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Ein paar Minuten später ging Mr. Cravel langsam die Treppe hinunter und trat zu Sergeant Rouch, der vor der Eingangshalle Posten gefaßt hatte und mißvergnügt in den strömenden Regen schaute.
»Inspektor Long bleibt zum Frühstück«, sagte er.
»So?« erwiderte der Detektiv unfreundlich. »Soll ich nach oben kommen?«
»Noch nicht. Er sieht einige Papiere durch. Wahrscheinlich will er mir daraus irgendein Verbrechen nachweisen.«
Rouch antwortete nicht. Er streifte den Hotelbesitzer nur mit einem kühlen Blick.
Cravel ging zu seinem Büro. Kurz darauf hörte Rouch, daß er wieder herauskam und abschloß. Er sah sich aber nicht nach ihm um, und das war sein Fehler.
Der Schlag, der ihn auf den Hinterkopf traf, hätte jeden gewöhnlichen Menschen sofort getötet, aber der Sergeant trug einen festen, steifen Hut und fiel nur in die Knie. Wieder erhob Cravel den Gummiknüppel und ließ ihn niedersausen. Dann bückte er sich und hob den Mann auf. Er trug ihn zu dem Polizeiauto, legte ihn hinein und warf eine Decke über ihn. Aus seinem Büro holte er ein leichtes Motorrad und befestigte es seitlich auf dem Trittbrett des Wagens. Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr ab.
Eine Viertelstunde später hatte er Egham hinter sich, wandte sich plötzlich nach Runnymede und folgte der Straße nach Windsor, die parallel mit dem Fluß läuft. An einer Stelle, wo das Ufer steil zum Wasser abfällt, hielt er an und band das Motorrad los. Dann drehte er das Steuer des Autos zum Wasser und ließ den Motor an. Der Wagen stürzte den Abhang hinunter und fiel ins Wasser.
Cravel sah nach der Uhr. Es war halb sechs. Er bestieg das Motorrad und fuhr nach Heartsease zurück.
Der alte Mann und Nora waren aus dem Zimmer verschwunden, in dem der Wetter abgestürzt war. Aber als sich Cravel umsah, bemerkte er die Browningpistole, die Long hatte fallen lassen. Er steckte sie in die Tasche, rollte den Teppich auf und trug ihn in den Salon. Bettücher und Bezüge waren bereits von dem Bett abgenommen. Er schaute sich noch einmal mit einem prüfenden Blick um und ging dann nach unten.
Er hatte noch viel zu tun. Von seinem Büro führte eine schmale Treppe in den Keller hinunter. Erst vor wenigen Tagen hatte er den Wein von dort fortschaffen lassen. Er trug eine Lampe in der einen Hand, in der anderen den Gummiknüppel, als er die Stufen hinunterstieg und den langen, mit Ziegelsteinen belegten Kellergang entlangging. Schließlich kam er an die Stelle, die direkt unter dem viereckigen Loch in der Decke lag. Die Bauhandwerker hatten es durch mehrere Stockwerke geschlagen. Er leuchtete mit der Lampe nach allen Seiten, fand aber Inspektor Long nicht. Seiner Meinung nach mußte er sich bei dem Fall das Genick gebrochen haben und tot hier unten auf dem Boden liegen.
Der Wetter war verschwunden, ja, er schien überhaupt nicht hier unten gelegen zu haben. Trotzdem Cravel eifrig suchte, fand er keine Blutspuren. Er fluchte. Es war doch unmöglich, daß der Detektiv mit heiler Haut davongekommen war! Vielleicht hatten ihn die anderen fortgeschafft. Noch einmal durchsuchte er den Keller, öffnete die Tür eines inneren Raums und sah sich auch dort um.
Wenn der Wetter noch lebte . . .
Noch nie in seinem Leben hatte sich Cravel gefürchtet, aber jetzt packte ihn das Grausen. Er verschloß die Tür seines Büros, als er wieder nach oben kam, goß sich ein Glas Brandy ein und trank es mit einem Zug leer.
