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Achtzehntes Kapitel

Weshalb Michael Cibula zu Stefan Dozana kam

Urs hatte seinen Vater in den Wald begleitet. Auf dem Heimwege wurde er nicht müde, ihn zu fragen:

»Wann gehen wir wieder in den schwarzen Grund?«

»Hast du solche Eile, dahin zu kommen?«

»Wir wollten uns ja an dem See ein Haus bauen.«

»Warum wollten wir das?«

»Weil wir keine törichten Menschen sind.«

»Du hast gut behalten. Aber die Bären und Geister?«

»Pah, die!« rief Urs mit unendlicher Verachtung; dann triumphierte er: »Aber die großen Forellen.«

»Richtig, die großen Forellen! Ich will es mir überlegen.«

Seit den letzten Wochen tat Michael Cibula nichts anderes, als sich die Sache zu überlegen. Die Not in Piatra wuchs und wuchs, es mußte dagegen etwas getan werden; es mußte ein neues Piatra entstehen, ein Piatra, welches nicht das Judendorf täglich vor Augen hatte, ein Piatra, das des Bannes los und ledig wurde, ohne sich dem Bischof zu unterwerfen, ohne sich seiner Rechte und Freiheiten zu begeben. Zuerst mußte das eine, dann das andere geschehen. Zunächst mußten die Bauern ihren wahnwitzigen Aberglauben in bezug auf den schwarzen Grund fahren lassen und ihre Geisterscheu vor dem herrlichen Tal verlieren: zunächst mußten sie erkennen, was für ein gesegneter Grund es sei. Erst wenn das vollbracht war, erst dann konnte ein gewaltsames Losreißen von dem alten unheilvollen Boden erfolgen, erst dann ein Verpflanzen aller Lebenswurzeln in die neue lichte und heilsame Stätte. Es mußte ein Anfang gemacht werden – mit ihm und seinem Hause! Aber immer noch schwankte Michael Cibula, immer noch überlegte er. Sie hatten sich in ihrer großen Not so fest an ihn geklammert. Wenn er ging, wer blieb dann zurück, an den sie sich halten konnten?

Stefan Dozana blieb, der verfluchte, der geächtete Priester, den jetzt alle verleugneten, von dem jetzt alle sich abwendeten. Auf Stefan Dozana würde er sich jetzt verlassen können.

Es war am Nachmittag, als Michael Cibula aus dem Walde zurückkehrte. Eigentlich hatte er bis zum späten Abend ausbleiben wollen; doch ein Gefühl, beinahe wie gewaltige Sehnsucht, packte ihn plötzlich und trieb ihn nach Hause. In der ganzen vergangenen Woche hatte er sein Weib kaum zu sehen bekommen; Josepha schwand gleich einem Schatten dahin. Trotzdem sie seit der großen Rede ihres Mannes vor dem Bischof die angesehenste Bäuerin von Piatra geworden, ging sie umher, gleichsam mit zermalmtem Herzen. Was Michael Cibula damals im geheimen befürchtet, weshalb er Josepha, als sie ihm an jenem Tage mit offenen Armen entgegenkam und dann vor ihm hinstürzte, liegen gelassen hatte, war nicht geschehen: nie trat ein Wort der Klage über Piatras Geschick auf ihre Lippen. Diese blieben jetzt Tage lang geschlossen, so daß Michael Cibula seiner Frau gern gute Worte gegeben hätte, damit sie ihren Mund aufgetan, wäre es auch zu dem schweren Vorwurf gewesen, daß durch ihn der ungeheure Jammer über Piatra gekommen.

Aber Josepha schwieg und es schwieg Michael Cibula; und doch schwebten beiden die Worte auf den Lippen, beide hatten die Lippen nur zu öffnen brauchen, um die erlösenden Worte zu sprechen.

Aber zwischen beider Herzen lagen Argwohn, Leid und Schuld; und sobald ein guter Genius ihrem stummen Jammer Sprache leihen wollte, wurde ihr Mund von jenen Dämonen geschlossen gehalten.

