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Drittes Kapitel

Die Juden bleiben

Der Frühling verging, es verging der Sommer. Urs Cibula half dem Hirten seines Vaters die Ziegen- und Schafherden hüten, mit den flinken Tieren um die Wette weit im Walde und hoch zwischen den Felsen umherkletternd, so daß er oft tagelang ausblieb und seine sanfte Mutter sich um ihn sorgte. Im Schatten der Fichten, auf weichem Moospolster, oder im Sonnenschein unter Gestein und Geröll liegend, ließ er die duftenden Alpenkräuter über sich zusammenschlagen und starrte zwischen nickenden Blumen und Gräsern in die blaue Himmelsflut. Er dachte an nichts und an vieles: an die frische Bärenfährte, die der Hirt in der Nähe der Herden aufgespürt, an den Adlerhorst, den er selber entdeckt, an Ilja Dozana und an die Blumen, die sie am meisten liebte. Und er dachte an die Juden, die den lieben schönen Heiland ans Kreuz geschlagen. Dann ward er »wild« wie der Vater. »Und du weißt, mein Vater heißt Michael Cibula!«

Der Herbst kam, brachte graue, kalte Tage, und die Waldleute rüsteten sich für den Winter.

Die Männer untersuchten ihre Waffen und Fallen, gossen Kugeln, schliffen ihre Schnitzmesser und musterten die Vorräte an trockenen Arvenstämmen und Zirbenholz. Die Weiber hatten viel in den Flachskammern zu schaffen. Sie suchten Spindeln und Spulen hervor, hantierten mächtig an den Webstühlen herum und geboten mit schärferen Stimmen als gewöhnlich den Töchtern und Mägden.

Auch die Jungfrauen von Piatra blieben nicht müßig, Spindel und Spule mußten sie freilich in Anbetracht ihrer Jugend und Unerfahrenheit den Müttern und älteren Mägden überlassen. Denn in Piatra ward der Schlüssel zur Flachskammer nur der Erfahrung anvertraut, und um mit genügender Würde am Webstuhl sitzen zu können, mußte man gar erst Bäuerin sein. Dagegen führten die blondhaarigen, braunäugigen Töchter der wilden Verrös in der Federkammer des Hauses die unbestrittene Herrschaft, bei der es gar lustig und bunt zuging.

Da lagen vor den jungen Mädchen die schimmernden Hüllen aller der Vögel, die Brüder und Väter das Jahr über erlegt hatten. Jede Art hatte ihren besonderen Platz, durch eine zierliche Schranke von der anderen getrennt. Hier leuchtete neben dem dunkelbraunen Gefieder des Falken und Weihen das wie Kleinodien schillernde Federkleid des Auerhahnes und des Fasanen; dort glänzte der weiße Flaum der wilden Gänse und Schneehühner; der silbergraue von Kranich und Reiher. Wer zählte die Schnepfen, Birkhühner und Krammetsvögel, die Blaudrosseln und Buntspechte, die Pirole, Häher und Wildtauben, welche alle ihr fröhliches Leben hatten lassen müssen, um die Kammer der Jungfrauen von Piatra zu füllen! Die eine oder die andere konnte sogar mit der Krause eines Lämmergeiers, konnte mit Adlersfittichen prunken.

Sorglich wurden die Federn geprüft, die Farben gewählt und die Muster ersonnen, welche von den geschickten Händen der jungen Künstlerinnen auf Bänder und Gürtel genäht werden sollten. Auch trug in der Verrös jede Braut an ihrem Ehrentage ein Kleid mit breitem, buntem Federsaum, das sie selber verfertigt hatte: an langen Winterabenden, wenn in dem mächtigen Ofen die Tannenscheite prasselten, der Sturm um das Haus heulte und die Ahne Schauergeschichten erzählte, welchen auch, den horchenden Jungfrauen nicht wenig zum Trost, die Burschen von Piatra zuhörten. Dann gab es ein Drehen und Wenden, ein Kichern – –

Und jede Jungfrau von Piatra trug Sonntags und Feiertags eine hohe steile Federkappe, die auf dem goldigen Haar wie ein Diadem strahlte.

Es war an einem trüben Novemberabend. Tief drückten die Wolken auf die Felsen der wilden Verrös herab, als wollten die schwarzen Himmelsdünste die herbstliche Erde unter sich begraben, da erscholl durch die Gassen des Dorfes wieder einmal der Ruf:

»Die Juden kommen!«

Alles lief aus den Häusern, man steckte die Köpfe zusammen, fragte, riet, wußte nichts, ward aufgeregt und immer aufgeregter.

