Edgar Wallace
Hands up!
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18

Luke Maddison saß in seinem kleinen Zimmer in der Ginnet Street, hatte das Haupt in die Hände gestützt, unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Mrs. Fraser war nicht im Laden, als er nach Hause kam, und schien auch nicht zu wissen, daß er zurück war. Dies war aber nicht der Fall, denn einige Minuten später kam sie herein und brachte ihm eine Tasse Tee.

Er hatte die Empfindung, daß sie sehr gut wußte, was am Nachmittag vorgegangen war, obgleich sie erst im Augenblick, als sie das Zimmer verlassen wollte, eine Anspielung auf sein Abenteuer machte.

»Connor sagt, die Sache kann nur dann gefährlich werden, wenn einer von der Lewing-Bande uns verpfeift.«

»Was ist denn ›verpfeifen‹?« fragte Luke, und sie lächelte freundlich und voller Bewunderung.

»Sie sind aber einer! Aber vielleicht hat man in Australien andere Ausdrücke.«

Er lehnte sich zurück.

»Wissen Sie, was ich annehme, Mrs. Fraser?« begann er ruhig. »Jeder Mensch in dieser Straße, der die Beschreibung liest, wird mich sofort erkennen, wenigstens hundert Leute müssen mich gesehen haben, als ich die Ginnet Straße entlang ging –«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kenne jeden Menschen in der Nachbarschaft und weiß, was er macht«, antwortete sie ebenso ruhig. »Der einzige Mensch, der Sie gesehen hat, ist der alte Joe, der Botengänge für mich macht. Connor läßt sagen, Sie sollen ihren Bart abnehmen und einen anderen Anzug anziehen. Wenn Sie sich umgezogen haben, will ich die Sachen, die Sie jetzt anhaben, gleich wegbringen.«

»Einen anderen Anzug?« fragte er halb ärgerlich.

»Ein neuer blauer hängt im Schrank; er kam heute nachmittag, als Sie weg waren.« Und mit diesen Worten ging sie hinaus.

Fast eine Viertelstunde lang saß er, ließ seinen Tee kalt werden. Seine Gedanken waren in Aufruhr . . . halb entsetzt, halb belustigt. Er, Luke Maddison, war ein Dieb, tätiges Mitglied einer Bande, die Taffanny beraubt hatte! Er kannte Taffanny sehr gut; hatte er doch Margarets Verlobungsring über denselben Glastisch hinweg gekauft, der erbrochen worden war. Er war hilflos – der Gedanke, zur Polizei zu gehen und seine Verbündeten zu verraten, kam ihm nicht einmal. Es gab nur einen einzigen Ausweg für ihn, und der war, sich bei der ersten passenden Gelegenheit aus dem Staube zu machen. Er hatte an Steele seines Scheckbuches wegen geschrieben, das nach Ronda geschickt werden sollte, und es war ganz einfach, Spanien zu erreichen – War es wirklich so einfach?

Es fiel ihm plötzlich ein, daß er keinen Paß hatte. Und es war gänzlich unmöglich, gerade nach Spanien zu kommen – ohne Paß. Nach Spanien, wo jeder Mann, jede Frau, die die Grenze passierten, so genau kontrolliert wurden! Wenn er seinen Diener nicht entlassen hätte, wäre es leicht für ihn, sich in der Nacht in seine Wohnung zu stehlen, eine Handtasche zu packen und mit einem der Züge nach dem Kontinent davonzugehen. Aber wahrscheinlich hatte sein Anwalt den Schlüssel der Wohnung. Ein neuer Gedanke stieg in ihm auf. Hulbert wohnte doch in der St. James Street, er war Junggeselle und sein Freund!

Luke gab sich alle Mühe, das Abenteuer des Nachmittags aus seinem Gedächtnis zu streichen. Das war etwas, an das er nicht ohne Schauder denken konnte – aber er pfiff vergnügt vor sich hin, als Mrs. Fraser mit einer blinkenden neuen Schere hereinkam, den grauen Anzug, den er abgelegt hatte, an sich nahm und ihm schließlich ein Paar braungelbe Schuhe von so entsetzlich schreiender Farbe brachte, daß ihm beinahe die Augen übergingen.

