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Kapitän Ambrose Grey

Du sollst zum Direktor kommen, 634,« meldete der Aufseher.

»Du überraschst mich, mein Aufseher,« sagte Amber ironisch.

»Keine Unverschämtheiten,« antwortete der Mann kurz; »Sie haben sich in diesem Monat schon genug zu schulden kommen lassen und brauchen das Maß nicht voll zu machen.«

Amber erwiderte nichts. Er trat aus seiner Zelle heraus und schritt dem Aufseher voran die eiserne Treppe hinab, die ins Erdgeschoß des Gefängnisses führte.

Kapitän Cardeen saß hinter seinem Tisch und empfing Amber unwillig.

Warum er gerade diesen Gefangenen auf dem Strich hatte, das hatte seine guten Gründe.

»634,« herrschte ihn der Direktor an, »es ist mir wieder einmal gemeldet worden, daß Sie gegen einen Beamten des Gefängnisses unverschämt waren.«

Amber erwiderte nichts.

»Da Sie Ihr halbes Leben im Gefängnis zugebracht haben, sind Sie auf den Gedanken gekommen, sich hier eine Art Hausrecht anzumaßen, was?«

Amber erwiderte immer noch nichts.

»Ich bin schon mit anderen Widerspenstigen fertig geworden,« fuhr der Direktor fort, »und ich zweifle nicht, daß ich auch Sie zähmen werde.«

Amber sah ihn kritisch an.

»Herr Direktor,« sagte er, »ich bin auch so etwas wie ein Bändiger.«

Das Gesicht des Direktors wurde puterrot, denn in dem Ton des Sträflings lag eine unbeschreibliche Frechheit.

»Sie unverschämter Kerl,« fing er an, aber Amber unterbrach ihn.

»Ich habe das Gefängnisleben satt,« fiel er ihm brüsk ins Wort; »ich wette hundert gegen eins, Sie wissen nicht, was ich meine: ich habe dieses Gefängnis satt, diese Hölle.«

»Führt ihn zurück in seine Zelle,« brüllte der Gefängnisdirektor; er war aufgesprungen und konnte seinen Zorn kaum meistern. »Ich werde Ihnen Respekt beibringen lassen, Mensch! Ich werde schon mit Ihnen fertig! Peitschen werde ich Sie lassen.«

Zwei Aufseher mit Knütteln in den Händen drängten Amber zur Tür hinaus. Sie stießen ihn nicht, – sie schleuderten ihn in seine Zelle. Eine Viertelstunde darauf öffnete sich die Tür wieder, und zwei Aufseher kamen herein. Der vorderste trug ein Paar blanke stählerne Handschellen.

Amber war darauf vorbereitet: er drehte sich resigniert herum, die Eisen wurden ihm um die Handgelenke gelegt und die Hände auf dem Rücken zusammengeschlossen. Kapitän Cardeen wandte diese Strafe mit Vorliebe an.

Die Tür wurde zugeschlagen, und Amber war mit seinen Gedanken allein, doch im Gegensatz zu seinem zur Schau getragenen Gleichmut waren es höchst mißvergnügte Gedanken.

»Ich werde es ihm schon zeigen,« bemerkte der Direktor zu seinem Oberaufseher. »Ich kenne diesen Mann. Kürzlich bekam ich von einem Mitglied der Whistlers – von einem aus meinem Klub, einem gewissen Herrn Rice – einen Brief, worin er mir einiges von diesem Manne erzählte.«

»Wenn ihn irgend jemand mürbe machen kann, so sind Sie es, Herr Direktor,« sagte sein Untergebener mit Bewunderung.

»Das glaube ich auch,« schmunzelte der Direktor geschmeichelt.

Ein Aufseher unterbrach durch sein Eintreten einen weiteren Meinungsaustausch. Er salutierte und händigte dem Oberaufseher einen Brief aus; dieser warf einen Blick auf die Anschrift und gab ihn an seinen Vorgesetzten weiter.