»Die Juden kommen!«

Und je näher sie kamen, um so angstvoller wurden die Gesichter der Frauen, um so düsterer die Blicke der Männer. Die Kinder begannen sich zu fürchten und erhoben ein Zetergeschrei.

Und die Juden kamen. Sie kamen im Herbst, zu einer Zeit, wo ihr Kommen nicht Brauch war, wo sie gar nicht kommen durften.

Aber sie kamen nicht als Händler mit Sack und Pack, mit Maultieren und Karren; sondern sie kamen als Flüchtlinge und Verfolgte; sie kamen mit Weibern und Kindern, mit Habe und Gut, soviel sie davon gerettet hatten. Sie kamen in großer Menge. Zahlreicher beinahe als die Waldleute lagerten sie vor dem Dorfe und schickten Abgesandte: eine von den Christen vertriebene, umherirrende Judengemeinde bäte die Bauern von Piatra um Herberge und Schutz.

Seit Piatras Blockhäuser standen, war den Bauern von Piatra kein solches Ansinnen gestellt worden. Die Erregung ergriff selbst die Gemüter der Würdevollsten.

Bei anbrechender Nacht kamen die Häupter der Familien vor der Kirche zusammen. Die Beratung währte so kurz, daß Michael Cibula nicht einmal Gelegenheit bekam, aus vollem Herzen wild zu werden. So schickten denn die Waldleute die Boten der Ebräer mit dem Bescheide zurück: Die Bauern von Piatra weigerten den Juden Herberge und Schutz, und sei es auch nur für eine einzige Nacht.

Die Waldleute waren noch nicht auseinander gegangen, als schon die Ältesten der vertriebenen Judengemeinde auf dem Kirchplatz erschienen, schöne Greise, die den Fürsten der Verrös an Würde des Wesens und Hoheit der Erscheinung nichts nachgaben. Tief sich vor den Bauern neigend, baten sie, vor dem Dorfe ihr Lager aufschlagen und ihr Feuer anzünden zu dürfen: nur für eine einzige Nacht! So groß war der Christen Haß, daß sie die Bitte beinahe geweigert; aber so groß war der Juden Demut, daß sie dem Stolz der Bauern beinahe geschmeichelt hätte. Als nun der Älteste der jüdischen Gemeinde flehend den Saum des Gewandes von Stefan Dozana erfaßte und auch der Rabbiner ihm huldigte, da geschah es, daß auf des Priesters Fürsprache hin die Bauern von Piatra den Juden vor ihrem Dorfe zu bleiben gewährten: doch nur eine einzige Nacht!

Michael Cibula ging zornig davon.

Über Nacht fiel der erste Schnee, er fiel so stark, daß die Feuer der Juden verlöschten. Zugleich trat heftiger Frost ein.

Unter gellendem Geschrei kamen am Morgen die Weiber der Juden ins Dorf gelaufen. Sie hielten ihre halbnackten Kinder in die Höhe und wehklagten, daß ihre Kinder umkommen müßten, wenn die Waldleute ihnen nicht Obdach gewährten, nur für diesen einzigen Winter! Die schwarzhaarigen leidenschaftlichen Frauen boten in ihrer Verzweiflung einen schrecklichen Anblick dar.

Es gab einen großen Tumult.

Aber die Ältesten der Juden wiesen die Weiber mit den Kindern zurück, traten mit entblößten Häuptern vor die Waldleute, neigten sich tief und baten, für den Winter bleiben zu dürfen; außerhalb Piatras, wo es den Herren von Piatra beliebe, Dafür wollten sie nächstes Frühjahr zahlen: Mehl und Flachs, Pulver und Blei, für jeden Mann ein Pfund und für jedes Weib ein halbes.

Nachdem sie ihre Bitte demütig vorgebracht, begaben sie sich sofort wieder in ihr Lager zurück, dort des Bescheides der Waldleute zu harren.

Diesesmal tagten die Häupter feierlich im Gemeindehause. Sie saßen an dem gewaltigen Tische aus Eschenholz, daran schon die Ahnen über das Wohl und Wehe der Waldrepublik zu Rate gesessen, und legten ihre braunen Stirnen in ernsthafte Falten; denn ernsthaft erschien allen die Wendung der Dinge.

