Edgar Wallace
Die Bande des Schreckens
Edgar Wallace

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32

Der Wetter nickte.

»Führen Sie die Dame herein.«

Gleich darauf trat sie ins Zimmer, wie immer elegant gekleidet. Aber ihr Gesicht hatte sich vollkommen verändert. Sie war nicht mehr die heitere junge Dame, die er das letztemal in Heartsease gesehen hatte. Ihre Züge waren hart und verbittert, und sie sah aus, als ob sie in der letzten Zeit wenig geschlafen hätte. Schweigend starrte sie ihn an, bis der Diener gegangen war.

»Nein, ich danke. Ich möchte mich nicht setzen«, erwiderte sie auf seine Einladung. »Schätzen Sie Ihr Leben?« fragte sie dann unvermittelt.

»Sehr.«

»Crayley liebte das Leben auch.«

Ihr Benehmen war so seltsam, daß er glaubte, sie hätte sich dem Alkohol ergeben oder vielleicht ein Rauschgift genommen.

»Jackson Crayley liebte das Leben, obwohl Sie ihn für einen Trottel hielten. Sie glaubten, der Rosengarten und seine Blumen interessierten ihn nicht, aber ich sage Ihnen, daß er sich an den Farben berauschte, und daß der Duft der Blumen ihm das Dasein schön und begehrenswert machte. Jackson umgab sich mit kostbaren und schönen Dingen. Und jetzt ist er tot – tot.« Sie bedeckte die Augen mit der Hand und schwankte einen Augenblick. Er fürchtete, sie würde umsinken, und rückte einen Stuhl für sie zurecht.

»Nein, ich will stehen«, sagte sie ungeduldig. »Ich will Ihnen auch noch etwas anderes sagen – ich hasse Sie!« Sie sprach ganz leise.

Er zweifelte nicht an ihren Worten, denn Haß sprühte aus ihren Augen, und Haß sprach aus ihren verbissenen Zügen.

»Ich hasse Sie«, wiederholte sie. »Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie hasse. Aber ich will nicht, daß Sie sterben – können Sie das verstehen? Ich will nicht, daß Sie umkommen!«

Bei den letzten Worten schlug sie mit der Hand auf den Tisch.

»Sie sollen leben! Oh, ich bin es satt, all dies viele Blutvergießen!« Sie streckte die Arme aus, und er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Aber sie beherrschte sich. »Eigentlich sollte es mir ja gleichgültig sein, ob Sie sterben oder nicht, aber ich mag keine Leichen mehr sehen.«

Sie schaute ihn durchdringend an.

»Wollen Sie sich nicht mehr mit dem Fall beschäftigen und die anderen in Ruhe lassen?«

»Aber warum denn? Selbst wenn ich mich von der Bearbeitung des Falles zurückzöge, wie könnte ich ihrer Rache entgehen?«

»Reisen Sie ein paar Monate ins Ausland – zwei Monate – ein Monat genügt.«

Sie sprach sehr erregt und atmete schnell. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Wangen und Lippen waren bleich.

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen«, fuhr sie atemlos fort. »Neulich wären Sie beinahe ermordet worden. Ich wurde mit anderen ausgeschickt, um Sie daran zu hindern, eine Schußwaffe zu ziehen. Erinnern Sie sich an den Abend? Ich habe Ihnen nachher vorgelogen, daß man mich entführen wollte. Sie haben ja gleich gesehen, daß ich nicht die Wahrheit sagte. Ich wußte es in dem Augenblick, als Sie mich fragten, in welchem Theater ich gewesen wäre. Aber es ist mir gleich, was Sie jetzt mit mir machen. Ich wünschte nur, daß Sie mich ins Gefängnis steckten und mich so lange dort behielten, bis alles – alles vorüber ist. Ich habe Ihnen doch nun genug erzählt – haben Sie es nicht gehört? Ich war an dem Mordanschlag auf Sie beteiligt!«

»Wer war denn der Mann, der auf mich geschossen hat?«

Sie warf den Kopf ungeduldig zurück.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen – Sie wissen selbst, daß ich Ihnen das nicht sagen werde. Aber ich war an dem Plan beteiligt – genügt das nicht? Können Sie mich nicht verhaften? Deshalb bin ich hergekommen! Und ich wollte Sie warnen.«

»Wer war der Mann, der auf mich geschossen hat?« fragte er noch einmal.

»Was kommt es denn darauf an? Glauben Sie wirklich auch nur einen Augenblick, daß ich es Ihnen sagen würde?«

»War es Ihr Bruder?«

»Nein, mein Bruder war an dem Abend in Little Heartsease. Das ist Ihnen gut genug bekannt, denn Sie haben sich genau darüber informiert. Am nächsten Tage sind Sie ja hingefahren, um ihn zu sprechen. Und Sie haben durch einen Ihrer Leute die Dienerschaft und die Kellner verhören lassen, und selbst die Gäste haben Sie ausgefragt!«

»War es Henry?«

»Nein«, sagte sie verächtlich. »Ich habe viel gewagt, als ich hierherkam. Warum betrachten Sie eigentlich dauernd meine Hände? Dreimal hätte ich Sie schon ermorden können, wenn ich gewollt hätte! Sie halten das natürlich für eine eitle Prahlerei, aber es ist die reine Wahrheit.«

In seinem Gesicht drückten sich Zweifel aus.