Kapitän Cardeen riß den Umschlag mit dem Finger auf und zog einen Bogen blaues Propatriapapier heraus. Der Inhalt des Briefes mußte schwer verständlich sein, denn Cardeen las ihn dreimal.

»Die Überbringerin dieses Schreibens, Fräulein Cynthia Sutton, hat die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft mit Nr. 634 (c. c.) John Amber. Die Zusammenkunft soll privat sein: kein Aufseher hat dabei zugegen zu sein.«

Der Brief war von dem Minister des Innern eigenhändig unterzeichnet und trug den Stempel des Ministeriums des Innern.

Der Direktor blickte auf, sein Gesicht drückte Bestürzung aus.

»Was in aller Welt soll das heißen?« fragte er und gab das Blatt dem Oberaufseher. Dieser las es und warf den Kopf zurück.

»Es ist gegen alle Vorschrift –« fing er an, doch der Direktor unterbrach ihn ungeduldig.

»Reden Sie keinen Unsinn von Vorschriften,« fuhr er ihn an. »Es handelt sich um einen Befehl vom Ministerium des Innern: über diese Tatsache kommen Sie nicht hinweg. Hat sie jemanden bei sich?«

Er wandte sich mit der Frage an den wartenden Aufseher.

»Ja, Herr Direktor, ein Herr vom Scotland Yard – ich gab Ihnen seine Karte.«

Die Karte war auf den Fußboden gefallen, und der Direktor hob sie auf.

»Oberinspektor Fells,« las er, »er möchte zuerst hereinkommen.«

Ein paar Sekunden darauf trat Fells in das Zimmer und lächelte heiter, als er den Direktor des Gefängnisses begrüßte.

»Vielleicht können Sie uns erklären, was dies bedeuten soll, Herr Fells,« erwiderte der Direktor, während er den Brief in der Hand hielt.

Fells schüttelte den Kopf.

»Ich erkläre nie etwas,« sagte er. »Es wäre die reinste Energievergeudung, die Handlungen seiner Vorgesetzten erklären zu wollen – ich habe auch nur einen Befehl erhalten.«

»Den Sträfling zu besuchen?«

»Ja, Herr.«

Er griff tief in eine seiner Taschen und brachte ein amtliches Schreiben zum Vorschein.

»Ich habe mit der jungen Dame gesprochen, und sie hat nichts dagegen, wenn ich Herrn Amber zuerst besuche,« bemerkte er.

Es war das Prädikat »Herr«, welches den Direktor störte.

»Ich kann manches begreifen,« erwiderte er gereizt, »aber ich kann wirklich nicht verstehen, was Sie auf den Einfall gebracht hat, einen Verbrecher mit ›Herr Amber‹ zu bezeichnen – einen Mann mit Ihrer Erfahrung in Kriminalsachen, Inspektor.«

»Gewohnheit, Herr Direktor, Gewohnheit,« sagte Fells obenhin, »es ist meiner Zunge entschlüpft.«

Der Direktor las den anderen Befehl, welcher ähnlich abgefaßt war wie der, den er schon gelesen hatte.

»Sie besuchen ihn besser zuerst,« und er gab dem Oberaufseher entsprechende Weisung. »Dieser Mensch ist derartig unverschämt gewesen, daß er jetzt eine kleine, ganz gelinde Strafe deswegen verbüßt.«

»M–m–ja,« zögerte der Detektiv; »Sie verzeihen die Frage, aber ist dies nicht das Gefängnis, in dem der Mann Gallers starb?«

»Jawohl,« erwiderte der Direktor kalt; »er bekam so was wie einen Anfall.«

»Er war bestraft worden,« fuhr Fells fort, und er sah dabei nachdenklich aus wie jemand, der sich bemüht, einen Vorgang in sein Gedächtnis zurückzurufen.

»Es ist unverantwortlicherweise so gesagt worden,« sagte der Direktor barsch.

