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Wir haben die deutsche Philosophie in ihrem Tiefstand um die Zeit der fünfziger Jahre verlassen: an Stelle der an ihrer eigenen Überspekulation zusammengebrochenen metaphysischen Systeme der Schelling und Hegel auf der einen Seite halbtheologischer Spiritualismus oder schwächliche Farblosigkeit der meisten Universitätsprofessoren; auf der anderen ein oberflächlicher, jeder tieferen philosophischen Grundlage entbehrender naturwissenschaftlicher Materialismus. Andere, der wirklichen Welt mehr zugewandte und doch fruchtbare philosophische Gedankenkeime in sich bergende Denkrichtungen, wie die Entwicklungsphilosophie oder Marxens neue Geschichtsauffassung, hatten noch keinen Einfluß gewonnen. Begreiflich genug, daß ernste wissenschaftliche Denker, die zugleich doch an der bloßen Fach- und Spezialforschung kein Genüge fanden, aus diesem Zwiespalt herauszukommen, den Geist der modernen Naturwissenschaft mit der alten idealistischen Gedankenrichtung zu versöhnen suchten. Dahin gehören zunächst die
Beide gehen von der Naturwissenschaft aus, beide erstreben eine engere Verbindung mit den Geisteswissenschaften; wie denn überhaupt das Problem des Verhältnisses von Leib und Seele in der Philosophie der nächsten Jahrzehnte eine besonders hervorragende Rolle spielt.
So sind nach dem Leipziger Professor der Physik G. Th. Fechner (1801 bis 1887), dessen entscheidende Werke in die Zeit von 1848 bis 1863 fallen, Geistiges und Körperliches bloß zwei verschiedene Betrachtungsarten desselben Ganzen. Er selbst hat, im Anschluß an die Untersuchungen seines Lehrers E. H. Weber, das sogenannte »psychophysische« (seelischleibliche) Grundgesetz formuliert, wonach die Stärke der Empfindung nur im Verhältnis des Reizzuwachses zu der bereits vorhandenen Reizstärke zunimmt, wobei der eben merkliche Unterschied der Empfindung die Maßeinheit bildet. Auch das Atom hat Fechner ganz methodisch als unterste Grenze unseres Naturerkennens und zugleich als bloßes Kraftzentrum ohne Ausgedehntheit bestimmt. Die Naturwissenschaft soll nach einem von ihm gebrauchten Bilde nicht plump »wie der Bär in einen Bienenkorb« in die Natur hineintrampeln, wie es die Schelling-Hegelsche Naturphilosophie getan, der auch er in seinen ersten Jahren zugeneigt hatte; sondern den Bienen gleich sorgsam »von unten auf arbeiten und sammeln«. Seine rege Phantasie trägt ihn dann aber doch über diese rein wissenschaftliche Betrachtung der Dinge hinaus. Alles ist ihm zufolge beseelt: nicht nur Menschen, Tiere und namentlich auch die Pflanzen (»Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen«, 1848), sondern auch die bloße Materie bis zu den fernsten Gestirnen. Und alle Seelen sind Teile einer allumfassenden höchsten »Weltseele«, die zugleich das Prinzip der Ordnung und des Zusammenhanges im gesamten All darstellt. In dem höheren Leben, das unsere Seele nach dem Tode erwartet, werden die nicht mehr an räumliche Schranken gebundenen Geister in freiem, innigem Verkehr miteinander stehen. Allerdings sind das für unseren Philosophen nur »Glaubens«sätze.
Bedächtiger als der phantasievolle und feurige Fechner geht der zartere und kritischer geartete Göttinger Philosoph Hermann Lotze (1817 bis 1881) zu Werke, der bis zu seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr nur medizinisch-naturwissenschaftliche Bücher geschrieben hatte. Nach ihm muß – ein an Leibniz gemahnender Gedanke – zu dem mechanischen Zusammenhang von Wirkung und Ursache, der alles äußerliche Naturgeschehen unweigerlich beherrscht, für unser Gefühl ein allgemeiner Zweckzusammenhang hinzukommen. Letzter Grund und Zweck alles Wirklichen ist die ewige Liebe des absoluten Weltgrundes. Auch die Einzelseele ist eine für sich bestehende nicht sinnliche Einheit; die körperlichen Organe (Nerven) liefern ihr nur den Stoff, den sie in ihre eigene Sprache übersetzt. Unsterblichkeit will der Philosoph ihr, wie allem Geschaffenen, bloß insoweit zubilligen, als sie »um ihres Wertes und Sinnes willen ein beständiges Glied der Weltordnung sein muß«. Wir können nur darauf warten, daß »jedem Wesen geschehen werde nach seinem Recht«. Lotze hat seine Gedanken besonders in seinem für ein allgemeines Publikum geschriebenen, in Titel wie Tendenz einigermaßen an Herders »Ideen« erinnernden dreibändigen Hauptwerk » Mikrokosmus, Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit« (1856 bis 1864, 4. Auflage 1896 bis 1909) niedergelegt.
