Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Francis Sutton stellt eine Frage

London schläft nie. Von der Totenstille, die sich über die Welt breitet, von der schweigsamen Ruhe alles Lebendigen weiß London nichts.

Wenn sich das lärmende Getöse der schaffenden Arbeit längst gelegt hat, klingt das stoßweise Rumpeln der Straßenbahnen, das Schellen und Hupen noch weit in die Nacht hinein. Immer noch rattern verspätete Autodroschken durch die einsamen Straßen, poltern eilige Lastautos – aber dann tritt für einige Augenblicke tiefe Stille ein.

Wenige Minuten ruht das geräuschvolle Treiben, dann ertönt in der Ferne der schrille Pfiff einer Lokomotive und das Gerassel der Waggons. Irgendwo auf einem entfernten Rangierbahnhof mit seinen Lichtsignale gebenden und empfangenden Weichenstellern hat das Getriebe eines neuen Tages schon wieder begonnen.

Noch weit weg das Rattern eines fahrenden Wagens, dann, immer näher kommend, ein Marktwagen auf seinem Weg nach Covent Garden; gleichmäßige, feste Tritte – Schutzleute beginnen ihre gleichförmige Runde. Immer mehr Räder rollen durch die Straßen, der Lärm wird stärker und stärker, eine Turmuhr schlägt dazwischen, auf dem Pflaster eilige Schritte ...

Lambaire, der sich in seinem Bett hin- und herwarf, hörte das alles. Und noch mehr, es drangen Laute an sein Ohr, die ihren Ursprung nur in seiner Phantasie hatten. Tritte machten vor seiner Tür halt, Stimmen flüsterten erregt. Er hörte Stahl klirren, einen Schlüssel knarren, mit dem eine Handschelle geöffnet wurde. Zwischendurch verfiel er in Halbschlummer, um sich dann plötzlich wieder im Bett aufzurichten; der Schweiß drang ihm aus allen Poren, und sein Ohr horchte gespannt nach den Lauten, die ihn seine Einbildungskraft hören ließ. Die kleine Uhr auf dem Kaminsims tickte erbarmungslos »zehn Jahre, zehn Jahre«, bis er aus dem Bett schlüpfte und, nach dem fruchtlosen Versuch, die Uhr zum Stehen zu bringen, sie in ein Handtuch wickelte und außerdem in einen Schlafrock, um ihre ominöse Prophezeiung zum Schweigen zu bringen.

Die ganze Nacht über lag er wach und wälzte in seinem Kopfe Pläne, Projekte, Fluchtmöglichkeiten, wenn die Flucht nötig würde. Sein bandagierter Kopf hämmerte unaufhörlich, und doch überlegte er; er überlegte und überlegte.

Wenn Amber die Platten hatte, was würde er mit ihnen anfangen? Es war kaum anzunehmen, daß er sie zur Polizei bringen würde. Vielleicht benutzte er sie zur Erpressung; das war ihm eher zuzutrauen. Ein wöchentliches Einkommen unter der Bedingung, daß er reinen Mund hielt. Wenn er das bezweckte, so war es eine leichte Aufgabe. Whitey würde etwas tun. Whitey war ein skrupelloser Halunke ohne Erbarmen ... Lambaire schauderte – man mußte doch nicht gleich an Mord denken.

Er hatte dieser Tage einen Artikel gelesen, in welchem nachgewiesen wurde, daß nur vier Prozent aller Mörder in England der Entdeckung entgingen ... Wenn er diesmal wie durch ein Wunder durchkam, wollte er einen ehrlichen Lebenswandel versuchen. Wollte das »Silbergeschäft« und das »Druckereigeschäft« fallen lassen und sich nur noch mit dem Diamantenfluß befassen. Das wäre einwandfrei. Wenn bei der Gründung der Gesellschaft etwas dunkel oder anrüchig gewesen war, so würde das alles vergessen sein, wenn das Geschäft glänzend zu Ende geführt würde ... De Beers würde auf der Bildfläche erscheinen und sich als Teilhaber anbieten; er würde ein Millionär werden ... andere Leute haben Millionen gemacht und ihre dunkle Vergangenheit dadurch in Vergessenheit geraten lassen. Zum Beispiel Isadore Jarach, der einen Palast am Park Lane hatte und, als er anfing, ein Schuft war. Ein anderer ... wie hieß er nur gleich ...?

