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Bei den häufigen Begegnungen mit Kerkhoven hatte Marie immer ein ungutes Gefühl. Sie war auf freundliches Entgegenkommen angewiesen; wenn es fehlte, wurde sie leicht an sich selbst irre. Es verdroß sie, daß er ihr nie ins Gesicht sah, immer über sie hinüber. Es störte sie, wenn jemand sie in ihrem Bestreben, eine gute Meinung von ihm zu hegen, nicht unterstützte. Sie liebte Wohlwollen zu empfangen und wohlwollend zu sein. Eines Tages faßte sie sich ein Herz und fragte ihn geradezu (es war im Vorzimmer, als er von Irlen kam und seinen Mantel vom Kleiderhaken nehmen wollte), fragte ihn, warum er sie nie ordentlich grüße. Kaum war das Wort heraus, bereute sie es schon. Er war dermaßen erschrocken, daß er die Hand mechanisch am Haken ließ. »Ich? Wieso?« stotterte er und verfiel sogleich in seine geschraubte Höflichkeit, die etwas noch Verletzenderes hatte als seine Ungeschliffenheit. »Es ist mir wirklich nicht bewußt, Frau Bergmann. Sie müssen sich täuschen.« Marie schüttelte befangen den Kopf. »Verzeihen Sie bitte, es steht mir nicht zu«, stammelte sie, »aber ich hatte den Eindruck, als sei es Ihnen lästig ...« Sie wandte sich ab, er warf hastig seinen Mantel über, verbeugte sich ungeschickt und suchte so schnell wie möglich den Ausgang zu gewinnen. Am andern Tag schien es ihr, daß er auf eine Gelegenheit wartete, mit ihr zu sprechen. Sie merkte es und kam ihm entgegen. Er sagte, er habe über ihre Reprimande nachgedacht. Sie möge recht haben. Zu seiner Entlastung könne er nur seine Kurzsichtigkeit anführen. (Ausrede; er war nicht kurzsichtiger als die meisten studierten Männer, hatte auch nie Augengläser getragen.) Marie lächelte ein wenig und erwiderte nicht ohne Spott: »Das dacht' ich mir ohnehin, aber es gibt doch eine Menge kurzsichtige Leute, die einen trotzdem artig grüßen. Sprechen wir nicht mehr darüber, Herr Doktor. Ich habe mir etwas herausgenommen, vergessen Sie es.« Kerkhoven bedachte sich eine Weile. »Ich muß Ihnen ein komisches Geständnis machen«, sagte er dann, »ich lebe in der Beziehung fortwährend auf Kredit. Da ich in vielen Einzelfällen ganz stattliche Summen von ... von Freundlichkeit verausgabe, bild' ich mir ein, ich könnte mir bei unwichtigen Anlässen die Formalitäten schenken. Natürlich bleibt dabei immer eine Rechnung offen. Seh' ich ein. Sie sind die erste, die mir das vor Augen führt. Und um ganz aufrichtig zu sein, spielt da auch eine innere Faulheit mit. Sicher. Eine Gefühlsfaulheit. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, Frau Bergmann. Ich werde mich bessern.« Das alles klang so ehrlich, und sein Gesicht hatte einen so sorgenvollen Ausdruck, daß Marie versucht war, ihn zu trösten, und ihre Empfindelei noch ungerechtfertigter fand als vorher. Plötzlich fühlte sie eine starke Sympathie für ihn, völlig unerwartet, von einer Sekunde zur andern. Da sie schwieg und ihn ihr ernster Blick verlegen machte, fügte er mit gezwungener Jovialität hinzu: »Sie dürfen nicht zu streng ins Gericht mit mir gehen. Diese Faulheit ist wahrscheinlich eine Schutzvorrichtung. Jeder Mensch hat gewisse Wächtereigenschaften, sie funktionieren wie das Fett auf den Muskeln, wie die Leukozyten im Blut. Item ... ich bin ja auch nicht zufrieden mit mir. Gar nicht, gar nicht, das können Sie mir glauben.«
