakterisiert mit den Worten: »Mein erster Gedanke war Gott, mein zweiter die Vernunft, mein dritter und letzter der Mensch.« Uns geht nur dieser letzte Standpunkt an, der bereits 1841 in seinem »Wesen des Christentums« unverhüllt zum Ausdruck kam und gewaltiges Aufsehen erregte. Danach erzeugt der Mensch selbst den Begriff Gottes aus den Bedürfnissen des eigenen Herzens, indem er in seiner Religion eigentlich nur sein eigenes Wesen, über das er nicht hinaus kann, ins Unendliche steigert und sodann als Gottheit verehrt; man denke an die Gottheiten der alten Griechen, Römer, Germanen oder auch Naturvölker. In seinen »Grundzügen der Philosophie der Zukunft« (1843) geht Feuerbach dann ganz konsequent zu einem ausgesprochenen Sensualismus über, bei von der »sonnenklaren« und unverlierbaren Empfindung ausgeht und sich auch in seiner Ethik geltend macht. »Folge unverzagt deinen Neigungen und Trieben,« sagt Feuerbach, »aber allen! Dann wirst du keinem einzigen zum Opfer fallen.« Oft genug geht freilich der Weg zum Glück – Feuerbach hat es bitter genug am eigenen Leben erfahren – nur durch Arbeit und Entsagung. Am meisten aber machte später unser an sich sehr idealistischer Denker von sich reden, als er in einer Buchbesprechung (1850) gelegentlich die Worte niederschrieb: »Der Mensch ist, was er ißt.« Um gerecht zu sein, muß man jedoch den Satz im Zusammenhang mit den unmittelbar vorhergehenden Sätzen betrachten: »Die Lehre von den Nahrungsmitteln ist von großer ethischer und politischer Bedeutung. Die Speisen werden zu Blut, das Blut zu Herz und Hirn, zu Gedanken- und Gesinnungsstoff. Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesittung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen!«
Der Eindruck Feuerbachs auf die radikale Jugend war mächtig: »Die Begeisterung war groß,« schreibt Friedrich Engels noch 1886, »wir waren alle momentan Feuerbachianer.« Dann aber gingen auch seine Anhänger nach verschiedenen Richtungen auseinander. Nach der politischen und geschichtsphilosophischen Seite entwickelte sich der Junghegelianismus zu dem Radikalismus eines A. Ruge und vor allem zu dem »historischen Materialismus« von Marx und Engels, den wir wegen seiner Wirkungen in einem späteren Kapitel gesondert betrachten werden. Der Individualismus Feuerbachs wurde übertrumpft durch den absoluten Egoismus von Max Stirner, sein Sensualismus durch den Materialismus der Moleschott, Vogt und Büchner (siehe S. 258 f.) in den fünfziger Jahren.
Bereits vor Ende der dreißiger Jahre hatte sich in Berlin um den obengenannten Bruno Bauer ein sogenannter »Doktorklub« radikaler Junghegelianer gebildet, dem auch der Studiosus Karl Marx während seines Berliner Aufenthalts angehörte, und der später in den noch radikaleren Kreis der Berliner »Freien« überging. In letzterem spielte neben Friedrich Engels (1841/42) eine Rolle der später ganz verschollene und in größter Dürftigkeit gestorbene Kaspar Schmidt (1806 bis 1856), der nur unter seinem Schriftstellernamen
Max Stirner
bekanntgeworden ist und unter diesem 1845 ein einzigartiges Buch herausgegeben hat: »Der Einzige und sein Eigentum.« Er will darin nicht die Sache »der Menschheit«, ja nicht einmal die des Menschen (wie Bruno Bauer, Feuerbach) vertreten, sondern nur sein Einzel-Ich. Nicht Freiheit soll man erstreben, sondern Eigenheit. Laßt eure törichte Sucht, etwas anderes zu sein, als ihr selbst! Nehmt euch die Freiheit, anstatt sie zu fordern oder euch schenken zu lassen, mit einem Wort: seid Egoisten! Geist, Wahrhaftigkeit, Liebe, Sittlichkeit ist bloßer Spuk oder Borniertheit, selbst das Recht nur »ein Sparren, erteilt von einem Spuk«. Der »Eigene« kennt weder Pflicht noch Gesetz; er wird auch vor Eidbruch und Lüge nicht zurückschrecken, wenn es um seinetwillen geschieht, wie Luther einst sein Mönchsgelübde brach um der »höheren« Wahrheit willen. Weg mit Familie, Volk, Partei, Strafe, Eigentum! Dein Vermögen ist, was du vermagst. Vieles, selbst Leben und Freiheit, will ich dem anderen mit Freuden opfern, nur nicht mich selbst. Nichts mehr von Berufsaufgabe, Ideal! Grüble nicht über dein Leben, sondern genieße es! Was natürlich nicht heißen soll: »Fröne dem Profit!« Denn der Sklave des Geldsacks ist nicht mehr »sein« eigen [was heißt dann aber »sein« oder »Ich«?] Politisch wird natürlich der sogenannte Liberalismus der Bourgeoisie verworfen, der nur den Besitzenden bevorrechtet, aber auch der Kommunismus, der alle zu besitzlosen »Lumpen« herabdrückt. An die Stelle des Staates muß vielmehr ein bloßer »Verein von Egoisten« treten, in dem jeder tut, was ihm beliebt. Daß trotzdem nicht alles drunter und drüber geht, das wird jedes einzelne Ich schon verhindern, indem es sich nichts gefallen läßt.