»Sie scheuen sich vor mir, weil ich eine Frau bin, und Sie würden zögern, auf mich zu feuern. Aber, selbst wenn ich ein Mann wäre, könnten Sie mich weder fassen noch erschießen.«

Sie hob plötzlich die Hand über den Kopf und schnalzte mit den Fingern. Grelles Licht blitzte auf, und er fuhr geblendet zurück. Als er die Augen wieder öffnete, konnte er nichts erkennen. Erst später sah er eine dicke, weiße Wolke, die sich an der Decke entlangzog.

»Magnesium«, sagte sie ruhig. »Ich hatte die Augen geschlossen, als ich es abbrannte, aber Sie hatten sie offen. Wie einen Hund hätte ich Sie niederschießen können, wenn ich gewollt hätte. Glauben Sie mir jetzt?«

Arnold atmete schwer.

»Ja, ich glaube Ihnen. Von dieser Seite habe ich Sie noch nicht kennen gelernt, Miß Cravel.«

»Sie kennen mich noch lange nicht«, erwiderte sie verächtlich. »Dreimal hat man einen Versuch gemacht, Sie zu ermorden, und dreimal ist es fehlgeschlagen. Aber schließlich müssen Sie doch noch daran glauben, Wetter Long.« Sie sah ihm fest ins Gesicht. »Ich bin heute gesprächig, und ich werde Ihnen noch etwas mitteilen. Ich fürchte mich davor, daß sie Sie ermorden, und ich fürchte mich davor, daß es ihnen mißlingt. Denn wenn sie diesmal keinen Erfolg haben, werden sie gefangen, und dann ist alles zu Ende. – Wollen Sie mich jetzt verhaften? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es täten. Ich bin nicht von Sinnen, Wetter Long. Aber es ist mir alles zuwider – es ist alles so entsetzlich!«

Er nahm den Brief aus der Tasche und reichte ihr das Blatt. Sie hatte kaum den Anfang gelesen, als sie ihn wieder zurückgab.

»Ich weiß alles. Gehen Sie hin?«

Er nickte.

»Am sechzehnten?«

Wieder nickte er.

»Was erwarten Sie denn dort?«

»Schwierigkeiten.«

»Ja, die Hölle wird Ihnen schon heiß gemacht werden«, sagte sie zwischen den Zähnen. »Sie wissen nicht, was in Heartsease auf Sie wartet.«

Die Warnung machte Eindruck auf ihn, aber er antwortete nicht. Er beobachtete sie, während sie den verräucherten Handschuh auszog und gegen einen anderen wechselte, den sie aus ihrer Handtasche nahm.

»Es läßt sich nichts mit Ihnen anfangen. Ich fürchtete es schon. Wo ist denn Miß Sanders?«

»In einem Krankenhaus.«

»Und Sie glauben, daß sie dort sicher ist?« fragte sie lächelnd.

»Ich sollte es wenigstens annehmen. Ein Detektiv bewacht die Vorderseite des Gebäudes, ein anderer die Rückseite.«

»Und sie holen Miß Sanders doch heraus, wenn sie wollen.«

»Wetten, daß nicht?«

»Die Wette verlieren Sie!«

Sie wollte noch etwas sagen, änderte aber ihre Meinung und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und wandte sich noch einmal um.

»Ihre Bande des Schreckens braucht Nora Sanders«, sagte sie, und ihre Lippen zuckten. »Braucht sie dringend! Den Grund ahnen Sie nicht.«

»Weil sie kein Geld mehr hat«, entgegnete er prompt.

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Die Bande hat keine Mittel mehr.«

»Glauben Sie?« fragte sie leise. »Nun, hüten Sie auf jeden Fall Miß Sanders.«

Er fühlte, daß diese Warnung aufrichtig gemeint war. Noch lange, nachdem Alice Cravel gegangen war, wanderte er in seinem Zimmer auf und ab.

Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und skizzierte den Plan des Krankenhauses. Er hatte die größten Anstrengungen gemacht, um eine nochmalige Entführung Noras zu verhindern. Von allen Seiten betrachtete er den Plan und überlegte jede Möglichkeit eines Angriffs. Das Ende der Bande des Schreckens stand bevor, aber die Leute würden sich nicht ohne Kampf ergeben.

Er ging zu dem Krankenhaus, um noch einmal mit der Vorsteherin zu sprechen. Sie war eine pflichteifrige, zuverlässige Frau und wies den Gedanken, daß Miß Sanders aus dem Hospital entführt werden könnte, weit von sich.