Sie hatte nicht vorausgesehen, daß ihn ihr unüberlegtes Zur-Rede-Stellen beschäftigen würde. Er schien wenig Bescheid über sich zu wissen, infolgedessen war er bestürzt, wenn man etwas an ihm aussetzte. Dann wurde er nicht fertig damit; Marie erinnerte sich lächelnd, daß ihr Vater solche Leute Nagetiere genannt hatte. Und doch war es manchmal wieder nicht so, manchmal schien es ihm Spaß zu machen, etwas Bezeichnendes über sich zu erfahren, auch wenn es keineswegs schmeichelhaft war, oder er forderte sogar in einer gutmütigen Weise den Spott über sich heraus. Dazu sind nur sehr gefestigte Naturen imstande, die ihrer Wurzeln sicher sind. Warum aber dann das Einbekenntnis der Selbstunzufriedenheit? Sie hatte geglaubt, er ruhe unverrückbar in seiner eigenen Kraft. Diese stille, gleichsam ein für allemal gewährleistete Kraft strömte Ruhe aus und verlieh Ruhe, man wünschte nicht, sie bezweifelt zu wissen. Während sie darüber nachdachte, fing sie an zu begreifen, was Irlen zu ihm hinzog. Es war der Gegensatz der dunklen und chaotischen Natur zu seiner hellen und geordneten. Er hatte es einmal angedeutet. Wie wenn eine mythische Bindung darin läge, Urverwandtschaft hinter Urfremdheit. Ob es ein ähnliches Gesetz war, das ihn in die afrikanischen Wildnisse geführt hatte? Er hatte von Kerkhovens »Güte« wie von etwas Seltenem gesprochen, das nicht hoch genug einzuschätzen war (dabei verhehlte er nicht, daß ihn gewisse problematische Züge seines Charakters mit Sorge erfüllten); offenbar verstand er unter Güte nicht ganz das, was man gemeinhin darunter versteht, sondern etwas wie das Karat eines Diamanten.
Es verstimmte Marie und setzte sie vor sich selbst noch mehr ins Unrecht, als an einem der nächsten Tage die Senatorin Irlen während eines Mittagessens bei ihren Enkelkindern ziemlich schroffe Kritik an Kerkhoven übte. Daran bin ich schuld, dachte Marie. Offenbar hatte sie einen Lieblosigkeitsbazillus ins Haus getragen, der günstigen Nährboden fand. Frau Irlen war bereit, alle Vorzüge des Doktors anzuerkennen. »Mag er meinetwegen ein Engel sein«, sagte sie, »aber auch ein Engel muß einem auf die Nerven gehen, wenn er so hoffnungslose Manieren hat wie dieser Mann.« Ernst Bergmann, in dem ritterlichen Bestreben, einen Abwesenden zu verteidigen, fragte lächelnd: »Wirklich, Großmama? Gesetzt den Fall, ein Engel könnte schlechte Manieren haben, würde man nicht darüber hinwegsehen müssen?« Die alte Dame behauptete: nein; sie wolle gut behandelt werden, wenigstens von Menschen, im Umgang mit Engeln fehle ihr schließlich die Erfahrung. »Ich lege Wert darauf, daß man mich achtet, und brauche die äußern Zeichen dafür. Ich lasse mir nicht gern auf die Zehen treten. Findet ihr das zimperlich? Ein manierlicher Dummkopf ist mir eben lieber als ein taktloses Genie.