Die Bauern von Piatra erkannten die Notlage der Fremden an, aber die, welche sie um Hilfe in der Not angingen, waren Juden.

Wären die wilden Tiere des Waldes verfolgt und verwundet vor ihr Dorf gekommen, um sich bei den Menschen zu bergen, die Waldleute hätten die wilden Tiere von ihren Wohnstätten vertrieben.

Also: Fort mit den Juden!

Da stieg in Stefan Dozanas Seele etwas auf, das für die verfolgten wilden Tiere bat.

Aber es war nicht Erbarmen, das den Priester sich erheben und für die Juden sprechen hieß:

»Sie haben sich vor uns gedemütigt. Weisen wir sie fort, so ziehen sie davon gleich Verhungernden, denen der Gesättigte die Brotrinde verweigert, und die nun hinziehen, um elend zu sterben. Dann wären wir die Gedemütigten. Bleiben sie aber – nur für einen einzigen Winter und an dem Ort, den es uns beliebt ihnen anzuweisen, so müssen sie in ihrer Erniedrigung vor uns beharren. Und welcher Anblick könnte Gott und den Heiligen wohlgefälliger sein, als der von Juden, die sich vor Christen erniedrigen! Was könnte uns vom Himmel höher angerechnet werden, als wenn wir über den Stamm, der das Lamm Gottes geschlachtet, triumphieren? Deshalb sage ich: Laßt die Juden bleiben.«

Nicht zufällig war es, daß Stefan Dozana bei dieser Rede auf Michael Cibula blickte, diesen wütenden Todfeind der Juden. Und während der Priester ihn ansah und die wilde Bewegung gewahrte, die über sein Gesicht zuckte, dachte er an den Grimm, den Michael Cibula empfinden würde, wenn es ihm gelingen sollte, das Bleiben der Juden durchzusetzen. Deshalb riet er nochmals mit starker Stimme:

»Ich stimme dafür, daß die Juden bleiben.«

Da sprang Michael Cibula vom Sitze in die Höhe. Seine Faust ließ er auf den Tisch niederschmettern, daß ein Beben durch den vielhundertjährigen Stamm ging, und er rief:

»Einen Feind Gottes und dieser christlichen Gemeinde nenne ich jeden, der dafür stimmt!«

Durch die Versammlung ging ein Flüstern, die Bauern neigten die Köpfe zu einander wie die Wipfel im Walde, ehe sie vor dem Ausbruch des Sturmes rauschend zusammenschlagen. Stefan Dozana entgegnete auf die wilden Worte mit kaltem Hohn:

»Jeder in dieser christlichen Gemeinde weiß, weshalb Michael Cibula die Juden haßt; er haßt die Juden – nicht weil sie die Feinde Gottes sind, sondern weil Maria Cibula, seine Schwester, einen Juden und Feind Gottes geliebt hat. Wessen Haus eine solche Erinnerung bewahrt, dessen Mund sollte schweigen, wo gerechte Männer sonder Liebe und Haß ihre Stimmen für oder wider erheben.«

Als sich Michael Cibula von seinem alten Widersacher vor den Häuptern der Gemeinde solcher Art an die Schande seines Geschlechtes gemahnt hörte, leuchtete es in seinen Augen auf wie eine vom Sturm angefachte Flamme. Seiner kaum mächtig, wandte er sich von Stefan Dozana ab, der Gemeinde zu.

»Mit dem Hasse, von dem meine Seele voll ist, stimme ich wider die Juden, ich werde wider sie stimmen, so lange ich meine Stimme erheben kann.

Die Juden kommen zu uns. Sie sind in großer Not und bitten um Herberge und Schutz. Ein Jude lag in großer Not in unserem Walde und mein Vater ließ den Juden aufheben und gewährte ihm Herberge und Schutz. Und was tat der Jude? Meines Vaters Hand hatte seine Wange gestreichelt, er aber ballte seine Hand und schlug mit der Faust in das Gesicht dessen, der ihm Gutes getan. Der Jude erschlug seines Wohltäters Herz und nahm ihm die Tochter.

Nehmet die Juden auf in ihrer Not, streichelt ihnen die Wangen und sie werden euch mit der Faust ins Gesicht schlagen – ins Herz! Sie werden euch euren Frieden nehmen.