Fechner wie Lotze haben bis in die Gegenwart hinein, gerade infolge ihrer vermittelnden Richtung, manche Anhänger gefunden. Dennoch konnte auch ihr Standpunkt ein tieferes philosophisches Streben nicht befriedigen. Immer lauter tönte daher um die Wende der fünfziger und sechziger Jahre von den verschiedensten Seiten her der Ruf: Zurück zu Kant!, dem kritischen Philosophen, den die nachfolgende philosophische Entwicklung zu ihrem eigenen Schaden vernachlässigt, ja beinahe vergessen hatte. Frühere Hegelianer, Herbartianer, Friesianer beriefen sich auf ihn, und Schopenhauer, der ja nachdrücklich auf ihn hingewiesen hatte, begann eben jetzt berühmt zu werden. Dasjenige Buch aber, das den Sieg dieser »neukantischen« Bewegung auch in weiteren Kreisen besiegelte, war die »Geschichte des Materialismus« von F. A. Lange (1866, 2. Auflage 1873 bis 1875), den wir nicht zum wenigsten deshalb genauer schildern, weil er sozusagen der erste deutsche Professor gewesen ist, der für die Arbeiterbewegung etwas übrig gehabt hat.
Friedrich Albert Lange (1828 bis 1875), dessen Leben uns sein begeisterter Anhänger O. A. Ellissen (1891) erzählt hat, ein Theologensohn aus dem Bergischen Lande, gab in der preußischen Konfliktszeit (1862) seinen Duisburger Gymnasiallehrerposten auf, um freier Schriftsteller und Redakteur, zuletzt Professor in der Schweiz zu werden, von wo er durch den neuen Unterrichtsminister Falk 1872 nach Marburg berufen wurde, um jedoch bereits im November 1875 durch eine lange, schmerzvolle Krankheit der Wissenschaft und dem Lande allzufrüh entrissen zu werden.
Sein Hauptwerk, eben die »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart« (seit einiger Zeit auch bei Reclam durch Ellissen herausgegeben), noch heute eine der besten und anziehendsten Einführungen in philosophisches Denken, hat damals in Wahrheit erst die materialistische Zeitströmung, wenigstens in der Philosophie – leider nicht ebenso in der Politik! – überwinden helfen, nicht zum wenigsten, weil er ihre bedingte Berechtigung anerkannte. Er erklärt den von vielen mit allerlei Schlagworten einfach verfemten Materialismus für »die erste, die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie«, weil derselbe sich am unmittelbarsten an die Wirklichkeit halte. Allein er muß sich seiner Schranken bewußt bleiben. Schon die moderne Sinnesphysiologie zerstört die naive Ansicht, als ob die Welt in Wahrheit genau so wäre, wie wir sie sehen, hören, schmecken, riechen oder fühlen. Als die Haupttat Kants betrachtet Lange dessen »Kopernikus«-Gedanken, daß nicht unsere Vorstellungen nach den Dingen sich richten, sondern umgekehrt die Dinge nach unseren Begriffen. Nicht bloß Raum, Zeit und Kategorien sind notwendige Formen unserer Anschauung beziehungsweise unseres Verstandes, sondern auch die Materie, das Atom, die Kraft, ja das »Ding« selber sind nichts anderes als unserem eigenen Geist entsprossene wissenschaftliche Hilfsbegriffe. Freilich ist er noch nicht zu dem streng erkenntniskritischen, allein die Bedingungen der Wissenschaft feststellen wollenden Sinn des a priori (S. 204) durchgedrungen, sondern findet es in letzter Linie begründet in unserer nun einmal vorhandenen geistig-körperlichen Organisation.