« – »Er ist nicht taktlos, gewiß nicht«, wagte Marie einzuwenden, »Genie, das kann ich nicht beurteilen, aber taktlos? Nein.« – »So etwas dürfte man auch erst sagen, wenn wir mit Genies so reichlich versehen wären wie mit Dummköpfen«, bemerkte Ernst Bergmann lachend. Die Senatorin seufzte wehleidig. »Was verlangt man denn?« fuhr sie in einem Ton fort, als beklage sie ein ganzes Zeitalter der Ungeschlachtheit. »Ein bißchen Firnis. Ist das so schwer? Man muß nicht mit Gewalt einen Kinderschreck aus sich machen. Man muß nicht in die linke Zimmerecke stieren, wenn einem rechts jemand freundlich zunickt. Man muß auch nicht, während eine gewisse alte Frau was erzählt, mag's interessant sein oder nicht, mit furchtbar gelangweilter Miene die Daumen umeinander drehn. Nein, liebe ???bös K[R]inder, bei aller Toleranz, aller Achtung vor der Wissenschaft kann ich unmöglich zugeben, daß das zu den ... wie sagt man? – zu den unveräußerlichen Rechten der Persönlichkeit gehört.« Sie nickte wie eine Hofdame und legte den Kopf resigniert auf die Seite. Ernst Bergmann spürte, wie unangenehm das Gespräch für Marie war, und lenkte es geschickt auf ein anderes Thema. Der Grad seiner Sympathie für Kerkhoven ließ sich schwer bestimmen. In der unbegrenzten Bewunderung, die er seiner Frau entgegenbrachte, hatte er bis jetzt alles, Menschen und Dinge, mit ihren Augen angesehen. Trotzdem war eine kühle Zurückhaltung gegen den ihm innerlich sehr fremden Mann nicht zu verkennen; sie schwand erst, als er Ende November an einer heftigen Gastritis erkrankte, die Kerkhoven behandelte. In den Tagen der Rekonvaleszenz gestand er Marie, daß er seine Ansicht über ihn völlig geändert habe. Als Arzt jedenfalls habe er etwas ganz Einzigartiges. »Wenn ein Musikinstrument Empfindungen hätte, müßte es sich in der Hand eines Virtuosen ungefähr so fühlen«, sagte er; »es geht eine magische Wirkung von ihm aus.« Marie antwortete lebhaft, genau dasselbe sage Onkel Irlen auch. (Damals war das Wort »magisch« noch nicht so mißbraucht und abgegriffen wie heute.) Da schwieg aber Ernst. Sonderbar: ihre Schwärmerei für Irlen hatte von Anfang an seine heimliche Eifersucht erregt. Während er an ihrem wachsenden freundschaftlichen Interesse für Kerkhoven nicht das geringste auszusetzen fand und sich jeder mißtrauischen Regung geschämt hätte, beunruhigte ihn die leidenschaftliche Ergebenheit, mit der sie an Irlen hing, täglich mehr, und oft hatte er Mühe, seinen Verdruß zu verbergen. Dabei war er sich der Unvernünftigkeit dieser Haltung vollkommen bewußt, aber es war, als stehe sein Wert gegen den Irlens in einer Proportion, aus der ein Kerkhoven von vornherein ausgeschaltet war. Marie fühlte es natürlich. Was konnte sie anderes tun als die Zärtlichkeit verdoppeln, mit der sie ihren Gatten immerfort umgab? Ihr Lebensgleichgewicht war ja um diese Zeit ernstlich gestört.
