Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

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14

Miß Revelstoke öffnete gewöhnlich den Briefkasten an der Haustür selbst, um ihre eigene Korrespondenz auszusuchen. Beim Frühstück reichte sie Nora ein eingeschriebenes Päckchen über den Tisch hinüber.

»Für mich?« fragte das junge Mädchen erstaunt.

»Der Adresse nach wenigstens«, entgegnete die ältere Dame, die am Morgen gewöhnlich etwas kurz angebunden war. »Haben Sie am Ende Geburtstag?«

»Nein.«

Nora öffnete das kleine Paket und nahm ein Lederetui von winzigen Abmessungen heraus.

»Ein Ring?« fragte Miß Revelstoke, die interessiert zugesehen hatte.

Nora betrachtete das Schmuckstück in höchster Verwunderung. Sie hatte noch nie einen so großen Brillanten gesehen wie den in diesem Goldreif.

»Das muß ein Irrtum sein«, erklärte sie und faltete den kleinen Bogen auseinander, der dabeilag.

Es standen nur ein paar Worte in Maschinenschrift darauf:

»In Verehrung von einem Freund«.

Miß Revelstoke nahm den Ring und betrachtete ihn aufmerksam. Sie kannte den Wert von Juwelen sehr gut.

»Ein Diamant von bläulicher Färbung – er ist mindestens dreihundertfünfzig Pfund wert. Aber Nora, wer ist denn dieser unbekannte Verehrer?«

»Ich bin sicher, daß der Ring nicht für mich bestimmt ist.«

Aber die Adresse war richtig. Das Päckchen trug den Stempel eines Postamtes im Westen.

»Wirklich ein merkwürdiger Mensch!« sagte Miß Revelstoke ein wenig belustigt.

»Wissen Sie denn, wer es ist?« fragte Nora betroffen.

»Monkford – wer denn sonst? Der Mann ist so leicht entflammt wie ein Jüngling von zwanzig Jahren. Ich kenne das bei ihm.«

»Aber das ist unmöglich! Ich habe ihn doch kaum gesehen!«

»Dann kommt der Ring von Mr. Henry«, erklärte die alte Dame entschieden und bestrich eine Toastschnitte mit Butter. »Ich werde die beiden einmal anläuten und hören, wer ihn geschickt hat.«

»Ach, bitte, tun Sie das nicht«, rief Nora erschreckt. »Das wäre mir sehr peinlich. Wenn ich wüßte, daß Mr. Monkford –«

»Würden Sie den Ring dann zurückschicken? Das wäre sehr töricht von Ihnen«, entgegnete Miß Revelstoke ruhig. »Während meines langen Lebens bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß eine Frau von einem Verehrer alles annehmen sollte, was er ihr geben will. Wenn man älter ist, erhält man nicht mehr derartige Geschenke. Könnte übrigens nicht der Detektiv, den Sie kennenlernten, so aufmerksam gewesen sein?«

»Nein!« Nora fühlte, daß sie errötete, und ihre Verlegenheit wuchs. »Warum sollte denn gerade Mr. Long mir den Ring schicken? Polizeibeamte haben doch gewöhnlich kein Geld für derartig kostbare Geschenke.«

»Aber Mr. Long macht eine Ausnahme. Sein Vater ist ein Millionär.«

Nora schwieg. Sie glaubte keinen Augenblick, daß dieses wundervolle Schmuckstück von Wetter Long kommen könnte. Er war nicht der Mann, der sich ihr nach derartig kurzer Bekanntschaft so aufdringlich näherte. Sie betrachtete den Ring aufs neue und war etwas bestürzt.

»Was soll ich nur damit anfangen?«

»Behalten Sie ihn doch. Sie brauchen ihn ja nicht zu tragen. Legen Sie ihn solange beiseite, bis Sie sich an seinen Besitz gewöhnt haben. Er ist immerhin dreihundertfünfzig Pfund wert, und das sind dreihundertfünfzig stichhaltige Gründe, weswegen Sie ihn nicht zurückgeben sollten, selbst wenn Sie wüßten, von wem er stammt. Es ist doch eigentlich ganz gut, daß Sie den Absender nicht kennen.«

Nora ging später aus, um Einkäufe zu machen. Als sie zurückkehrte, fand sie den jungen Rechtsanwalt im Wohnzimmer.

»Henry hat Ihnen den Ring nicht geschickt«, erklärte Miß Revelstoke, als sie das junge Mädchen begrüßte.

