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Margaret Maddison hatte zwei qualvolle Stunden verbracht, als ein schäbiger Bote den Brief brachte, der ihr mitteilte, daß Luke am Leben war. Am Fuße des Briefes stand in Connors eigener Handschrift: »Kommen Sie gegen acht Uhr.« Diesen Nachsatz hatte er aber dem Gunner nicht mitgeteilt.
Der Brief bestätigte alle ihre Befürchtungen. Geraume Zeit saß sie vor ihrem Schreibtisch, versuchte sich auszudenken, was Luke zugestoßen sein könnte. Luke befand sich in einer schwierigen, sehr schwierigen Lage! Von dieser Tatsache ausgehend, begannen ihre Überlegungen. Sie machte ihm keine Vorwürfe über die unglaubliche Tollheit, die ihn in diese Lage gebracht hatte – sie haßte sich, daß sie ihn in der größten Krisis seines Lebens verlassen, ihn zu noch größeren Tollheiten getrieben hatte.
Der Diener betrat das Zimmer und sprach zu ihr, aber sie war so vertieft, daß sie nichts hörte, bis er noch einmal begann:
»Mr. Morell?« Sie fuhr auf und sah sich der Wirklichkeit wieder gegenüber. Danty war in den letzten Tagen nicht dagewesen, und ihr erster Impuls war, ihn nicht zu empfangen, dann aber kam ihr ein Gedanke, und sie nickte:
»Ich lasse bitten.«
Danty kam herein, elegant wie immer, ein höfliches Lächeln auf seinem Gesicht, das nichts von der inneren Unruhe verriet.
»Nachrichten von Luke?« war seine erste Frage. »Ich war gerade auf dem Wege nach der City und dachte, ich würde schnell mal zu Ihnen mit herankommen.«
Sie betrachtete ihn neugierig. Danton, der Freund, und Danton, der Bandenführer, waren nicht zu unterscheiden. Es kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß ihr Vertrauen zu diesem Mann schon erschüttert war, bevor noch Mr. Gorton ihr die Wahrheit über diesen Abenteurer erzählt hatte. Die vollendete Doppelzüngigkeit Danty Morells wurde ihr deutlich – sie bewunderte sie beinahe – aber in ihrem Schreibtisch lag doch ihres Bruders letzte Mitteilung! Die war doch auf jeden Fall echt. Danty war es natürlich gewesen, der veranlaßt hatte, daß ihr aus Paris das Telegramm mit Lukes Unterschrift zuging.
Und doch verspürte sie keinen Ärger, keine Empörung – Danton war für sie eine Tatsache, nichts weiter als eine schmutzige, häßliche Tatsache, mit der man sich abfinden mußte.
»Ich habe von einem Bekannten gehört, daß letzte Nacht in Lukes Wohnung eingebrochen wurde. Ist etwas gestohlen worden?«
»Nichts von Wichtigkeit.«
Er sah, wie sie hastig einen Brief zusammenfaltete und in die Handtasche steckte, die auf dem Tische lag. Was mochte diese Mitteilung enthalten, die ihre Wangen gerötet hatte?
»Ich nehme an, Luke amüsiert sich nach allen Regeln der Kunst. Haben Sie wieder Nachricht von ihm erhalten?«
»Nein, nichts«, antwortete sie kopfschüttelnd und dann etwas befangen: »Haben Sie den merkwürdigen Fall in der heutigen Zeitung gelesen?«
Er war der Meinung, sie wollte das Thema wechseln – in ein wenig ungeschickter Weise –, aber den eigentlichen Grund ihrer Frage vermutete er nicht.
»Es gibt hundert verschiedene Fälle in der Zeitung. Welchen meinen Sie denn?«
»Von dem Mann, der ein doppeltes Leben führte: am Tage ein angesehener Kaufmann, in der Nacht – gefährlicher Einbrecher.«
Danty lächelte. Er war mit der Verbrecherwelt zu sehr vertraut, um noch irgendwelche Illusionen über ihren »romantischen« Charakter zu haben.