Eines Tages bekannte sie Irlen die eigentümliche Unsicherheit, in die sie durch ein voreiliges Wort gegen Kerkhoven geraten war, erzählte auch, wie absprechend sich die Großmutter über ihn geäußert habe. Sie war befangen wie immer, wenn sie sich an ihn als an die höhere Instanz wandte. Er hatte aufmerksam zugehört; als sie geendet hatte, sagte er: »Es ist eine schwierige Sache. Was den sogenannten guten Manieren Bedeutung gibt, ist das, was man damit darstellt. Benutzt sie einer bloß, um sich selber zu präsentieren, so werden sie auf die Dauer verdächtig. Das Verhältnis zur Welt mit allen seinen Bezogenheiten ist eben etwas äußerst Heikles. Man stellt sich dar, das heißt, man regelt seine Verpflichtungen gegen die Gesellschaft. Es fragt sich, ob man ein Convenu anerkennt. An einem alten Tor in Oxford stehen die Worte: manners make men. Vielleicht ist das richtig. Das Wunderliche ist, daß man bei wilden Völkern viel mehr gute Manieren findet als bei uns. In unser Lager wurde einmal eine Akkafrau gebracht, von einem Zwergenstamm. Sie würde Ihnen höchstens bis zur Schulter reichen. Sie war splitternackt. Ich kann Ihnen versichern, Marie, ich habe nie ein manierlicheres Geschöpf gesehen. Wie sie sich benahm, bewegte, man hatte eine Lady vor sich, an die Nacktheit dachte man gar nicht mehr.« Er schwieg eine Weile, die Hand über die Augen gelegt, dann fuhr er fort: »Meine Mutter ist ungerecht. Sie sieht bei Kerkhoven die Ausnahme nicht. Sie ist zu verwöhnt, um sich auf eine solche Unbequemlichkeit einzulassen, man muß es auch nicht von ihr verlangen. Gott weiß, was ihr vorschwebt, die Erziehung eines Halbproletariers zur Salonfähigkeit vielleicht. Rühren wir da nicht unvorsichtig an. Der Mann steckt unter einer Eisdecke. Die muß er erst durchstoßen. Er hat keine Zeit, Figur zu machen und sich um unser Zeremoniell zu kümmern. Hat nie die Zeit gehabt. Was uns ein gnädiges, aber gedankenloses Geschick in die Wiege gelegt hat, darum hat er blutig ringen müssen und muß es noch. Vergessen Sie das nicht, Marie. Vergessen Sie die Eisdecke nicht.« Marie nickte drei- viermal rasch hintereinander, und bei jedem Mal sagte sie: »Ja; ja; ja.« Im Ton einer dankbaren Schülerin. Das Bild der Welt war ihr plötzlich größer geworden.
Kerkhoven war nicht auf den Kopf gefallen und spürte den Widerspruch, den er durch seine Art bei der Senatorin Irlen hervorrief, obwohl sie ihm meist mit einer betonten Liebenswürdigkeit begegnete, zu der sie sich als Dame von Welt und als Oberhaupt der Familie verpflichtet hielt. Das war es ja, daß sie ihm ihre Stellung zu fühlen gab; sie rückte an der Spitze ihrer gesamten Kaste gegen ihn an und bewies ihm durch die Musterhaftigkeit ihrer Haltung, wie sehr die seine zu wünschen übrigließ. Er spottete; er lachte; er ärgerte sich. Manchmal benahm er sich wie jemand, der arglos in einen Raum tritt, alle Blicke auf sich gerichtet glaubt und die peinliche Empfindung nicht los wird, ein Loch in der Hose zu haben und sich davon nicht vergewissern zu dürfen. Manchmal übertrieb er absichtlich eine Verfehlung, wenn er an den Mienen bemerkte, daß er im Begriff war, sie zu begehen. Dann konnte es vorkommen, daß ein Blick, ein Achselzucken Maries ihn beschämte und er sich so ungeschickt zusammennahm wie er sich ungeschickt hatte gehenlassen. Verdammt, dachte er dann, diese Leute sind mir über, und wenn ich nicht herauskriege wodurch, bin ich in Gefahr, ihnen den Tanzbären abzugeben. Da weit und breit kein Grund zu erblicken war, weshalb sie sich ihm anpassen sollten, entschloß er sich widerwillig, es seinerseits mit der Anpassung zu probieren. Es war nicht leicht.