»Hatten Sie etwa Geburtstag?« fragte Mr. Henry etwas verlegen.

»Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte die alte Dame. »Ich bin fest davon überzeugt, daß der Ring von Monkford kommt.«

»Aber er kennt mich doch gar nicht!« protestierte Nora.

»Er ist ein Idealist«, entgegnete Miß Revelstoke so bestimmt, daß Nora nichts mehr darauf erwiderte. »Telephonieren Sie jetzt einmal nach Heartsease und fragen Sie Cravel, ob ich für Mittwoch noch ein Extrazimmer haben kann. Henry kommt auch dorthin.«

Nora ging zur Bibliothek und führte den Auftrag aus.

Als das erledigt war, stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und nahm das kleine Lederkästchen mit sich. Sie betrachtete den Ring wieder, und sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie sich nicht sehr über das Geschenk gefreut hätte. Sie hätte allerdings gern mit Long über die Sache gesprochen. Sicher hätte er einen Ausweg gewußt. Aber am Ende würde er ihr auch den sehr materiellen Rat geben, das Schmuckstück einfach anzunehmen.

Am Abend speiste Miß Revelstoke auswärts, und Nora saß allein im Eßzimmer. Sie war gerade fertig und las in der Abendzeitung, als das Mädchen hereinkam.

»Würden Sie Mr. Long empfangen?«

Nora erhob sich und errötete leicht.

»Ja – bitte, führen Sie ihn ins Wohnzimmer.«

Als sie hinüberging, betrachtete der Wetter gerade ein großes Ölgemälde über dem Kamin, das ein hübsches Mädchen darstellte.

»Hallo, wer ist denn das? Wahrscheinlich Miß Revelstoke? Damals muß ihr Leben sehr rosig und heiter gewesen sein.«

Nora starrte auf das Bild, und es kam ihr zum erstenmal zum Bewußtsein, wessen Porträt es war.

»Hoffentlich hat sie nichts dagegen, daß ich Sie besuche? Ist sie zu Hause?«

»Nein, sie ist ausgegangen.«

»Ich dachte es mir. Ich traf ihren Wagen in Piccadilly. Gehen Sie eigentlich oft ins Theater, Miß Sanders?«

»Nicht zu häufig«, entgegnete sie schnell. »Natürlich, wenn Miß Revelstoke ausgegangen ist –«

»Ich lade Sie nicht ein«, erwiderte er ruhig und blinzelte verschmitzt mit den Augen. »Ich wollte nur wissen, ob Sie öfter abends spät in der Gegend von Berkeley Square spazierengehen. Aber ich sehe schon an Ihrer jungfräulichen Entrüstung, daß das nicht der Fall ist.«

Sie mußte lachen.

»Meine jungfräuliche Entrüstung nehmen Sie allerdings nur an. Aber ich kenne die Gegend kaum und bin dort noch nicht spazierengegangen.«

»Aber nächste Woche gehen Sie nach Heartsease. Sind Sie eigentlich eine Golfspielerin?«

»Ja, aber ich würde mich schämen, mich unter all den guten Spielern in Heartsease sehen zu lassen. Nein, ich begleite nur Miß Revelstoke. Warum fragen Sie eigentlich danach? Gibt es etwas Neues von der Bande des Schreckens?«

Er seufzte.

»Ich hoffte, Sie hätten alles vergessen, was ich Ihnen darüber erzählt habe. Ich bin leider viel zu mitteilsam, und das ist nicht gut. Ich weiß auch gar nicht, warum ich Ihnen solche Gedanken in den Kopf gesetzt habe.«

Er wandte sich wieder um und sah auf das Bild von Miß Revelstoke.

»Eine wirklich hübsche Erscheinung. Ich wundere mich nur, daß sie nicht geheiratet hat.«

Nora überlegte, ob sie ihm von dem Ring erzählen sollte. Vorher hatte sie die Gelegenheit herbeigesehnt, aber jetzt kamen ihr wieder Zweifel. Ob er ihn nicht doch selbst geschickt hatte?

»Senden Sie eigentlich Geschenke an andere Leute?« fragte sie, indem sie ihren ganzen Mut zusammennahm.

Erstaunt hob er die Augenbrauen.