Was nun den Mann anbetrifft, der im Rate dieser christlichen Gemeinde für Aufnahme der Juden stimmt, so laßt es mich ihm ins Gesicht sagen:

Ich warne euch vor diesem Manne! Häupter dieser christlichen Gemeinde, ich, einer der euren, Michael Cibula, ich warne euch, auf Stefan Dozana zu hören. Nicht weil sein Stamm meinem Stamme seit Menschengedenken feind, nicht, weil er mir in tiefster Seele verhaßt ist, nicht weil er mir sein Lebenlang Böses angetan und antun wird, warne ich euch vor diesem Manne – sondern weil dieser Mann zu jenen Priestern gehört, die statt zu dienen, herrschen wollen. Ich warne euch vor Stefan Dozana, der über euch herrschen will wie der Herr über seine Knechte. Und nun stimmt mit ihm für die Aufnahme der Juden, die er euch als Geißel geben will, um daraus für sich ein Zepter zu machen.«

Damit ging Michael Cibula, wie das seine Art war, in vollem Zorne hinaus, mächtig die schwere Türe hinter sich zuschlagend.

Düster blickten die Versammelten sich an, düster sahen sie auf ihren Priester. Dieser war erblaßt. Doch faßte er sich, stand auf und sprach mit einer Stimme, die er mit Mühe in seiner Gewalt hielt: »Jeder in dieser Gemeinde weiß es, und der Mann, der soeben in wildem Zorne davon ging, hat es selbst gesagt, daß er mein Feind sei. Und jeder von euch weiß, daß dieses Mannes Weib, Josepha, mir schon als Kind in inniger Liebe zugetan war, und daß ehemals sie und ich im ganzen Dorfe für ein zukünftiges Paar galten. Da kam der wilde Cibula und erwarb sich die Jungfrau von ihrem Vater zum Weibe. Und ferner weiß jeder von euch, daß Josepha Cibula ihrem Manne zwar eine gehorsame und ergebene, aber eine bleiche und stille Hausfrau ist. Mehr braucht keiner zu wissen, der vorhin die sinnlose Rede des jähen Mannes vernommen. Denn es hat Michael Cibula keinen anderen Grund, gegen die Juden zu stimmen, als den, in allem gegen mich zu sein. Nun erwägt, ob ich schweigen oder sprechen soll, ob ihr an mich glauben, oder mir mißtrauen wollt, ob ihr auf mich zu hören gedenkt, oder auf jenen.«

Lange war es still in der Halle, Stefan Dozana dünkte die Luft in dem hohen Raume so schwer und schwül, daß es ihm den Atem versetzte. Dann neigten die Genossen mit bedeutungsvollen Blicken sich einander zu und der Älteste sprach:

»Wir wollen dir glauben und wollen auf dich hören. Mögest du bei deinen Worten eingedenk sein, daß du unser Priester bist, in dessen Hände Gott das Heil unserer Seelen gegeben hat.«

Damit war das Schicksal Piatras entschieden.

Stefan Dozana aber sprach: »Ich stimme dafür, daß die Juden bleiben, wo es uns beliebt, so lange es uns beliebt. Aber ich stimme gegen die Bezahlung, die sie uns gegeben haben; sei sie auch hoch, Ihren Lohn für Herberge und Schutz laßt uns verwerfen; statt dessen laßt uns ihre Dienste heischen. Sie sollen dienen! Sie sollen dienen, wie unsere Knechte dienen mit Rücken und Händen. Aber nicht uns sollen sie dienen, sondern Gott und den Heiligen. Gott wird an den dienenden Juden Wohlgefallen haben, und in seinem Wohlgefallen wird Gott unserer und unserer Sünden gnädig gedenken.

Hört, was ich rate. Bekannt ist, wie unsere christliche Gemeinde seit vielen Jahren nach einer neuen Kirche verlangt. Denn unsere Kirche ist zwar ein alter Tempel, darin unsere Väter seit einem halben Jahrtausend und länger Gott und die Heiligen angebetet haben. Aber immer weniger vermag das Gotteshaus die wachsende Gemeinde zu fassen. Auch ist es ein unansehnlicher Bau, unwürdig Gottes, seines Sohnes, dessen göttlichster Mutter und der Heiligen.

