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B. Die Philosophie des Mittelalters

Viertes Kapitel

Von einer Philosophie des christlichen Mittelalters kann nur in bedingtem Sinne gesprochen werden. Denn wo das Denken von kirchlichen Autoritäten abhängt, baut es sich nicht mehr auf bloßer Vernunft auf. Immerhin läßt die Kirche bis zu einem gewissen Punkte auch heute noch dem philosophischen Denken freien Lauf. Und das Christentum hat überdies, auch in seiner kirchlichen Form, von Anfang an so starken Einfluß auf die europäische Kultur geübt, daß wir das Wichtigste aus diesem langen Zeitraum auch unseren Lesern vorführen zu müssen glauben. Wir können und müssen uns aber dabei kurz fassen.

1. Die Zeit der Kirchenväter (bis etwa 700 n. Chr.)

Das Urchristentum hat weder mit philosophischer Forschung noch mit vernunftgemäßer Weltanschauung etwas zu tun. Im Gegenteil, es zeigt eine deutliche Abneigung gegen die Philosophie, wenn zum Beispiel Paulus an die Kolosser schreibt: »Sehet zu, daß euch niemand als Beute davonführe durch die Philosophie und leeren Betrug nach der Überlieferung der Menschen und den Spuren der Welt und nicht nach Christus!« Eine Abneigung, die von dieser ebenso kräftig erwidert wird. Eine Ausnahme macht nur das übrigens erst um die Wende des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt entstandene vierte Evangelium in seiner Bekanntschaft mit der philonischen Logoslehre (vergl. Seite 74). Wer seinen »Faust« gelesen hat, kennt dessen bekannte Anfangsworte: »Im Anfang war das Wort (der Logos).« Auch die bis etwa 150 in griechischer Sprache schreibenden sogenannten »apostolischen Väter« zeigen philosophisch noch keinerlei Interesse. Ebenso brauchen wir auf die das ganze zweite Jahrhundert durchziehende Bewegung des Gnostizismus nicht näher einzugehen. Denn obwohl sie dem »dürftigen« Glauben der Gemeinde eine vergeistigte Erkenntnis (griechisch: »Gnosis«) gegenüberstellen will, ist doch diese »Erkenntnis« so voll von orientalischer Phantastik – die Gnostiker stammen sämtlich aus dem Morgenland – und theologischer Spitzfindigkeit, daß ihre nähere Schilderung nicht in eine Geschichte der Philosophie, sondern der Kirche gehört. Die zugrunde liegenden religionsphilosophischen Gedanken: 1. Entwicklung des Alls aus dem Urgrund in einer unendlichen Stufenreihe, 2. Wiedererhebung der unvollkommenen in Sünde und Verdammnis versunkenen Welt zu ihrem göttlichen Urquell, haben wir zudem in besserer Form bei Plotin kennengelernt.

Sobald jedoch das Christentum weitere Kreise, insbesondere auch die Gebildeten zu ergreifen begann, fühlte man, fühlten diese selbst das Bedürfnis, ihre Religion als mit Vernunft und Philosophie vereinbar, als Religion des Geistes und der Freiheit nachzuweisen: so der um 166 zu Rom als Märtyrer gestorbene Justin und andere »Apologeten«, das heißt Verteidiger der neuen Religion. Für andere freilich, zum Beispiel einen gewissen Hermias, blieben die »draußen«, das ist außerhalb der Kirche »stehenden Philosophen« und ihre Lehre eine Ausgeburt der von gefallenen Engeln mit Erdenfrauen erzeugten bösen Geister! Schärfer als die meisten zieht die Konsequenz der erst im Mannesalter zum Christentum übergetretene, selbst philosophisch gebildete Jurist Tertullián (150 bis 220). Es gibt keine Versöhnung zwischen Athen und Jerusalem, »Akademie« und Kirche. Alle weltliche Weisheit ist vor Gott Torheit. Wer das Evangelium besitzt, für den ist Wissenschaft nicht vonnöten. Ein christlicher Handwerker besitzt höhere Gotteserkenntnis als ein Plato. Die göttliche Offenbarung ist nicht bloß über-, sondern geradezu widervernünftig. Die Auferstehung Jesu zum Beispiel ist gerade darum gewiß, weil sie dem menschlichen Verstand unmöglich scheint. Daher der ihm zugeschriebene Satz: »Ich glaube, weil es absurd ist, wider den Verstand geht.« Auch in der Ethik gilt dem leidenschaftlichen, übrigens Latein schreibenden Nordafrikaner der wahre Christ als ein »auf einer gezähmten Bestie (der Sinnlichkeit) reitender Engel«, den jedes Weltamt, zum Beispiel auch der Kriegsdienst, verunreinigt.

Daher war denn auch der Versuch anderer, eine christliche Philosophie zu begründen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, sei es, daß sie Jesus mit Plato in Übereinstimmung zu bringen suchten, wie nach Justin der maßvolle Clemens von Alexandria (gest. 215), oder gar ein dem Gnostizismus verwandtes, nur von dessen allzu starken Phantastereien gereinigtes spekulatives System errichteten, wie der scharfsinnige Origenes (185 bis 254), der deshalb aus der Kirche ausgeschlossen wurde.

Der berühmteste, einflußreichste und bedeutendste unter den »Kirchenvätern« der ersten sechs Jahrhunderte, den wir eben darum etwas genauer betrachten müssen, ist Augustinus (354 bis 430). Sein Leben und seine seelische Entwicklung hat er in seinen, heute in beinahe sämtliche Sprachen Europas übersetzten »Confessiones« oder Selbstbekenntnissen selber erzählt, ebenso ungeschminkt wie Rousseau, nur noch rhetorischer als dieser. Als Sohn eines heidnischen Vaters und einer frommen Christin hatte er eine bei seinem leidenschaftlich-sinnlichen Temperament doppelt bewegte innere Entwicklung, auch philosophisch schon verschiedene Standpunkte durchgemacht, ehe er durch den berühmten Bischof Ambrosius in Mailand als Dreiunddreißigjähriger dem Christentum gewonnen wurde. Als Bischof in seiner nordafrikanischen Heimat ist der Sechsundsechzigjährige gestorben, während die Vandalen seine Stadt belagerten.

Augustin geht aus von der Selbstgewißheit der inneren Erfahrung. »Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selbst ein; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit.« Das könnte an sich zu dem Subjektivismus oder Kritizismus eines Descartes oder Kant führen und auf religiösem Gebiet zu einem entschiedenen Protestantismus, der keinen anderen Maßstab als das eigene Gewissen kennt. Aber nun kommt die theologische Wendung. Die »ewigen«, »an sich gewissen« Wahrheiten liegen nicht im Menschen, sondern in Gott, dem Urquell aller Dinge, der dann ganz neuplatonisch als das höchste Sein und das höchste Gut, die höchste Liebe und die höchste Schönheit bezeichnet wird. Den Kern des menschlichen Wesens sieht Augustin in der Kraft des Willens, wie er selbst ihn sich in den leidenschaftlichen Kämpfen seiner nach innerem Frieden dürstenden Seele errungen hatte. Auch das Denken, ja selbst der Glaube an die Gnade Gottes beruht im letzten Grunde ebenfalls auf unserem Willensentschluß. Um so auffallender ist, daß er dann später doch zu einer immer stärkeren Ausbildung der schon in den Briefen des Apostels Paulus verkündeten Lehre von der göttlichen Vorausbestimmung (Prädestinationslehre) kam. Seit Adam hat der Mensch nur noch die Freiheit zum Bösen (Erbsünde), dem die Forderung kräftigen sittlichen Handelns aus der inneren Gesinnung heraus doch widerspricht. Die Tugend ist das mit der Vernunft übereinstimmende Verhalten, das zu ewiger Glückseligkeit führt; nur daß zu den vier platonischen Grundtugenden noch die drei christlichen: Glaube, Liebe, Hoffnung, hinzukommen müssen. Freilich jene innere Gesinnung muß – eine christliche sein. Alle heidnischen Tugenden sind ohne Wert, ja »glänzende Laster«, wenn man nicht den richtigen Glauben besitzt. Und nur die göttliche Gnade, auf die wir an sich keinen Anspruch haben, kann uns von zeitlichem und ewigem Verderben erretten. Vermittelt wird sie allein durch die Kirche und deren Sakramente. Extra ecclesiam nulla salus, das heißt: Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil.