Stirners merkwürdiges Buch erregte nur vorübergehend ein gewisses Aufsehen und geriet bald in Vergessenheit; erst E. v. Hartmann hat wieder darauf aufmerksam gemacht, und erst in dem theoretischen Anarchisten J. H. Mackay (geboren 1864) hat es einen modernen Anhänger gefunden. Übrigens scheint auch Nietzsche nicht unbeeinflußt von ihm geblieben zu sein.
Indessen hatten die Naturwissenschaften (von denen Stirner noch ganz unberührt erscheint), im Zusammenhang mit der reißend schnellen Entwicklung von Technik und Industrie, einen gewaltigen Aufschwung genommen und damit die romantische Naturphilosophie Schellings und seiner hier nicht weiter zu erwähnenden Anhänger in den verdienten Mißkredit gebracht. Schwanns mikroskopische Untersuchungen hatten 1839 die Zelle als Urorgan des Pflanzen- und Tierkörpers, Liebigs »Chemische Briefe« 1844 die chemische Grundlage der Pflanzen- und Tierphysiologie entdeckt, Robert Mayer und Hermann Helmholtz, fast gleichzeitig mit englischen und dänischen Forschern, das Gesetz von der Erhaltung und Verwandlung der Kraft aufgestellt. Während aber die Mehrzahl der genannten Naturforscher sich auf ihr Fach beschränkten, ja mit der neuen Naturanschauung sogar religiöse Ansichten verbanden, fühlten sich andere zu einer Erneuerung des naturwissenschaftlichen Materialismus (S. 182 ff.) bewogen.
So legte der geborene Holländer Jakob Moleschott (1822 bis 1893) in seinem »Kreislauf des Lebens« (1852) den Gedanken von der Erhaltung der Kraft in rein stofflichem Sinn aus. Von unserer stofflichen Nahrung ist unser Leben, von der Ernährung des Gehirns unser Denken und Wollen abhängig. Der Mensch ist die Summe von Eltern und Amme, Zeit und Ort, Wetter und Luft, Kleidung und Kost, die wichtigste und höchste Wissenschaft daher die Chemie.
Zu einem heftigen Zusammenstoß mit der alten Richtung kam es auf der Göttinger Naturforscherversammlung des Jahres 1854. Der dortige Physiologe Rudolf Wagner hatte in seinem Vortrag »Menschenschöpfung und Seelensubstanz« sich mit dem alttestamentlichen Schöpfungsbericht einverstanden erklärt und geäußert, in Sachen der Religion schätze er den »schlichten, einfachen Köhlerglauben« am höchsten. Dagegen zog nun der Zoologe Karl Vogt (1817 bis 1895), der wegen seiner materialistischen Gesinnung und seiner Beteiligung an der 1848er Bewegung seine Gießener Professur hatte aufgeben und nach Genf weichen müssen, in einer sehr grobkörnigen Streitschrift »Köhlerglaube und Wissenschaft« (1855) zu Felde, die sich unter anderem zu dem Satze verstieg, »daß, um es einigermaßen grob auszudrücken, die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«. Natürlich bestritt er auch die von R. Wagner verfochtene persönliche Unsterblichkeit und ätherische Seelensubstanz; der Mensch unterscheidet sich nur gradweise vom Tiere. Vogt schloß sich später auch in seinen »Vorlesungen über den Menschen« (1863) in besonders temperamentvoller Weise der Darwinschen Abstammungslehre an. An die Stelle einer »sittlichen Weltordnung, die auf dem Beben vor einer unsichtbaren Feme beruht«, will er die Erkenntnis setzen, daß »kein Mensch einen Anspruch erheben dürfe, den er nicht seinen Mitmenschen in vollstem Maße gestatten will«; was unseres Erachtens erst recht eine »sittliche« Weltordnung ist. Übrigens hält selbst ein so entschlossener Materialist wie Vogt es für unerklärbar, wie das Bewußtsein aus den Gehirnzellen entstehe.
Am bekanntesten von allen materialistischen Büchern in Deutschland dürfte des Darmstädters Louis Büchner (1824 bis 1899) »Kraft und Stoff« (1854) geworden sein, das bis 1877 zwölf, bis 1904 einundzwanzig Auflagen erlebte. Stoff und Kraft bilden zusammen, als »unteilbare Zweieinigkeit« (Moleschott), das einzig wahrhaft Existierende. Alle Naturkräfte, auch die sogenannten geistigen, sind an den Stoff gebunden; die seelische Tätigkeit zum Beispiel ist nichts anderes als die »Ausstrahlung einer von äußeren Eindrücken geleiteten Bewegung zwischen den Zellen der grauen Gehirnrinde«. Immerhin hat er später eingeräumt, daß die Begriffe Kraft und Stoff in gewissem Sinn einander »geradezu negieren«, und bekannt, die letzten Rätsel des Lebens überhaupt nicht lösen zu können. Büchner war überhaupt weniger wissenschaftlicher Forscher als geschickter Verbreiter oder, wie Marx es einmal ziemlich geringschätzig ausgedrückt hat, »Reiseprediger« des »vulgären« Materialismus. Er will für das große Publikum der »Gebildeten« schreiben und bleibt häufig recht auf der Oberfläche. Für die soziale Frage insbesondere hat er, trotz seiner Begeisterung für das »Wahre, Gute und Schöne«, auffallend wenig Verständnis en: eine Bemerkung, die auf die meisten seiner Gesinnungsgenossen zutrifft, unter anderem auch auf des alten D. F. Strauß' (siehe S. 255) Bekenntnisbuch »Der alte und der neue Glaube« (1872, 11. Auflage 1881, 14. und letzte Auflage 1895, Volksausgabe 1904).