»Connor läßt sagen, Sie möchten lieber Ihren Schnurrbart behalten.«

»Wo ist denn Connor? Ist er hier?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, er hat mich angerufen.«

»Ich wußte nicht, daß Sie Telephon haben«, sagte er überrascht.

Mrs. Fraser lächelte bedeutungsvoll.

»Wir haben eine ganze Masse Sachen hier, von denen die Leute nicht die geringste Ahnung haben«, war ihre Antwort.

Etwas später brachte sie ihm Rasierseife, einen funkelnagelneuen Streichriemen und ein Rasiermesser, das eben erst gekauft sein mußte, denn es war noch in Ölpapier verpackt. Trotz des neuen Messers war das Rasieren eine doch sehr peinliche Angelegenheit, aber das Resultat mußte gut sein, denn Mrs. Fraser, die ihm seine einfache Mahlzeit brachte, blickte ihn beifällig und mit Bewunderung an.

»Wirklich, ich hätte Sie nicht wiedererkannt, Mr. Smith, und ich möchte wetten, Ihr bester Freund erkennt Sie nicht!«

Und davon war Luke völlig überzeugt. Welch eine außerordentliche Veränderung doch ein Schnurrbart im Äußeren eines Mannes hervorrufen kann! Er gab ihm einen gewissen finsteren, unheimlichen Ausdruck – und fasziniert starrte Luke auf sein Bild im Spiegel. Mrs. Fraser schien redseliger zu sein als gewöhnlich, fragte ihn, ob er verheiratet wäre, und erzählte, bevor er noch antworten konnte, daß sie selbst Witwe wäre.

»Sozusagen wenigstens«, verbesserte sie sich. »Mein Mann hat vor zwei Jahren lebenslänglich gekriegt.«

Sie teilte ihm diesen bedauerlichen Vorfall ganz ruhig mit, und Luke vermutete, daß das Leben nicht zu sanft mit dieser Frau umgesprungen wäre.

»Er hat es sich selbst zuzuschreiben«, fuhr sie fort. »Hat einen Blauen angeschossen und beinahe um die Ecke gebracht; natürlich wollte Connor dafür nicht gerade stehen. Connor sagt, daß ein Schießeisen ganz gut für die Anführer ist, aber nicht für die Leute. Fraser war so 'ne Art Mensch – piff, paff . . . erledigt! Er hat schon alles mögliche versucht und –«

»War er schon vorbestraft?«

Sie lachte laut auf.

»Aber natürlich. Hat schon zweimal gesessen. Einmal für einen Schwindel oben in Manchester – er und Danty arbeiteten da zusammen –«

»Danty?« fuhr er dazwischen. »Wer ist denn das?«

»Er arbeitet in der Industrie . . . Aktien und so was . . . Sie verstehen schon, Dumme finden sich da immer, Sie müssen sicher von ihm gehört haben. Er soll sich ja jetzt geändert haben, aber man kann nie wissen. Er lebt im Westend, kennt alle seinen Leute und hat eine Wohnung in der Jermyn Street. Er und Gunner Haynes haben früher zusammen gearbeitet –«

»Gunner Haynes? – Kennen Sie ihn denn?« warf Luke dazwischen. Nach dem Ausdruck ihres Gesichtes und ihrer Stimme nahm er an, daß Haynes in den oberen Kreisen der Unterwelt eine Person von großer Bedeutung sein mußte.

»Nein, kennen tue ich ihn nicht, habe bloß von ihm gehört. Aber wie nennt sich denn Danty jetzt eigentlich?«

Sie runzelte nachdenkend die Stirn.