Damit kommen wir schließlich zu Augustins Geschichtsphilosophie, die er gegen Ende seines Lebens in seinem Werke »Über den Gottesstaat« niedergelegt hat. Wohl nicht unbeeinflußt von seinen manichäischen Jugendanschauungen – der christliche Perser Mani hatte im dritten Jahrhundert die altpersische Lehre vom ewigen Kampfe zwischen Licht und Finsternis erneuert –, lehrt er, daß seit Weltbeginn das Reich des Teufels und das Reich Gottes miteinander im Kampfe stehen, das heißt der irdische und der Gottesstaat. Jener jagt selbstsüchtigen, irdischen Zwecken nach und ist im besten Fall eine von Gott zugelassene Zwangsanstalt zur Linderung und Bestrafung des Bösen. Der Gottesstaat existiert schon jetzt im Himmel und zieht durch den Arm der Kirche seine auf Erden weilenden Glieder zu sich. Die durch Gottes Ratschluß von vornherein unverbrüchlich feststehende weltgeschichtliche Entwicklung vollzieht sich in sechs Zeitstufen, in deren letzten, mit Christus beginnenden wir gegenwärtig stehen. Das nahe bevorstehende Weltende wird die Gläubigen zur ewigen Seligkeit des himmlischen Jerusalem, die Angehörigen des weltlichen Staates zur ewigen Verdammnis führen. Das ist aus Platos Republik in der kirchlichen Staats- und Geschichtsphilosophie geworden! Von eigentlichem Sozialismus natürlich keine Spur, obwohl er, wie die Mehrzahl der Kirchenväter, wider den mammonistischen Kapitalismus eifert.

Augustin ist durch seine machtvolle Persönlichkeit sozusagen der Kirchenvater des christlichen Abendlandes geworden, wie Aristoteles dessen Philosoph; er vor allem hat die antike Weltanschauung auf beinahe ein Jahrtausend aus dem christlich gewordenen Europa verdrängt. Ja, seine Wirkungen erstrecken sich noch über die eigentliche römische Kirche hinaus auf Luther und Kalvin, auf die evangelischen Mystiker und die französischen Jansenisten, ja bis in die Gegenwart.

Bald nach seiner Zeit freilich beginnt für die christliche Kultur eine Zeit raschen Hinabgleitens. Während vom Morgenland aus der Islam siegreich vordringt, erscheint im christlichen Westeuropa alles geistige Leben nahezu erloschen. Die kirchliche Gelehrsamkeit geht fast ganz in Zusammenstellung und Ordnung des kirchlichen Wissensstoffs, in der Abfassung geistloser Kompendien (schulmäßiger Lehrbücher) auf. Die »Philosophie« ist endgültig als Schulsache in den Dienst der Kirche getreten. Die Zeit der Scholastik beginnt.

2. Die Scholastik (vom 9. bis zum 15. Jahrhundert)

»Scholastiker« hießen ursprünglich die Lehrer der sogenannten »sieben freien Künste«, in denen man im fünften Jahrhundert die bis dahin herausgebildeten Schulwissenschaften zusammengefaßt hatte: dem leichteren »Dreiweg« ( trivium, daher unser heutiges »trivial« gleich allgemein bekannt, abgedroschen): Grammatik, Arithmetik, Geometrie, und dem schwierigeren »Vierweg«: der Musik, Astronomie, Dialektik und Rhetorik. Dann allmählich alle, die sich schulmäßig mit den Wissenschaften, insbesondere der Philosophie oder, was ja durch das ganze Mittelalter hindurch fast dasselbe ist, mit Theologie beschäftigen; vor allem deren Lehrer an den großen Universitäten: Paris, London, Köln usw. Die Scholastik ist demgemäß eine »Philosophie«, welche die Lehrsätze (Dogmen) der Kirche in ein System zu bringen und mit den Mitteln des Verstandes, namentlich einer haarspaltenden Dialektik, zu begründen und weiter auszubilden strebt. Ihre Sprache ist das die Gelehrten und den Gottesdienst aller christlichen Völker verbindende, also gewissermaßen internationale Kirchenlatein; ihr Musterphilosoph, wie wir wissen, Aristoteles. Wir teilen ihre Geschichte in ihre Frühzeit (vom 9. bis zum 12. Jahrhundert), ihre Glanzzeit (13. und 14. Jahrhundert) und ihren Ausgang (14. und 15. Jahrhundert). Daran schließt sich noch ein Blick auf die, namentlich deutsche, Mystik und auf die der Blütezeit vorhergehende jüdisch-arabische Philosophie. Wir heben nur die eigenartigeren und selbständigeren Ansätze hervor.

a) Die Frühzeit der Scholastik

Noch einmal, zu Anfang der Epoche, erinnert ein Denker aus dem damals noch nicht Englands Schuldknechtschaft verfallenen, sondern wissenschaftlich glänzenden Irland, Johannes Eriugena (810 bis 877), das heißt der in Irland Geborene, eine Zeitlang unter Karl dem Kahlen Leiter der Pariser Hofschule, an den größten griechischen Philosophen, wenigstens an dessen spätere neuplatonische Gestalt. Er will noch die »wahre« Autorität mit der Vernunft versöhnen. Für den Wissenden sind Hölle, Himmelfahrt, Paradies, jüngstes Gericht nur Versinnbildlichungen geistiger Zustände. Das Böse ist nur eine aus der Freiheit des Menschen hervorgehende verkehrte Willensrichtung.

Die Kultur der karlingischen Zeit, das heißt derjenigen Karls des Großen und seiner Nachfolger, ging nur zu rasch in Trümmer. Namentlich in den bisherigen Hauptkulturländern Italien und Frankreich war das folgende, das zehnte Jahrhundert eine Zeit tiefster Sittenlosigkeit und Unkultur, während in Deutschland die Taten der Ottonen philosophischer Muße keinen Raum gestatteten. So gerät denn ein geistreicher Gelehrter, wie der um die Wende des Jahrtausends (999 bis 1003) auf den päpstlichen Thron erhobene Gerbert von Reims, wegen seiner für die Zeit hervorragenden Naturkenntnisse geradezu in den Ruf eines Zauberers, wie er auch dem zwei Jahrhunderte nach ihm lebenden Albertus Magnus nicht erspart geblieben ist. Vom elften Jahrhundert an macht sich dann innerhalb der Kirche wieder ein wissenschaftlicher und sittlicher Aufschwung bemerkbar. Die Führung übernimmt bis auf weiteres Frankreich. Hier nahm der Abt Berengar von Tours einen verhältnismäßig freien Standpunkt ein, der anstatt des »tötenden« Buchstaben den Geist der Heiligen Schrift sucht und auch Synoden und Konzile (Kirchenversammlungen) für nicht unfehlbar erklärt, wenn sie gegen die Vernunft und die Wahrheit beschließen, übrigens schließlich doch, wie so viele andere nach ihm, der kirchlichen Autorität »sich löblich unterworfen« hat.

In welchem Übermaß von Spitzfindigkeiten sich die mittelalterliche Scholastik zum Teil ergangen hat, ist oft genug erzählt worden und soll hier nicht wiederholt werden. Ist es doch, um nur ein einziges, allerdings besonders krasses Beispiel zu erwähnen, vorgekommen, daß allen Ernstes die Frage erörtert wurde, ob Christus auch in Gestalt eines Weibes, eines Esels oder eines – Kürbis hätte erscheinen, und in welcher Weise er in diesem Falle die Erlösung hätte vollbringen können. Aber man könnte dem nicht ohne Grund entgegenhalten: das sind nur Auswüchse. Obwohl auch in dem theologischen Hauptwerk des berühmtesten aller Scholastiker, Thomas von Aquino, eine ganze Reihe von Kapiteln von dem Schlaf, der Nahrung und der Verdauung (!) der – Engel handeln! Was für ein unfruchtbares Problem aber, sogar als Hauptproblem, die scholastische Philosophie vom elften Jahrhundert an bis heute beschäftigt hat, zeigt der zu Berengars Zeit zuerst entbrannte und dann das gesamte Mittelalter durchziehende sogenannte Universalienstreit. Es handelt sich dabei um die von einem Erklärer des Aristoteles aufgeworfene Frage, ob die Gattungsbegriffe (lateinisch: universalia), zum Beispiel die Eiche oder das Rind, wirkliche körperliche Dinge oder nur in unserer Vorstellung vorhanden seien. Die eine Partei, die sogenannten Realisten, behaupteten, die Gattungsbegriffe seien das Ursprüngliche und Wirkliche, also die wahrhaften Dinge (res), welche die Sonderwesen aus sich erzeugten. Ihnen gegenüber behaupteten die Nominalisten, daß jene Allgemeinbegriffe bloße Worte (nomina) seien, während in Wirklichkeit nur die einzelnen Dinge existierten, von denen eben unser Verstand jene allgemeinen Begriffe abstrahiert (»abgezogen«) habe: eine Auffassung, die uns als die bei weitem natürlichere erscheint. Zwischen beide Parteien schob sich dann später, wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, noch eine dritte, vermittelnde Richtung, die sich auf Aristoteles selbst berief, wonach die Gattungsbegriffe zwar eine »reale Existenz« besäßen, jedoch bloß in oder an den Einzeldingen.