Er fiel in einen unruhigen Schlummer, gerade als es anfangen wollte zu dämmern. Ein Klopfen an der Tür weckte ihn auf, und er sprang aus dem Bett. Die wildeste Furcht packte ihn, und seine Augen irrten nach dem Pult, worin ein geladener Revolver lag.

»Mach auf, Lambaire.«

Es war Whiteys Stimme, die ungeduldig Einlaß begehrte, und mit zitternder Hand schob Lambaire den kleinen Türriegel zurück.

Whitey trat mürrisch in das Zimmer. Daß auch er eine schlaflose Nacht verbracht hatte, konnte man ihm wenig anmerken.

»Es ist doch gut, daß du im Hotel wohnst,« sagte er. »Ich hätte klopfen und klopfen können, ohne eingelassen zu werden. Doch was sehe ich! Du bist ein Wrack.«

Whitey schüttelte über ihn mißbilligend den Kopf.

»Sei still, Whitey!« Lambaire goß das Waschbecken voll Wasser und tauchte sein Gesicht hinein. »Ich habe eine schlechte Nacht gehabt.«

»Ich habe überhaupt keine Nacht gehabt,« sagte Whitey, »überhaupt keine Nacht,« wiederholte er schrill. »Sehe ich aus wie ein seekranker Fisch? Ich hoffe nicht. Du hübsch im Bett – ich – in den Straßen herumgewandert, Amber zu suchen – und endlich – ich habe ihn gefunden.«

Lambaire, der gerade mit dem Handtuch sein Gesicht abtrocknete, hörte auf zu reiben und starrte den Sprecher an.

»Du hast ihn doch nicht –« flüsterte er voller Angst.

»Ich habe ihn nicht umgebracht, wenn du das meinst,« sagte er kurz. »Zieh keine übereilten Schlüsse, Lambaire, denn darin bist du groß – nein, ich tötete ihn nicht – er wohnt in der Borough-Straße,« fügte er wie nebensächlich hinzu.

»Wie hast du es denn herausbekommen?« fragte Lambaire.

»Schwätze nicht,« verbat sich der andere mürrisch. »Frage nicht tausendmal – zieh dich an – wir wollen Amber in Ruhe lassen.«

»Warum?«

Whitey steckte zwei seiner langen weißen Finger in seine Westentasche und zog einen goldenen Zahnstocher hervor; er beschäftigte sich zerstreut damit und sah dabei zum Fenster hinaus, als ob seine Gedanken ganz woanders wären.

»Lambaire,« sagte er wie mit sich selbst sprechend, »laß Amber fallen, – befaß dich nicht mit ihm. Befaß dich mit den Diamanten.«

»Dasselbe dachte ich,« sagte Lambaire eifrig; »wenn wir vielleicht selbst hinausgingen und uns umschauten –«

»Ausreisen um zu – zum Kuckuck damit,« fuhr ihn Whitey an. »Wenn du mich nach Zentral-Afrika gehen siehst ... die Hitze ... das Fieber ... Unsinn! Nein, ich werde die junge Dame besuchen, ihr die Geschichte erzählen; ich werde alles so darstellen, daß sie den Glauben hat, wir seien von ihrer Barmherzigkeit abhängig – ich habe mit dem jungen Sutton eine Zusammenkunft verabredet.«

»Schon?«

»Gewiß,« sagte Whitey. »Telephonisch.«

»Was ist's mit Amber und den Platten?«

»Erpressung,« sagte Whitey, und Lambaire lächelte vergnügt.