Wir haben mit Absicht die Auflagenzahlen und -jahre beider materialistischer Aufklärungsbücher angegeben, weil sich aus ihnen die Hauptverbreitungszeit der materialistischen Anschauungen in Deutschland ergibt, die beim bürgerlichen Publikum hauptsächlich in die siebziger und achtziger Jahre fiel, ja in Arbeiterkreisen sich noch länger gehalten hat und zum Teil heute noch hält, weil sie den natürlichen psychologischen Rückschlag gegen die leider in vielen, vielleicht den meisten Schulen noch gelehrte kirchliche Buchstabengläubigkeit darstellt.
In dem Menschenalter zwischen 1840 und 1870 hatte die Philosophie dem Materialismus wenig Brauchbares entgegenzustellen. Ohne weiteres verdammt wurde er selbstverständlich von den herrschenden Gewalten in Staat und Kirche, denen geistreiche »Doktrinäre des Rückschritts« wie Adam Müller († 1829), L. v. Haller († 1854) und der frühere Israelit Julius Stahl († 1861) auch eine philosophische Rechtfertigung zu geben suchten. Keiner der obengenannten Kämpen des Materialismus hat einen Lehrstuhl an deutschen Hochschulen zu erhalten oder ihn zu behalten vermocht. Die »Philosophen« jener Jahrzehnte waren mit wenig Ausnahmen angestellte Universitätsprofessoren, unter denen Männer mit freieren Anschauungen nicht vorankamen. Sie suchten, soweit sie sich nicht auf historische oder Fachstudien beschränkten oder etwa wie A. Trendelenburg (von 1833 bis 1872 Professor in Berlin) den Aristotelismus in modernerer Form zu erneuern unternahmen, die Philosophie zu verchristlichen, die Theologie »spekulativ« durchzubilden, wie sich denn viele von ihnen, die sich um des jüngeren Fichte »Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie« gruppierten, als »spekulative Theisten (Gottesgläubige)« bezeichneten. Wir schweigen ganz von der katholischen Neuscholastik; denn wo eine kirchliche Autorität die unüberschreitbare Schranke setzt, kann von Philosophie nur in ganz bedingtem Maße die Rede sein. Erst das Auftreten F. A. Langes und anderer Vertreter des neuerwachenden Kritizismus (siehe nächstes Kapitel) hat mindestens in wissenschaftlichen Kreisen einen hohlen naturwissenschaftlichen Materialismus überwinden helfen, mit dem die positivistische Mahnung: »Begnüge dich mit der gegebenen Welt!« nicht zu verwechseln ist.
Betrachten wir jedoch zunächst die Entwicklung der positivistischen Anschauungen in unseren westlichen Nachbarländern.
schließt sich die philosophische Entwicklung fast genau den politischen Wandlungen an. Nachdem schon Chateaubriand in seinem »Geist des Christentums« (1802) der romantischen Zeitströmung Ausdruck gegeben hatte, verkündete man unter den zurückgekehrten Bourbonen (1815 bis 1830) eifrig die Theorie des Rückschritts: da Vernunft und Wissenschaft sich als zur Leitung des Menschen unfähig erwiesen haben, zurück zur Autorität, zum Glauben, zum Papsttum! Dem liberalen Bürgerkönigtum Louis Philippes (1830 bis 1848) dagegen entspricht auf politischem Gebiet der schönrednerische, aber schwächliche Eklektizismus Viktor Cousins (1792 bis 1867) und seiner Schule, deren einziges wissenschaftliches Verdienst in einer Reihe philosophiegeschichtlicher Arbeiten besteht.