Allerdings wurde der Nominalismus dann auch gleich von einem seiner frühesten Verfechter Roscelin gesteigert zu etwas einseitig klingenden Sätzen wie: »Es gibt keine Farben an sich, sondern nur gefärbte Körper« oder: »Es gibt keine Weisheit an sich, sondern nur weise Menschen.« Die hätte ihm die Kirche übrigens wohl hingehen lassen. Daß er indes seine Lehre auch auf die heilige Dreieinigkeit auszudehnen und zu behaupten wagte, die drei »Personen« der Gottheit seien drei getrennte Substanzen, mithin im Grunde drei »Götter«, brachte ihn zwar nicht, wie im sechzehnten Jahrhundert Servet zu Genf, auf den Scheiterhaufen, brach ihm aber insofern den Hals, als er zum Widerruf gezwungen wurde; worauf dann lange Zeit der »Realismus« allein das Feld behauptete.

Im übrigen erörterte man in der Hauptsache doch eigentlich nur theologische Probleme. So verdankt der »heilige« Anselm von Canterbury (1033 bis 1109) – Sohn eines norditalienischen Edelmannes, dann Abt eines französischen Klosters, schließlich Erzbischof des vornehmsten englischen Sprengels, die Kirche war also schon damals recht international – seine in kirchlichen Kreisen bis zur Gegenwart fortdauernde Berühmtheit nur zwei theologischen Lehrstücken: 1. dem sogenannten »ontologischen«, aus dem bloßen Begriff des »Seins« geschöpften vermeintlichen Beweis für das Dasein Gottes; 2. seiner auch heute noch von der gesamten katholischen und evangelischen Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) als Kernstück festgehaltenen Lehre von der logischen Notwendigkeit der »stellvertretenden Genugtuung« oder des Opfertodes Christi, wonach bekanntlich Gott-Vater als unbarmherziger Richter auf einer Buße der Menschheit für ihre ungeheure Sündenschuld von Adams Zeiten her bis in alle Zukunft besteht und dann den »stellvertretenden« freiwilligen Opfertod des von ihm selbst auf die Erde entsandten Gottmenschen Christus als ausreichende Sühne dafür annimmt.

Von den zunächst folgenden Denkern erweckt philosophisch wie menschlich die größte Teilnahme der Südfranzose Peter Abälard (1079 bis 1142), der sich durch den unglücklichen Liebeshandel mit seiner klugen und schönen Schülerin Heloise (er wurde zur Strafe für die von der Kirche verbotene Liebe von deren grausamem geistlichen Oheim bekanntlich entmannt) für alle Zeiten bekanntgemacht hat. Er wagte es, gegen die bisher von der Kirche geübte Methode bis zu einem gewissen Punkte sich aufzulehnen, indem er meinte, die Vernunft sei doch schließlich dem Menschen von Gott zum Guten verliehen. Auch der Zweifel habe seinen Nutzen, denn er führe zur Forschung und diese zur Wahrheit. Auch er macht freilich die in den Augen des modernen Menschen nicht mehr haltbare Unterscheidung zwischen dem »Aufgeklärten« und der »beschränkten Fassungskraft« der Menge. Der erstere dürfe sich die Bibel geistig auslegen. Ihm bedeute zum Beispiel die Himmelfahrt nur die Erhebung der Seele zum Himmlischen, die Dreieinigkeit Gottes Eigenschaften: Macht, Liebe und Weisheit, und ähnliches. Er verstand es auch, seine aufklärerischen Gedanken in eine schriftstellerische Form zu kleiden, die ihn vor den gröbsten Angriffen der Gegner sicherte. So stellte er in seinem Buche »Sic et non«, das heißt »Ja und nein«, die Ansichten der bedeutenderen Kirchenväter für und gegen einander gegenüber, es dem Leser überlassend, die Widersprüche zu lösen. Und in seinem »Dialog zwischen einem Christen, Juden und Philosophen« brauchte er seine eigenen Ansichten, wenn sie zu frei waren, nur dem letzteren, das heißt dem konfessionslosen Freidenker, in den Mund zu legen. Älter als die Offenbarung ist nach diesem das natürliche Sittengesetz, das von Christus nur wiederhergestellt worden ist. Gegenüber Anselms Sühnetheorie hebt Abälard die Macht der erlösenden Liebe hervor. Am Schlusse finden sich alle drei Gesprächführenden zusammen auf dem Boden des Sittengesetzes und des allgemeinen Menschentums. Die Ethik hat er dann auch noch in einer besonderen Schrift »Erkenne dich selbst!« behandelt, die den Hauptwert der sittlichen Handlung auf die Gesinnung und das Gewissen des Handelnden legt.

Allein er bleibt sich selbst nicht treu. An anderen Stellen betont er, daß die »kleine Vernunft« des Menschen die göttlichen Dinge nicht erfassen könne, sondern daß es dazu der Erleuchtung von oben bedürfe. Über dem Wissen steht auch ihm der Glaube. Er hält fest an der Verdammnis der Ungetauften, an der Unterscheidung von läßlichen und Todsünden, an verschiedenen Graden der Seligkeit im Jenseits und anderes mehr. Trotz alledem entging er der Verketzerungssucht seiner Gegner, darunter namentlich des berühmten Kreuzzugspredigers Bernhard von Clairvaux nicht. Gerade weil seine Schriften überall von Hand zu Hand gingen und, selbst am päpstlichen Hofe, gern gelesen und erörtert wurden, wurde er zweimal angeklagt und verurteilt und – widerrief!

Auch sonst tauchten immer wieder, auch in jenen dunklen Zeiten, helle Köpfe auf, die, indem sie in Glaubenssachen der Autorität der Kirchenväter zu folgen erklärten, in wissenschaftlichen Fragen allerlei kecke Behauptungen aufstellten. So beschäftigte sich der Engländer Adelard von Bath schon mit Tierpsychologie, und der Franzose Wilhelm von Conches verlegte bereits den Sitz der Denkkraft, der Phantasie und des Gedächtnisses in bestimmte Gehirnzellen. Aber die Kirche war wachsam, sie zwang zum Widerruf gefährlicher Meinungen, ja eine Kirchenversammlung zu Paris verbot 1209 den Mönchen überhaupt das Lesen physikalischer Schriften des Altertums als sündhaft. Um so genehmer waren ihr die bloßen Kompendienschreiber und »Summisten«. »Summen« (wörtlich: Inbegriff) nannte man nämlich die Sammlungen theologischer Lehrmeinungen. Die verbreitetste wurde, gerade um ihrer Farblosigkeit willen, die des Lombarden Petrus, gestorben 1164 als Bischof von Paris, zu der dann im Laufe der Jahrhunderte noch eine Unzahl erklärender Kommentare (Erläuterungsschriften) geschrieben wurden. Ein anderer dieser Summenschreiber, der hochgelehrte Alanus von Lille (gest. 1203), der die Kirchenlehre gegen Juden, Mohammedaner und Ketzer verteidigte, läßt sich übrigens selbst einmal den recht ketzerischen Satz entschlüpfen: daß die Autorität »eine wächserne Nase« besitze, die man je nach Belieben bald hierhin, bald dorthin drehen könne. Stilistisch steht über dem Durchschnitt dieser Lehrbuchverfasser der 1180 als französischer Bischof gestorbene Engländer Johannes von Salisbury, der sich auch von den üblichen scholastischen Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien ziemlich frei hält und sowohl in seiner Logik wie in seiner Ethik manche treffende Einzelbemerkung macht, übrigens auch den Tyrannenmord unter Umständen billigt, in philosophischen Dingen, wie sein Vorbild Cicero, Eklektiker ist.