Je näher Michael Cibula heute dem Dorfe kam, um so mehr beschleunigte er seine Schritte, so daß Urs schließlich mit glühendem Gesicht neben seinem Vater herlief. Doch da Michael Cibula, um die Ecke seines Hauses biegend, in Josephas Blumengärtchen trat, blieb er plötzlich stehen, seinen Augen nicht trauend. Auf der Schwelle seines Hauses, neben seinem Weibe, saß die Jüdin von Tar und ihr Knabe stand neben seinem Weibe, mit einem Gesicht, als wäre er hier zu Hause. Christin und Jüdin hielten sich gleich Schwestern umfaßt und die Christin lächelte die Jüdin glückselig an; dann flüsterten die beiden Frauen zusammen, und nun lächelte auch die Jüdin.

Hätte Michael Cibula sein Weib in den Armen Stefan Dozanas oder tot auf der Schwelle gefunden, es wäre ihm ein lieberer Anblick gewesen. Mächtig war sein Zorn, aber noch mächtiger sein Schmerz über diesen ungeheuren Verrat. Jetzt schrie neben ihm Urs angstvoll auf:

»Mutter!«

Mit einer jähen Bewegung wandte sich Josepha um.

Da übermannten Michael Cibula Schmerz und Zorn. Vor stürzte er, um die Jüdin mit ihrer Brut von der Schwelle seines Hauses zu treiben, um sein Weib für die ihm angetane Schmach zu züchtigen.

Schon hatte er gegen Dozia die Hand erhoben, als Josepha ihm zurief:

»Sie ist die Tochter deiner Schwester Maria!«

Michael Cibula taumelte zurück, als ob er mit der erhobenen Hand sich selber gezüchtigt hätte.

Dozia war aufgestanden, sie sagte:

»Der Geist meiner Mutter kam über mich, da ich von ihr zu deinem Weibe sprach. Er zog dein Weib zu mir hin. Verzeihe ihr, sie konnte nicht tun, wie sie um deinetwillen gern getan hätte; sie konnte mich und meinen Knaben nicht von dieser Schwelle weisen. Denn der Toten Wille ist mächtiger als der der Lebendigen; und der Wille meiner toten Mutter war es, welcher mich und meinen Sohn zu dieser Schwelle geführt.«

Michael Cibula stieß eine Verwünschung aus – das einzige, was er zu reden vermochte. Da nahm Dozia Asarja bei der Hand und trat mit dem Knaben weit von der Schwelle zurück.

»Frieden zu geben und Frieden zu nehmen, bin ich gekommen,« sprach sie laut und feierlich. »Lässest du mich und meinen Sohn in ewigem Unfrieden von dieser Schwelle gehen?«

Sie sah ihn flehend an.

Aber Michael Cibula, seiner kaum mehr mächtig, winkte ihr heftig zu gehen.

Und Dozia ging.

Kaum war sie fort, als sich Urs laut weinend an den Hals seiner Mutter warf. Ohne Weib und Sohn eines Blickes zu würdigen, begab er sich ins Haus, in die Kammer, wo an der Wand das große Weihwasserbecken hing. Es war das letzte gesegnete Wasser, welches sich in Piatra befand, und solange das Dorf im Bann lag, war keine Hoffnung vorhanden, neues zu bekommen.

Michael Cibula nahm das Becken, ging damit hinaus und schüttete das geweihte Wasser bis auf den letzten Tropfen über die entheiligte Schwelle, so daß für sein entweihtes Weib kein Tropfen übrig blieb. Noch tat er Josepha nichts an, nur den Knaben riß er ihr fort. Darauf schloß er sich in der Kammer bei seinem Holzbilde ein, mit dem er wiederum eine lange Unterredung hatte.