Lasset uns Gott, Christo, seiner göttlichsten Mutter und den Heiligen eine neue Kirche bauen! Lasset sie uns bauen aus Stein, mit hohem Turm und innen herrlich geschmückt; je herrlicher sie sein wird, um so mehr werden wir Gnade finden für unsere Sünden, die zahllos sind wie Sand am Meer.

Und es ist euch bekannt, daß wir des Baues einer steinernen Kirche nicht kundig sind.

Die Juden sollen uns die steinerne Kirche bauen.

Lasset uns von diesen Feinden Gottes und der Heiligen Gott und seinen Heiligen eine Kirche bauen. Und wenn sie zu dem Baue nur die Steine brechen und herbeischleppen, so wäre das Gott so wohlgefällig, daß am Tage des Gerichts unsere Sünden von uns abfallen würden wie im Herbst die welken Blätter vom Baume.

Deshalb stimme ich, so lange ich meine Stimme erheben kann, für das Bleiben der Juden.«

Und mit ihm stimmten alle. Laut riefen sie ihrem Priester nach. Alle dachten nur an die neue Kirche und an den Sieg über die Juden, nur an die Freude Gottes und an die Vergebung ihrer Sünden; kein einziger, dem Michael Cibulas Warnung in den Sinn gekommen wäre. Von Stefan Dozana angeführt, zog das ganze Dorf ins Lager der Juden.

Und die Ebräer erhielten den Bescheid:

Die Bauern von Piatra erteilen der vertriebenen Judengemeinde Erlaubnis, an einem von der Gemeinde noch zu bestimmenden Orte zu bleiben, sich daselbst aus Zweigen und Moos Hütten zu bauen und diese Hütten ein volles Jahr zu bewohnen. Dafür haben die Juden den Bauern von Piatra zu geben: weder Mehl noch Flachs, weder Pulver noch Blei, wohl aber ihre Dienste von der Zeit ab, wo der Schnee von den südlichen Abhängen des Kryvan fortgeschmolzen ist, bis daß er dort wiederkehrt. Und es bestehen diese Dienste in Folgendem: an einer noch zu bezeichnenden Stelle Steine zu brechen und diese nach dem Dorfe zu schaffen. Weigern sich die Juden, den Bauern von Piatra solche Dienste zu leisten, so sollen sie binnen drei Stunden das Lager räumen; und am Abend des nächsten Tages muß auch der letzte Ebräer dem Gebiete der Waldleute fern sein.

In welchem Zwecke die Juden den Bauern solche Dienste leisten sollten?

Zu einem heiligen Zweck.

Was mit den gebrochenen Steinen geschehen sollte?

Aus den Steinen sollte eine Kirche gebaut werden.

Da erschallte das jüdische Lager von Wehgeschrei.

Die Waldleute gingen wieder: in einer Stunde wollten sie Bescheid haben.

Nachdem sie sich entfernt, traten die Juden unter ihre wehklagenden Weiber und geboten Ruhe; und als es still geworden, begann Baruch, der Älteste, Weiseste und Gerechteste, zu der bedrängten Gemeinde zu reden:

»Jehovah schlägt sein Volk mit schwerer Not, Verjagt haben uns die Christen, uns vertrieben aus unseren Hütten und von unseren Äckern. Unsere Dörfer mußten wir verlassen und hingeben viel köstliche Habe und reiches Gut, um denen zu entgehen, die uns hassen und verfolgen. Denn sie trachten uns nach dem Leben, uns, unsern Weibern und unsern Kindern. Aber der Herr deckte sein Volk vor unseren Feinden mit einer Wolke, daß unsere Feinde mit Blindheit geschlagen wurden. Also hat Gott sein Volk nicht verlassen. Er hat uns geführt in dieses Tal, wo es gibt Wald und Weide, wo es geben wird Acker und Feld. Es hat der Herr uns gewiesen in dieses Land, von dem die Sage geht, daß die Felsen Erz und kostbares Gestein bergen und die Bäche reines Gold. Der Herr hat es seinem Volke gezeigt: Hier sollt ihr Hütten bauen!

Darum müssen wir bleiben, darum müssen wir den Christen dienen.

Fordern sie von uns, für ihren Gott einen Tempel zu bauen, so müssen wir bauen den Tempel.