»Sie ist doch vollkommen sicher hier, besonders da das Haus von Detektiven bewacht wird.«

Als er neben der Vorsteherin in der Halle stand, hörte er ein Stöhnen von oben. Die Frau lächelte.

»Das ist eine Frau, die mit den Nerven zusammengebrochen ist. Sie wurde heute nachmittag eingeliefert. Sie ist hysterisch und glaubt, daß sie schwer krank sei. Wenn sie nur Ruhe geben wollte!«

»Stört sie denn die anderen Patienten nicht?«

»Heute abend kommt sie wieder fort. Ich habe dem Arzt, der sie behandelt, schon gesagt, daß ich sie nicht länger behalten kann. Der jungen Frau fehlt nicht mehr als mir und Ihnen. Sie kann ebenso gut gehen und laufen wie jeder andere Mensch, aber sie besteht darauf, daß sie getragen wird.«

Long kehrte beruhigt zu seiner Wohnung zurück, Trotzdem verachtete er Alices Warnung nicht. Sein Diener war ausgegangen, hatte aber eine kurze Notiz auf dem Tisch zurückgelassen.

»Bitte, rufen Sie Sergeant Rouch an.«

Der Wetter ging zu dem Telephon.

»Ich glaube, daß ich den Verbindungsmann zwischen der Bande und der Unterwelt gefunden habe«, erklärte Rouch. »Kann ich zu Ihnen kommen?«

»Ja, kommen Sie gleich«, erwiderte Long.

Eine Viertelstunde später stand der Sergeant vor ihm. Er hatte einen bleichen Mann mitgebracht, der als einer der besten Spitzel in London galt und in der Unterwelt bekannt war. Er bildete eine Ausnahme unter den Polizeispitzeln, denn es gelang ihm, sich unter den Verbrechern eine gewisse Achtung zu sichern.

»Sagen Sie jetzt dem Inspektor, was Sie mir vorher berichtet haben«, forderte ihn Rouch auf.

»Sie suchen nach dem Professor. Ich habe ihn oft in Bermondsey und Deptford gesehen. Er kennt alle großen Kanonen: Kallini, Jacobs und den Griechen Paul.«

»Wie sieht er denn aus?«

»Er ist nicht so groß wie Sie, aber doch größer als ich. Und ziemlich schlank. Trägt immer schwarzen Anzug und Künstlerkrawatte.«

»Wie alt?«

»Das weiß ich nicht. Er scheint aber schon ziemlich alt zu sein. Er hat lange, weiße Haare, und deshalb nennen sie ihn auch den Professor. Er trifft die Leute immer draußen im Freien. In Deptford erzählt man, daß er ein großer Hehler aus dem Westen ist. Aber ich habe niemals gehört, daß er irgend etwas von den Leuten gekauft hat, er hat sie immer nur zu Gewalttaten engagiert.«

»Wissen Sie nicht einen Platz, wo man ihn beobachten könnte?«

»Nein. Wenn er kommt, schickt er gewöhnlich vorher eine Botschaft an den Betreffenden und gibt darin den Ort der Zusammenkunft an. Und die Leute sagen darüber nichts. Wissen Sie, wen er vor langer Zeit engagiert hat? Den Ulanen-Harry! Den kannten Sie doch? Ein Farmer hat ihn seinerzeit aus Versehen auf dem Feld erschossen.«

Auf diese Weise war der Tod des Ulanen-Harry in der Öffentlichkeit erklärt worden.

Der Wetter gab dem Mann den Auftrag, Scotland Yard sofort zu benachrichtigen, wenn sich der Professor irgendwo sehen ließe, oder wenn man erwartete, daß er auftauchen würde. Zum erstenmal, seitdem ihn der Schatten Clay Sheltons bedrohte, fühlte er sich bedrückt, denn die volle Energie und Tätigkeit der Bande des Schreckens richtete sich jetzt gegen Nora Sanders.

Er war müde und erschöpft. Wenigstens eine Nacht mußte er sich Ruhe gönnen. Das hatte er verdient. Er grinste, als er sich entkleidete und dann ins Badezimmer ging.

Das Rauschen des Wassers übertönte das Klingeln des Telephons, und er hörte es erst, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, um seine Pantoffeln anzuziehen. Schnell nahm er den Hörer ab.

Er glaubte, daß Sergeant Rouch ihn vielleicht noch einmal sprechen wollte, aber er erkannte Alice Cravels Summe, obwohl sie verstellt klang.

»Sind Sie am Apparat, Mr. Long? Holen Sie Nora Sanders sofort aus dem Krankenhaus. Gefahr im Verzug!«

»Warum?«

»Halten Sie sich nicht länger auf. Sie haben höchstens noch eine halbe Stunde Zeit. Wenn Sie bei Verstand sind, tun Sie, was ich Ihnen sage.«

»Aber –«, begann er, als sie das Gespräch durch Einhängen bereits beendete.


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