Wunderlich aber erging es Josepha. Anstatt ganz gebrochen zu sein, blieb sie durch das erlösende Wort der Jüdin wie neubelebt. Sie tröstete ihren Knaben, sah nach den Mägden und bekümmerte sich mit besonderer Sorgfalt um das Nachtmahl, an dem jedoch ihr Mann nicht teilnahm. Das geschah zum erstenmal in ihrer Ehe; Josepha mußte dem verwirrten Gesinde sagen, daß der Bauer unpaß sei, welche Nachricht neues Staunen hervorrief; denn Michael Cibula unpaß!

Frühzeitig schickte Josepha die Dienstleute und Urs zu Bett, sie selbst blieb in einer sonderbaren Tätigkeit fast die ganze Nacht hindurch auf. Fast die ganze Nacht hindurch packte sie Kisten und Truhen voll Linnen, Gewänder und sonstiger Frauensachen; grade als wollte sie am nächsten Morgen von ihrem Manne fort. Sie tat diese Arbeit mit beinah heiterer Geschäftigkeit. Dabei gebürdete sie sich wunderlich. Sie konnte zuweilen ein Stück, das sie bereits in der Hand hielt, wieder fortlegen, mit gefalteten Händen dastehen, lächeln und murmeln:

»Wenn ich ihn lieb habe, was geht es ihn an?«

So trieb sie es, bis der Morgen graute, bei allem Jammer und Elend, bei aller Schuld, Sünde und Reue glückselig über die allerheimlichste und allerheiligste Liebe.

Am nächsten Morgen zeigte sich Michael Cibula zur gewöhnlichen Stunde im Hause, sah nach dem Nötigen, befahl indessen Dinge, über welche Knechte und Mägde im geheimen verwundert die Köpfe schüttelten; ein lautes Wort darüber wagten sie selbst nicht hinter Michael Cibulas Rücken. Einer der Knechte wurde nach dem Hirten hinauf geschickt mit dem Gebot, sogleich die Herde nach Piatra herabzutreiben – in der ersten Septemberwoche! Die anderen erhielten ähnliche, unverständliche Weisungen; alle Arbeit im Wald ward unterlassen, keiner durfte sich vom Hause entfernen.

Josepha, ohne daß ihr Mann es ihr aufgetragen hätte, setzte die Tätigkeit der Nacht den ganzen Tag fort und beruhigte die aufgeregten Mägde. Gleich nach dem Mittagsmahl legte Michael Cibula seine Sonntagskleider an und verließ das Haus. Mit feierlichem Gesicht trat er bei einem seiner Nachbarn ein, der zu den Häuptern der Gemeinde gehörte. Der alte Bauer merkte sogleich, daß etwas Ungewöhnliches den Nachbarn zu ihm führte, trieb alle, die im Zimmer waren, hinaus, setzte sich dann seinem Gaste gegenüber und wartete schweigend, daß dieser reden würde. Ohne Einleitung oder Umschweif, der nicht in Michael Cibulas Art lag, sagte er gerade heraus:

»Ich komme zu dir, um dir zu melden, daß ich aus Piatra fort will.«

»Du willst aus Piatra fort –  –«

Und fast daß das Haupt der Gemeinde aufgesprungen wäre. Seitdem es Bauern von Piatra auf der Welt gab, hatte noch kein Bauer aus Piatra fort wollen. Dem Gemeindehaupt wirbelten die Gedanken im Kopf umher wie Spreu im Winde. Er mußte das Unerhörte noch einmal hören; und so fragte er denn, als hätte er nicht recht verstanden:

»Du willst aus Piatra fort, du, Michael Cibula?«

»Ich will fort; mit meinem ganzen Hause will ich fort,« erklärte dieser mit einer Stimme und Miene, als wäre er entschlossen, keine Katze, die zu seinem Hause gehörte, zurückzulassen.