Etwa um 1200 schließt die Frühzeit der Scholastik ab. Ihre Blüte hängt mit dem Bekanntwerden des bis dahin nur zum Teil überlieferten ganzen Aristoteles zusammen. Dazu war jedoch eine Beruhigung notwendig mit der inzwischen im Morgenland und in Spanien ausgebildeten arabisch-jüdischen Philosophie.

b) Die arabisch-jüdische Philosophie

1. Die Araber

Von jeher war der aufgeweckte Stamm der Araber – Wüstenbewohner wie Händler – mit praktischer Naturkenntnis (Chemie, Medizin, Astronomie, etwas Mathematik) bis zu einem gewissen Grade vertraut gewesen. Im siebten Jahrhundert kam dann der religiöse Aufschwung durch Mohammed und der Siegeslauf von dessen Lehre hinzu. Anfangs zeigten sich die Mohammedaner feindlich gegen die ihnen bei ihrem Vordringen begegnenden fremden Bildungselemente: bekannt ist der Befehl des Kalifen Omar zur Verbrennung der berühmten Bibliothek von Alexandria, weil sie unnütz sei, wenn sie mit dem Koran (der mohammedanischen Bibel) übereinstimme, schädlich, falls sie etwas anderes enthalte. Dann aber begann das begabte und aufnahmebegierige Volk sich rasch mit der abendländischen Wissenschaft bekanntzumachen, insbesondere mit den ihr aus syrischen Quellen zugeflossenen naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften des Aristoteles. Besonders der uns schon von der Kindheit her durch die Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht« bekannte Kalif Harun al Raschid zu Bagdad gründete in zahlreichen Städten seines weiten Reiches Schulen und Büchereien und legte nach einem siegreichen Kriege dem griechischen Kaiser zu Konstantinopel die Bedingung auf, daß ihm von sämtlichen in den griechischen Bibliotheken befindlichen Werken je ein Exemplar überlassen würde, um es ins Arabische zu übersetzen. In der Mathematik und den Naturwissenschaften, besonders Astronomie, Optik, Chemie, wurden die Lehrmeister bald von ihren scharfsinnigen Schülern überflügelt, besonders seitdem diese in Spanien ein blühendes Reich begründet hatten. Schon Harun al Raschid sandte Karl dem Großen als Geschenk eine kunstvolle Wasseruhr; ein arabischer Geograph vollzog bereits eine gelungene Gradmessung: noch heute nennen wir unsere Ziffern die arabischen und haben von den Arabern die zuerst bei den Indern aufgekommene Algebra oder Buchstabenrechnung empfangen. In dem spanischen Kordova entstand eine große Bibliothek und eine Hochschule, die unter anderem von Gerbert (Seite 84) besucht wurde, wie auch der für seine Zeit sehr fortgeschritten denkende Staufenkaiser Friedrich II. mit sarazenischer, das heißt arabischer Weisheit wohl vertraut war. Der um 1100 in Spanien wirkende Alhazen bestimmte bereits ziemlich richtig die Höhe der Atmosphäre, und schon viel früher war der große Chemiker Geber in Sevilla mit vielen chemischen Vorgängen und Stoffen weit besser als das Altertum oder gar das christliche Mittelalter bekannt, das sich unterdessen mit scholastischen Wortstreitigkeiten beschäftigte.

So beginnt wie in Altgriechenland auch in Bagdad die Philosophie mit dem Betrieb der positiven Wissenschaften. Und die ersten deutlicher hervortretenden Denker, Alkindi im neunten und Alfarabi im zehnten Jahrhundert, sind mit ihren aufklärerischen Bestrebungen etwa den Sophisten zu vergleichen, während der gegen 1000 n. Chr. in Basra bestehende Geheimbund der »lauteren« oder »aufrichtigen« Brüder noch radikalere Tendenzen verfolgt, aber gleich dem um dieselbe Zeit auftauchenden, wahrscheinlich von den Indern beeinflußten Orden der Sufisten, das ist Wollträger, die in ihrem aszetischen Verzicht auf alle Erdengüter sonst den Zynikern von der Art des Diogenes ähneln, doch weit mehr als die betreffenden griechischen Denker religiöses Gepräge trägt. Der systematischen Art des Aristoteles und auch dessen Lehre steht schon viel näher der bedeutendste unter den morgenländischen Ärzten und Philosophen Ibn Sina, im Abendland bekannter in seiner latinisierten Namensform Avicenna (980 bis 1037), dessen »Kanon (Leitfaden) der Medizin« Jahrhunderte hindurch Mohammedanern und Christen als medizinisches Unterrichtsbuch diente. Seine Seelenlehre ist ausgesprochen empirisch (der Erfahrung entnommen), während seine allgemeine Philosophie mehr neuplatonisch-mystischen Charakter zeigt. Um 1100 jedoch erhält die gesamte freiere Philosophie des mohammedanischen Morgenlandes, die noch nicht genug Rückhalt in den Massen besaß, einen vernichtenden Stoß durch die »Widerlegung der Philosophie« des Persers Alghazel, der dann durch seine allgemeinverständlich geschriebene »Wiederbelebung der Religionswissenschaft« auch positiv der wiederaufkommenden Rechtgläubigkeit des Islam (d. i. Ergebung, nämlich in Gott) zum Erfolg verhalf.

So flüchtete sich die freiere Denkweise im zwölften Jahrhundert in das damals noch von den Arabern (dort Mauren genannt) regierte südliche Spanien, dessen Hauptstädte Kordova und Sevilla durch ihre Pflege von Kunst und Wissenschaft die nur durch kriegerische Tapferkeit ausgezeichneten, sonst noch überaus rohen christlichen Spanier bei weitem überflügelten. Der berühmteste aller maurischen Denker war der Sohn des Roschd, von den Abendländern Avérroës genannt (1126 bis 1198), Theologe, Rechtsgelehrter, Arzt und Philosoph zugleich, eine Zeitlang Richter, dann Leibarzt des Kalifen von Kordova, zuletzt wegen seiner Freidenkerei nach Marokko verbannt. Er ist schon vollkommen ein Jünger des Aristoteles, den er als das uns von der göttlichen Vorsehung gegebene Muster bezeichnet, »damit wir wüßten, was zu wissen möglich ist«. Er hat zahlreiche, von den Scholastikern eifrig benutzte Kommentare zu den Schriften des Meisters abgefaßt, von dem er übrigens hauptsächlich die naturalistische Seite (Ewigkeit der Welt, Wesenseinheit der Vernunft und Unsterblichkeit der letzteren, bei gleichzeitiger Sterblichkeit der Einzelpersonen) betonte. Der Offenbarungsreligion der Menge will er nicht entgegentreten; der Philosoph aber hat zu erklären und zu beweisen. Die würdigste Verehrung der in sich vollkommenen, daher bedürfnis- und willenlosen Gottheit besteht in der wissenschaftlichen Erkenntnis seiner Werke.

Mehr als auf seine Glaubensgenossen, deren politische Macht und geistiger Einfluß bald nach ihm immer mehr zurückging, hat er auf die christlichen Denker bis in die Zeit der Renaissance und auf die gleichzeitige jüdische Philosophie in Spanien gewirkt.

2. Jüdische Denker

Schon länger bestand bei den Juden eine phantastische, Philo, der Gnosis und dem Neuplatonismus verwandte mystische Geheimlehre, die sogenannte Kabbala (Überlieferung). Gegen sie wandten sich vom zehnten Jahrhundert ab die von der spanisch-arabischen Philosophie beeinflußten israelitischen Denker, welche die jüdischen Glaubenssätze mit der Vernunft in Einklang zu bringen suchten. Sie schrieben auch zunächst arabisch. Von ihnen zeigt der »Sohn des Gabriel«, Avicebron (1020 bis 1070) mehr neuplatonische Färbung, während Moses, der Sohn des Richters Maimun, daher Maimonides genannt (1135 bis 1204), Aristoteles als den zuverlässigsten Führer auf dem Gebiet weltlicher Weisheit betrachtet, während er auf dem religiösen Offenbarung und Vernunft miteinander verbinden will. Das höchste Gut ist die Erkenntnis der Wahrheit. Seine Gottesvorstellung steht auf hoher Stufe: Gott ist über alle Natur und Körperlichkeit hoch erhaben, sein Wesen ist unerforschlich. Desgleichen seine Sittenlehre: auf das Tun des Guten um des Guten willen kommt alles an. Die Sittlichkeit des frei wollenden Menschen ist Sein und Zweck aller Weisheit. Noch heute übt Maimonides einen wohltätigen Einfluß auf das religiöse Judentum.