»Es lag mir auf der Zungenspitze – so 'n feiner Name. Ha, Danton Morell – jetzt hab' ich's! Connor hat erst neulich über ihn gesprochen.«

Das Zimmer schien vor Luke Maddisons Augen zu schwanken. Danton Morell – ein Hochstapler, ein ehemaliger Sträfling! Es war unglaublich.

Und dann kam plötzlich ein Gedanke, der ihn halb betäubte: Danton Morell war der beste Freund seiner Frau!

»Wie sieht er eigentlich aus?«

»Danty? Ich habe ihn zwei- oder dreimal gesehen . . .«

Und sie beschrieb Morell in ihrer Weise, aber so genau, daß kein Zweifel blieb, daß es sich wirklich um denselben Mann handelte! Die Notwendigkeit, sich sobald als möglich aus seiner jetzigen Umgebung zu befreien und wieder Luke Maddison zu werden, wurde immer dringender.

Seine unbestimmten Pläne formten sich, nahmen Gestalt an. In dieser Nacht würde er das Haus verlassen, Hulbert, seinen Anwalt, aufsuchen und ihm die volle Wahrheit berichten.

Gegen neun Uhr, er war gerade im Begriff, davonzugehen, entstand eine unerwartete Schwierigkeit. Er wollte gerade das Licht ausschalten, als Mrs. Fraser eilig hereinkam und vorsichtig die Tür hinter sich zuzog. Ihr Wesen ließ erkennen, daß sich etwas Ernsthaftes ereignet haben mußte.

»Zwei von der Lewing-Bande sind unten«, sagte sie leise. »Ich hatte keine Möglichkeit mehr, Connor anzurufen; der Apparat ist im Wohnzimmer, und sie waren schon drin, bevor ich überhaupt wußte, was los war.«

Sie hielt etwas unter ihrer Schürze verborgen, und als sie die Hand hervorzog, sah er einen kleinen Browning.

»Stecken Sie das ein«, sagte sie eindringlich. »Man kann nie wissen, was diese Kerls vorhaben.«

Mechanisch nahm er ihr die Schußwaffe ab und steckte sie in die Hüftentasche. Das einzige, was er auf jeden Fall zu vermeiden wünschte, war eine Szene mit den Mitgliedern der feindlichen Bande. Es war für ihn beinahe eine Lebensfrage, die Ginnet Street so schnell wie möglich zu verlassen, und wenn der Revolver ihm dabei helfen konnte, um so besser.

»Die wollen mit Ihnen sprechen –« begann sie.

Und dann tönte eine Stimme vom Fuß der engen Treppe herauf.

»Kommen Sie 'runter, Smith!«

Drohung lag in dem Ton. Mrs. Fraser riß die Tür auf.

»Warten Sie!« Und nach unten: »Was denkt ihr euch denn eigentlich? Ihr seid wohl verrückt geworden?!«

Luke hörte eine brummende Stimme und das Zuschlagen der Tür, die unten an der Treppe nach dem Wohnzimmer ging. Dann winkte sie ihm mit dem Kopfe, und er folgte ihr die Treppenstufen hinunter.

Zwei Männer waren in dem Zimmer. Einer mit dem Rücken gegen den Kamin, der andere bedeutungsvoll in der Nähe der Tür, die nach dem Laden führte. Beide waren ganz gut angezogen, und er hätte sie für biedere Handwerker gehalten, wenn er ihnen auf der Straße begegnet wäre. Jedenfalls verrieten ihre Gesichtszüge nichts von ihrem eigentlichen »Beruf«. Der eine war lang und ziemlich dick, der andere, der eine Krawatte in den Farben eines Kavallerieregiments trug, von schlanker Figur.

Der dicke Mann, der mit dem Rücken nach dem Feuer stand, senkte sein Kinn auf die Brust und blickte Luke unter seinen Augenbrauen hervor an.

»Ist das Smith?« fragte er.

»Das ist Mr. Smith«, war Mrs. Frasers gereizte Antwort.

»Was soll das bedeuten, daß Sie hierher kommen und sagen, Sie wären jemand, der Sie nicht sind?« fragte der kleinere Mann an der Tür mit auffälliger Hast.