»Mit deinem ganzen Hause willst du fort?«

»Und du sollst mir dazu deine Genehmigung geben.«

Das Haupt der Gemeinde hatte bei dem Wirbelwind in seinem Kopfe seine Gedanken immer noch nicht sammeln können. So vermochte er denn nur den Kopf zu schütteln und mit möglichst nachdenklichem Gesicht zu murmeln:

»Meine Genehmigung – nun ja – daß du fort willst von Piatra – mit deinem ganzen Hause – – Sagtest du nicht so?«

»So sagt' ich.«

Da erleuchtete den Mann plötzlich ein Gedanke: die Sache mußte vor die Gemeinde.

»Die Sache muß vor die Gemeinde.«

»Das mag sein. Jetzt frage ich dich: erteilst du mir deine Genehmigung, oder erteilst du sie mir nicht? Denn ich will nichts tun ohne die Genehmigung der Gemeinde – weil es einmal so Brauch bei uns ist.«

»Meine Genehmigung hast du. Aber es muß vor die Gemeinde kommen. Warum willst du von Piatra fort – mit deinem ganzen Hause?«

»Das ist meine Sache.«

»Wohl wegen des Bannes?«

»Das ist meine Sache. Ich will mit meinem ganzen Hause in den schwarzen Grund übersiedeln.«

»Wohin?!«

»In den schwarzen Grund! Dort will ich mir mit der Genehmigung der Gemeinde ein neues Haus bauen, und die Gemeinde soll mir im schwarzen Grund ein Stück Ackerland zuerteilen, auch Weide und Wald.«

»Ackerland – Weide – und Wald – im schwarzen Grunde – –«

»Nirgends sonstwo!«

Das war zu viel. Alles, was das Haupt der Gemeinde noch zu denken und zu sagen vermochte, war: »Wenn ein Bauer von Piatra sich ein neues Haus baut, so helfen die andern ihm bauen.«

»So ist es in Piatra Brauch.«

»Mit der Genehmigung der Gemeinde werden die Bauern dir helfen, dein neues Haus zu bauen.«

»Gut – mit der Genehmigung der Gemeinde.«

»Wir wollen dir alle helfen im schwarzen Grunde.«

»Dank euch allen! Es soll aber noch nicht darüber geredet werden.«

»Nur in der Gemeinde.«

»Und höre: wenn ich gehe, bleibt doch Stefan Dozana zurück.«

»Freilich bleibt der zurück.«

»Er wird euch meine Meinung über alles sagen.«

»Deine Meinung – – Stefan Dozana?!«

»Daß ihr euch nicht untersteht, auf ihn nicht zu hören!«

Damit entfernte sich Michael Cibula.

Er ging zu einem anderen Haupte der Gemeinde, er ging zu allen. Allen trug er mit demselben feierlichen Antlitz sein Anliegen vor. Einen jeden ersuchte er um Genehmigung, Piatra mit seinem ganzen Hause verlassen zu dürfen, von jedem erbat er sich im schwarzen Grunde Weide und Wald und die Erlaubnis, daselbst ein Haus aufzurichten. Jeden einzelnen bedeutete er: Michael Cibula ginge, aber Stefan Dozana bliebe, überall begegnete er dumpfem Staunen, Mißtrauen und Zweifel, hie und da schweigendem Vorwurf: jetzt willst du fort von uns?! Bei allen erweckte sein plötzlicher Entschluß Verwirrung und Trauer.

Aber alle erteilten ihm die erbetene Erlaubnis, alle verhießen, mit ihm zu kommen und ihm das Haus bauen, auch den Acker bestellen zu helfen – da er den Acker nun einmal haben wollte. Keiner versuchte ihn zu warnen und ihm abzureden, keiner bat ihn, zu bleiben; denn alle kannten sie ihn.

Noch spät am Tage kamen sie im Gemeindehause zusammen. Als sie dort die Sache berieten, war Michael Cibula nicht dabei. Alle schauten auf seinen leeren Platz und alle erinnerten sich heute der Worte, die er einst von diesem Platze aus zu den Bauern von Piatra gesprochen. Sie hatten aus seinem Munde viele harte und wilde Worte vernommen, aber stets waren es gerechte, oft gewaltige Worte gewesen. Und nun sollte diese mächtige Cibula-Stimme für immer im Rat der Gemeinde verstummen?! Es traf aller Herzen, so daß es war, als stünden die Häupter der Gemeinde an einer offenen Gruft.