Durch die lateinischen Übertragungen nun, die diese und andere jüdische Gelehrte von den arabischen Übersetzungen des Aristoteles und zahlreichen Schriften der arabischen Aristoteliker, namentlich des Averroes, anfertigten, wurde der ganze Aristoteles zum ersten Male den christlichen Gelehrten bekannt und dadurch die Blütezeit der Scholastik herbeigeführt.

c) Die Blütezeit der Scholastik

Nicht bloß das Bekanntwerden des gesamten Aristoteles, der von nun an immer mehr als »Norm der Wahrheit«, als »die geschriebene Vernunft« gilt und häufig einfach als » der Philosoph« bezeichnet wird, ruft einen neuen Aufschwung der scholastischen Studien hervor, sondern auch das gleichzeitige Emporblühen der Universitäten, zuerst Paris (1215) und Oxford, denen bald auch solche in anderen Städten folgten, und die Gründung der beiden neuen Bettelorden, der Franziskaner und Dominikaner, die nicht bloß das sittlich-religiöse, sondern auch das wissenschaftliche Leben zu reformieren suchten.

So übte der von seinen Schülern als »König der Theologen« und »unwiderleglicher Doktor« gepriesene englische Franziskaner Alexander von Hales (gest. 1245) zuerst, in Schriftsteller- wie Lehrtätigkeit, die seitdem üblich gewordene scholastische Methode. Nachdem zuerst das irgendeinem Text entnommene, in der Regel theologische Thema festgestellt ist, werden zunächst alle denkbaren bejahenden oder verneinenden Antworten zusammengestellt, sei es, daß sie in Autoritätsgründen, nämlich Bibelsprüchen oder Aussprüchen berühmter Kirchenväter, oder in Vernunftgründen, das heißt Lehren der antiken Philosophen, vor allem des Philosophus, oder der arabischen und jüdischen Denker bestehen; schließlich die Entscheidung entweder mit oder ohne Vorbehalt und »Distinktionen« (Unterscheidungen) gegeben. Alexanders »Summe« (Inbegriff) der gesamten Theologie behandelte mehr als 440 solcher Themata. Wie ihm, so gilt auch seinem Schüler und Ordensgenossen (später Ordensgeneral) Bruder Bonaventura (1221 bis 1274), eigentlich Johannes Fidanza, Aristoteles in allen Weltdingen als Führer, während er auf religiösem Gebiet der Mystik (siehe später) zuneigt.

Dem franziskanischen Doppelgestirn steht ein noch berühmteres dominikanisches gegenüber: Albertus Magnus und Thomas von Aquino.

Der aus Schwaben gebürtige Albert von Bollstädt (1206 bis 1280), der vor allem in Köln lehrte und wegen seiner für seine Zeit bedeutenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse den Beinamen »der Große« erhielt, ist der erste und eigentlich der einzige berühmte Deutsche unter den namhaften Scholastikern. Jetzt wurden überhaupt zuerst wieder, im Anschluß an Aristoteles' allmählich auch im Urtext von Konstantinopel her bekannt werdende Schriften und die seiner Schüler (zum Beispiel Theophrasts Botanik), die Anfänge von Zoologie und Botanik getrieben, ebenso wie, im Anschluß an die berühmten Mediziner des Altertums Galenus und Hippokrates, die der Heilkunde, während man anfangs die Krankheiten mit Beschwörungen und Gebeten behandelte oder als Strafe Gottes ansah, in die man sich willenlos zu ergeben hätte, glückliche Kuren aber als Teufelswerk betrachtete. Bei Albert tritt bereits die später immer stärker werdende Unterscheidung zwischen philosophischer oder natürlicher und theologischer Erkenntnis deutlich hervor. In der letzteren folgt er hauptsächlich Augustin, in ersterer fast durchweg dem Aristoteles, wie denn auch die philosophischen unter seinen nicht weniger als 21 mächtige Foliobände füllenden Schriften in der Hauptsache gelehrte und erläuternde Umschreibungen des Philosophen und seiner arabisch-jüdischen Übersetzer und Erklärer sind und Albert »der Große« überhaupt mehr Gelehrsamkeit als Scharfsinn entwickelt.

Bedeutend vielseitiger und systematischer, ja mit großer Kunst ausgearbeitet finden wir die Philosophie Alberts wieder bei seinem Lieblingsschüler, dem berühmtesten aller Scholastiker,

Thomas von Aquino (1225 bis 1274),

der, als Grafensohn zu Aquino im Gebiet des Königreichs Neapel geboren, nicht bloß in Rom, Bologna und Neapel, sondern auch an den Hochschulen von Paris und Köln mit immer wachsendem Beifall lehrte und bereits ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode heilig gesprochen wurde. Schon 1567 päpstlicherseits feierlich unter die großen Kirchenlehrer, neben Augustin, Hieronymus, Ambrosius und Gregor den Großen, versetzt, gilt er auch heute noch als der erste aller katholischen Theologen. Die neueste, noch unvollendete unter den vielen Gesamtausgaben seiner Werke (die vorletzte 1872 ff. zählte 34 Quartbände) ist 1882 »auf Befehl und Kosten« Papst Leos XIII. begonnen worden.

Das Eigenartige und Bedeutsame des thomistischen Denkens besteht darin, daß er die aus Aristoteles geschöpfte Gedankenwelt dem kirchlichen Denken einordnet und so ein in seiner Weise großartiges philosophisch-theologisches Gebäude errichtet. Die Vernunft oder das »natürliche Licht« wird nicht einfach als Maßstab verworfen. Selbst in theologischen Dingen kann die Vernunft helfen, zum Beispiel Beweise für das Dasein Gottes finden, gegnerische Einwürfe widerlegen usw. Aber sie wird doch nur als Vorstufe zur Offenbarung und die Philosophie, wie alle weltliche Wissenschaft, nur als Magd der Theologie betrachtet. Von Aristoteles aber ließ sich nicht bloß die gesamte Logik, sondern auch fast die ganze Psychologie und Ethik, ja mit gewissen Änderungen auch die »Metaphysik« ohne Schaden dem kirchlichen Lehrgebäude einfügen: wie denn Thomas auch die aristotelische Lehre von Form und Materie und die vom Zweck sich im ganzen und großen durchaus aneignet. Der »Natur« und dem Handeln der Menschen hat Gott eine gewisse Selbständigkeit in den Naturgesetzen beziehungsweise der Willensfreiheit verliehen. Das menschliche Erkennen entsteht dadurch, daß die Seele Abbilder der äußeren Gegenstände in sich aufnimmt. Die Unsterblichkeit auch der Einzelseele folgt aus ihrer Nichtstofflichkeit.

Auch die Ethik des Aquinaten zeigt den aristotelischen Grundzug. Das sittliche Ziel für den Menschen liegt in der Entwicklung seiner vernünftigen Natur. Es wird ein umfangreiches System von »Affekten« (Gemütsstimmungen) und Tugenden entworfen. Zu den vier aus dem Altertum bekannten Kardinal- oder Grundtugenden, die nur zur natürlichen und darum unvollkommenen Glückseligkeit führen, kommen die drei christlichen (Glaube, Liebe, Hoffnung), welche die vollkommene, himmlische und ewige Seligkeit bewirken. Die Denktugenden zieht Thomas, gleich seinem griechischen Vorbild, den Charaktertugenden vor; er ist überhaupt Intellektualist, das heißt Verstandesmensch. Das beschauliche Leben steht ihm höher als das tätige; das höchste Gut besteht ihm in der unmittelbaren Anschauung Gottes. Auf den Inhalt seiner Moral im einzelnen brauchen wir nicht einzugehen: er ist in jeder römisch-katholischen Moraltheologie der Gegenwart zu finden.