»Das dachte ich auch, natürlich ist das die Absicht – was ist's mit Sutton?«

»Er kommt zum Frühstück hierher; beeile dich doch mit dem Anziehen.«

Eine halbe Stunde später traf sich Lambaire mit ihm in der großen Halle des Hotels. Ein Bad und ein Besuch beim Hotelbarbier hatten ihn äußerlich hergerichtet; doch die Spuren seiner nächtlichen Gewissensangst waren noch nicht ganz verwischt, und mit dem schwarzen seidenen Band um seinen Kopf sah er ungewöhnlich schlecht aus.

Schlag neun Uhr kam Francis Sutton; sein Auftreten war etwas wichtig, als fühle er sich schon als der zukünftige Forscher. Später gingen die drei in den Speisesaal.

Es gibt Charaktere, die sich nur schlecht skizzieren lassen, und ein solcher war Francis Sutton. Er war so unberechenbar, so unbestimmt und reizbar, daß die Skizze, die man heute von ihm entworfen hätte, morgen falsch sein würde. Leichter wäre es, einen Nebelfleck zu malen oder mit einem Gemisch von Schwarz und Weiß die wechselnde Gestalt des Rauches festzuhalten, als dieser gestaltlosen Seele gerecht zu werden.

Gut und böse waren zu gleichen Teilen in ihm, so daß er recht unzuverlässig war. Es ist überhaupt schwer, jemand zu beurteilen, wenn nicht überwiegende Eigenschaften vorhanden sind. Die Wagschale muß auf der einen oder anderen Seite heruntergehen, oder, wenn die Abgleichung von Tugend und Verderbtheit so auf des Messers Schneide steht, daß das Zünglein an der Wage zwischen beiden zögernd hin und her schwankt, so kann man versichert sein, daß die in Widersprüchen sich verzehrende Seele farblos, formlos, unstet ist.

Francis Sutton besaß einen sehr schwankenden Willen, und nur der Augenblick konnte ihn bestimmen. Er mochte von Hause weggehen mit der festen Absicht, einen bestimmten Plan durchzuführen, und eine Stunde darauf wiederum mit einem festen Entschluß nach Hause zurückkehren, der jedoch dem ursprünglichen Plan diametral entgegengesetzt war, ohne sich – merkwürdig genug – der Änderung seiner Ansicht bewußt zu sein.

Einst war er zu Lambaire gekommen wegen einer Zusammenkunft, die die letzte sein sollte. Eine Zusammenkunft, die aus seinem Leben unangenehme Erinnerung tilgen (für gewöhnlich erachtete er dieses Verfahren als leicht) und eine Unabhängigkeit herstellen sollte, über die er, wie er sich einbildete, eifersüchtig wachte. Jetzt kam er in einer völlig veränderten Seelenverfassung an, er kam als der erwählte Günstling eines großmütigen Gönners.

»Wir haben nun allerhand zu erledigen,« sagte Lambaire, als sie sich zum Frühstück niedersetzten. »Die Unverschämtheit jenes Lumpenkerls, der sich Ihr Freund nennt, hatte die Angelegenheit gestern vollständig aus meinem Gedächtnis verdrängt –«

»Ich möchte furchtbar gern wegen der Sache verhandeln,« beeilte sich Sutton mit seiner Antwort. »Es sieht Cynthia ähnlich, sich mit einem Schurken wie Amber abzugeben. Ich versichere Sie –«

Lambaire wehrte die eifrigen Beteuerungen mit einem breiten Lächeln ab.

»Mein Junge,« sagte er großmütig, »reden Sie nicht mehr davon. Ich spreche Sie von jedem Tadel frei – nicht wahr, Whitey?«

Whitey nickte bekräftigend.

»Ich kenne Amber« – Lambaire wies auf sein bandagiertes Haupt – »das ist Amber«.

»Großer Gott!« sagte der Jüngling mit weit aufgerissenen Augen, »Sie meinen doch nicht, daß –?«

»Doch,« sagte der andere. »Vergangene Nacht, als ich ins Hotel zurückkam, wurde ich von Amber und einem halben Dutzend Rohlingen angefallen – nicht wahr, Whitey?«

»Es war so, ich versichere Ihnen,« sagte Whitey, der sich bisweilen über grammatikalische Regeln erhaben hinwegsetzte.