Allmählich dämmerte ihm die Erkenntnis auf, daß sich eine knallgrüne Krawatte über einer schwarzen Samtweste mit roten Karneolknöpfen übel ausnahm. Daß gelbe Schuhe zum schwarzen Gehrock und grauen Schlapphut der Erscheinung eine exotische Unglaubhaftigkeit verliehen. Nach und nach verschwanden die pittoresken Westen und Schlipse in aller Stille von der Bildfläche. Die Haare wehten nicht mehr borstig um den Kopf, sie waren schlicht zurückgebürstet, was den Vorteil hatte, daß eine bemerkenswert schöne Stirn dominierend wurde. Beim Betreten eines Zimmers versuchte er ein heiteres Gesicht zu zeigen, auch wenn Irlen nicht allein war, und auf Fragen, die man an ihn richtete, ohne verletzende Zerstreutheit zu antworten, auch ohne die nicht minder verletzende Beflissenheit des Tschechowschen kleinen Beamten. Er gewann es über sich, der Frau des Hauses den Vortritt zu lassen, wenn sie zu gleicher Zeit durch eine Tür zu gehen hatten, und zog nicht mehr den Hornzahnstocher aus seinem Taschenmesser, um damit zur Bekräftigung seines Nachdenkens in den Mund zu fahren. Errungenschaften. Sie wurden auf der andern Seite gebührend anerkannt. Marie hatte dann eine Art, ihm zuzulächeln, die ihn an die Vorstellung erinnerte, die er als Knabe vom Ritterschlag gehabt. Ihr Verhalten in dieser für ihn scheinbar so unbedeutenden und kleinlichen, in Wirklichkeit weittragenden, weil sein Bewußtsein weckenden, sein Selbstgefühl straffenden Angelegenheit gab ihm wichtige Aufschlüsse über ihren Charakter. Er fand, daß die sympathetischen Handlungen der Menschen genauso gesetzmäßig gegeneinander wirken wie die mathematisch bestimmten Bewegungen der Himmelskörper. Er entdeckte Verstand bei ihr, eine höchst anziehende Form davon, und wunderte sich. Schließlich, sie war ein Frauenzimmer, ihr versteht, außerdem so jung, dreiundzwanzig vielleicht. In der Tat, drang man hinter die Hülle reizbarer Scheu und zaghafter Abgeschlossenheit, so leuchtete unversehens eine zarte Klugheit auf, von leiser Selbstironie umflort und listig immer wieder in die Entfernung gerückt, wie man eine Lampe wegträgt, deren Licht möglicherweise zu grell ist für die unbeträchtlichen Dinge, die sie bescheinen soll. (»Nein, schaut lieber nicht hin, es heißt nicht viel.«) Und immer behielt sie etwas von sich zurück; hätte man dem nachgehen wollen, so hätte sie wahrscheinlich alle Wege verrammelt, mehr erschrocken als erzürnt. Irlen sagte einmal von ihr: Sie erinnert an einen Pagen, der die Geheimnisse seines Herrn hüten muß.
Nun, ihre eigenen wußte sie mindestens ebensogut zu hüten.
Er kam oft mit ihr ins Gespräch. Sie faßte leicht Zutrauen. Da ihr jede Launenhaftigkeit fremd war, blieb sie sich im Umgang immer gleich. Das verringerte nicht den Reiz, der in der Unterhaltung mit ihr lag, es erhöhte ihn. Durchsichtiges Wasser hat größere Lockung als trübes. Sie sprachen, wieder und wieder, von Irlen, seinem Schicksal, seiner geistigen Art, dem unergründlichen Zauber seiner Persönlichkeit. Da kam dann auch ein anderer Kerkhoven zum Vorschein als der etwas kleinbürgerlich angehauchte Doktor, der den Leuten von Welt Stoff zu mokanten Glossen lieferte, ein völlig anderer Mann war das, unheimlich in manchem Betracht. Am unvergeßbarsten erfuhr es Marie bei einem gemeinsamen Spaziergang; sie gingen von der Villa ein Stück gegen den Hexenbruch hinauf. Nach zwanzig Jahren noch erinnerte sich Marie an jedes seiner Worte, an jeden einzelnen Baum an der menschenleeren Chaussee, an die kleinen Hügel welker Blätter, die vom Wind aufgehäuft unter ihren Füßen raschelten, an die Krähen, deren schwarze Körper sich in drohend langsamen Flugbahnen gegen den milchigen Himmel abzeichneten.