Und wir werden wohnen bleiben und reich und mächtig werden im Lande; und Gott, der Herr, wird segnen das Werk unserer Hände, die für den Tempel der Christen Steine gebrochen. Er wird segnen unsere Häupter, die für den Tempel der Christen Steine getragen. Wir werden gesegnet sein, wir und unsere Kinder bis ins sechste und siebente Glied.«

Tiefe Stille folgte dieser Rede des großen Weisen und kein Mund wagte Widerspruch. Auch der Rabbiner der Juden, der junge Jehuda, trat vor und rief:

»Gelobt und gepriesen sei der Herr, unser starker und gewaltiger Gott, der sein Volk in diese Wildnis geführt und ihm das Land zeigte, wo stehen sollen seines Volkes Hütten, wo weiden sollen seines Volkes Herden, wo blühen sollen seines Volkes Äcker und leben und gedeihen seines Volkes Kinder und Kindeskinder. Das ist das Land, darin für Israel Milch und Honig fließt.«

Und es trat vor des Jehuda junges Weib. Sie hieß Dozia und wurde von den Juden geehrt, als ob sie eine Königin sei. Das geschah sowohl um ihrer großen Schönheit, als um ihrer Tugend willen, die beide ohnegleichen waren. Und es geschah, trotzdem ihre Mutter eine Christin gewesen.

Dieses herrliche Weib trat vor, bückte sich, hob mit ihren prachtvollen Armen einen schweren Stein auf, legte ihn auf ihr stolzes Haupt und rief lachenden Mundes:

»Sehet, wie leicht!«

Da jubelten alle, die es sahen, hoben große Steine auf und riefen frohlockend:

»Sehet, wie leicht!«

Darauf begaben sich die Ältesten mit ihrem Patriarchen Baruch Kolon und ihrem Rabbiner Jehuda zu den Bauern von Piatra, neigten sich tief und sprachen:

»Die Juden von Tar wollen euch dienen.«

Am Abend dieses ereignisvollen Tages war es in Piatra, als ob die Waldleute ein Fest feierten. In langen Reihen zogen Frauen und Jungfrauen durch die Gassen, geschmückt wie am höchsten Feiertage, und riefen einander mit Heller Stimme zu:

»Die Juden von Tar dienen uns!«

Und alle lachten.

»Die Juden von Tar brechen uns Steine!«

Und alle jubelten:

»Die Juden von Tar tragen uns Steine!«

Und alle priesen Gott.

Jubelnd kam Urs Cibula nach Hause gelaufen:

»Vater! Vater! Steine tragen uns die Juden von Tar!«

Aber Josepha wehrte ihrem Knaben. Sie tat es mit einem so bleichen Gesicht, sie deutete mit einer so angstvollen Gebärde nach der Kammer des Vaters, daß das Kind erschrak, verstummte und sich angstvoll an seine Mutter schmiegte.

Aus der Kammer drang ein Ton – – Josepha wußte nicht, war es ein Fluch oder ein Stöhnen gewesen.

*

Auch im Lager der Juden gab es Sorgen und Leidenschaften, welche die dunkle Nacht nicht zur Ruhe bringen konnte. Von der Seite ihres Mannes erhob sich die schöne Dozia, schlich aus dem Zelt und trat in die feierliche Finsternis heraus.

Sie stand, lauschte auf das Tosen des Waldbachs im Grunde der Schlucht, auf das Rauschen der Wipfel im Walde und starrte in die Nacht, bis ihre Augen sich an die Schatten gewöhnten und sie das beschneite Dorf wie in einer Nebelwolke schwebend erblickte.

Das war die Heimat ihrer Mutter gewesen, die nun die ihre werden sollte und die ihrer Kinder. Dasselbe Dorf, aus dem ihre Mutter hatte weichen müssen, als sei sie von der Pest behaftet, nahm jetzt die Tochter auf. Ihrer Mutter war der Fluch ihres Volkes gefolgt – würde der Mutter Segen den Fluch vernichten können, den der Haß von Christen und Juden auch auf ihrer Kinder Häupter geschleudert? Oder würde an den unschuldigen Kindern der Väter Sünde heimgesucht werden?

Geschrieben stand, daß es so geschehen sollte bis ins sechste und siebente Glied.

Und Dozia schlich zurück. Aber nicht wieder an die Seite ihres Mannes, sondern zu ihren Kindern, bei denen sie wachte und betete, bis der Morgen graute.

Denn sie wußte: nicht Gottes Stimme – die Stimme eines Weibes hatte die vertriebenen Juden von Tar in dieses Tal geführt.

Doch der weise Baruch Kolon wußte es besser.


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