Sein Begleiter schnitt ihm das Wort ab.

»Du bist stille, das Reden werde ich schon besorgen, Curly! – Sie haben doch das Ding gestern gedreht, Smith?«

»Ich habe schon manche Dinge gedreht«, war Lukes kühle Antwort.

»Sie behaupten, Sie sind ein Mann namens Smith, den unser Chef von Australien 'rüberkommen ließ – nee, ich spreche nicht von Lewing. Lewing war 'ne Null. Sein großes Maul hat ihn ruiniert, und es ist gut, daß er weg ist. Aber Sie sind nicht Smith.« Er wies mit dem Finger auf den Mann an der Tür. »Der da ist Curly Smith.«

»Aber sicher!« Der kleine Mann zitterte vor Wut.

»Sie haben meinen . . . Namen mißbraucht« – er gab dem Namen ein nicht näher zu bezeichnendes Beiwort. Der Mann vor dem Feuer fiel wieder ein.

»Es ist eine Dame hier, vergiß das nicht!« sagte er, und zwar so feierlich, daß Luke sich kaum das Lachen verbeißen konnte.

»Die Sache ist die«, begann der dicke Mann, dessen Name, wie Luke herausfand, Verdi war, »man hat Sie aufgehoben, als Lewing seinen Teil wegbekommen hatte – und Sie Ihren natürlich auch – und Connor dachte, Sie wären der Mann, den Lewing in den Londondocks treffen sollte. Aber anstatt dahin zu gehen, bekam Lewing es mit der Angst, weil er glaubte, die Connor-Bande wäre hinter ihm her . . . er hatte einen verpfiffen. Aber Sie sind nicht Smith, und ich will wetten, daß Sie niemals in Australien gewesen sind.«

»Der!« Curly Smith betrachtete ihn verächtlich. »Der Mensch da könnte in Australien überhaupt nicht bestehen!«

Er zog eine Zeitung aus seiner Tasche.

»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben?« zischte er und hielt die Zeitung unter Lukes Nase.

Luke Maddison las den Absatz durch, auf den der schmutzige Daumen des Mannes hinwies.

»An diesem Raube soll, wie die Polizei annimmt, ein Mann namens Smith beteiligt sein, der vor wenigen Wochen mit dem Orientdampfer Pontiac von Australien hier angekommen ist.«

»Sehen Sie nun, was Sie gemacht haben?« wiederholte Smith wütend. »Sie haben die Blauen auf mich aufmerksam gemacht!«

Seine Hand wanderte zu seiner Hüftentasche.

»Ruhig!« grollte Verdi. »Der Kerl hier hat ein Schießeisen – was denkst du denn, warum die Alte zu ihm 'raufgegangen ist?«

Mrs. Fraser fuhr bei dieser Beleidigung hoch.

»Alte – ich, du fetter Molch! Wir woll'n mal sehen, was Connor dazu zu sagen hat! In ein paar Minuten ist er hier.«

Verdi blickte unruhig nach der Tür.

»Bluff! – und auf jeden Fall, Connor kann nichts dagegen haben, wenn wir hierherkommen und ein paar Auskünfte haben wollen. Wir haben doch das Recht dazu.«

»Wollen Sie noch was von mir?« sagte Luke und ging auf die Tür zu.

Curly Smith stellte sich ihm in den Weg.

»Was wir wissen wollen –« begann Verdi.

»Ihr werdet alles Nötige gleich wissen«, sagte Luke kurz und ging noch einen Schritt weiter, aber Smith rührte sich nicht. Plötzlich schoß Lukes Hand vor, packte den kleinen Mann und schleuderte ihn quer durch das Zimmer. Es war nicht der Augenblick, um zu verhandeln, instinktiv wußte er, daß er den einzig richtigen Weg einschlug, als er die Tür weit aufstieß.

»'raus! Alle beide!«

Verdi zuckte die Schultern.

