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XV.

Mose wollte nichts mehr mit mir gemein haben, kam nicht mehr auf die Gasse und hatte seiner Mutter, diesem ärmsten Weibe, das nur ein Geschöpf ihres Sohnes war, geboten, mich nicht zu ihm in die Kammer zu lassen. Damit er nicht den ganzen Tag in dem feuchten, stinkenden Loche sitzen sollte, versprach ich seiner Mutter, daß ich nicht eher wieder vor sein Haus kommen wollte, bis er mich rufen ließe, und bat sie, ihren Sohn tausend- und abertausendmal von mir zu grüßen. Darauf schied ich von der Frau.

Ich wußte, daß ich recht gethan. Denn hätte ich Mose durch seine Mutter sagen lassen: Sie ist die Tochter eines Christen, deshalb habe ich meinem Vater geloben müssen, von ihr zu lassen – so hätte ich nicht nur die Flammen seines Christenhasses mit Oel genährt, sondern auch sein Herz von Myrrha losgerissen, also sein Leben vernichtet. Ich aber war nun auch von Mose getrennt! In meiner Eltern Haus weilte ich wie ein Fremder, so gern ich darin ein Sohn gewesen, vielmehr wieder geworden wäre. Dabei bezeigten sich meine Eltern – besonders mein Vater – voller Sorge und Zärtlichkeit für mich, dabei war ich für Vater und Mutter voll inbrünstiger Liebe und Dankbarkeit. Aber in meinem Herzen war eine große Oede und Leere und lebte nur noch die Sehnsucht darin.

Der junge Christ – er hieß Bruder Eustachius – hatte unser Haus nicht wieder betreten.

Er kam indessen häufig in den Ghetto, sah er mich aber auf der Gasse, so wich er mir aus.

Da nun er nicht zu uns kam, ging ich zu ihm.

Nach wie vor sollten die Juden bekehrt werden, es wollte sich jedoch keiner bekehren lassen; also wurde jetzt jeden Sabbath in beiden Kirchen für die Ebräer christlicher Gottesdienst abgehalten und nach wie vor die Juden dazu gewaltsam in den Tempel getrieben. Ich ging jetzt einen jeden Sabbath hinein, freiwillig und heimlich.

Wie einstmals vor Aufgang der Sonne am Ghettothor, harrte ich jetzt beim Bogen der Oktavia an der Pforte des christlichen Tempels, dicht an die Mauer gedrückt, damit kein Jude mich sähe. Ward aufgethan, schlüpfte ich hinein und sogleich in einen dämmerigen Winkel hinter eine Säule. Von hier aus sah ich zu, wie die Juden herein kamen, die meisten gewaltsam getrieben. Und ich dachte:

»Warum kommen sie gar so unwillig? Sie vernehmen hier große, heilige Worte; denn sie vernehmen hier Verheißungen der Versöhnung, des Friedens und der Gnade; sie vernehmen hier von einem Gott der Liebe, der Güte und der Barmherzigkeit. Wo solche göttliche Dinge verkündigt werden, da ist ein geweihter Ort, ohne Unterschied, ob es ein christlicher oder ein jüdischer Tempel sei, wie es auch keinen Unterschied macht, ob darin von einem Christen gepredigt wird oder von einem Juden: ist es doch ein Evangelium, das der ganzen Menschheit gegeben worden!«

Und wiederum, wenn der junge Priester sprach, hingen meine Blicke an seinem begeisterten Munde, und wiederum schien er nur dazustehen, um allein für mich Zu reden: für meine Liebe, für meine Sehnsucht, für mein Leiden. Und ich gedachte jener Worte: daß der christliche Glaube keine Religion für die Glücklichen sei, wohl aber für die, welche in Elend und Jammer leben. Und als eines Tages der Priester mit mächtiger Stimme ausrief: »Alle, die ihr mühselig und beladen seid, kommt her zu mir, ich will euch erquicken« – siehe, da kam ich zu ihm. Wiederum waren nur er und ich im Gotteshaus, als ich zu ihm trat und ihm sagte:

»Ich bin mühselig und beladen – erquicke mich.«

Er erwiderte:

»Jüngling, Jüngling, also kommst Du doch zu mir?!«

Ich wiederholte:

»Da bin ich in meinem Unglück – tröste mich!«

Er meinte:

»Das kann nur Gott. Aber da Du gekommen bist, darf ich Dich nicht zurückweisen.«

Ich wollte ihm danken und zu ihm reden; doch er wies mich hastig ab:

»Nicht hier! Komm hinaus mit mir.«

Wir verließen zusammen die Kirche, wendeten uns der römischen Stadt zu, gingen über die Piazza Montanara und durch einen Thorbogen den Weg von Monte Caprino hinauf, welcher auf den capitolinischen Hügel führt. Droben nun, zu unserer Rechten, an der südlichen Seite der Höhe, daraus sich einstmals der Tempel des höchsten Gottes der alten Römer erhob, liegt auf dem wilden Abhang ein Gärtlein voll lieblich blühender Gebüsche, zur Frühlingszeit der Boden bedeckt mit Veilchen. Der Platz ringsum ist einsam und verlassen, nur von Lacerten und Nachtigallen bewohnt; hier nun setzte sich der junge Christ auf einen Säulenstumpf und hieß mir, mich bei ihm niederzusetzen. Ich scheute mich indessen. Denn uns zu Füßen sank der braune Felsen jäh in die Tiefe; also, daß mich ein Schwindel befiel. Aber Bruder Eustachius faßte meine Hand und zog mich zu sich hin.