»Das ist so ein Unsinn, den man gewöhnlich in Romanen vorgesetzt bekommt«, begann er, »aber ich habe solche Fälle selbst kennengelernt . . . davon gelesen, meine ich«, verbesserte er sich hastig. »In Liverpool gab es einen Mann, der Sonntags in der Kirche predigte und an den Wochentagen eine gutgehende Fälscherwerkstatt leitete. Ein anderer war der Direktor einer großen Schuhfabrik in Midland und gleichzeitig einer der geschicktesten Juwelendiebe, der jemals der Polizei unter die Finger gekommen ist.«
Sie blickte anscheinend wenig interessiert zum Fenster hinaus.
»Warum tun die Leute das eigentlich?«
»Ich weiß nicht.« Danty zuckte mit den Schultern. »Vielleicht Lust nach Abenteuern . . . es gibt so wenig Neues auf der Welt! – Ich wollte gern mal mit Ihnen über meine südamerikanische Gesellschaft sprechen, Margaret. Ich bin da in ziemliche Schwierigkeiten gekommen. Um das Geschäft abzuschließen, brauche ich siebzigtausend Pfund, um ganz genau zu sein: sechsundsiebzigtausend. Neunundsechzigtausend Pfund habe ich schon. Wenn Luke hier wäre, würde er mir sicher vorstrecken, was ich noch brauche. Er konnte mich zwar nicht besonders leiden, aber – er war ein guter Geschäftsmann.«
Diese kaltblütige Forderung ließ Margaret unberührt; sie konnte weder lachen, noch sich über diese empören. Einen Augenblick hatte sie den Gedanken, ihm das Gewünschte zu geben. Vielleicht könnte er ihr als Verbündeter von Nutzen sein, wenn all das, was Gorton erzählt hatte, wirklich der Wahrheit entsprach. Aber die Gefahr, einen so gewissenlosen Menschen zu ihrem Vertrauten zu machen, war zu groß. Danty war ein Schmarotzer, ein Erpresser. Er würde die Mitteilungen rücksichtslos zu seinem eigensten Vorteil ausbeuten.
Nur zwei Wege standen ihr offen: Die Hilfe der Gesellschaft zu suchen, deren sehr zweifelhaftes Mitglied Luke geworden war, oder sich an die Polizei zu wenden. Aber die Polizei nahm keine persönlichen Rücksichten, konnte keine nehmen, und würde mit dem gleichen Eifer versuchen, Luke ins Gefängnis zu bringen, wie die anderen Galgenvögel, seine jetzigen Verbündeten.
»Ich befürchte, das ist unmöglich, Danton«, sagte sie ruhig. »Warum sprechen Sie nicht mit Mr. Steele? Er ist doch auch Geschäftsmann!«
»Steele!« erwiderte Morell achselzuckend. »Ein Angestellter . . . ein Mann ohne jede Initiative! Ein Wort von Ihnen würde genügen . . .«
»Das kann ich nicht machen.«
Ein kurzes Schweigen. Dann sprach Danton Morell von unbedeutenden Alltäglichkeiten und verabschiedete sich bald. Er glaubte, als er die Treppe hinabging, sicher sein zu können, daß sie ihm wenigstens nicht als Gegner gegenüberstand.
Er befand sich wirklich auf dem Wege nach der City. Dort hatte er ein kleines Büro, in dem er seine Untergebenen empfing. Seit Lewings Tode hatte die Bande, die seinen Namen trug, sich sehr ruhig gehalten. Zu dieser gehörten viele, Alte und Junge, die vom Fluß und den Frachtkähnen lebten. Obgleich Danty niemals an ihren »Operationen« teilnahm, hatte er ihre »Arbeit« organisiert und in ein System gebracht. Sein Anteil war nur klein, denn die Hehler zahlten schlechte Preise. Die »Arbeit« war gefährlich und schwierig, und es vergingen manchmal Wochen, bevor die Bande einen guten Schlag machte. Seidenballen, Teekisten, Säcke mit Rohgummi – nichts war der Diebesbande zu gering. Aber es war so ungeheuer schwierig, das gestohlene Gut wieder abzusetzen, und Dantys Anteil genügte kaum, um seine Wohnungsmiete zu bezahlen.
An diesem Morgen hatte er die Aufforderung erhalten, sich persönlich und energischer bei der allgemeinen Arbeit zu beteiligen, hatte dies aber rundweg abgeschlagen.