Wie das nichttheologische Interesse seines Lehrers Albert den naturwissenschaftlichen, so ist das von Thomas hauptsächlich den politischen Fragen zugewandt. Da ist nun sehr bemerkenswert sein Unterschied von Augustin, der sonst in so starkem Maße sein Vorbild ist, daß er nach dem Ausdruck eines modernen Anhängers (Willmann) »auf den augustinischen Stamm das aristotelische Pfropfreis gesetzt hat«. Gewiß, auch bei Thomas ist der irdische Staat letzten Endes nur eine Vorbereitung auf den himmlischen, dessen sichtbaren Ausdruck auf Erden die römisch-katholische Kirche bildet. Indes dem weltlichen Staate wird doch ein berechtigter natürlicher Zweck zuerkannt. Der Mensch ist als politisches und geselliges Lebewesen (vergl. Aristoteles) durch die Natur auf die Vereinigung zur Familie, Gemeinde und Staat hingewiesen. Die nützlichste Staatsform ist auch in seinen Augen die Monarchie, die jedoch mit teils aristokratischen, teils demokratischen Bürgschaften gegen ihre Ausartung in Despotismus (Gewaltherrschaft) zu versehen ist. Auch das Recht ist göttlichen Ursprungs, und nicht zum wenigsten dank dem Thomismus hat das »Naturrecht« bis heute eine bedeutende Rolle innerhalb der katholischen Lehre gespielt. Gerechtigkeit bedeutet: jedem das Seine geben. Der Reiche soll sich nur als Verwalter seiner irdischen Güter fühlen und von seinem Überfluß den Armen mitteilen, falls dieser wirklich in Not ist. Gegen den Handel zeigt sich Thomas mißtrauisch, und das Zinsnehmen wird verurteilt. Der Staat soll die Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger zu verhindern suchen und stützt sich am besten – auch das ist ja ganz aristotelisch – auf einen zahlreichen Mittelstand. Der Wert der Ware ist die Summe von Arbeit und Auslagekosten derer, die sie erzeugt haben; so daß das Haupt der Scholastiker heute von manchen Gelehrten, wie namentlich dem katholischen Marxisten Pfarrer Hohoff in Paderborn, als ein Verkünder der modernen Arbeitswerttheorie betrachtet wird. Das Privateigentum allerdings bekämpft er nicht, erklärt es vielmehr, wie Aristoteles, für eine naturgemäße Einrichtung, ohne darum etwa bestehendes Gemeineigentum ausschließen zu wollen. Die kommunistische Eigentumsform wäre nur bei höchster Selbstentsagung und auf Grund größten äußeren Zwanges denkbar, was auf die Dauer unhaltbar ist.

So hat Thomas von Aquino die Weltanschauung der mittelalterlichen Kirche in ein geschickt und scharfsinnig ausgedachtes System gebracht. Persönlich war er, wo ihn nicht, wie zum Beispiel gegen die Ketzer, sein kirchlicher Standpunkt verblendet, eine milde und edle Natur. Die Einwände, die eine selbständig gewordene Philosophie gegen seine Lehre erheben muß, gelten der Sache, nicht der Person. Schon unter seinen Zeitgenossen fand er viele Anhänger. Von ihnen seien hier nur zwei erwähnt: der später Papst gewordene Petrus Hispanus (gest. 1277), dessen logischem Schulbuch die bekannten Gedächtniswörter für die Arten der Schlüsse (Barbara, Celarent usw.) entstammen, und der große Dichter der Divina Comedia, der Florentiner Dante (1265 bis 1321), dessen politische Schrift »De monarchia« von thomistischen Ansichten stark beeinflußt ist, allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: während nach Thomas alle christlichen Herrscher dem Papst ebenso gehorchen müssen »wie unserem Herrn Jesus Christus selber«, tritt bei dem großen Italiener das Kaisertum selbständig neben das Priestertum.

Duns Scotus

Auf der anderen Seite fand indes der Thomismus, ja damals mehr als heute, auch zahlreiche Gegner innerhalb der Kirche, vor allem unter dem Rivalenorden, den Franziskanern. Der bedeutendste von ihnen, vielleicht der scharfsinnigste aller mittelalterlichen Denker überhaupt, war der Ire Duns Scotus (1270 bis 1308), der – in Oxford Magister aller Wissenschaften geworden – bald alle übrigen Gelehrten überstrahlte, aber leider bereits mit 38 Jahren in Köln starb. Mit ihm beginnt sich die von Albertus Magnus eingeleitete und von Thomas vollendete Verbindung von Vernunft (Aristotelismus) und Kirchenlehre wieder zu lösen. Scotus betont im Unterschied von dem Aquinaten den Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie oder Glauben und Wissen. Wie ein halbes Jahrtausend nach ihm Kant, erklärt er die Unsterblichkeit der Seele, die zeitliche Schöpfung und viele andere Kirchenlehren, ja sogar das Dasein Gottes als durch die Vernunft nicht beweisbar; freilich wird dadurch der Glaube nur gestärkt. Denn was für den Philosophen wahr, kann für den Theologen falsch sein. Auch Aristoteles ist nicht unfehlbar. So könnte man schon von einer beginnenden Zersetzung der Scholastik durch den »Scotismus« sprechen. Doch steht sein Urheber mit seiner Methode, seinen Begriffen und Spitzfindigkeiten (nicht umsonst hieß er der Dr. subtilis, d. h. scharfsinnig bis zur Spitzfindigkeit) noch so durchaus auf dem Boden mittelalterlichen Denkens, daß wir ihn noch der Höhe der Scholastik zurechnen möchten.

Noch in einem anderen wichtigen Punkte tritt er zu Thomas in Gegensatz. Bei Duns ist der Wille (voluntas) die Grundkraft der Seele, hat den Vorrang vor dem Intellekt oder Verstand. Thomas war Intellektualist, Scotus ist Voluntarist. Die Vorstellungen sind nur Gelegenheitsursachen und Diener des Wollens. Auch in der Psychologie des letzteren, zum Beispiel in seiner Unterscheidung vom bloßen Wünschen oder Begehren, zeigt er sich als scharfsinniger Beobachter, der auf der Erfahrung fußt. Die Selbständigkeit und Freiheit des Willens ist so groß, daß selbst die göttliche Gnade, ihm bloß beizustehen, ihn nicht zu nötigen vermag; wäre doch sonst auch die menschliche Verantwortlichkeit vernichtet. Auch das Gefühl der Lust und Unlust bestimmt ihn nicht, sondern begleitet nur sein Tun. Auch darin erinnert er an Kant, wie desgleichen darin, daß das Gute, also die Ethik, in erster Linie Sache des Willens ist. Die höchste Vollkommenheit liegt daher für ihn nicht, wie für Thomas, im mystischen Schauen, sondern in dem ganz auf Gott gerichteten tätigen Willen, das heißt der Liebe.

Andererseits hängt ihm freilich das Gute doch wieder von Gott ab; es ist nicht an sich gut (Thomas), sondern gut, weil Gott es gebietet. Gott ist nicht mit Verstandesbeweisen zu erfassen, sondern nur als überragende letzte Ursache und zugleich letzter Zweck der Welt. Auch auf ihn wird der Primat (das heißt der Vorrang) des Willens vor dem Denken übertragen und dahin übertrieben, daß behauptet wird, die freie göttliche Willkür hätte die Welt auch ganz anders schaffen, die Erlösung auf eine ganz andere Art geschehen, zum Beispiel Christus Stein werden lassen können; weshalb dann gerade in der scotistischen Schule solche Spitzfindigkeiten ausgesponnen wurden, wie wir sie an früherer Stelle (Seite 85) kennengelernt haben. – Das eigentliche und bleibende Wesen jedes Dinges liegt ihm, wie der aristotelischen Metaphysik, in der Form, während die »erste« Materie, von der seine Spitzfindigkeit noch eine »zweit-erste« und »dritt-erste« unterscheidet, nur die Bildsamkeit der Dinge überhaupt bezeichnet.

3. Der Ausgang der Scholastik. Die deutsche Mystik

Unter den zeitgenössischen Gegnern des Thomas findet sich auch einer, der – allerdings eine Ausnahmeerscheinung in dieser Zeit – schon ganz moderne Gedanken aufwirft. Es ist der Engländer Roger Bacon (1214 bis etwa 1294), der sein ganzes Vermögen physikalischen Experimenten opferte. Er hat den Mut, von den gefeierten Albert und Thomas zu sagen, sie seien »Knaben, Lehrer, ehe sie gelernt«; letzterer habe dicke Bücher über Aristoteles geschrieben, ohne Griechisch zu verstehen, über Naturwissenschaftliches ohne mathematisch-physikalische Kenntnisse. Die Logik und Grammatik bestimmter Meister nachbeten, die stete Berufung auf berühmte Namen und »Autoritäten« hat keinen Wert. Nicht auf gelehrte Formeln kommt es an, sondern auf Quellenstudium, vor allem an der Natur selbst, also auf Erfahrung. Das Abc der Philosophie ist die Mathematik, die Königin aller Wissenschaften aber die Experimentalwissenschaft. Bacon hat denn auch selbst Vergrößerungsgläser erfunden, die Wirkung des Pulvers gekannt, chemische Entdeckungen gemacht, richtige Beobachtungen über das Sehen und die Strahlenbrechung angestellt und anderes mehr; ja er hat die pfeilschnelle Bewegung von »Wagen ohne Zugtiere« und »Schiffen ohne Ruder und Segel« um ein halbes Jahrtausend vorausgeahnt. Auch weiß er, daß unzusammenhängende Beobachtungen nicht genügen, diese vielmehr methodisch geregelt, die bedingenden Ursachen aufgesucht und so das Gesetz gefunden werden muß. So könnte man den Mönch des dreizehnten Jahrhunderts beinahe für einen modernen Menschen halten. Dem stehen jedoch wieder allerlei scholastische Rückständigkeiten entgegen. So erkennt er neben der natürlichen Kausalität (Gesetz von Ursache und Wirkung) der Wissenschaft noch eine übernatürliche der schaffenden Gottheit, neben der äußeren noch eine innere von Gott eingegebene Erfahrung an, deren Gipfelpunkt die mystische Verzückung ist. In der Kirche ist der Glaube das Erste, die Erfahrung das Zweite, das Begreifen erst das Dritte. In die menschliche Willensfreiheit spielen astrologische Einflüsse (der Stand der Planeten und anderes) mit ein; Aristoteles wird bedauert, weil er die Quadratur des Kreises nicht gefunden usw. So hat Roger zwar für seine Zeit viel geleistet – Goethe gedenkt seiner rühmend in der »Farbenlehre«, Eugen Dühring erklärt ihn gar für den einzigen Philosophen des Mittelalters –, aber doch keine nachhaltige Wirkung geübt.