Er begann mit der Feststellung, daß die Bekanntschaft mit Johann Irlen zum überwältigenden Erlebnis für ihn geworden sei und alle seine Maße verändert habe. »Unfaßlicher Zufall, der mir den Mann in den Weg geführt«, sagte er mit grüblerischem Ausdruck. Als Marie bei dem Wort Zufall den Kopf schüttelte, korrigierte er sich. Natürlich, Zufall, das heiße nichts. Gnade müsse man's nennen. Aber kaum hatte er es ausgesprochen, nahm er es wieder zurück. Gnade, nein; Gnade stimme nicht mit seiner Gemütsverfassung überein; die sei derart, daß er eher behaupten könne, es gereiche ihm zum Unheil. »Warum?« forschte Marie erschrocken. Es sei eben so, er sehe nicht ab, was da werden solle, antwortete er unbestimmt. Marie wollte sich damit nicht begnügen, sie forderte ihn auf, zu erklären, was er meinte. Er sagte widerstrebend: »Es gibt Fälle, wo der Arzt ein Heiland sein muß, wenn er nicht als Schwindler dastehn soll.« Marie zuckt zusammen. Sie bleibt stehn und schaut ihn an, als hätte sie sein Gesicht bis zu diesem Augenblick nie richtig betrachtet. Beim Weitergehn hält sie den Kopf tief gesenkt. »Das ist der springende Punkt«, führt Kerkhoven fort, indem er gegen den dunkler werdenden Westhimmel starrt, »diese gräßliche Krankheit. Daß man ohnmächtig zusehn muß. Da hilft kein Studieren und Nachschlagen in Büchern. Die Kollegen zucken die Achseln. Die Autoritäten haben es bis zu soundsoviel Prozent Heilungen gebracht. Das Mittel, versichern sie, ist probat. Es wirkt ja auch in den meisten Fällen; bei der einen, einmaligen Konstitution Irlen scheint es zu versagen. Ich möchte noch nicht abschließend urteilen, aber ich fürchte, es ist ein unaufhaltsamer, wenn auch schleichender Prozeß. Was tun? Man leiert sein Sprüchlein her, zerdenkt sich das Hirn, kein Lichtblick, kläglicher Bankrott. Ich kann nicht in das vergiftete Blut hinein, ich hab' die Gewalt nicht, das Auge nicht, ich kann's nicht erzaubern, ich muß bei meinem dilettantischen Hokuspokus bleiben. Klar, nicht? Und jetzt kommt das Beschämendste. Er weiß, daß ich nichts weiß, aber aus Noblesse stellt er sich, als glaube er an den Hokuspokus. Er hat doch diesen wunderbaren Organinstinkt, wenige Menschen besitzen ihn in solcher Vollkommenheit, es ist ein fabelhaft präziser Meldedienst, das gibt es, darin verhält er sich zu den Durchschnittsnaturen wie... na, wie ein kostbarer Chronometer zu einer ordinären Taschenzwiebel. Sie haben mich einmal gefragt, Frau Marie, ob ich nicht einen Professor zur Behandlung beiziehen will. Ich hab's damals für zwecklos erklärt. Es mag Ihnen vermessen vorgekommen sein, Sie werden sich gedacht haben, der Mann muß sich verteufelt sicher fühlen, daß er so große Verantwortung übernimmt. Ich kann Ihnen gestehen, daß mir nachher allerlei Bedenken aufgestiegen sind und mir nicht ganz wohl war in meiner Haut. Das ist vorüber. Sie schaun mich erstaunt an. Ja, was ich Ihnen jetzt sage, klingt sehr merkwürdig: Heute, wo ich doch weit und breit keine Hoffnung sehe, wo ich eigentlich nichts tue als auf das Wunder warten, das die Wendung bringen könnte, heute ist mein Gewissen in der Hinsicht weniger als je beunruhigt, und wenn Sie mich wieder fragten: Hand aufs Herz, Doktor Kerkhoven, können Sie es allein auf sich nehmen, ich würde ohne Zaudern antworten: Ja.