»Das liegt mir nicht. Ich bin nicht Connor. Denkt ihr etwa, daß ich zu euch nach Bermundsey kommen und dort wohnen soll?«
Das tätige Haupt der Bande, ein untersetzter Mann, der nur Dick und sonst nichts weiter zu heißen schien, gab sich damit nicht ohne weiteres zufrieden.
»Die Jungen sagen, Connors Bande macht 'ne Masse Geld, und das könnten sie doch auch machen. Auch wenn du nicht in Bermundsey wohnst, könntest du doch ab und zu mal hinkommen und mithelfen.«
»Ich helfe ja schon, wo ich nur kann«, war Dantons ungeduldige Antwort. »Was hat es für einen Zweck, Connors Bande mit unserer zu vergleichen? Connor arbeitet nur an Land, und das ist ganz was anderes. Wenn ich euch nicht manchmal geraten hätte, würden die meisten schon im Kittchen sitzen. Wer hat zugeredet, daß wir ein elektrisches Motorboot kaufen? – Ich! Wer hat euch die Ladelisten und Lieferzeiten verschafft? – Ich! Euer Geschäft geht nicht besonders gut – zugegeben – aber ihr seid ja gar nicht imstande, was anderes zu machen! Glaubst du vielleicht, Connor würde auch nur einen von euch in seine Bande aufnehmen?«
»Wir könnten doch mal dasselbe wie Connor machen – das Geschäft ist nicht schlecht«, beharrte der Mann eigensinnig. »Lewing war für uns von größerem Nutzen als du.«
Danty war nicht leicht einzuschüchtern. Er zeigte seine Zähne in einem grimmigen Lächeln.
»Und Lewing ist tot! Weißt du auch, warum? – Nicht, weil er verpfiffen hat, nein, weil er auf Connors Gebiet gejagt hat!«
Der Mann ging unzufrieden seiner Wege, Danty steckte die Handvoll Noten, die Dick ihm als seinen Anteil gebracht hatte, ein und ging zum Lunch nach einem der vornehmen City-Klubs.
Jeder Mensch hat einen besonderen Fehler – und Danty war Spieler, leidenschaftlicher Spieler. Er liebte die Gegend in der Umgebung der Börse; er konnte Stunden und Stunden dort verbringen, Fallen und Steigen der Preise verfolgen; er spekulierte in jeder Art Aktien und sah die beträchtlichen Summen, die ihm seine Schwindeleien einbrachten, wie Schnee vor der Sonne dahinschmelzen. Rex war seinerzeit ein sehr nützlicher Kamerad für ihn gewesen – hatte ihm Geld verschafft, wenn er nichts hatte. Hatte auch anderen Zwecken gedient: mit richtigem, gutem Gelde die Aktien bezahlt, die keiner kaufen wollte, die Schwindelanteilscheine übernommen, die Danty nicht loswerden konnte. Die Zeit war jetzt gekommen, wo Danty Morell eine neue Geldquelle finden oder für immer aus den Kreisen, die ihn so vertrauensvoll aufgenommen hatten, verschwinden mußte.
Connor rühmte sich, einer der geschicktesten Industrieritter in England zu sein, und war doch unerfahrener als ein kleines Kind in jenem Platze, der schon der Ruin so vieler Menschen gewesen war – in der Londoner Börse.
Er hielt sich lange genug in der City auf, um eine Menge peinlicher Neuigkeiten zu erfahren. Aktien, von denen er eine große Anzahl in Besitz hatte, fielen ständig. Er traf seinen Makler, einen kühlen Geschäftsmann, der ihm einen Kontoauszug vorlegte, dessen Ziffern Morell schaudern ließen.
Danty kam halb verzweifelt in seine Wohnung und traf dort den Boten eines Rechtsanwaltes, der ihm eine Klage seines Schneiders über einhundertvierzig Pfund zustellte – schon die zehnte innerhalb des letzten Monats. Pi Coles, sein »Diener«, nahm ihm Hut und Mantel ab.
»Glück gehabt?« fragte der kleine Mann vertraulich.
»Nichts, Pi«, antwortete Danty gezwungen lächelnd. »Aber auf Regen folgt Sonnenschein.«
Er ahnte nicht, daß in diesem Fall sein Rivale Connor den Sonnenschein bringen würde, aber auch Connor war sich nicht bewußt, daß er bestimmt sein sollte, dem Anführer der feindlichen Bande zu helfen.