Nach einer Weile, währenddessen wir auf den Gesang der Nachtigallen lauschten und über Rom hinweg in das leuchtende Land hinaussahen, sagte der Mönch:

»Es gibt in der christlichen Religion eine überaus wundersame und herrliche Sache, von welcher kein anderer Glaube wissen will und welche doch in jedem anderen Glauben sein könnte, ohne daß deswegen ein Jude weniger Jude, ein Muselman und Heide weniger Muselman und Heide sein würde. Und es ist diese Sache nichts anderes, als daß ein Mensch zum andern Menschen kommt und diesem sein Herz eröffnet und vor diesem sein Herz ausschüttet mit allem, was darinnen ist: mit allen seinen Gedanken, allen seinen Wünschen, allen seinen Sünden – mit allem seinem Leid. Der andere hört ihn an, und weil dieser andere in der Religion Christi ein Priester ist, so darf er den Leidenden trösten, den Bedrängten aufrichten, dem Schuldigen vergeben – im Namen seines Gottes! Und so – im Namen meines Gottes: sage auch Du mir alles, was Dich beschwert, und ich will alsdann sehen, ob ich Dich trösten darf, obgleich Du ein Jude bist.«

Nun hatte dieser Priester bereits eine solche Gewalt über meine Seele erlangt – durch den Willen Gottes – daß ich wohl die Sünde fühlte, die ich, der Jude, beging, wenn ich so andächtig auf ihn, den Christen, hörte, mich auch im Herzen gegen ihn zu wehren suchte, mich ihm indessen dennoch ergab. Also erwiderte ich:

»Gern öffne ich mein Herz, soweit ich kann, und gern lasse ich es mit Trost füllen, den ich für mich nirgends auf der Welt finde; denn alles in der Welt ist für mich Finsternis und Trübsal.«

Er wiederholte:

»Sage mir alles. Du hast dem Mädchen, das Du liebst, für alle Zeit entsagen müssen?«

»Ja – für alle Zeit.«

»Das kommt vor im Leben. Es gibt noch andere Gräber als die auf Kirchhöfen, wie es noch andere Tote gibt als die wirklich Gestorbenen. Nun hat die Welt für Dich nur noch eine Hoffnung.«

»Welche ist diese?« fragte ich flehend, als hielte der Christ die einzige Hoffnung für mich in seiner Hand und ich brauchte die meine nur darnach auszustrecken.

»Diese einzige Hoffnung für Dich ist der Glaube aller Entsagenden: das Christentum.«

Weh mir, meine Hoffnung war tot. Ich stöhnte laut auf.

»Für die Zeit hast Du Deiner Myrrha entsagt, aber für die Ewigkeit kannst Du ihrer teilhaftig werden.«

»Für die Ewigkeit?«

»Für die Ewigkeit könnt ihr beide, Du und sie, im Paradiese zusammen selig sein.«

»Wie kann das geschehen?«

Wiederum seine Antwort:

»Durch das Christentum.«

Wiederum als meine Antwort ein Stöhnen.

Bruder Eustachius fuhr fort:

»Du weißt, daß die Juden verdammt sind.«

»Ich weiß es. Ihr sagt es uns in jeder Predigt, und ich glaube Euch. Aber es ist furchtbar.«

»Alle Juden sind verdammt.«

»Ich sehe es; ich sehe es jeden Tag, jede Stunde. Sie sind verdammt, so lange sie atmen und leben – alle sind sie verdammt.«

»Sie werden es auch nach dem Tode sein, sie werden es in Ewigkeit sein.«

»In Ewigkeit alle verdammt –«

Ein Schauer lief durch mein Gebein. Der Priester sprach weiter:

»In Ewigkeit verdammt – Du, Dein Freund Mose, Dem Vater und Deine Mutter; in Ewigkeit verdammt Myrrha, in Ewigkeit verdammt alle Juden. Alle Juden verdammt zu ewiger Feuerqual, verdammt zu ewiger Verzweiflung –«

Und der Christ schilderte mir die Qualen der in Ewigkeit verdammten Juden, bis ich einen Schrei ausstieß und ohnmächtig an seine Schulter sank.