»Nein. Diese Angewohnheit habe ich im allgemeinen nicht, weil ich das für eine Verschwendung von Zeit und Geld halte. Meinen Sie Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten? Nein. Gewöhnlich können die Leute nicht brauchen, was man ihnen schenkt. Wer hat Ihnen denn etwas geschickt?« forschte er und runzelte die Stirne leicht.

»Niemand.« Sie fühlte, daß das eine kindische Antwort war.

»Zeigen Sie es mir doch, bitte.«

»Aber warum denn?« fragte sie und erkannte zu spät, daß das bereits ein halbes Zugeständnis war.

»Ich interessiere mich sehr für Geschenke, besonders wenn sie jungen Damen geschickt werden, die ich schätze.«

Nach einem kurzen Zögern ging sie in ihr Zimmer. Sie sagte sich selbst, daß ihre Nachgiebigkeit Schwäche war, und daß sie sich von einem Mann beherrschen ließ, der ihr doch vollkommen fremd war. Aber als sie zurückkam, hatte sie bereits die Feder des Kästchens gedrückt, und der Deckel sprang auf. Er nahm das Schmuckstück in die Hand und ging damit zum Fenster.

»Wer hat Ihnen das geschenkt?«

»Ich weiß es nicht. Es kam heute morgen als eingeschriebenes Päckchen. Miß Revelstoke dachte, daß es mir jemand geschickt haben müßte, der mich sehr gern hätte.«

»Hat sie eine Andeutung gemacht, wer dieser Mann sein könnte?«

Wieder zögerte sie.

»Sie dachte, es wäre einer ihrer Bekannten, ein Herr, den ich kaum kenne.«

»Mr. Monkford?«

Sie errötete.

»Wir wollen uns nicht den Kopf darüber zerbrechen. Ich möchte es nur gern wissen, damit ich den Ring sofort zurückschicken könnte.«

Er betrachtete ihn nochmals eingehend.

»Haben Sie ihn schon angehabt?«

»Nein«, entgegnete sie erstaunt.

Er nahm ihre Hand und streifte ihn über ihren Finger.

»Er ist ursprünglich für eine größere Hand angefertigt und später verkleinert worden. Sehen Sie, auf Ihren Ringfinger paßt er. Ich möchte nur wissen, woher der unbekannte Geber Ihre Ringgröße kannte.«

»Meinen Sie Monkford?«

»Nein. Monkford hat Ihnen den Ring nicht geschickt. Wenigstens glaube ich das nicht. Er ist ein merkwürdiger Mann. Selbst ein Detektiv, der ihn längere Zeit beobachtet hat, kann sich nicht rühmen, seine Herzensgeheimnisse ausgekundschaftet zu haben.«

Er überlegte angestrengt.

»Wissen Sie eigentlich, wo Ihr Zimmer in ›Little Heartsease‹ liegt?«

»Nein«, erwiderte sie verwundert. »Aber Miß Revelstoke nimmt gewöhnlich eins der besten Appartements.«

»Ich hätte mich darum kümmern sollen«, meinte er nachdenklich. »Aber ich habe ja noch genug Zeit dazu. Wer begleitet außer Ihnen Miß Revelstoke noch dorthin?«

»Niemand – doch, Mr. Henry, ihr Rechtsanwalt, kommt auch für einen Tag.«

»Ist Crayley eigentlich ein Freund von ihr?«

Sie runzelte die Stirne.

»Ja. Geht er auch hin?«

»Er kommt zur Golfwoche, und ich bin auch dort. Ich wünschte nur – nein, ich wünschte es nicht. Es wird harte Arbeit geben und viel Aufregung.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und zu Noras Verwunderung trat Miß Revelstoke ins Zimmer. Sie lächelte ihr zu, und ihre Blicke ruhten einen Augenblick auf dem Ring, den Nora noch in der Hand hielt. Dann sah sie den Detektiv an.

»Ach, das ist Mr. Long? Sind Sie etwa der Schuldige? Hat er Ihnen gestanden, daß er Ihnen den Ring geschickt hat?«

Nora wollte gerade antworten, als der Wetter zu ihrem größten Erstaunen nickte.

»Ja, Miß Revelstoke, ich habe eben mein Gewissen durch eine Beichte erleichtert. Der Ring war lange Zeit im Besitz unserer Familie – mein Onkel kaufte ihn in Kopenhagen im Jahr 1862!«

Miß Revelstokes dunkle Augen blickten ruhig und fest, aber ihr Gesicht wurde plötzlich grau und alt.


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