»Aber die Polizei?« protestierte der junge Mann energisch. »Sicherlich konnten Sie ihn einsperren?«

Lambaire schüttelte mit einem schmerzhaften Lächeln den Kopf.

»Die Polizei ist nichts wert,« sagte er, »sie sind alle zusammen Mitschuldige – mein lieber Junge, du hast keine Ahnung von der Bestechlichkeit der Schutzmannschaft, ich könnte dir Geschichten erzählen, daß dir die Haare zu Berge stünden.«

Er verbreitete sich noch des weiteren über die Unzuverlässigkeit der Polizei.

»Nun laßt uns zu unserem Geschäft übergehen,« sagte er und schob seinen Teller zurück. »Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht?«

»Ich habe über die Angelegenheit sehr viel nachgedacht,« erwiderte Sutton. »Ich nehme an, daß ein Vertrag oder etwas Ähnliches aufgesetzt werden muß.«

»O gewiß, – ich bin froh, daß Sie fragen. Wir sprachen gerade heute morgen darüber, nicht wahr, Whitey?«

Whitey nickte und gähnte verstohlen.

»Ich fürchte, Ihre Schwester ist gegen uns voreingenommen,« fuhr Lambaire fort. »Ich bedaure das: es schmerzt mich ein wenig. Sie steht unter dem Eindruck, als wollten wir in den Besitz des Planes, den sie hat, gelangen. Nichts dergleichen! Wir wollten ihn gar nicht sehen. So viel wir wissen, soll der Fluß im Nordwesten des Alebi-Landes fließen. Tatsächlich,« beteuerte Lambaire zuversichtlich; »wir glauben nicht, daß Ihnen der Plan von großem Nutzen sein wird – nicht wahr, Whitey?«

»Ja,« sagte Whitey zerstreut – »nein, wollte ich sagen.«

»Unser Projekt ist, Sie hinzusenden und Ihnen Gelegenheit zu geben, die Richtigkeit dieser Ansicht zu bestätigen.«

In dieser Weise beredeten sie sich nahezu eine Stunde lang, erörterten die Ausrüstung und die Kosten, und der junge Mensch, den die Flügel der Phantasie in ein anderes Leben und in eine andere Sphäre trugen, sprach so ins Blaue hinein, daß er in seiner Begeisterung nicht merkte, wie er mitunter falsche Folgerungen zog.

Aber noch war der Widerstand der Cynthia Sutton zu überwinden.

»Das ist eine Kleinigkeit,« meinte der Junge so leichthin, und die beiden Männer bestanden nicht weiter auf diesem Punkt. Immerhin wußten sie, daß dieses junge Mädchen kein bloßer Kieselstein auf dem Wege war, den man einfach beiseite schieben konnte, sondern sie waren sich klar darüber, daß man mit einem Felsen zu rechnen hatte, zumal bei der gesunden Urteilskraft dieses Mädchens.

Als sie sich an diesem Morgen später dem Hause in Warwick Gardens näherten, teilten sie nicht die Zuversicht des schwatzhaften jungen Mannes, der ihnen voranging und bereits Cynthias Widerstand überwunden glaubte.

Francis Sutton hatte auf den Knopf der elektrischen Klingel gedrückt, als er sich plötzlich nach den beiden Männern umdrehte.

»Nebenbei,« sagte er, »wem gehört diese Mine? – Ihnen oder meinem Vater?«

Die Unbefangenheit der Frage machte Lambaire unvorsichtig.

»Ihr Vater entdeckte sie,« sagte er gedankenlos, und als er gleich darauf stutzte, sprang Whitey schnell für ihn ein.

»Aber wir gründeten sie,« fiel er Lambaire ins Wort, mit einem Ton, der merken ließ, daß wegen des Eigentumsrechtes jede weitere Unterhaltung überflüssig war.


 << zurück weiter >>