Ähnlich ist sein Standpunkt in der Ethik. Auch hier verzweifelt er an der Möglichkeit der streng wissenschaftlichen Begründung Kants, verweist sie vielmehr, zusammen mit Ästhetik und Religion, in das Gebiet der Gedanken dichtung, jedoch im höchsten, Schillerschen Sinne verstanden: als »eine notwendige und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechende Geburt des Geistes«, die auf die Erzeugung von Einheit und Harmonie in unserem Denken und Fühlen gerichtet ist und uns aus der Welt des Seienden in die der Werte versetzt. Es ist »der Standpunkt des Ideals«, wie ihn der letzte Abschnitt seines Buches in erhebender Weise schildert, des Ideals, in dessen Reich wir mit dem Dichter, die »Angst des Irdischen von uns werfend«, aus dem »engen, dumpfen Leben« uns zu flüchten vermögen, während hinter oder unter uns »des Erdenlebens schweres Traumbild sinkt – und sinkt – und sinkt«. Hier hört allerdings die Welt der Wissenschaft auf. Denn wer könnte die neunte Sinfonie Beethovens »widerlegen« oder die Sixtinische Madonna »des Irrtums zeihen« wollen?
Langes, wenn auch nicht in der Begründung, so doch im tiefsten Sachgehalt echt Kantischer Idealismus in der Ethik hat ihn auch zu seiner sozialen Stellungnahme geführt. Er stellte sich ohne Scheu unter »das Banner der großen Idee, die den Egoismus hinwegfegt und menschliche Vollkommenheit in menschlicher Genossenschaft als neues Ziel an die Stelle der rastlosen Arbeit setzt, die allein den persönlichen Vorteil ins Auge faßt«. Mit anderen Worten, er ist Sozialist – wie er denn auch mit den damals sich bildenden Arbeitervereinen (A. Bebel) in Verbindung trat – und hat in seiner »Arbeiterfrage« (1866, 1. Auflage, neu herausgegeben von Franz Mehring 1910) auseinandergesetzt, wie er sich den Weg zu diesem seinen Ziele denkt. Weiter in dieser Hinsicht zu arbeiten, hinderte ihn seine Krankheit und sein früher Tod.
Langes Art war nicht dazu angetan gewesen, eine »Schule« zu bilden. Das war einem anderen Denker vorbehalten: dem durch ihn nach Marburg berufenen und dort sein Nachfolger gewordenen
Cohen hat in eindringender und scharfsinniger Gedankenführung zunächst die Hauptgebiete der kritischen Philosophie bearbeitet in seinen drei Werken: »Kants Theorie der Erfahrung« (1871, 2. Auflage 1885, 3. Auflage 1918), »Kants Begründung der Ethik« (1877, 2. Auflage 1910) und »Kants Begründung der Ästhetik« (1889), die, anfangs vielfach angefeindet oder unbeachtet, allmählich durchdrangen und in weiten wissenschaftlichen Kreisen eine ganz neue Kantauffassung begründeten: eine Auffassung, die den Hauptwert auf die Durchbildung der kritischen oder »transzendentalen« Methode legt, ähnlich wie sie auch in der Kantdarstellung unseres Buches zum Ausdruck gekommen ist.
Zu Cohens frühesten Anhängern gehörte der Schweizer August Stadler (1850 bis 1910), der bereits in den siebziger und zu Anfang der achtziger Jahre in mehreren vorzüglichen Schriften Kants »Teleologie« (1874), Kants »Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie« (1876) und Kants »Theorie der Materie« (1883) beleuchtete und später lange Jahre als Professor in Zürich gewirkt hat. Weiter Kurd Laßwitz, in Gotha (1848 bis 1910), der außer seiner bedeutenden »Geschichte der Atomistik« (1889 f.) auch mehrere allgemeinverständliche Schriften, wie »Wirklichkeiten« (1900) und »Seelen und Ziele« (1908), geschrieben hat, in denen er ein an Kant, Schiller und Goethe orientiertes Kulturideal entwickelt. Weiter Franz Staudinger (geb. 1849, Darmstadt), dessen »Noumena« (1884) Kants Erkenntnislehre, dessen »Sittengesetz« (1887) sowie »Ethik und Politik« (1899) Kantische Ethik vertreten. Staudinger sehr nahe steht auch der Verfasser vorliegenden Buches, der sich schon früh mit der Methode und Anwendung der kritischen Ethik sowie mit dem Verhältnis unserer beiden großen klassischen Dichter zu Kant und zur Philosophie beschäftigt und Kants Werke in der »Philosophischen Bibliothek« herausgegeben hat. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts haben sich Staudinger und Vorländer namentlich der Philosophie des Sozialismus gewidmet, weswegen sie im nächsten Kapitel noch zu erwähnen sein werden.