Nachdem ich mich erholt hatte, setzten wir daß Gespräch fort. Ich fragte:

»Und warum werden alle Juden in alle Ewigkeit verdammt?«

»Ihres Judentums willen.«

» Kann das sein?«

»Zweifelst Du?«

»Nein. Denn Ihr sagt es und Euch glaube ich.«

Und ich fühlte ein solches Mitleid mit dem Jammer der Menschen – der Juden – in mir, daß ich davon halb entgeistert ward. Und zugleich überkam mich ein solches Verlangen, zu retten, zu helfen, zu erlösen, eine solche Sehnsucht nach einem Opfer meines ganzen Selbstes, daß ich nicht wußte, wie mir geschah. Ewige Qualen in Höllengluten mußten die Juden leiden, eben weil sie Juden waren. Ich dachte nicht an mich, sondern an die, welche ich mehr liebte als mich: an Mose, an meine Eltern, an Myrrha. Ich dachte an alle Juden! Und ich empfand plötzlich eine Liebe zu meinem in Ewigkeit verdammten Volke, wie ich sie vorher niemals empfunden, fast so gewaltig, als hieße ich Mose.

Aber der Herr erleuchtete mich, also daß ich zugleich begriff und erkannte, welche furchtbare ewige Sünde die Juden auf sich geladen, indem Juden das süße Gotteslamm geschlachtet hatten. Und ich dachte daran, wie sie über die ganze Erde zerstreut lebten, unstät und flüchtig, als Knechte der siegreichen Kirche Christi. Ich dachte daran, daß das die Vergeltung sei. Ich dachte ferner an alle die wilden Reden Moses von den Qualen, welchen die Juden anheimgefallen seit bald zwei Jahrtausenden. Aber es sollte daran nicht genug sein; denn die Qualen der Juden sollten währen in alle Ewigkeit.

Und meine Liebe, mein Mitleid, meine Sehnsucht wuchsen riesengroß.

»Sage mir,« begann der Mönch von neuem, »sage mir: wenn Deine Myrrha, von der Du im Leben getrennt bist, einstmals aus dem Leben scheidet, so ist sie tot und sie bleibt tot – denn es gibt für euch Juden nichts anderes. Deine Myrrha stirbt, wird begraben, Würmer fressen ihren Leib, gänzliche Verwesung zerstört sie, sie wird Staub zu Staube. Nichts bleibt übrig von Deiner Myrrha! Nichts von ihrer lieblichen Gestalt, nichts von ihrer süßen Stimme, nichts von ihrer zärtlichen Seele. – Du hörst mich?«

Ob ich ihn hörte! Jedes seiner Worte grub sich in mein Inneres. Was war mir bis dahin der Tod gewesen? Aber nun – nun! Myrrha tot, Myrrha verwesend, Myrrha ein ekler Leichnam und dann –

Ich hörte den Christen weiter reden.

»Und Du bist von Myrrha getrennt. O Du Unseliger! Nichts kann Dich mit Myrrha mehr vereinigen.«

»Nichts –«

»Selig wir Christen! Muß ein Christ von dem Weibe seiner Liebe in diesem Leben lassen, so findet er es in jenem Leben wieder. Und jenes Leben währt die Ewigkeit. In Ewigkeit sind die beiden vereinigt! Denn es ersteht des Christen toter Leib vom Tode. Verklärten Leibes, seligen Geistes lebt nach dem Tode der Christ mit seinen Geliebten. O ihr Armen, ihr Unseligen, ihr – ich rede in der Sprache eures Glaubens – ihr Verdammten!«

Gott, wie ward mir! Der Jude lebt und leidet und stirbt und ist verdammt – verdammt zum ewigen Tode. Der Christ lebt und leidet und stirbt und steht auf vom Tode und findet die ewige Seligkeit.

Die ewige Seligkeit mit seinen Geliebten – –

Ich könnte mit Myrrha die ewige Seligkeit gewinnen, wenn ich – kein Jude wäre. Aber auch darauf wollte ich verzichten, ewig wollte ich auf Myrrha verzichten, wenn nur sie nicht auf ewig verdammt würde.

Und meine Eltern – und Mose – –

Alle Juden – –

Mit aufgehobenen Händen rief ich den Christen an, als schrie ich zu Gott empor:

»Rette sie!«

Er antwortete:

»Das kann ich nicht, denn ich bin kein Jude.«

»Also ein Jude kann sie retten?«

»Ein Jude kann ihnen helfen.«

»Kann ich es?«

»Du.«

»Wie, wie?«

»Werde Christ.«

»Alsdann würde ich mir selbst helfen, würde ich mich selbst retten! Alsdann würde ich allein selig werden – selig in alle Ewigkeit; indessen sie verdammt bleiben – verdammt in alle Ewigkeit.«

»Werde ein Mönch, werde, was ich bin – ein Priester.«

»Bleiben sie alsdann nicht in Ewigkeit verdammt, werden sie alsdann mit mir selig?«

»Du kannst sie als Priester von der Verdammnis losbitten von Gott. Als seinen Diener hört er Dich. Und bist Du sein getreuer, sein eifriger, sein gehorsamer Diener, so erhört er Dich. Denn es ist Gott die Liebe, die Gnade und die Barmherzigkeit.«

Da war das Wunder meiner Bekehrung an mir vollbracht.

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