Eine Gegenströmung zu dieser an der Pariser »Normalschule« (Ecole normale), die noch heute die »höhere« Lehrerschaft Frankreichs ausbildet, verkündeten offiziellen Weisheit kam an ihrer Nebenbuhlerin, der Polytechnischen Schule, auf, welche die Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft nicht bloß für Techniker und Industrielle, sondern auch für eine allgemeine Weltanschauung zu verwerten strebte. Aus ihr ging der Begründer des französischen Positivismus
hervor, der in seinen jungen Jahren dem im dreizehnten Kapitel noch zu behandelnden Sozialisten Saint-Simon nahestand und wohl von diesem zu dem sozialphilosophischen Teil seines Systems die erste Anregung erhalten hat. Comte schuf in den Jahren 1830 bis 1842 seinen sechsbändigen »Kursus der positiven Philosophie«. Danach durchläuft das menschliche Erkennen, des einzelnen und noch mehr der Menschheit überhaupt, drei Stufen. Die erste ist die theologische, in der sich der Mensch die Welt nur durch das Walten übernatürlicher Wesen (vom Fetisch über die Vielgötterei bis zum einen Gott) zu erklären vermag. Die zweite ist die metaphysische, die uns ebenfalls eine restlose Erklärung der Dinge verheißt, sie jedoch in abstrakten Ideen, Prinzipien oder Kräften findet. Erst die dritte, die positive oder wissenschaftliche Stufe, die Comte mit heraufführen will und die sich mit der Einheit der Methode begnügt, wird die Dauer versprechende Philosophie des Wirklichen, Sicheren, genau Bestimmbaren und organisch Zusammenhängenden bringen und damit auch die des Nützlichen, denn sie lehrt uns auch auf die zukünftige Entwicklung schließen. Wir übergehen die »Rangordnung« der Einzelwissenschaften und wenden uns gleich der von Comte am meisten gepflegten Sozialphilosophie oder »Soziologie« zu, wie der von ihm zuerst geprägte (halb lateinische, halb griechische, also wenig glückliche) Name für die neue Gesellschaftswissenschaft lautet. Die soziale »Statik« hat die feststehenden Daseinsbedingungen der menschlichen Gesellschaft, die soziale »Dynamik« die Gesetze ihres Fortschritts zu untersuchen. Nur im sozialen Leben vermögen sich die neben den egoistischen gleichfalls von Anfang an bestehenden Triebe des »Altruismus« (der Nächstenliebe) zu entfalten. Den drei zu Beginn genannten Stufen entsprechen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Entwicklung das militärische, juristische und industrielle Stadium. Den »positiven« Denkern und den Proletariern – schon Saint-Simon hatte unter den »Industriellen« alle Schaffenden verstanden – ist das Ziel gemein: allen Menschen Gelegenheit zu ihrer geistigen Entwicklung, allen auch das Recht auf Arbeit zu verschaffen. Der Gemeinschaftsgedanke ist zugleich die Quelle des Pflichtbegriffs: Für den Nächsten leben!
Hätte Comte sich mit dieser positivistischen Lehre begnügt, wäre es besser gewesen. So aber ließ er sich, nach seinem eigenen Geständnis unter dem Einfluß einer von ihm vergötterten Frau, zu einem dem Wesen des Positivismus ganz entgegengesetzten Kultus des Gefühls, zur Predigt einer »soziokratischen« nicht bloß Zukunftsreligion, sondern geradezu Zukunftskirche, zwar ohne Gott, aber mit Verehrung des »Großen Wesens« der Menschheit, das heißt aller ihrer wahren Wohltäter von der Vergangenheit bis in alle Zukunft, verleiten. Danebenher geht die Ausmalung eines Zukunftsstaats, in dem jedem Arbeiter eine Wohnung von sieben Zimmern und dazu noch ein für die damalige Zeit hoher Monatslohn von 300 Franken verheißen wird. Die Leitung dieses Gemeinwesens soll den »Kapitänen der Industrie«, das heißt Bankiers, Fabrikanten und Grundbesitzern, zustehen, deren etwaigen Übergriffen durch den vereinten Widerstand von Vernunft (Philosophen), Gefühl (Frauen), Tatkraft (Proletariern) und öffentlicher Meinung begegnet werden soll.
Es bildeten sich denn auch in Frankreich, England, Amerika und Schweden einzelne »comtistische« Gemeinden, die jedoch keinen langen Bestand gehabt haben. Gerade der begabteste Schüler Comtes, Littré (1801 bis 1881), hat die später immer mehr ins Mystische gehende Wendung des Meisters – dieser soll ein halbes Jahr vor seinem Tode sogar dem Jesuitengeneral Bekx, natürlich vergeblich, ein Bündnis gegen Protestantismus, Deismus und Skeptizismus angeboten haben! – nicht mitgemacht. Auch heute gibt es in Frankreich und Belgien noch Soziologen, die Comtes Richtung nahestehen. Der bekannte Schriftsteller H. Taine (1828 bis 1893) hat die positivistische Auffassung, insbesondere die Erklärung jeder menschlichen Geistestat aus ihrem Milieu, das heißt der gesamten physisch-psychischen Umgebung, aus der sie entstanden ist, auf Geschichtschreibung, Literaturgeschichte und Ästhetik übertragen; während Ribot, Bernard und andere sie in der Psychologie vertraten. Fast noch mehr Anhänger als in seiner Heimat fand Comte übrigens in England.
In der englisch-schottischen Philosophie ist der Tatsachensinn von jeher heimisch gewesen. Wir erinnern nur an Bacons induktive Methode, an den Erfahrungsstandpunkt Lockes und Humes. So zog schon Ende des achtzehnten, noch mehr aber durch das ganze neunzehnte Jahrhundert
viele in ihren Kreis. Ihr Begründer, Jeremias Bentham (1748 bis 1812) war mehr Jurist als Philosoph und hat ihr Grundprinzip eigentlich nur auf Ethik und Staatslehre angewandt. Ob uns eine Handlung nützt, das heißt unser Glück fördert, kann nach ihm allein die Erfahrung entscheiden. Es ist Torheit oder Heuchelei, von einer Tugend »um der Tugend willen« zu reden; in Wahrheit denkt jeder doch bloß an seinen eigenen Vorteil. Es liegt jedoch in unserem »wohlverstandenen« Interesse, auch das unseres Nächsten zu beachten. Die auf diese Weise zu erwartende »Harmonie der wohlverstandenen Interessen« wird zuletzt Benthams ethisch-politisches Ideal, »größtmögliches Glück der größtmöglichen Anzahl«, von selbst hervorbringen. In der Gesetzgebung schloß er sich im einzelnen vielfach dem italienischen Strafrechtslehrer Beccaria (1738 bis 1794) an, der als einer der ersten die Todesstrafe bekämpft hatte. Im ganzen bleibt seine Betrachtungsweise doch sehr an der Oberfläche des Lebens haften und stieß deswegen doch selbst in England vielfach auf Widerspruch.