Überhaupt begann, wie einst der Kantianismus, so fast ein Jahrhundert später auch der Neukantianismus seine Wirkungen auf die verschiedensten Gebiete zu erstrecken. So zeigten sich von bedeutenden Vertretern der Naturwissenschaft die Physiker Helmholtz, H. Hertz und A. Elsas, der Astronom Zöllner und andere von ihm beeinflußt, während in der evangelischen Theologie vor allem die einflußreiche Schule A. Ritschls (Bonn), auf Kant zurückgehend, reinliche Scheidung zwischen Wissenschaft und Glauben, Naturerkenntnis und Werturteil, Ethik und Religion forderte und die letztere mit Recht auf die innere Erfahrung, das religiöse Erleben zu stützen suchte; so besonders W. Herrmann (Marburg) in seinem Buche »Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit« (1879) und neuerdings E. Tröltsch (Berlin). Der Jurist Rudolf Stammler (geb. 1856) übertrug die kritische Methode zuerst auf das sozial- und rechtsphilosophische Gebiet in seinen bedeutsamen Werken: »Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung« (1896, 3. Auflage 1914), von dem im nächsten Kapitel noch die Rede sein wird, der »Lehre vom richtigen Recht« (1902) und der »Theorie der Rechtswissenschaft« (1911), während Paul Natorp sie, neben ihrer allgemeinen Ausbildung, namentlich auch auf das Feld der Pädagogik zuerst anwandte (S. 284).
Danebenher ging die seit den siebziger Jahren immer stärker einsetzende philologisch-historische Beschäftigung mit dem alten Kant. Es entstand eine förmliche Kantphilologie, die mit ihrer Textkritik, ihrer Aufhellung von Kants Leben und Persönlichkeit, seines philosophischen Entwicklungsganges und seines geschichtlichen Verhältnisses zu Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern oft bis ins kleinste ging. Wir nennen als Beispiel nur H. Vaihingers lexikonartigen, aber in zwei starken Bänden nur wenige Kantische Druckbogen erläuternden »Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft« (1881 bis 1892). Einen neuen Mittelpunkt fand die Kantforschung, der schon vorher in Kants Heimatstadt die »Altpreußische Monatsschrift« gedient hatte, in den 1896 von Vaihinger begründeten »Kantstudien« und der von demselben Gelehrten am hundertsten Todestag Kants (12. Februar 1904) begründeten »Kantgesellschaft«, die gegenwärtig über zweitausend Mitglieder zählt. Auch die Kantausgaben haben sich immer weiter vermehrt. Zu den drei alten Ausgaben von Hartenstein (1838 f. und 1867 ff.) und Rosenkranz und Schubert (1838 ff.) sind nicht weniger als vier neue Gesamtausgaben – abgesehen von den zahlreichen Ausgaben einzelner Schriften – getreten, von denen die der »Philosophischen Bibliothek« (F. Meiner, Leipzig) durch ihre Einleitungen, Register und sonstigen sachlichen Beigaben, die der Berliner Akademie der Wissenschaften sich dadurch auszeichnet, daß sie außer den Werken auch noch den gesamten Nachlaß umfaßt oder vielmehr umfassen will; denn von dem im Jahr 1900 begonnenen, auf 24 Bände veranschlagten großen Unternehmen sind bisher erst 13 Bände erschienen.
Von Deutschland, dem alten Land der »Dichter und Denker«, aus verbreitete sich dann der Neukantianismus auch, in mehr oder minder veränderter Gestalt, über die meisten anderen Länder Europas. In Frankreich vertrat ihn vor allem Renouvier (1818 bis 1903) und seine Schule, in England Caird, in Italien Cantoni (1840 bis 1906), Tocco (1845 bis 1911) und andere; desgleichen verbreitete er sich in Rußland, Holland, Spanien, Portugal und den nordischen Ländern (weitere Namen in meiner zweibändigen »Geschichte der Philosophie«, 2. Band, S. 73). Ja bis in den fernsten Osten ist der Name des Königsberger Denkers gedrungen und 1896 in – Japan ein Kommentar zu »Kants Kritik der reinen Vernunft« herausgegeben worden.