Er nahm seinen Hut von einem Haken und setzte ihn auf. »Man erzählte, er sei auf dieselbe Weise wie jetzt Amber bestraft worden – er sei krank geworden und unfähig gewesen, an die Klingel zu gelangen – aber es ist gelogen.«

»Selbstverständlich,« erwiderte der Detektiv höflich.

Der Direktor ging voraus. Sie schritten die sauberen Korridore entlang und die eiserne Treppe hinauf bis zu dem Flur, auf dem Ambers Zelle lag. Er drehte den Schlüssel um und trat ein; der Detektiv folgte ihm. Amber saß auf einem hölzernen Stuhl, als sich die Tür der Zelle öffnete. Er gab sich erst Mühe, aufzustehen, als er Fells erkannte. Unbeholfen erhob er sich.

»Nun, Herr Fells, wenn Sie diesem Mann etwas zu sagen haben, so können Sie dies jetzt tun,« bemerkte der Direktor.

»Ich hoffe,« Fells sprach zögernd, ehrerbietig, aber nichtsdestoweniger nachdrücklich, »ich hoffe, ich darf die Zusammenkunft unter vier Augen mit ihm haben – ja?«

Der Direktor gab ungern nach.

»Wenn Sie es vorziehen, natürlich,« sagte er widerstrebend und wandte sich zum Gehen.

»Entschuldigen Sie,« Fells legte seine Hand auf den Arm des Direktors. »Ich hätte gern, daß man dem Mann die Handschellen abnimmt.«

»Kümmern Sie sich um das, was Ihnen von Amts wegen zusteht, und erlauben Sie, daß ich meine Befugnisse selbst ausübe, Herr Inspektor,« erwiderte der Direktor pikiert. »Das Gesetz gestattet mir das Recht der Bestrafung.«

»Gut, mein Herr,« erwiderte Fells. Er wartete ab, bis die Tür ins Schloß fiel, und wandte sich dann an Amber.

»Herr Amber,« sagte er, »ich bin vom Ministerium des Innern mit einem sonderbaren Auftrag hierhergeschickt worden – ich verstehe, Sie sind der Gefängnishaft überdrüssig?«

»Mein Fells,« bekannte Amber müde, »ich habe das Kerkerleben niemals so langweilig empfunden wie gerade diesmal.«

Fells lächelte. Er zog aus seiner Tasche einen Bogen Papier, der eng beschrieben war.

»Ich habe das Geheimnis Ihrer Bestrafungen herausbekommen.« Er fuchtelte mit dem Papier vor den Augen des Sträflings herum.

»Eine Liste Ihrer Missetaten, mein Amber,« spottete er, aber Amber sagte nichts.

»Niemals, so weit ich es verfolgen kann, haben Sie vor einem Richter oder vor Geschworenen gestanden.« Er sah auf, aber der Mann vor ihm schwieg, und sein Gesicht war ohne Ausdruck.

»Und doch,« fuhr der Detektiv fort, »sind Sie meines Wissens in siebzehn Gefängnissen auf siebzehn ausdrückliche und gesonderte Haftbefehle hin, von denen jeder von einem Richter unterzeichnet und vom Ministerium des Innern gegengezeichnet war, eingesperrt gewesen ...« Er erwartete eine Erläuterung, aber Amber bemerkte nichts dazu.

»Im Jahre 19.. wurden Sie in das Chengford-Gefängnis eingeliefert, und zwar auf einen Befehl hin, der in Devizes unterzeichnet worden war. Ich kann aber keine Akten darüber finden, daß Sie vor irgendeinem Gericht in Devizes gestanden hätten.«

Amber erwiderte immer noch nichts, und der Inspektor fuhr langsam und nachdenklich fort:

»Zur Zeit Ihrer Verhaftung in Chengford liefen allerhand Gerüchte über die Zustände in dem Gefängnis um. Die Gefangenen hatten gemeutert, und den Gefängnisdirektor und die Wächter beschuldigte man der Grausamkeit an ihren Schutzbefohlenen.«

»Ich erinnere mich so ungefähr,« sagte Amber gleichgültig.