Dagegen wurden seine Grundsätze so recht die Kern- und Lieblingsmelodie derjenigen englischen Liberalen, die für entschiedene Durchführung politischer und religiöser, namentlich aber auch der Handels- und Gewerbefreiheit eintraten, von denen der Bankier David Ricardo und andere Nationalökonomen, in die Fußstapfen von Adam Smith (S. 174 f.) tretend, den wirtschaftlichen Liberalismus tiefer zu begründen suchten ( Manchesterschule genannt, weil sie zuerst von der großen nordenglischen Industrie- und Handelsstadt Manchester aus gepredigt wurde), während James Mill (1773 bis 1836) der Morallehre seines Freundes Bentham durch sorgfältige Weiterbildung der Assoziationspsychologie (S. 175) eine haltbarere philosophische Grundlage zu geben suchte.
Der utilitaristische Zug aber ist in der britischen Gedankenwelt bis in die Gegenwart immer wieder hervorgetreten. Zu unserer Zeit hat ihn der Amerikaner W. James (1842 bis 1910) unter dem Titel Pragmatismus, einem »neuen Namen für alte Denkmethoden« erneuert, wonach als »annehmbare Wahrheit« einzig das zu gelten hat, »was uns am besten leitet, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt«. Was dann von dem Engländer Schiller (geb. 1864) und anderen als »Humanismus« vertreten wird: daß nämlich alle unsere sogenannten »Wahrheiten« von menschlichen Bedürfnissen und Motiven bestimmt werden.
Der bedeutendste englische Positivist des neunzehnten Jahrhunderts ist James Mills ältester Sohn John Stuart Mill (1806 bis 1873), dessen von ihm selbst beschriebenes Leben eine interessante geistige Entwicklung zeigt. Von seinem Vater rein verstandesmäßig erzogen, hatte der glänzend begabte Knabe schon als Dreizehnjähriger alle möglichen Wissenschaften verschlungen. Er folgte zunächst ganz der Benthamschen Lehre. Bei dem Zwanzigjährigen brach dann aber als Rückschlag gegen diese übermäßige Verstandesausbildung eine körperliche wie seelische Krise aus, die von da an ganz andere geistige Elemente seinem Vorstellungskreis nahebrachte. Gegen die nüchterne Nützlichkeitsauffassung der »Benthamiten« hatte sich unter Coleridge (1772 bis 1834) und namentlich Carlyle (1795 bis 1881) eine der deutschen Romantik verwandte Geistesrichtung erhoben, die der rein mechanischen Weltanschauung eine Philosophie der Persönlichkeit entgegensetzte und in einer im damaligen England noch ganz ungewohnten Stärke die soziale Frage aufrollte, das soziale Elend in mächtig erschütternden Tönen schilderte (Carlyles »Vergangenheit und Gegenwart«, 1843). Freilich wird die »Heldenverehrung« des auch in seinem Stil durch und durch subjektiven Carlyle oft sehr einseitig, und zu den Philosophen kann er schon wegen seiner völlig unsystematischen Denkweise nicht gerechnet werden. Aber als notwendiges Gegengewicht gegen die vorherrschende liberal-kapitalistische Anschauung des britischen Durchschnittsbürgers wirkte er sehr heilsam.
Im ganzen herrschte gleichwohl bei dem jüngeren Mill zunächst noch die auch durch das Kennenlernen des Comteschen Systems gestärkte positivistische Richtung vor. Das zeigte sich namentlich in seinem Hauptwerk, dem »System der deduktiven und induktiven Logik« (1843), das nicht sowohl ein trockenes Handbuch der formalen Logik, sondern eine Methodenlehre der Natur- wie der Geisteswissenschaften darstellt und daher nicht bloß im Vaterland des Verfassers (9. Auflage, 1875), sondern auch in Deutschland (4. Auflage, 1877) seinerzeit starke Verbreitung gefunden hat. Die induktive Methode wird von Mill, ähnlich Baco, der deduktiven vorgezogen, die in Wahrheit doch in der ersteren versteckt ist. Im einzelnen werden dann noch die Methoden der Übereinstimmung, der Differenz, der Reste, der begleitenden Veränderungen unterschieden. Auch die menschlichen Handlungen sind dem unentrinnbaren Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen. Gewiß wird der Charakter eines Menschen durch die »Umstände« gebildet, aber »sein eigener Wunsch, ihn in einer bestimmten Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände«, und zwar ein recht einflußreicher. Doch können die Geisteswissenschaften, im Gegensatz zu denen der Natur, es nur zu annähernden Verallgemeinerungen bringen. In der Psychologie schließt er sich der Assoziationslehre seines Vaters an.