In Deutschland steht ferner diesem älteren Neukantianismus, der eine entschiedene Neigung zum Positivismus zeigt, nahe Alois Riehl (geb. 1844, Berlin), der in seinem Werk »Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft« (1876 bis 1887) vor allem dessen erkenntniskritische und realistische Seite hervorhebt und alle über die Erfahrungsgrenze hinausgehende Metaphysik als unwissenschaftlich verwirft. Ethik und Ästhetik erstreben ihm zufolge keine wissenschaftliche Erklärung, sondern nur Leitung und Beurteilung unseres Handelns und Fühlens. Philosophie ist überhaupt in erster Linie Erkenntniskritik, nicht Weltanschauungslehre.
Verwandt diesem Positivismus ist auch die von dem früher im wesentlichen nur als »Kantphilologen« bekannten H. Vaihinger (geb. 1852, Halle) bereits in seiner Jugend verfaßte, aber erst 1911 veröffentlichte »Philosophie des Als ob«, so genannt, weil sie an Kants Sprachgebrauch anknüpft, der die Wendung des »Als ob« häufig zur Bezeichnung des Ideen-Charakters (S. 207 ff.) einer sogenannten Wahrheit gebraucht. Vaihinger fußt entschieden im Gegebenen der Erfahrung und lehnt alles ab, was darüber hinaus auf Grund angeblicher geistiger oder sittlicher Bedürfnisse noch etwa als »wirklich« angenommen werden mag; aber er erkennt die aus solchen Bedürfnissen entstandenen Fiktionen (»Dichtungen«), hierin sich mit F. A. Lange berührend, als nützliche und wertvolle Hypothesen an, »ohne deren Annahme das menschliche Denken, Fühlen und Handeln verdorren müßte«. Solche Fiktionen sind zum Beispiel die Begriffe des Atoms, des Unendlichen, des Dinges an sich oder Absoluten, der Willensfreiheit, der Kraft, der Materie; aber sie sind auch auf dem Gebiet der Mathematik, der Ethik, der Rechtswissenschaft, der Religion zu Hause. Neuerdings hat diese Philosophie des »Als ob« manche Anhänger gefunden; sie wird sogar durch eine besondere Zeitschrift, »Annalen der Philosophie«, vertreten.
Seit etwa dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich andererseits bei einem bedeutenden, man darf wohl sagen dem größeren Teil der deutschen Philosophen eine stärkere Wendung zum Idealismus geltend gemacht, so daß die Prophezeiung Eduard v. Hartmanns, die deutsche Philosophie mache eine Art »Repetitionskursus« durch, indem sie, wenn auch auf neuer, wissenschaftlicherer Grundlage, die Entwicklung vor hundert Jahren, das heißt von Kant zu Hegel, wiederhole, bis zu einem gewissen Grade eingetroffen ist. Von Kant sind überhaupt mehr oder weniger alle ernst zu nehmenden heutigen Denker idealistischer ebenso wie realistischer Richtung berührt worden oder haben das Bedürfnis einer Auseinandersetzung mit ihm empfunden. Aber manche von ihnen haben auch Fichtesche und Hegelsche Gedanken in sich aufgenommen. Das läßt sich auch bei dem jüngeren Neukantianismus bemerken.
Zu ihm ist unter anderem die sogenannte
zu rechnen, so bezeichnet nach ihren beiden bekanntesten, an den badischen Hochschulen Heidelberg und Freiburg angestellten oder angestellt gewesenen Häuptern Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert. Von ihnen hat Windelband (Heidelberg, 1848 bis 1915) schon früh die Philosophie als »kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten« unseres Denkens, Handelns und Fühlens bestimmt und später namentlich den Unterschied zwischen dem verallgemeinernden Denken des Naturforschers und dem individualisierenden des Historikers betont. Er selber hat außerdem ein gutes »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie«, daneben die populäre Aufsatzsammlung »Präludien« (1884, 6. Auflage 1919) geschrieben.