Dann stieg er die Treppe zum zweiten Stock hinauf, ging an das Ende des Korridors und steckte den Schlüssel in eine kaum sichtbare Öffnung des Paneels. Die mit Holz verkleidete Stahltür öffnete sich. Dahinter lag eine Reihe von Räumen, die nicht auf der Liste der Gästezimmer geführt wurde, und zwar zwei Zimmer, ein Baderaum und eine kleine Küche. Hier wohnte Cravel, wenn das Hotel im Winter geschlossen war. Er schloß die Stahltür hinter sich zu und trat in das kleinere der beiden Zimmer, wo Miß Sanders wie tot auf dem Bett lag.
Er nahm den nackten Arm und betrachtete prüfend die drei Einstiche. Den letzten hatte er erst vor kurzem gemacht. Auf dem Tisch neben dem Bett stand eine kleine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit und eine Spritze. Er hob ihr Augenlid mit seinen Fingerspitzen und sah, daß sie nicht zusammenzuckte, auch sonst gegen das Licht unempfindlich schien. Befriedigt wandte er sich wieder um und ging in den anderen Raum. Hier war niemand zu sehen, aber auf dem Tisch lag eine Mitteilung für ihn. Er las die Nachricht und verbrannte den Zettel dann im offenen Kaminfeuer.
Wo mochte nur der Wetter sein? Das war die wichtigste Frage. Auf dem Zettel stand nichts von ihm. Er nahm Longs Browningpistole aus der Tasche, untersuchte sie vorsichtig und legte sie auf den Tisch. Allein der Anblick der Waffe machte ihn jetzt schon nervös. Er setzte sich auf die Tischkante, kreuzte die Arme über der Brust und sah düster zum Fenster hinaus. Vielleicht hatten sie den Wetter fortgeschafft, nachdem sie den Zettel geschrieben hatten. Die Nachforschungen nach den Polizeibeamten begannen jedenfalls erst später am Vormittag. Man würde das Auto und die Leiche des Sergeanten im Fluß finden und dann natürlich auch nach Inspektor Long suchen. Das würde wieder Zeit in Anspruch nehmen.
Plötzlich dachte er an Alice. Was mochte wohl aus ihr geworden sein? Warum war sie zu ihrer Wohnung zurückgekehrt, statt hierher zu kommen und ihm während der Krisis beizustehen? Ihr Verhalten machte ihn nachdenklich. Sie war früher hart und erbarmungslos gewesen wie alle anderen, hatte alle Gefahren auf sich genommen und sich vor nichts gefürchtet. Und gerade jetzt, da sie soviel hätte helfen können, schwenkte sie ab und wurde schwach.
Plötzlich hörte er eine Stimme von unten, öffnete schnell die Tür und eilte zu dem Treppengeländer, von wo aus er in die Halle hinuntersehen konnte. Unten stand seine Schwester, vollständig vom Regen durchnäßt.
»Komm herunter«, rief sie.
In wenigen Sekunden war er bei ihr.
»Wo warst du denn?«
Sie schnitt ihm das Wort mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.
»Wo ist Long?«
»Ich weiß es nicht. Er ist fortgegangen.«
Sie glaubte ihm nicht. Allein die Tatsache, daß sie keine weiteren Fragen an ihn richtete, bewies das.
»Auf der Chaussee nach Sunningdale habe ich einen Chauffeur getroffen –«
Cravel runzelte die Stirne.
»Sei, bitte, nicht geheimnisvoller, als es absolut notwendig ist. Was hat denn der Chauffeur mit mir zu tun?«
»Sehr viel. Er stand am Ende der Straße, die an unserem Park entlangführt und schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Ich sah, daß er unter den großen Ulmen geparkt hatte, und auf meine Frage erzählte er mir, daß er schon seit kurz nach Mitternacht dort wartet. Er hat jemand hierhergefahren.«
»Wen?«
»Das möchte ich selbst gern wissen. Ich gab ihm ein Trinkgeld, aber ich konnte nicht viel erfahren. Er sagte nur, sein Fahrgast wäre ein Herr mit grauen Haaren, der an der Ecke von Berkeley Square in seinen Wagen gestiegen sei. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß er mehr sagen könnte, wenn er nur wollte. Jedenfalls ist jemand hier im Haus, von dem du nichts weißt.«
Cravel sah sie verblüfft an.