»Am 10. Mai waren Sie eingeliefert worden. Am 1. August wurden Sie auf ministeriellen Befehl entlassen. Am 3. August wurden der Gefängnisdirektor, sein Assistent und der Oberaufseher summarisch ihrer Ämter enthoben und bis auf weiteres aus dem Gefängnisdienst entlassen.«

Er sah Amber wieder an.

»Sie überraschen mich,« sagte Amber.

»Obgleich Sie im August auf freien Fuß gesetzt und offenbar wieder Ihr eigener Herr waren, wurden Sie bereits am 9. September unter polizeilicher Bewachung in die Preston-Strafanstalt eingeliefert. In Preston war etwas nicht in Ordnung, glaube ich.«

»Ich glaube es auch,« erwiderte Amber überzeugt.

»Diesmal,« fuhr der Detektiv fort, erging ein Befehl des Ministeriums des Innern, das Urteil zu vollziehen. Sie saßen sechs Monate im Preston-Gefängnis, und nachdem Sie entlassen, wurden drei Aufseher suspendiert, weil sie Botschaften zu den Gefangenen getragen hatten.«

Er trommelte mit dem Finger unter dem Papierbogen.

»Sie waren für diese Strafanstalten nicht gerade ein Stern des Glücks, Herr Amber,« fuhr er ironisch fort, »sondern Sie hinterließen die Spuren einer rätselhaften Unglückserscheinung, und niemand scheint für Ihre Anwesenheit eine Erklärung gefunden zu haben.«

Über Ambers Gesicht huschte ein Lächeln.

»Und hat sich mein Oberinspektor eigens von London hierher bemüht, um mir hier diese erstaunlichen und höchst geheimnisvollen Mitteilungen zu machen?«

Der Detektiv hörte auf zu scherzen.

»Nicht gerade deshalb, Herr Amber,« erwiderte er, und der gleiche überzeugende Tonfall seiner Worte, welcher den Direktor der Anstalt so seltsam gereizt hatte, verlieh seinen Worten Nachdruck. »Die Sache ist die, Sie sind abkommandiert worden.«

»Abkommandiert?« Amber zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Sie sind abkommandiert worden,« wiederholte der Detektiv.

»Das Ministerium des Innern hat Sie an das Kolonialamt abkommandiert, und ich bin hier, die Überführung zu vollziehen.«

Amber drehte unaufhörlich seine gefesselten Hände.

»Ich möchte jetzt nicht von England fortgehen,« begann er.

»O ja, Sie werden es tun, Herr Amber; es gibt irgendwo auf der Welt einen ›Diamantenfluß‹, und ein Schiff mit einer Anzahl Spitzbuben hat sich auf den Weg gemacht, ihn festzustellen.«

»Sie haben sich also tatsächlich auf den Weg gemacht?«

Er war enttäuscht und gab sich keine Mühe, es zu verbergen.

»Ich hoffte, daß ich beizeiten draußen sein könnte, um sie zurückzuhalten, aber dieser Schurkenstreich hat doch mit dem Kolonialamt nichts zu tun.«

»Nicht?«

Fells ging an die Wand, wo sich die Zellenklingel befand und schellte. Zwei Minuten später ging die Tür auf.

»Es ist noch ein Besucher da, der Sie aufklären wird,« sagte er und verließ Amber, der ziemlich aufgebracht war und über die regierenden Ministerien im allgemeinen und das Ministerium des Innern im besonderen in verhaltenem Tonfall heftig schimpfte.

Nach zehn Minuten öffnete sich die Tür wieder.

Amber war auf diesen Besuch nicht vorbereitet, und als er polternd aufsprang, wurde er abwechselnd rot und blaß. Das junge Mädchen, welches eintrat, war bleich, und sprach nicht eher, als bis sich die Tür hinter den Wärtern geschlossen hatte. Amber gewann in dieser kurzen Spanne seine Selbstbeherrschung wieder.