Seine Gedanken sind dann fortgebildet worden von seinem Freiburger Kollegen und jetzigen Nachfolger in Heidelberg, Heinrich Rickert (geb. 1863), der ebenfalls die Grenzen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften scharf heraushebt und ein größeres Werk über »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« verfaßt hat. Ihm nahe stehen Jonas Cohn (Freiburg) und mehrere jüngere Gelehrte, die auch eine besondere Zeitschrift mit dem Titel »Logos« herausgeben; ferner Bruno Bauch, der ein bedeutendes Buch über »Kant« (1912), außerdem »Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften« (1911) veröffentlichte. Er ist der Nachfolger O. Liebmanns (1840 bis 1912) in Jena, der seinerzeit als einer der ersten (1865) in seiner Schrift »Kant und die Epigonen« die Rückkehr zu Kant gefordert hatte und ein schärferer Denker als sein berühmterer Kollege R. Eucken gewesen ist.
Tiefer noch als die badische schürft die
die unter der Leitung von H. Cohen und P. Natorp in Marburg (Hessen) allmählich heranwuchs und Zuzug auch aus dem Ausland (Rußland, Spanien, Nordamerika) bekam.
Nachdem Cohen in seinen älteren Werten seine Behandlung der philosophischen Probleme an den Namen Kants angeknüpft hatte, gab er seit 1902 sein eigenes »System der Philosophie« heraus: zunächst die »Logik der reinen Erkenntnis« (1902, 2. Auflage 1914), sodann »Die Ethik des reinen Willens« (1904, 2. Auflage 1907), zudritt »Die Ästhetik des reinen Gefühls« (1911, zwei Bände). Zur Ausführung der noch geplanten »Psychologie« ist er nicht mehr gekommen.
Logik bedeutet für Cohen: Logik der Mathematik und Physik. Im Unterschied von Kant beginnt er nicht mit der reinen Anschauung, sondern mit dem reinen Denken, welches kraft des Prinzips des »Ursprungs« alles Bestimmbare bestimmt und wahres, das heißt wissenschaftliches Sein erzeugt (so daß hier eine gewisse Wendung zu Hegel vorliegt). Wie die Logik auf Mathematik und »mathematische« Naturwissenschaft, so bezieht Cohen die Ethik auf die Rechtswissenschaft: sie ist die Prinzipienlehre von Recht und zugleich Staat. Denn aus dem Machtstaat der Stände und herrschenden Klassen muß der Rechtsstaat werden, der das Recht der Menschen verwirklicht. In Kants Gedanken vom Menschen als Selbstzweck (S. 213) verbindet sich die antike Staatsidee mit dem protestantischen Gedanken des freien Individuums zum Ideal des Sozialismus. Die Teilung der Arbeit darf nicht so weit gehen, daß dadurch die Einheit der Persönlichkeit vernichtet wird; das Verhältnis der erzeugten Arbeit zum Arbeitsertrag und noch mehr das Problem des Eigentums bildet eine Grundfrage der sittlichen Kultur. Die notwendige Ergänzung zum strikten Recht stellt die Menschlichkeit (Humanität) dar. Die Gesetzlichkeit des Ästhetischen wird bestimmt durch die Reinheit des Gefühls. Stoff der Kunst, die sich vergegenständlicht im Kunstwerk, sind Natur und Sittlichkeit; ihr Oberbegriff ist die Idee des Schönen, von dem das Erhabene wie der Humor nur einzelne Momente ausdrücken. Die Religion endlich ist bei Cohen, ähnlich wie bei Kant, nur ein Anhang der Ethik. Letztere bedarf des Gottesgedankens zwar nicht zu ihrer Begründung, wohl aber zu einem befriedigenden Abschluß, weil nur er die Übereinstimmung von Natur und Sittlichkeit letzten Endes gewährleistet.