»Unsinn! Es ist niemand hier außer –«
Sie wußte sofort, warum er zögerte.
»Dann ist sie doch hier? Du spielst mit dem Feuer, nimm dich in acht. Sieh zu, daß du von der Sache loskommst, so lange es noch Zeit ist. Es geht uns zwar nicht gut, aber du hast wenigstens die Möglichkeit davonzukommen. Willst du sie nicht in letzter Minute ausnützen?«
»Ja, wenn alles, was wir brauchen, in unserer Hand ist«, erwiderte er verächtlich. »Bin ich denn ein Narr, daß ich halbverrichteter Sache fliehen sollte? Nein, wir sind schon zu weit gegangen, und es bleibt uns nur übrig, bis zum Ende durchzuhalten.«
Sie sah ihn nachdenklich an, und er hatte das Gefühl, daß sie sich nicht länger für sein Schicksal interessierte.
»Ich bin ganz durchnäßt – ich muß mich umkleiden«, sagte sie plötzlich.
Ihre Zimmer lagen direkt unter denen ihres Bruders und glichen ihnen in allen Einzelheiten, nur war die Tür vollkommen sichtbar.
Während er auf sie wartete, ging er auf dem mit Marmorplatten belegten Vorplatz auf und ab. Zu seiner Überraschung trug sie über ihren trockenen Kleidern einen Gummimantel, als sie wieder erschien.
»Du gehst doch nicht wieder fort?«
»Ja, ich sagte dem Garagenbesitzer in Sunningdale, daß ich zurückkommen würde. Ich hatte eine Panne und habe meinen Wagen dort gelassen. Die Garage ist auch sehr brauchbar für uns. Sie liegt an der Hauptstraße und hat ein Telephon. Ich werde wahrscheinlich den ganzen Vormittag dort bleiben.«
Er lächelte.
»Was erwartest du denn noch?«
»Große Schwierigkeiten. Sind die anderen fort?«
Er nickte.
»Du hast die Nerven verloren, Alice. Wahrscheinlich ist dir Jackies Tod zu nahe gegangen. Aber es war ein unglücklicher Zufall. Er hat sich während des Kampfes selbst erschossen, ich schwöre es dir, Alice. Er war tot, als ich ihn das zweitemal aus dem Wasser holte. Daß wir ihn aufgehängt haben, war ja schrecklich. Aber du weißt, der Professor hat ihm die Sache von Colchester niemals verziehen – er hat ihn gehaßt bis zum Ende.«
Aber sie ließ sich nicht überzeugen. Sie hatte von Anfang an diese Geschichte nicht geglaubt.
»Jackie ist mit einer Browningpistole ermordet worden«, erwiderte sie kurz. »Und er selbst hatte doch nur einen alten Armeerevolver. In den Zeitungen stand übereinstimmend, daß ihn ein Browninggeschoß getötet hat. Aber darüber wollen wir uns jetzt nicht weiter unterhalten.«
Sie ging zur Tür und sah sich nach links und nach rechts um. Der Regen strömte dauernd nieder, aber darauf achtete sie nicht.
»Wenn der Mann nicht im Hause ist, dann verbirgt er sich sicher auf dem Grundstück. An deiner Stelle würde ich alles durchsuchen – nein, das würde ich auch nicht tun. Ich würde machen, daß ich so schnell wie möglich fortkäme.«
»Ja, aber ich denke anders als du«, entgegnete er gereizt.