»Ich fürchte, daß ich nicht so zuvorkommend sein kann, wie ich müßte,« stammelte er. »Die Freiheit meiner Bewegung ist im Augenblick etwas beschränkt.«

Sie vermutete, er nähme Bezug auf seine Anwesenheit im Gefängnis und lächelte halb über die Höflichkeit einer Redensart, die so gar nicht mit der schrecklichen Umgebung im Einklang stand.

»Sie sind wahrscheinlich überrascht, mich zu sehen, Herr Amber,« begann sie. »Ich wandte mich in meiner Verzweiflung an das Ministerium des Innern, damit es mir behilflich sei, mir eine Zusammenkunft mit Ihnen zu ermöglichen – es kennt sich ja sonst niemand auf der Welt um diese Expedition und die Männer, die sie ins Werk gesetzt haben, einigermaßen aus.«

»Hatten Sie Schwierigkeiten, die Erlaubnis zu erlangen?« In Ambers Auge war ein seltsames Zwinkern, das sie nicht bemerkte.

»Keine – oder fast keine,« sagte sie. »Es war wirklich wundervoll.«

»Nicht so wundervoll, meine Gnädige,« sagte Amber. »Ich bin ein alter Klient: einem regelmäßigen Kunden gegenüber fühlt man sich verpflichtet.«

Ihre Augen blickten ihn wehmütig an.

»Bitte – bitte, sprechen Sie nicht so,« sagte sie mit leiser Stimme. »Sie tun mir fast weh: ich möchte gern, daß Sie mir – helfen, und wenn Sie so leichtsinnig reden und Ihr – Mißgeschick so leicht nehmen, so schmerzt mich das, wirklich.«

Er schlug die Augen nieder, und weil er es tat, senkte sie die ihren.

»Es tut mir leid,« erwiderte er in einem ruhigeren Ton, »wenn ich Ihnen weh getan habe. Sie grämten sich unnötig, nicht,« fügte er, ein klein bißchen wieder der alte Amber, hinzu; »nicht, daß man keinen Kummer haben sollte, aber Sie haben die Umstände nicht ganz begriffen. Jetzt, bitte, erzählen Sie mir, weshalb Sie mich zu sprechen wünschen; hier ist ein Stuhl – er ist nicht sehr bequem, aber er ist der einzige, den ich Ihnen anbieten kann.«

Sie lehnte den Platz lächelnd ab und begann zu berichten.

Ihr Bruder war abgereist, auch Lambaire und Whitey, und hatten eine Kopie der Karte mitgenommen.

»Ich habe mich nicht sehr um die Expedition gekümmert,« sagte sie, »weil ich dachte, meines Vaters Karte wäre hinreichend genau, sie an den fabelhaften Fluß zu führen. Die Beamten des Kolonialamtes, die mein Bruder aufsuchte, waren derselben Meinung.«

»Warum suchte er sie auf?« fragte Amber.

»Um die Erlaubnis zu erlangen, auf britischem Gebiet nach Diamanten suchen zu dürfen – es ist Besitz der Krone, wie Sie vielleicht wissen. Nach der Ankunft meines Bruders in Afrika, und als ich ein Kabeltelegramm erhalten, daß dem so sei, bekam ich eine dringende Aufforderung vom Kolonialamt, die Karte nach der Downing-Straße zu bringen. Ich tat es, und sie untersuchten die Karte genau, maßen Entfernungen und verglichen diese mit den Maßstäben einer anderen Karte.«

»Nun?«

»Nun,« sie zuckten die Schultern, »die Expedition sei unnütz: wenn sich der Diamantenfluß nicht noch auf portugiesischem Gebiet vorfindet, existiert er überhaupt nicht.«

»Ist er nicht auf britischem Gebiet?«

»Nein, er ist jenseits der Linie, welche die Grenze zwischen Britisch- und Portugiesisch-Westafrika bezeichnet.«

Amber zerbrach sich den Kopf.