Gleich Kant hat auch Cohen, als Lehrer wie als Schriftsteller, das Hauptgewicht stets nicht sowohl auf den fertigen Inhalt philosophischer Lehrsätze, sondern auf die Methode des Philosophierens gelegt. Daher haben auch die unter seinem Einfluß stehenden Denker (S. 278 f.) sich nach verschiedenen Seiten hin selbständig entwickelt. Dahin gehört in erster Linie sein langjähriger Amtsgenosse
in Marburg, wo er in Lehre und Schrift Die reiche Anzahl seiner auf fast alle Gebiete der Philosophie sich erstreckenden Schriften siehe in meinem größeren Werke, II, S. 432 f. seit beinahe vier Jahrzehnten unermüdlich im Sinne des kritischen oder »methodischen« Idealismus gewirkt hat. In der Logik oder Erkenntniskritik betont Natorp neben der Cohenschen Grundmethode namentlich den Gedanken, daß das Erkennen als ein unendlicher Prozeß, als eine Aufgabe zu verstehen ist, die stets nur Näherungswerte in der Bestimmung des Tatsächlichen erzielen kann. In seinen »Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften« (1910) gibt er einen streng logischen Aufbau der letzteren. Seine allgemeine oder philosophische Psychologie (1912) erörtert Problem und Methode dieser Wissenschaft, die nicht in experimentellen Beobachtungen und naturwissenschaftlicher Erklärung aufgeht, sondern das Unmittelbare im Bewußtsein gedanklich wiederzuerzeugen strebt. Natorps Hauptwerk, die zum ersten Male 1899, kürzlich in vierter Auflage erschienene »Sozialpädagogik«, kennzeichnet Natorps Philosophie am besten: sie ist Erkenntniskritik, Ethik, Sozialphilosophie und Pädagogik – alles in knappster Form – zugleich. Die Ethik oder, wie er später wohl auch im Gegensatz zur »Theoretik« sagt, die »Praktik« bedeutet in seinem Sinne einheitliche Ordnung der Zwecke unter der Leitung des aus den Trieben und dem Willen im engeren Sinne sich erhebenden reinen Vernunftwollens. Die Sozialpädagogik untersucht die »sozialen Bedingungen der Bildung« und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens. Das sittlich-soziale Endziel der Menschheitsentwicklung sieht Natorp, im Anschluß an Pestalozzi, in der »allseitigen Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen, harmonischen Zusammenhang seiner Grundkräfte«. Auf die Einzelheiten seiner sozialen Pädagogik, die er im Sommer 1920 auf der Reichsschulkonferenz in Berlin entwickelt und in seinem neuesten Buche »Sozial-Idealismus« (1920) echt sozialistisch mit ebensoviel Scharfsinn wie Vaterlands- und Menschheitsliebe begründet hat, können wir hier nicht eingehen. Seine » Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« erblickt mit Schleiermacher deren tiefsten Quell im Gefühl, ihre reinste Form in ernstem dogmenlosem Menschensinn, ihre Erlösungskraft im Glauben an die unendliche Aufgabe des Sittengesetzes. Augenblicklich ist er mit einem neuen, theoretischen Entwurf seiner Gesamtphilosophie beschäftigt, der ihn in manchem von Kants Kritizismus zu entfernen scheint.
Von den Angehörigen der unter der Leitung Cohens und Natorps entstandenen Marburger Schule heben wir hervor die beiden jetzt an der neuen Universität Hamburg wirkenden Ernst Cassirer (geboren 1874, »Substanz und Funktionsbegriff«, »Form und Freiheit«) und Albert Görland (geboren 1869, »Ethik als Kritik der Weltgeschichte«), die beide auch die großen Philosophen der Vergangenheit herausgegeben oder bearbeitet haben, wie Cassirer Leibniz und die Geschichte des Erkenntnisproblems in der neueren Philosophie überhaupt, Görland Aristoteles; ferner die Marburger Dozenten N. Hartmann (Plato) und Heimsoeth (Descartes und Leibniz), den Neuköllner Stadtschulrat A. Buchenau (Descartes, Malebranche und Pestalozzi), der jetzt namentlich auf sozialpädagogischem Gebiet arbeitet, und andere. Nicht weniger als zwanzig hatten sich zu Cohens siebzigstem Geburtstag (4. Juli 1912) zu einer Festschrift »Philosophische Abhandlungen« vereinigt, die sich auf beinahe sämtliche Gebiete der Philosophie erstrecken. Andere sind Mitarbeiter an E. Cassirers Kantausgabe. Gemeinsam ist der Marburger Schule, deren inneren Charakter Natorp in seinem Vortrag vor der Kantgesellschaft 1912: »Kant und die Marburger Schule« am besten geschildert hat, neben der methodischen Weiterbildung Kants in der Richtung des Idealismus, vor allem auch eine starke Betonung des Zusammenhanges der Philosophie mit Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft. In ihrer ethischen Auffassung dürften die meisten dem Sozialismus nahestehen, wie die älteren Neukantianer Cohen und Natorp, Staudinger und Vorländer.
Damit ist ein Übergang gewonnen zu unserem letzten Kapitel, das die Philosophie des Sozialismus behandeln soll, dieser gegenwärtig bedeutsamsten politischen Bewegung der Weltgeschichte.