Sie war auf einem Fahrrad, das sie in der Garage geliehen hatte, zu dem Hotel gekommen. Er sah ihr nach, bis sie außer Sicht kam, dann ging er wieder zu seinem Zimmer hinauf, zog einen Regenmantel an und steckte die Browningpistole des Wetters in die Tasche. Er warf noch einen Blick auf das bewußtlose Mädchen, schloß die Tür hinter sich zu und machte sich dann daran, das Grundstück abzusuchen.
In der nächsten Umgebung des Hauses fand er nichts.
Ein Teil des Rasens vor der Eingangshalle war aufgegraben worden, um das elektrische Kabel umzulegen, und in dem weichen Rasen bemerkte er Fußspuren. Er sah den Abdruck eines großen, breiten Schuhs, der mit einem Gummiabsatz versehen war.
Alice mußte also doch recht haben. Gleich darauf entdeckte er zwei weitere Fußspuren. Der Mann konnte nur von der Fahrstraße her gekommen sein.
Er steckte sich eine Zigarette an und blieb einen Augenblick stehen, um nachzudenken.
Wer mochte der Fremde sein, der in dem Wagen kam, und welche Absicht verfolgte er?
Schließlich ging er kurz entschlossen quer über den Rasen zu der Hauptstraße.
Er schaute sich nach allen Richtungen um und sah sofort den fremden Wagen. Der Chauffeur saß in philosophischer Ruhe auf dem Trittbrett und rauchte. Als er Schritte hörte, erhob er sich schnell, setzte sich aber gleich wieder.
»Ich dachte schon, Sie wären mein Fahrgast. Hoffentlich bleibt er nicht mehr allzu lange aus, denn ich muß den Wagen um acht meinem Tageskollegen übergeben.«
Er erzählte dann umständlich, daß das Auto ihm gehörte, und daß er einen anderen Chauffeur angestellt hatte, der es bei Tage fuhr.
»Ich fürchte, Ihr Fahrgast bleibt noch lange aus«, erwiderte Cravel. »Wollen Sie den Wagen nicht hereinbringen?«
Aber der Mann ließ sich nicht dazu überreden.
»Der Herr sagte, ich solle hier warten, und das tue ich auch. Wenn er mich nicht findet, verliere ich zehn Pfund.«
Cravel versuchte, den Chauffeur weiter auszufragen, aber er hatte kein Glück. Nur eine Bemerkung, die der Mann machte, erregte sein größtes Interesse.
»Ich hoffe, daß er mir nicht davonläuft. Es ist mir immer unangenehm, wenn ich einem anderen Wagen folgen muß – obendrein war es ein Fiat.«
Das war der Wagen, in dem der Professor gekommen war!
»Um wieviel Uhr haben Sie denn die Verfolgung aufgenommen?«
Der Chauffeur sagte es ihm. Er wußte auch genau, wann sie in Heartsease angekommen waren.
Cravel atmete schwer. Sie wurden also bereits überwacht! An diese Möglichkeit hatte er bisher noch nicht gedacht. Es war tatsächlich Gefahr im Verzuge.
Als er auf dem Rückweg wieder in die Nähe des aufgegrabenen Rasens kam, blitzte ihm aus dem Gras etwas entgegen. Er bückte sich und nahm die Hornbrille auf. Sie war naß vom Regen, aber lange konnte sie noch nicht dort gelegen haben.
Der Chauffeur hatte ihm erzählt, daß sein Fahrgast eine Hornbrille trug. Cravel ging sofort in sein kleines Büro, verschloß die Tür und stieg wieder in den Keller hinunter. Wenn nun dieser Unbekannte Long gerettet hatte? Dann mußten aber doch Fußspuren auf dem Boden zu sehen sein! Trotz eifrigen Suchens konnte er jedoch nichts finden. Verblüfft ging er wieder nach oben in sein Zimmer. Auf dem ersten Treppenpodest blieb er plötzlich stehen, denn er sah auf dem roten Läufer deutlich eine schmutzige Fußspur, die noch nicht vorhanden gewesen war, als er vor kurzem das Haus verlassen hatte.