Die Ethik ist Mill zufolge keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, eine Art »Logik der Praxis«, die sich Zwecke setzt, die sein sollen. Ähnlich wie die Politik die Kunst des Zweckmäßigen, die Ästhetik die des Schönen und Edlen ist. »Oberaufseher« aller Zwecke ist die Förderung eigenen und fremden Glückes; wobei jedoch das gereifteste Bewußtsein und die reichste Erfahrung maßgebend sein muß, so daß die geistigen und sozialen Glücksgefühle den sinnlichen Genüssen weit vorangehen. In politischer Hinsicht blieb Mill freilich grundsätzlich begeisterter Individualist, wie besonders seine berühmte Abhandlung »Über die Freiheit« (1859) zeigt. Aber in jeder Auflage seiner zuerst 1848 erschienenen »Grundsätze der politischen Ökonomie« verschließt er sich doch weniger den verderblichen sozialen Folgen des wirtschaftlichen »Gehenlassens« der Dinge, so daß er zuletzt zu dem Ausspruch gelangt: » Wenn man wählen müßte zwischen dem Kommunismus mit allen seinen Chancen (Wechselfällen) und dem gegenwärtigen Gesellschaftszustand mit allen seinen Leiden und Ungerechtigkeiten: wenn die Einrichtung des Privateigentums es als notwendige Folge mit sich brächte, daß das Ergebnis der Arbeit sich so verteilte, wie wir es jetzt sehen, fast im umgekehrten Verhältnis zur Arbeit ..., so würden alle Bedenklichkeiten des Kommunismus, große und kleine, nur wie Spreu in der Wagschale wiegen!«
Auch dem religiösen Gedanken hat sich Mill in seiner späteren Lebenszeit nicht mehr so abweisend wie früher gegenübergestellt, wie die erst aus seinem Nachlaß von seiner Stieftochter Helen Taylor herausgegebenen populären Aufsätze über »Natur«, »Nutzen der Religion« und »Theismus« beweisen. Zwar scheint ihm auch hier endlose Fortdauer des persönlichen Daseins ein bedrückenderer Gedanke als dessen Vernichtung, aber die Existenz eines mächtigen und gütigen Wesens, das unserer freiwilligen Mitwirkung zum Siege des Guten bedarf, wenigstens möglich; auch die Idee eines vollkommenen Menschen wie Jesus, selbst wenn sie geschichtlich im einzelnen nicht beglaubigt wäre, doch sittlich wertvoll.
Von den zahlreichen Anhängern Mills in England nennen wir den Historiker Altgriechenlands Georg Grote (1794 bis 1871), den Verfasser einer Geschichte und einer Philosophie der induktiven Wissenschaften Whewell, den Psychologen Al. Bain (1818 bis 1903). In Deutschland haben der Straßburger Professor Ernst Laas (1837 bis 1885), die Ethiker Georg v. Gizycki (1851 bis 1895) und Friedrich Jodl (1849 bis 1914, später in Wien) an Mills Positivismus angeknüpft. In seiner Heimat wurde letzterer durch andere Zeitströmungen zurückgedrängt, vor allem durch die Entwicklungsphilosophie Darwins und Spencers.
Der Gedanke der Entwicklung ist von jeher in der Philosophie zu Hause gewesen. Wir begegnen ihm schon bei den ältesten griechischen Philosophen: Anaximander, Heraklit und Empedokles; und nicht bloß bei dem die ganze Scholastik beherrschenden Aristoteles bildet er eines der wichtigsten Prinzipien, sondern auch bei den seinen Gegenpart bildenden Neuplatonikern findet er sich wieder, wenngleich in theosophisch verzerrter Gestalt; andererseits auch bei einem so entschlossenen Materialisten wie Lukrez. Auch zu Beginn der Neuzeit erscheint er von neuem bei dem Kusaner und spielt bei Leibniz eine bedeutende Rolle. Die eigentlichen Aufklärer denken ungeschichtlich; nur Lessing wendet ihn gegen Ende seines Lebens auf die Geschichtsphilosophie an, Kant und Herder auf Natur und Geschichte überhaupt. Mit den Fortschritten der neueren Naturforschung wird seine Verwendung immer reicher: Astronomie und Geologie, Biologie (die Wissenschaft vom Lebenden) und Psychologie nehmen ihn in sich auf. Goethe vertritt ihn aufs nachdrücklichste. In der Naturphilosophie wird er von Schelling zum Hauptprinzip gemacht, was dann von Hegel auf die Philosophie überhaupt erweitert wird. Indes zu einem Gemeingut der Gebildeten sozusagen wurde er doch erst durch den Engländer
Charles Darwin (1809 bis 1882)
Darwin ist einer der gewissenhaftesten und kritischsten Naturforscher gewesen, die es je gegeben hat; er hat seine Lehre erst nach mehr denn zwanzigjähriger Erprobung durch die Tatsachen veröffentlicht. Uns kommt es nur auf ihre philosophische Bedeutung an. Seine »Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« (1859) wendet die neue Theorie zunächst nur auf die Pflanzen- und Tierwelt an. Danach tragen in dem die gesamte äußere Natur in jedem Augenblick und allerorten erfüllenden »Kampf ums Dasein« diejenigen Individuen und weiter auch Arten den Sieg davon, die sich ihren natürlichen Lebensbedingungen durch Variation am besten anzupassen vermögen, so daß eine natürliche »Auslese« oder »Zuchtwahl« entsteht. Erst 1871 übertrug Darwin dann seine Lehre auch auf die Abstammung des Menschen, der sich »mit niederen Tierformen durch das natürliche Prinzip der »geschlechtlichen Zuchtwahl« allmählich entwickelt habe. Zwischen ihm und den höheren Tieren bestehen nur Gradunterschiede; auch die letzteren besitzen das Vermögen, sich zu erinnern und zu vergleichen, sind nicht ohne Schönheitssinn und ohne sympathische und Gemeinschaftsinstinkte. So tritt zu dem Kampfe ums Dasein ergänzend das Prinzip der »gegenseitigen Hilfe in der Entwicklung«, wie es der bekannte Anarchist Fürst Peter Kropotkin († 1921) in seinem gleichnamigen, von Gustav Landauer übersetzten Buche (1904) näher ausgeführt hat. Da die Erhaltung und Stärkung der Gemeinschaft auch die Erhaltung der Art in der Regel fördern wird, so werden durch die natürliche Auslese auch die uneigennützigen oder sozialen Gefühle immer mehr ausgebildet. Die »Abstammung des Menschen vom Affen«, womit man noch immer wissenschaftliche kleine Kinder gruselig zu machen sucht, hat der mit so viel Selbstkritik ausgestattete englische Forscher in dieser groben Form nicht gelehrt, wohl aber auf die Tatsache hingewiesen, daß die leibliche und geistige Kluft zwischen Mensch und Affen, so »ungeheuer« sie auch bleibt, geringer ist als diejenige zwischen dem Affen und dem niedrigsten Wirbeltier. In bezug auf alles, was über die Erfahrung hinausgeht, verzichtet er überhaupt auf Erkenntnis (»Agnostizismus«), wie er denn zum Beispiel den ersten Ursprung des Lebens, ja auch den ersten Anlaß der Variation (Veränderung) der Arten nicht erklären zu können behauptet. Schon deshalb gehört er zu den Positivisten, die sich »mit der gegebenen Welt begnügen«.