»Was kann ich tun?« fragte er.

»Warten Sie,« fuhr sie schnell fort, »ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt; wenn meines Vaters Karte richtig ist, ist der Diamantenfluß eine Fabel, denn sie haben den Fleck, der in seine Karte eingezeichnet war, genau festgestellt, und es befindet sich dort weder ein Wald noch ein Fluß, sondern nur ein großes ausgetrocknetes Plateau.«

»Sie erzählten ihnen von dem falschen Kompaß?«

»Lambaire war, ehe Francis abreiste, sehr offen zu mir; er zeigte mir den falschen und den echten, und ich sah selbst deutlich die Abweichung; und was noch wichtiger ist, ich merkte mir sorgfältig den Unterschied, und dadurch konnte das Kolonialamt seine Berechnungen anstellen. Ein Telegramm wurde meinem Bruder nachgeschickt, aber er hatte mit den beiden anderen Männern schon die Küste verlassen.«

»Haben Sie die Karte bei sich?«

Sie nahm die schmutzige Karte aus ihrer Tasche und hielt sie ihm hin. Er griff nicht darnach, denn er hatte die Hände noch auf dem Rücken, und plötzlich erkannte sie, warum, und errötete.

»Machen Sie sie auf und lassen Sie mich hineinsehen, bitte.«

Er studierte sie aufmerksam, dann meinte er: »Nebenbei, wer erzählte dem Kolonialamt, daß ich um die ganze Angelegenheit wüßte – o, natürlich, Sie taten es.«

Sie nickte.

»Ich wußte nicht, was tun – ich habe meinen Vater in jenem Lande verloren – zum erstenmal fange ich an, für meinen Bruder zu bangen – ich habe niemanden, an den ich mich wegen eines Rates wenden könnte ...«

Sie hielt plötzlich ein, denn sie erschrak vor sich selbst; dieser Mensch mit den geschorenen Haaren und den gefesselten Händen könnte merken, welch großen Raum der Gedanke an ihn in ihrer Seele beanspruchte.

»Etwas ist falsch oder rätselhaft und bedarf noch der Aufklärung: mein Vater war ein vorsichtiger Mann und gehörte nicht zu denen, welche leichtfertig Fehler machen: wir wußten nicht anders, als daß sich der Fluß auf britischem Gebiet befände.«

»Die Grenze kann sich geändert haben,« meinte Amber. Aber sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich stellte die gleiche Frage: sie wurde 1875 festgelegt und ist seitdem so geblieben.«

Amber blickte auf die Karte und sah darauf das Mädchen an.

»Ich werde Sie morgen besuchen,« sagte er.

»Aber –« sie blickte ihn erstaunt an.

»Ich könnte für morgen keinen Urlaub bekommen.«

Ein Schlüssel wurde in dem Schloß umgedreht, und die schwere Tür ging langsam auf. Draußen stand der Direktor mit finsterem, unheildrohendem Gesicht, neben ihm der Oberaufseher und Fells.

»Die Zeit ist um,« sagte der Direktor mürrisch. Amber sah auf den Detektiv und nickte. Dann befahl er dem Gefängnischef gebieterisch, hereinzukommen.

»Nimm diese Handschellen ab, Cardeen,« sagte er.

»Was –!«

»Zeig ihm den Befehl, Fells,« begann Amber von neuem, und der Detektiv händigte dem bestürzten Direktor gehorsam ein Papier aus.

»Sie sind Ihres Amtes enthoben,« fuhr Amber kurz fort, »es schwebt eine Untersuchung wegen Ihrer Amtstätigkeit in diesem Gefängnis. Ich bin Kapitän Ambrose Grey, einer von Seiner Majestät Gefängnis-Inspektoren.«

Die Hände des Oberaufsehers zitterten schrecklich, als er mit dem Schlüssel hantierte, der das Schloß der Handschellen öffnete.


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