Der aber, um den sie trauerten, hatte an diesem Tage noch einen letzten Gang zu tun; denn noch war Michael Cibula nicht bei allen gewesen, noch fehlte der letzte: Stefan Dozana.

*

Stefan Dozana befand sich in dem Zimmer, darin die Unterredung mit dem Bischof stattgefunden hatte. Wieder stand das Fenster offen und wieder drängte sich, an dem Fliederbusch vorbei, der wachhaltende Zweig hinein; blütenlos, mit großen, dunklen Blättern.

Und wieder war der Tisch bedeckt mit vergilbten Schriften und grauen Dokumenten; und vor den ehrwürdigen Papieren, welche die Freiheit Piatras bedeuteten, saß in dem Stuhl, darin Bischof Mauricius gesessen, Stefan Dozana, das Gesicht mit einem eigentümlich gespannten Ausdruck über die Urkunden gebeugt.

So trieb er es seit vielen Wochen Tag und Nacht. Oft, wenn er draußen im Walde war, packte ihn eine jähe Angst um diese Papiere, daß er rasch umkehrte, als stünde Piatra in Flammen. Dasselbe geschah ihm, wenn er vor der Kirche den wenigen, die noch auf ihn hörten, predigte. Er vermochte dann kaum auszureden, eilte nach Hause, schloß sich in sein Zimmer ein, las und studierte, als enthielten die Schriften die Verkündigung alles Heils. Oder er fuhr nachts aus dem Schlafe empor, wie von einem Alp gedrückt, zündete Licht an und saß, gleich einem Geizhals bei seinen Schätzen, die Nacht hindurch über die fahlen Blatter gebeugt, welche die unverletzlichen Rechte und ewigen Freiheiten der Bauern von Piatra verbrieften. Er untersuchte die Urkunden, bis sein Gesicht immer bleicher und verstörter wurde, nicht anders, als entdeckte er, daß seine Schätze falsches Gold und Silber wären und, was er für Edelsteine gehalten, wertlose Scherben. Oft scheuchte ihn erst die aufgehende Sonne hinweg.

Mehr und mehr bemächtigte sich seiner Seele ein entsetzlicher Argwohn. Wie, wenn die Bauern von Piatra jenem Geizhalse glichen, der Schätze zu besitzen vermeinte und Scherben besaß? Wenn der Bischof recht hatte: wenn die ehrwürdigen Schriften verjährt, die geweihten Urkunden ungültig wären?! Wie, wenn die alten, heiligen Rechte und Freiheiten der Bauern von Piatra gar nicht mehr bestünden?!

Es glich dem Wahnsinn, was bei solchen Gedanken in dem Hirn Stefan Dozanas aufstieg, darin zuckte und wühlte, daß ihm oft war, als würde sein Kopf von Ameisen zernagt.