Wir übergehen das sonderbare Beginnen des Spaniers Ramon Lull (Raimundus Lullus, 1235 bis 1315), dessen »Große Kunst« mit einem spitzfindig ausgeklügelten System von sieben konzentrischen Kreisen, in denen alle möglichen aus Aristoteles, der Scholastik und der Kabbala aufgerafften Begriffe zusammengestellt waren, durch deren Verschiebung und Kombinationen (Verbindungen) alle gewünschten Wahrheiten »beweisen« zu können behauptete, und wenden uns gleich dem letzten bedeutenden Scholastiker zu.

Es ist Wilhelm von Ockham (um 1300 bis 1350), gleichfalls ein Engländer, der Erneuerer des Nominalismus (Seite 85 f.). Die allgemeinen Begriffe existieren ihm zufolge nur objektiv, das heißt im denkenden Geiste, nicht subjektiv oder in der Wirklichkeit. (Die beiden Begriffe subjektiv und objektiv, die so viel unnütze Verwirrung in der Geschichte der Philosophie angerichtet haben, besaßen also bei diesem ihrem Urheber gerade die umgekehrte Bedeutung wie heute!) Sie sind demnach keine wirklichen Abbilder, sondern nur Zeichen der Dinge. Auch das Dasein Gottes und seine Eigenschaften können nicht von der Vernunft bewiesen werden. Ockham ist ein fortgesetzter Duns Scotus, dessen Zwiespalt zwischen Philosophie (Vernunftwissenschaft) und Offenbarung bei ihm seinen Höhepunkt erreicht. Die Theologie ist keine Wissenschaft, sondern Glaube, und Ockham – bleibt Theologe. Darum verbleibt er, trotz aller Betonung der Erfahrungserkenntnis, insbesondere auch in seiner Seelenlehre, im Grunde doch auf dem Boden der Scholastik. Ja, einige von deren wunderbarsten Spitzfindigkeiten werden auf ihn zurückgeführt, wie die fast frivole Ansicht, daß Gott infolge seiner unbeschränkten Willkür statt der menschlichen Gestalt in Christus auch die »Eselsnatur« hätte annehmen können! Auch seine Ethik erkennt kein Gutes und Schlechtes an sich, sondern nur ein solches durch den Willen Gottes an, zu dessen Ehre auch lasterhafte Handlungen geboten erscheinen können.

Trotzdem stellt sich Ockham in dem gerade damals lebhaft entbrannten Streite zwischen Papst (Bonifaz VIII.) und Kaiser (Ludwig dem Bayer) entschieden auf Seite der weltlichen Gewalt. Er schrieb dem Kaiser, zu dem er nach München flüchtete: »Verteidige mich mit dem Schwert, ich will Dich mit der Feder verteidigen.« Das Gemeinwohl zu fördern, ist allein Sache des Staates. Falls der Fürst diese Pflicht verletzt, hat das Volk das Recht, ihn abzusetzen oder gar zu töten. Auch in der Kirche steht die Gesamtheit der Gläubigen über Papst, Kirchenversammlungen und Geistlichkeit (Klerus). Ockham eifert auch wider den Reichtum und die dadurch bewirkte Verweltlichung der Kirche; der »vollkommenste Zustand« bleibt unserem Bettelmönch zuletzt doch die gänzliche Besitzlosigkeit.

So widerspricht eigentlich in Wilhelm von Ockham bereits die Scholastik sich selber. Sie nimmt denn auch im Laufe des folgenden Jahrhunderts immer mehr an Kraft und Einfluß ab. Seine Nachfolger wenden sich entweder, wie Johann Buridan (1327 und 1348 Rektor der Pariser Universität), von dem das bekannte Beispiel von der schwierigen Wahl des Esels zwischen zwei Heubündeln stammen soll, mehr psychologischen und physikalischen Problemen zu und beteiligen sich an der Gründung neuer Universitäten (Wien 1365, Heidelberg 1386), oder sie zeigen eine ausgesprochene Neigung zur Mystik, in welche die Philosophie des Mittelalters ausläuft.

Die Mystik

ist dem klaren weltfrohen Geiste des klassischen Altertums fremd. Wir sahen sie nur vor dem Beginn des griechischen Philosophierens bei den sogenannten Orphikern (Seite 10 f.) auftauchen, dann erst wieder vor ihrem Ende bei den Morgenländern Philo und Plotin und ihrem Anhang. Dagegen zeigen sich sehr bald Spuren ihrer rein gefühlsmäßigen Betrachtung im Christentum: sowohl im vierten Evangelium und der Offenbarung Johannis wie auch an einzelnen Stellen der Paulus-Briefe; dann im gesamten Gnostizismus. Aber auch Augustin ist nicht frei davon. Die Mystik kam allen denen entgegen, die sich von dem allgemach mit dem Siege der Kirche sich immer mehr ausdehnenden Dogmen- und Zeremonienwesen unbefriedigt, von ihrer fortschreitenden Verweltlichung abgestoßen fühlten, indem sie dem frommen Gemüt mystische (geheimnisvolle) Vereinigung mit dem Urquell alles Seienden, der Gottheit, versprach. In dieser Richtung wirkten namentlich die wahrscheinlich gegen Ende des fünften Jahrhunderts verfaßten »areopagitischen« Schriften, die – eine in dem ersten christlichen Jahrhundert vielfach ohne Anstoß geübte Manier – dem angeblich ersten Bischof von Athen, Dionysius vom Areshügel (einem sagenberühmten Hügel bei Athen) angedichtet wurden.

Über der gewöhnlichen erhebt sich hiernach eine höhere Theologie, die uns vermittels der Stufenreihe der Läuterung, Erleuchtung, Weihung und Gottverähnlichung schließlich bis zur völligen »Vergottung« erhebt. Auch bei Johannes Eriugena (Seite 84) kehren Ansätze dieser Gefühlsrichtung wieder, besonders aber – im Verein mit der Kreuzzugsstimmung des zwölften Jahrhunderts – bei dem berühmten Abte Bernhard von Clairvaux (1091 bis 1153), der in seiner Schrift »Von der Verachtung der Welt« als die höchste der Seligkeiten preist »die geheimnisvolle Auffahrt der Seele in den Himmel, das süße Heimkehren aus dem Lande der Leiber in die Region der Geister, das Sichaufgeben an und in Gott«. Als die Grundlage aller Frömmigkeit gilt ihm die beschauliche Betrachtung, als ihre Krone die Gottesliebe, auf deren höchster Stufe der Mensch auch sich selbst nur Gottes wegen liebt.

Eine radikalere, pantheistische und zugleich kommunistische Wendung nahm die Mystik gegen Ende des zwölften Jahrhunderts in Amalrich von Bena (Kloster bei Chartres in Frankreich), der schon den kühnen Gedanken auszusprechen wagte, daß jeder Mensch, je nach dem Maße seiner Gotteserkenntnis, »Himmel« und »Hölle« in der eigenen Brust trage und, ähnlich wie zu gleicher Zeit der schwärmerische Abt Joachim von Fiore in Unteritalien, das baldige Nahen eines Reiches des Heiligen Geistes verkündete, der in jedem ihn in sich Fühlenden wirke und alle Standesunterschiede vernichten werde. Natürlich wurde seine Lehre von der Kirche verdammt, ja nach seinem Tode (1206) seine Gebeine ausgegraben und verscharrt, seine Anhänger – mit denen wahrscheinlich auch die »Brüder und Schwestern vom freien Geiste« zusammenhängen – als Ketzer mit Feuer und Schwert verfolgt.