Darwins Abstammungslehre (»Deszendenztheorie«) erregte auf der einen Seite ebenso enthusiastischen Beifall wie auf der anderen, in erster Linie aus theologischen Gründen, Der Jesuitenpater Wasmann stimmt ihr zu, abgesehen von dem einen Punkte: Abstammung des Menschen. stürmischsten Widerspruch. Besonders in den siebziger Jahren gab es eine unzählige Literatur für und gegen den »Darwinismus«, wobei nicht immer mit rein wissenschaftlichen Gründen gefochten wurde. In Deutschland wurde er, nächst Karl Vogt (S. 259), am begeistertsten durch den Jenaer Zoologen Ernst Haeckel (1834 bis 1919) vertreten, der durch seine in zwölf Sprachen übersetzte »Natürliche Schöpfungsgeschichte« (1868, 11. Auflage 1909) und »Anthropogenie« (Menschenentstehung) (1874, 6. Auflage 1910) und die noch populäreren und kürzeren »Welträtsel« (1899, 11. Auflage) und »Lebenswunder« (1904) weiteste Kreise für die mit Leidenschaft von ihm verfochtene neue Lehre gewann. Über die von neueren Fachmännern behandelten naturwissenschaftlichen Einzelheiten enthalten wir uns des Urteils. Fraglos erscheint uns sein Verdienst um die Verbreitung des Entwicklungsgedankens; ebenso unbedingt anzuerkennen ist die Entschiedenheit, mit der er gegen alles Hineintragen des »Übernatürlichen« in die Naturforschung protestiert. Dagegen hat er sich infolge seines starken Temperaments philosophisch manche Blöße gegeben; man merkt, daß er nicht durch eine strenge erkenntniskritische Schulung, etwa diejenige Kants (den er zitiert, aber mißversteht) gegangen ist. Sein sogenannter »Monismus« (Einheitslehre) ist im letzten Grunde ein unkritischer und dazu inkonsequenter, weil pantheistisch und poetisch angehauchter Materialismus: wenn er zum Beispiel von dem Lust- und Unlustempfinden der Atome (!) bei ihrer Verdichtung, beziehungsweise Verdünnung, oder von den »Seelen« der niedersten Lebewesen (»Protisten«) spricht. Am fruchtbarsten von seinen Einzellehren scheint uns sein »biogenetisches« (das Werden des Lebens betreffendes) Grundgesetz, wonach die Entwicklung der Einzelwesen eine abgekürzte Wiederholung der Stammesentwicklung darstellt.
Haeckels »Welträtsel« waren die Antwort auf zwei vorangegangene vielgelesene und philosophisch bedeutsame kleine Schriften des Berliner Physiologen E. du Bois-Reymond (1818 bis 1896) über »Die Grenzen des Naturerkennens« (1872) und »Die sieben Welträtsel« (1882), in denen dieser gegenüber verschiedenen letzten Fragen mit dem Ursprung der Bewegung, der Entstehung von Bewußtsein und Empfindung, dem »Wesen« von »Kraft« und »Stoff« ein skeptisches Ignorabimus (Wir werden es nie wissen) ausgesprochen hatte; während Haeckel in seinem jünglinghaften Sturm und Drang von keinen solchen unlösbaren »Rätseln« hören wollte. Von 1877 bis 1886 bestand eine besondere darwinistische »Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung«, der von Caspari, O. Jäger und Carus Sterne herausgegebene »Kosmos«. 1902 gründete Ludwig Woltmann (1871 bis 1907) die »Politisch-anthropologische Revue«, welche die natürliche Entwicklungslehre auch auf die »organische, soziale und geistige Entwicklung der Völker«, unter besonderer Bevorzugung der Rassenforschung, ausdehnen wollte und heute noch besteht. Und noch neuerdings hat Francé, der Verfasser des bekannten »Lebens der Pflanze« (1905 ff.) eine »Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre« ins Leben gerufen.