Noch hatte er keine Bestimmtheit erlangt, noch vermutete und beargwöhnte er nur. Und es erhöhte seine Qual, daß er, der unwissende Waldpriester, es wohl niemals mit voller Gewißheit würde ergründen können. Vielleicht täuschte er sich – vielleicht! Und da war niemand, dem er seine Zweifel und Qualen verraten durfte, niemand, den er in das Geheimnis zu ziehen wagte. Er mußte der Beichte gedenken und wie viele vor ihm ihre Seelen entlastet hatten – was für ein Trost mußte das jenen gewesen sein! Stefan Dozana ging umher, fast erdrückt von Qualen, die er keinem Priester verraten konnte. Auch durfte er keinem Sachverständigen die Schriften vorlegen, daß dieser sie prüfe und über ihre Gültigkeit entscheide. Beinahe mit Gewalt hatte der Bischof sie nehmen wollen, so daß Stefan Dozana das Eigentum der Bauern von Piatra beinahe mit Gewalt vor ihm und seinem Gefolge hatte schützen müssen. Und des Bischofs letzte Worte zu Stefan Dozana hatten die Drohung enthalten, zur Untersuchung dieser Papiere einen Sachverständigen und Rechtsgelehrten nach Piatra senden zu wollen. Wenn dieser nun eintraf? Und er konnte jeden Tag eintreffen! Jeden Morgen, wenn Stefan Dozana erwachte, dachte er: ob er heute wohl kommt? Und was dann? Was dann, wenn der sachverständige Mann die Papiere einsah, sie wertlos befand, solches dem Bischof und aller Welt bekannt machte, der Kirche und dem Reich? Wenn sie dann alle kamen, alle etwas von Piatra haben wollten; wenn dann die Bauern ohne ihre Rechte und Freiheiten dastünden – –

Was dann?

Dann die Unfreiheit!

So oft an seine Tür gepocht wurde, fuhr er zusammen und sah mit einem Blicke auf, als habe er einen Mord begangen und erwarte, die Häscher eintreten zu sehen. Heute dunkelte es bereits, als Stefan Dozana zusammenschreckte und gespannten Blickes auf die Türe sah: es hatte gepocht und Michael Cibula trat ein.

*

Mit den in Piatra üblichen Worten grüßte Michael Cibula den Priester, mit den üblichen Worten antwortete dieser. Dann ging er schweren Schrittes und setzte seinem Besucher einen Stuhl hin. Doch Michael Cibula blieb stehen. Ein schwüles Schweigen herrschte in dem dunklen Raume; schnell brach die Nacht herein.

»Ich komme,« begann endlich Michael Cibula, »weil zu den Häuptern der Gemeinde der Priester gehört, und weil ich heute bei allen gewesen bin in einer Sache, die die Gemeinde angeht.«

»Einer, auf dem die Acht liegt, ist kein Priester mehr. Du hättest nicht zu kommen brauchen.«

»Für mich ist der ein Priester, den ich dafür halte, und dich halte ich für einen Priester, trotz des Bischofs und seiner Acht, die auf mir nicht minder liegt.«

»Das ganze letzte Jahr, da ich noch Priester und ungeachtet war, und wo du mich hättest in der Kirche aufsuchen können, kamst du nicht,«

»Nein, da kam ich nicht,« wiederholte Michael Cibula langsam und schwerfällig. Er setzte hinzu: »Auch mein Weib kam da nicht. Und wärst du heute noch ungebannt und ihnen allen noch ein Priester, und könnte ich dich in der Kirche aufsuchen, so käme ich auch heute nicht zu dir – weder ich noch mein Weib! Denn während du im letzten Jahr allen noch als ein Priester galtest, warst du mir keiner mehr. Erst als du in unserer Halle allein standest und dich vom Bischof allein wolltest ächten und bannen lassen, um unserer Rechte und unserer Freiheiten willen, erst da galtest du mir wieder als Priester. Jetzt weißt du, wie es steht zwischen dir und mir; und jetzt will ich dir sagen, weshalb ich gekommen bin.«

Schwer aufatmend schwieg er.

Stefan Dozana stand und schaute unverwandt durch das Fenster. Er beobachtete, wie Wald und Berg mehr und mehr in Dunkelheit sanken, wie der Fliederbusch sich schwarz gegen die noch helle Luft abhob. Jetzt bewegte der Abendwind die Zweige.

Eine Magd kam mit Licht. Jählings wendete sich Stefan Dozana um, so daß der Lichtstrahl ihn blendete und er die Hand vor die Augen legen mußte. Heftig gebot er, das Licht wieder hinauszutragen.

Wie in einem Blitze hatte er Michael Cibulas Gesicht aufleuchten sehen; und auf einmal – zum erstenmal – erkannte er, wie schön und mächtig dieses Gesicht war. Erst als das Zimmer wieder dunkel geworden, nahm er die Hand von den Augen.