Vollkommen friedlich blieb dagegen die gemütsinnige Mystik der beiden Viktoriner, das heißt Äbte des Klosters St. Viktor bei Paris, des deutschen Grafen Hugo (1096 bis 1141) und seines schottischen Nachfolgers Richard (gest. 1173). Während das äußere Auge des Menschen nach Hugo nur mit dem Sinnlichen, das innere mit dem begrifflichen Denken zu tun hat, so besteht die Tätigkeit des höchsten, des »geistigen« Auges in der unmittelbaren Anschauung des Göttlichen, welche die heilige Ruhe der reinen Liebe in uns hervorruft. Auch nach Richard wird die Beschaulichkeit erst durch den Tod der Vernunft in uns geboren und erhebt sich nicht bloß über, sondern auch wider diese. Die fromme Mystik des heiligen Franz von Assisi, des Stifters der Franziskaner, ist bekannt; und so ist es denn auch kein Wunder, daß auch für den uns schon bekannten Franziskanergeneral Bruder Bonaventura, den Dr. seraphicus in Goethes »Faust«, die höchste Stufe der Erkenntnis die »Vereinigung mit dem himmlischen Seelenbräutigam« darstellt.

Auch Albertus Magnus bezeichnete in einer Schrift seines Alters die völlige Hingabe an Gott, die in dessen Anschauen besteht, als das höchste zu erstrebende Ziel der theologischen Erkenntnis, und ähnlich sein Schüler Thomas, der doch im allgemeinen eine Verstandesnatur ist. Gegen Ende des Mittelalters nimmt, mit dem Niedergang der eigentlichen Scholastik, in den tieferen Christen diese Richtung zu. Wir nehmen sie wahr bei Peter von Ailly (1350 bis 1425) und seinem Schüler und Freund Johannes Gerson (1363 bis 1429), beide Kanzler der Universität Paris, beide von großem Einfluß auf das berühmte Konstanzer Konzil (1414 bis 1418). Gerson verband mit seinem Ockhamschen Standpunkt in der Scholastik eine ausgesprochen mystische Theologie, die jedoch bei ihm ziemlich gesund geblieben zu sein scheint, indem sie vom inneren Erleben Gottes ausging, das auch dem Einfältigen möglich ist.

Das war in Deutschland schon früher von dem großen Mystiker verkündet worden, den wir zum Schluß noch zu betrachten haben: Meister Eckhart aus Thüringen (1260 bis 1327), Mitglied des Dominikanerordens und größtem Prediger seiner Zeit, »der in deutschen Worten zu seinen Zeitgenossen redete, auch in seinen Schriften. Nicht was er uns sagt, ist das Neue und Eigenartige an ihm, sondern wie er es uns sagt: mit der Innigkeit des deutschen Gemüts, schöpfend aus dem unversiegbaren Quell der deutschen Sprache. Gott hat nicht bloß in seinem Sohne der Menschheit »sich bekannt und sein Wort gesprochen«, sondern in aller Kreatur, deren Idee er in sich vorgebildet schaute. Er ist allerorten, denn er ist ungeteilt. Alle Dinge gehen von ihm aus und wollen zu ihm zurück. So auch die menschliche Seele. Sie trägt ein doppeltes Antlitz. Das eine ist dieser Welt und dem Körper zugekehrt, das andere, in der Tiefe unseres »Gemüts« als göttliches Fünklein ruhend, ist auf Gott gerichtet. Wenn der Mensch zu Gott kommen will, so muß er sich selbst sterben, damit das Göttliche in ihm zur Herrschaft gelange. Dann kommt er in den Zustand, den die alten Stoiker die Apathie nannten, Eckhart aber die »Abgeschiedenheit«, das ist Freiheit von allen Leidenschaften, oder auch »Gelassenheit«. Ist so Gott in meiner Seele geboren, so kann ich nicht mehr fallen. In diesem Sinne sind alle Menschen ein Sohn Gottes. Alles Übel, alle Schranken, alles Mangelhafte ist nur ein Abfall von Gottes Wesen.

Tugendhaftes Handeln ist mithin eigentlich nur ein Wirkenlassen des Göttlichen in mir, ohne besonderen Zweck. Sittlichkeit ist nicht Tun, sondern Sein, das mühelos aus der Seele fließt. Alle Tugenden sind daher im Grunde genommen nur eine; Liebe (»Minne«) ist ihr Kern. Liebe vertreibt alle Furcht und bedeckt alle Sünde; sie ist stark wie der Tod, fester wie die Hölle. »Darum soll der Mensch also sein, daß all sein Leben Liebe sei.« Die äußeren Werke wie Fasten, Beten, Büßen und dergleichen schätzt Eckhart nur, insofern sie die Einkehr in sich selbst fördern. Denn wenn die Seele »Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe« finden will, so muß sie alle ihre Kräfte »sammeln von allen zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken«. Das wahre Gebet bedarf keiner Worte. Bei alledem ist unseres Mystikers Denken jedoch viel zu gesund, um in bloßer untätiger Beschaulichkeit, die vielmehr Selbstsucht ist, aufzugehen. Wir sollen vielmehr das Ewige ins Zeitliche übertragen und diese unsere zeitliche Aufgabe »ordentlich, redlich und wissentlich« vollführen. »Wäre der Mensch in Verzückung, wie St. Paulus war, und wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich achte es weit besser, daß du ließest aus Minne von der Verzückung und dientest dem Dürftigen in größerer Minne.« Aus dem rechten Herzensgrund fließet das rechte Handeln von selbst. Es gibt viele Wege zu Gott. Du kannst ihn beim Herdfeuer oder im Stalle ebenso gegenwärtig haben als in der Einöde oder in der Klosterzelle. Und der Mensch, der sich nach der Vereinigung mit Gott sehnt, braucht ihn auch nicht weit zu suchen, »er ist nicht ferner denn vor der Türe des Herzens, da steht er und wartet, wen er bereit findet, der ihm auftue und ihn einlasse«.

Gott seinerseits, der des Menschen Seele zu der »Wiedereinbildung« alles außer ihm Seienden in sich bedarf, stellt ihr nach, um sie zu sich zu ziehen. »Gott mag mich nicht entbehren; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht.« Gott ist Mensch geworden, damit ich Gott werde. – Das war der Kirche zuviel. Und da der kühne Dominikanermönch auch die kirchlichen Dogmen zu vergeistigen und verinnerlichen wagte – im Jüngsten Gericht zum Beispiel spricht ihm zufolge nicht der göttliche Richter, sondern ein jeder sich selbst das Urteil –, da seine Lehre die schroffe Scheidewand zwischen Priesterstand und Laien (Ungelehrten) bewußt durchbrach, so wurde auch gegen diesen trefflichen Christen ein Ketzergericht aufgeboten und 28 seiner Sätze verdammt. Er starb jedoch, ehe das päpstliche Endurteil erschien.

Wir haben Eckhart ausführlicher behandelt, weil die innersten und tiefsten Gedanken der deutschen Mystik bei ihm am deutlichsten zutage treten. Seine Nachfolger kommen ihm nicht gleich. Die meisten geraten – was bei der Begründung der Mystik auf das Gefühl sehr leicht geschehen konnte und fast immer wieder geschehen ist und noch geschieht – in das Süßliche und Erbauliche hinein, wie es zum Beispiel in dem vielgelesenen Andachtsbuch des Thomas von Kempis (von Kempen bei Köln, 1380 bis 1471) der Fall ist. Am nächsten kommt ihm der glänzende Volksprediger Johann Tauler von Straßburg (1300 bis 1361), der unter anderem im stärksten Gegensatz zu Augustin behauptet: das Beispiel der tugendhaften Nichtchristen zeige, daß der Mensch von Natur aus lieber das Gute wirke; sodann die von Luther in seinen Anfängen (1518) neu herausgegebene Schrift eines Unbekannten: Theologia deutsch.

Wenn deren Kernsatz lautet: »Gib alle Selbheit auf!«, so ist damit freilich der Gegensatz zu aller wahren Philosophie, die gerade auf der Selbständigkeit der menschlichen Vernunft sich aufbaut, am kürzesten bezeichnet. Und so hatte zwar Eckharts tiefe Verinnerlichung der Religion der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts den Boden bereitet, und in seiner zuweilen äußerst starken Heraushebung des religiösen Ich (siehe oben) steckt sogar schon der Keim einer neuen Zeit. Aber diese neue Zeit mußte doch aus anderen Quellen als nur der religiösen schöpfen; darum gehört selbst ein Eckhart, wenn er auch schon neue Pfade weist, mit seiner Abweisung aller weltlichen Weisheit inhaltlich doch noch dem Mittelalter an.


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