« – »Wie das?« fragte Marie kaum hörbar. Kerkhoven schwieg eine Weile erregt in sich hinein. »Das ist schwer«, entgegnete er, und sein Schritt verlangsamte sich, »wie soll ich das ... Nämlich, ich kenne seinen Körper, wie ihn kein andrer kennen kann. Ich hab' mich mit ihm beschäftigt, ihn erforscht, untersucht und wieder untersucht, hab' seine innere und seine äußere Beschaffenheit langsam entziffert wie eine Rätselschrift; aber das ist schließlich Sache der Geduld, der Erfahrung, der Einsicht, darin wäre mir der betreffende Herr Kollege in jedem Fall voraus. Das mein' ich nicht. Sondern ... Passen Sie mal auf, Frau Marie. (Er packte sie beim Handgelenk.) Blicken Sie mal dort hinüber, auf den Hügelsaum, da leuchtet noch ein schmaler Scharlachstreifen, sehn Sie nichts?« – »Nein, nichts...« flüsterte Marie verwundert. – »Aber ich. Ich sehe den Körper von meinem Freund Irlen.« Marie schauderte unwillkürlich, als werde ihr ein Gespenst gezeigt. Sie hatte einen Moment das Gefühl, Irlen sei tot und Kerkhoven sähe ihn als Geist. Und wie er das Wort Freund aussprach, das er gleich darauf wiederholte, als wolle er es auf seinen Gehalt nachprüfen (»Freund ... ich hab' nie einen gehabt, er ist der erste«,) berührte sie im Innersten. Auf einmal war sie unscheinbar klein neben ihm, schutzbedürftig, weltverloren. In Irlens Nähe war sie nie »verloren«. Irlen blieb stets in seinen Grenzen, er war kein dunkles Elementarwesen, das andre aus der Bahn schleudert. Ja, es war, als entglitte ihr der Boden, als entglitte sie sich selbst. Noch immer schaute sie naiv-gebannt in die von Kerkhoven gewiesene Richtung. Trotz des Dämmerlichts konnte sie die Ruhe in seinen Zügen wahrnehmen, da begriff sie, daß er keineswegs phantasierte, und als er das Wort wieder an sie richtete, büßte der Vorgang zwar nicht seinen geheimnisvollen Charakter ein, aber was Wirklichkeit an ihm war, trat um so ergreifender hervor.
Durch die innige Hingabe an den einen Gegenstand, Ziel der Obsorge, war Kerkhoven mit Irlens physischer Beschaffenheit so vertraut geworden, daß er sich die leibliche Gestalt wie das Spiel der inneren Teile in jedem beliebigen Augenblick bis zur vollkommenen Sichtbarkeit vergegenwärtigen konnte: eine durch den Willen beschworene Halluzination. (Ähnlich wie ein Maler durch beständig wiederholtes Anschauen des Modells das Bild zuletzt auswendig auf die Leinwand zu setzen vermag.) Es gelang ihm dies mittelst einer Anspannung, die auf der den ganzen Raum seiner Seele füllenden Sympathie beruhte. Damit schien sich ein Problem von selbst zu lösen, über das er oft nachgedacht hatte: ob Zuneigung und freundschaftliche Verbundenheit mit dem Leidenden den Blick des Arztes trüben und seine Entschließungen lähmen müssen oder ob sie, von der Angst umflackert, die Sinne schärfen, die Kräfte jeweils steigern. Er erfuhr das letztere.