»Schon gut, wir wollen keinen Stank.«

Er lächelte, als er auf Luke zukam; aber Mrs. Fraser, die an der anderen Seite des Tisches stand, sah den Totschläger in seiner rechten Hand.

»Passen Sie auf!« rief sie schrill. Als die Hand sich erhob, traf Lukes Rechte das Kinn seines Gegners, der krachend gegen die Holzwand schlug, die den Laden vom Wohnzimmer trennte.

Einen Augenblick war er betäubt, und der genügte, daß Luke ihm den Totschläger entriß und in seine Tasche gleiten ließ.

»Und jetzt bist du dran.« Er wandte sich Curly Smith zu, aber der kleine Mann ging stillschweigend an ihm vorbei durch die Tür.

Verdi hatte sich inzwischen erhoben und blinzelte, ein wenig schwankend, mit seinen wäßrigen Augen den Mann an, der ihn zu Boden geschlagen hatte.«

»Schon gut«, sagte er schließlich und ging schwerfällig seinem Begleiter nach.

Luke schloß die Tür hinter ihnen und wandte sich Mrs. Fraser zu, die sehr blaß in einer Ecke stand.

»Ich habe noch niemals gehört, daß die Lewing-Bande so etwas riskiert hat«, sagte sie, und ihr Atem kam stoßweise. »Ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie uns das Haus über dem Kopf ansteckten.«

Und das hatten sie schon einmal vorher gemacht, wie Luke zu seinem Entsetzen erfuhr. Die Erklärung für den neuen Anbau am Hause war gefunden.

Nr. 339 in der Ginnet Street war augenscheinlich Connors Hauptquartier. Die Polizei hatte niemals eine Durchsuchung des Hauses vorgenommen – aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie genau wußte, daß auch nicht für einen Penny gestohlenes Gut dort zu finden war.

Er erfuhr außerdem, die letzten Ereignisse hatten Mrs. Fraser aus ihrem Gleichmut gebracht, daß Lewing mit der Bande wenig zu tun gehabt hatte, obwohl diese seinen Namen trug. Sie hatte zuerst aus einer ganzen Reihe von Taschendieben und kleinen Gaunern bestanden, aus der sich dann im Laufe der Zeit die berüchtigte und gefürchtete Lewing-Bande herausgebildet hatte, deren sehr untergeordnetes Mitglied Lewing selbst gewesen war.

»Er war weiter nichts als ein feiger Gelegenheitsdieb und ein Verpfeifer.« (Verpfeifer war, wie Luke schließlich herausfand, ein Denunziant.) »Er hat ja bis wenige Tage vor seinem Tode im Gefängnis gesessen.«

Luke nickte. Er erinnerte sich an den Besuch Lewings, der mit Gunner Haynes zusammen im Brixton-Gefängnis gewesen und zu ihm gekommen war, um ihm für den Gunner Geld abzuschwindeln.

»Die Sache ist noch nicht zu Ende – die Lewing-Bande hat so was noch nie vorher riskiert«, wiederholte Mrs. Fraser. »Ich muß Connor gleich Bescheid geben – gehen Sie aus?«

Ja, Luke ging aus und hatte die Absicht, nie wieder zurückzukehren, aber er hielt es für unangebracht, dies seiner Wirtin auf die Nase zu binden.

»Haben Sie denn Geld? – Ach, da fällt mir ein . . .« Die Frau suchte in der Ledertasche, die sie unter der Schürze trug, und holte ein kleines Päckchen Banknoten hervor. »Connor hat es geschickt – es sind fünfzig«, sagte sie. »Aber nur akonto! Die Sore von gestern muß in vier Teile geteilt werden, und Sie kriegen Ihren. In solchen Sachen ist Connor sehr anständig. Man könnte ihm direkt eine Million Pfund anvertrauen.«

»Ich brauche nichts.«

»Stecken Sie es in Ihre Tasche«, befahl sie, und in dem Wunsche, die Unterhaltung nicht unnötig zu verlängern, gehorchte Luke. »Haben Sie Kleingeld?«

»Mehr als genug«, sagte er beinahe ungeduldig.