»Du wolltest mir sagen, weshalb du zu mir kamst.«

»Um dir zu sagen, daß du in Piatra fortan der einzige sein wirst.«

»Wie meinst du das?«

»Daß ich von Piatra fortgehe und daß du der einzige bist, der mit einer starken Stimme zum Mahnen hier bleibt.«

»Du gehst von Piatra fort?«

»Schon morgen.«

»Wohin gehst du?«

»In den schwarzen Grund – mit meinem ganzen Hause.«

Hätte er jetzt Stefan Dozana ins Gesicht sehen können! Aber Stefan Dozana hatte sich bereits wieder dem Fenster zugewendet. – – Was für ein Gesicht mochte er gemacht haben, da er plötzlich vernahm, daß Michael Cibula fortging. Um jetzt einen Augenblick in der Seele dieses Priesters lesen zu können, hätte Michael Cibula die Qualen des Fegefeuers um ein Jahrtausend länger erleiden mögen. Da er Stefan Dozana nicht ins Gesicht sehen konnte, wollte er wenigstens auf dessen Stimme lauschen. Wehe dem Weibe und wehe dem Priester, hätte ein einziger Ton in seiner Stimme die Prüfung vor Michael Cibula nicht bestanden!

Da sagte Stefan Dozana: »Ich weiß, warum du fortgehst.«

Michael Cibula mußte diese Stimme freisprechen – in jedem Ton! Nicht einmal erstickter Triumph bebte in ihr auf. Kein Triumph darüber, daß der siegreiche Feind ging und der Zurückbleibende Piatra für sich allein hatte.

»Ich weiß, warum du fortgehst,« wiederholte Stefan Dozana.

»Nun?«

»Da wir die Juden nicht vertreiben können, willst du versuchen, uns von hier zu vertreiben.«

»Das will ich.«

»Aber die Bauern von Piatra werden sich nicht vertreiben lassen.«

»So leicht nicht.«

»Wie willst du es anfangen?«

»Das laß meine Sache sein.«

»Deine Sache allein?«

Michael Cibula zauderte zu antworten; darauf meinte er bedächtig:

»Das käme darauf an.«

Eine Pause; dann Stefan Dozana leise, mit heiserem Flüstern: »Als ich damals in der Halle allein stand, da tratest du zu mir. Als alle mich verließen, da – –«

Er stockte; es schnürte ihm beinahe die Kehle zu.

Doch als hätte der andere gar nicht gesprochen, nahm Michael Cibula den Satz wieder auf:

»Das käme darauf an – ob es meine Sache allein sein soll. Es ist eine große Sache, die ich mit keinem teilen möchte. Es ist gewissermaßen eine heilige Sache. Ich weiß nicht, ob ich meinen eigenen Bruder daran teilnehmen lassen würde - - nur meinen Sohn. Aber mein Sohn ist ein Knabe. Die großen und heiligen Sachen, die er für die Himmelskönigin und für die Bauern von Piatra vollbringen soll, liegen noch weit in der Zukunft. Die Sache selbst aber muß ich allein tun. Du wirst auch darin wieder gegen mich sein; hast du doch die Juden zu uns gebracht, hast du doch Piatra eine neue Kirche gegeben.«

Die letzten Worte klangen dem Priester, als erhielte er einen Faustschlag ins Gesicht. Ein wütender Kampf tobte in seiner Brust. Michael Cibula hörte sein heftiges Atmen; er wartete eine Weile und fuhr fort:

»Ich gehe, du bleibst; weil ich gehe, frage ich dich: wie gedenkst du es fortan hier zu halten? Gedenkst du dem Bischof auch ferner das Recht zu versagen, das er sich angemaßt, den Bauern von Piatra Befehle zu erteilen; und gedenkst du unsere Freiheiten, trotz des Bannes und der Acht, die auf uns liegen, vor diesem Bischof und vor allen, die daran rühren, zu verteidigen; oder bist du Sinnes, dich bald zu ergeben? Da ich zu dir trat, fand ich dich mit finsterem Antlitz bei den Schriften, welche diese Rechte und Freiheiten der Bauern vor Gott und aller Welt beurkunden: gedenkst du sie den Bauern von Piatra aufrecht zu erhalten, mit aller deiner Kraft, in allem, was uns in jenen Schriften von den Vätern her zuerkannt worden? Darauf sollst du mir jetzt erwidern, als stünde ich vor dir in der Kirche und du sprächest zu mir über der Hostie.«

Und Stefan Dozana erwiderte: »Ich sage dir, als ob ich in der Kirche stünde und die Hostie zwischen uns hielte: trotz Bann und Acht gedenke ich dem Bischof zu widerstehen und gegen ihn alle unsere Rechte und Freiheiten zu schützen mit aller meiner Kraft! Ich gedenke, die Heiligkeit dieser Urkunden aufrecht zu erhalten vor Gott und vor aller Welt, als ob ich – Michael Cibula hieße.«

Die beiden Todfeinde standen in der Finsternis einander gegenüber; jeder suchte in des andern Mienen zu lesen, und beide fühlten, wie ihre Augen in einander ruhten.

Und Michael Cibula wußte, daß er würde in Frieden dahinziehen können – insofern es für einen Cibula Frieden gab – in Frieden mit seinem ganzen Hause im schwarzen Grunde für die Cibula ein neues Haus erbauen, in Frieden seinen Acker bestellen und seine Herde würde werden können, bis alles gediehen war zu der großen und heiligen Tat, die ganz Piatra den Frieden wiedergeben sollte.

Nachdem er Stefan Dozana mitgeteilt hatte, weshalb er zu ihm gekommen, hätte er wieder gehen können. Noch zauderte er noch. Denn da Stefan Dozana ihm jetzt wieder als Priester galt, hätte er ihm gern gebeichtet, ganz gleich, ob hier im Hause oder in der Kirche. Freilich, von seinem Weibe mußte er auch diesesmal schweigen; indessen etwas anderes lastete ihm schwer auf dem Herzen. So sagte er denn mit der Stimme und in dem Tonfall, die er sich angewöhnt hatte, im Beichtstuhl anzunehmen:

»Ich bekenne mich auch einer Sünde schuldig, die ich wie keine andere bereue.«

Gleichsam in der Erwartung, Stefan Dozana werde mit der üblichen Formel entgegnen, schwieg er. Da jener stumm blieb, bekannte Michael Cibula weiter:

»Als ich gestern heimkehrte, fand ich vor meinem Hause bei meiner Frau eine Jüdin mit ihrem Knaben: Dozia, des Rabbiners Jehuda Kolon Weib, mit dem Buben, den mein Sohn fast zu Tode gesteinigt. Und es ist dieses Judenweib die Tochter meiner Schwester Maria.«

Stefan Dozana entfuhr ein Ausruf des Staunens; sonst aber schwieg er. Nach einer Pause setzte Michael Cibula sein seltsames Bekenntnis fort.

»Sie kam, um mir Frieden zu bieten, ich jedoch hieß sie gehen und sprengte geweihtes Wasser über den Platz, auf dem die Jüdin gesessen, und war und bin noch voller Zorn gegen mich selbst. Denn als ich meiner Schwester Maria Tochter, die doch eine verfluchte Jüdin ist, von meinem Weibe und meinem Hause forttrieb, da dauerte mich plötzlich das stolze Weib. Und es ist dieses Mitleid die Sünde, die ich mir von allem, was ich bisher gesündigt habe, am wenigsten verzeihen kann.«

Und ohne für die schwer bereute Schuld von dem Priester, dem er sie gebeichtet hatte, Absolution zu verlangen, verließ Michael Cibula das Haus seines Feindes.


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