Einzelheiten der Darwinschen Lehre sind im Laufe ihres sechzigjährigen Bestehens sicher veraltet. Eine fruchtbare Hypothese aber für die Naturwissenschaft ist sie bis heute noch geblieben; und ihr Mittel- und Ausgangspunkt, der Entwicklungsgedanke, ist heute nicht bloß Gemeingut der organischen Naturwissenschaft geworden, sondern mehr oder weniger auch in alle anderen Wissenschaften eingedrungen. Die philosophische Begründung dazu lieferte
Auch Herbert Spencer (1820 bis 1903) ist insofern »Agnostiker«, als er ein unerkennbares Letztes, eine absolute Kraft annimmt, deren innerstes Wesen wir niemals entdecken werden. Aber wenngleich nicht dies letzte Sein, so ist uns doch sein Werden erkennbar. Und Philosophie bedeutet: vereinheitlichte Erkenntnis dieses Weltwerdegangs mit seiner beständigen Andersverteilung von Stoff und Bewegung, Wachstum und Auflösung, Leben und Tod. Die Entwicklung vollzieht sich überall in zwei Formen: 1. der »Integration« (Ganzwerdung), das heißt dem Übergang aus einem weniger zusammenhängenden in ein zusammenhängenderes Ganze; 2. der Differenzierung, das ist Übergang von dessen Teilen aus unbestimmter Gleichartigkeit zu bestimmter Ungleichartigkeit. Diese allgemeinen oder »Ersten Prinzipien« (1. Band) seines auch ins Deutsche übersetzten »Systems der synthetischen Philosophie« (1860 bis 1893) werden dann auf die weiten Gebiete der Biologie (2. und 3. Band), Psychologie (4. und 5. Band), Soziologie (6. bis 9. Band) und Ethik (10. und 11. Band) angewandt. Jeder Teil geht zunächst von den Grundtatsachen der betreffenden Wissenschaften aus, um sodann induktiv zu immer höheren Verallgemeinerungen aufzusteigen.
Leben ist »beständige Anpassung innerer an äußere Beziehungen«. Die Biologie behandelt demgemäß die Wechselwirkungen zwischen dem einzelnen Lebewesen und seiner Umgebung, vom äußerst unbeständigen und gleichartigen »Protoplasma« (erster Bildung überhaupt) bis zur Entstehung des sehr ungleichartigen, übrigens weiter nicht mehr erklärbaren Bewußtseins. Zu dem Darwinschen Satz von der natürlichen Auslese fügt Spencer den der Vererbung erworbener Eigenschaften hinzu. Die Psychologie verfolgt dann die Entwicklung des Bewußtseins durch fortschreitende »Differenzierung« und Bestimmtheit vom Instinkt bis zum vernünftigen Willen, während die vier Bände der Soziologie vom Leben des ursprünglichen Wilden bis zum gegenwärtigen Kulturmenschen führen. Auch hier wird, wie überall, der Ton auf das organische Werden gelegt. An Comte erinnert die Unterscheidung einer älteren, »kriegerischen« und der daraus sich immer stärker entwickelnden »industriellen« Gesellschaftsform; nur daß Spencer unter der ersten zugleich das von ihm verabscheute zwangsweise, unter der zweiten das freiwillige Zusammenwirken der Menschen versteht, das sich gegenüber jenem Zwang nur langsam und unter oftmaligen Rückschlägen emporringt. Unser Engländer war so eingefleischter Individualist, daß er sogar alle öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen ablehnte. Den Sozialismus, den er trotzdem als unvermeidlich herannahen sieht, hält er »für das größte Unglück, das die Welt je erlebt hat«, und meint überdies, daß er »in einem Militärdespotismus der schärfsten Form« enden werde. Als Ideal erscheint ihm in seiner »Ethik«, wie dem ihm philosophisch sonst so unähnlichen Kant (S. 200), ein Zustand, in dem die Entwicklung eines jeden allein durch das gleiche Recht der anderen auf ihre Entwicklung eingeschränkt wird. »Gut« heißt ihm entwicklungfördernd, »schlecht« entwicklunghemmend.
Nachdem Spencer viele Jahre unter der Gleichgültigkeit des philosophischen Publikums hatte leiden müssen, brach ihm zuerst um 1870 ein Verehrer in Nordamerika Bahn. Bald fand er dann auch im Mutterland zahlreiche Anhänger, insbesondere ergebene Schüler, die ihm die ungeheure Menge von Stoff zu den neuen Bänden seiner »Synthetischen Philosophie« sammeln halfen; es folgten die übrigen Erdgegenden englischer Zunge. Auch in Rußland, Skandinavien, Frankreich und Italien, ja bis in das ferne Japan fanden jetzt seine Gedanken Verbreitung. Bei uns hat man ihn erst seit Ende der achtziger Jahre eifriger studiert.
Der Spencerschen Philosophie gebührt ohne Frage das Verdienst, den ebenso notwendigen wie fruchtbaren Entwicklungsgedanken von der äußeren Natur auch auf die Welt der geistigen, geschichtlichen und sozialen Erscheinungen systematisch übertragen und im einzelnen, wenngleich etwas schematisch, angewandt zu haben. Gleichwohl ist die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung, von so ungeheurer Wichtigkeit sie auch ist, doch nur eine wissenschaftliche Betrachtungsweise der Dinge. Sie bedarf zu ihrer Ergänzung anderer, vor allem der erkenntniskritischen. Diese fand gleichzeitig in dem Vaterland Kants ihre Erneuerung.