»Kleingeld?« bestand sie, und später hatte er Grund genug, ihr hierfür dankbar zu sein.

Sie brachte aus ihrer Tasche eine Handvoll Silber- und Kupferstücke hervor und sagte:

»Wenn Sie versuchen, hier bei uns Fünf-Pfund-Noten zu wechseln, werden Sie Unannehmlichkeiten bekommen – sind Sie Australier?«

»Nein«, sagte Luke.

Sie schien durch diese Antwort bestürzt zu sein, aber ihr Gesicht klärte sich auf.

»Ich nehme an, Connor wird schon Bescheid wissen.«

Augenscheinlich bedeutete das Wort »Connor« mehr als alles andere für sie.

Sie ging mit ihm bis an die Ladentür und holte ihm schnell noch seinen Mantel, als sie sah, daß es regnete.

»Passen Sie auf die Lewings auf«, warnte sie ihn, »und stecken Sie das Schießeisen in eine Tasche, wo Sie leicht 'ran können.« Sie bemühte sich um ihn wie eine Mutter für ihr Kind und war nicht zufrieden, bevor er nicht den Revolver von seiner Hüftentasche in die Manteltasche gesteckt hatte.

Niemand war auf der Straße zu sehen, aber er folgte Mrs. Frasers Rat, machte einen weiten Umweg und war zehn Minuten später auf der Westminster-Brücke.

Im Parlament war Sitzung; die große Turmuhr wies auf zwanzig Minuten vor zehn.

Zuerst mußte er Hulbert, seinen Freund und Rechtsanwalt, sehen. Es war möglich, daß Jack nicht zu Hause war . . . Telefonieren natürlich! Und an der ersten öffentlichen Telephonzelle machte er halt und versuchte sein Glück. Hier war er Mrs. Fraser für das aufgedrungene Kleingeld dankbar.

Die Stimme von Mr. Hulberts Diener antwortete ihm:

»Ich möchte Mr. Hulbert sprechen.« Zu seinem Schrecken kam die Antwort:

»Mr. Hulbert ist nicht in England, Sir. Er ist auf einer Erholungsreise nach Berlin gefahren und wird nicht vor Ende nächster Woche zurück sein. Darf ich um Ihren Namen bitten?«

Luke war einen Augenblick sprachlos; als die Frage wiederholt wurde, kam ihm ein Gedanke.

»Können Sie mir mitteilen, ob jemand in Mr. Luke Maddisons Wohnung ist – sein Diener vielleicht?«

Der Ton der Stimme am anderen Ende des Apparates änderte sich.

»Wer sind Sie denn? Warum wollen Sie das wissen?«

Luke hängte ohne jedes weitere Wort den Hörer an. Er hätte vielleicht dem Manne mitteilen können, wer er war, aber er war zu vorsichtig, sich dem Diener anzuvertrauen, und es war ganz und gar nicht wünschenswert, daß ein anderer als Jack Hulbert über seine Anwesenheit in London informiert war.

Ein anderer Gedanke kam ihm. Er rief seine eigene Wohnung an und wartete volle fünf Minuten, bis schließlich der Beamte ihm sagte:

»Es tut mir leid, Sir, aber der Teilnehmer antwortet nicht.«

Luke machte sich langsam auf den Weg nach Pall Mall und dem Buckingham Palast, ohne sich des strömenden Regens bewußt zu werden. Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit. Oft genug hatte er im Scherz gesagt, wie leicht es doch eigentlich wäre, in seine Wohnung einzubrechen. Ganz kürzlich war auf der Rückseite des Hauses, in dem er wohnte, eine Feuerleiter angebracht worden, und der Zugang zum Hof und dieser war nicht schwer zu erreichen. Von dem kleinen Gäßchen hinter dem Hause war es nicht schwierig, über die Mauer zu steigen . . . und er wußte genau, wie sein Fenster von außen geöffnet werden konnte.


 << zurück weiter >>