Er sah den Körper des Freundes in verschiedener Art. Manchmal so, wie wenn an Stelle des Herzens eine Quarzlampe hinge, die die Hautwand durchsichtig machte. Näher lag freilich die Ähnlichkeit mit einem vor dem Röntgenapparat befindlichen Objekt. Das Muskelgeflecht ein verwirrendes Kreuz und Quer rotglühender Bänder. Dahinter die Knochen wie Säulenschäfte; wie Schwibbogen; wie Tragflächen und Schalen, in allen Größen, senkrecht und waagrecht. Nieren, Leber, Milz, Eingeweide, Magen und Hirn, jedes in seiner unverkennbaren Bildung, seltsamen Tiefseeorganismen verwandt und im Gegeneinanderwirken ihrer Funktionen wie lautlose Dynamos und Regulatoren in Blasen-, Schlauch- und Schwammform. Der Schleimstrang des Rückenmarks in seinem gotisch gezackten Rohr aus beweglichen Gliedern. Die unsäglich verästelten Gewebe und Schaltwerke der Nerven; Silberdrähte, Seidenfäden, polypische Büschel, in zitternder Empfindlichkeit das Feste und Halbfeste, Feuchte und Trockene umspannend, die Sinne scheidend und zugleich vereinigt ins Bewußtsein ziehend. Die schlabbrigen Säcke und Traubengehänge der Drüsen. Das Herz, die rätselhafte Pumpmaschine, selber wie eine nicht ganz verhärtete Riesendrüse. Der Blutlauf in zahllosen Kanälen, von der königlichen Aorta bis in die äußersten Kapillargefäße; das hatte etwas wie purpurne Musik; alle diese Arterien, carotis, occipitalis, brachialis, radialis, ulnaris, femoralis und wie sie sonst hießen, waren wie die einzelnen Pfeifen in einem geisterhaft lautlosen Orgelkonzert.
Eine anatomische Vision. Allein sie hatte nur den Bezug auf Irlen. Es war der Irlensche Leib, der Irlensche Körperstaat, dessen allgemeine Verfassung den anthropos ausmachte, die Gattung, homo sapiens, dessen persönliche Besonderheit aber einmalig war, nie wiederkehrend, nie wieder möglich. Und wenn man in seiner Erforschung weit genug vordrang, bis zum Plasma, bis in den Zellkern, bis in die geheimsten Schwingungen unwahrnehmbarer Nervenfasern, war es dann nicht denkbar, mit Hilfe der Angst und der Liebe denkbar, daß man damit Klarheit und Wissenschaft für die gesamte Spezies erlangte, da doch das höchst entwickelte Exemplar alle geringerwertigen in sich schließt? Dieser Gedanke verfolgte Kerkhoven mit der Hartnäckigkeit einer Wahnidee. Was macht den wahren Arzt? In die Form des andern Menschen schlüpfen, daß das Gebrechen zum Bild wird. Der Ausdruck »Bild« genügte ihm jedoch nicht, er ersetzte ihn nach einigem Suchen durch den ihm treffender erscheinenden »Engramm«, den er Marie erst erklären mußte. »Über die Zerstörungsarbeit der Parasiten können wir uns nicht mehr täuschen«, sagte er, »die Frage ist: wie das Unheil aufhalten? Es kommt mir manchmal fast vor, als wenn die äußern Eingriffe den Verlauf tückisch verschleiern würden. Vorgestern bekam er nach der Injektion in der Nacht heftiges Erbrechen. Alles bleibt in der Latenz. Drei Wochen lang sieht es wie Besserung aus, dann die ärgste Rezidive. Ist das Mittel zu schwach, zu stark? Sind die Zwischenräume in der Dosierung zu lang, zu kurz? Am Ende treibt man den Teufel mit Beelzebub aus. Oder vielleicht mästen sich diese ... diese Trypanosomen bei der Behandlung, statt daß sie krepieren? Woher soll man das alles wissen? Es geht nicht vorwärts, es dreht sich im Kreis. Bisweilen kommt mir der verrückte Einfall: Die Krankheit wäre bekämpfbar, nur der Kranke steht dem entgegen. Die Krankheit kann ich erreichen, den Träger nicht. Sie verstehen nicht? Tut nichts, hören Sie gar nicht zu. Gestern abend wollte er gerade anfangen zu erzählen, was zwischen ihm und Otto Kapeller gewesen ist, ich erinnerte ihn an die Geschichte, er hatte mir's mal erlaubt, ihn zu erinnern, das alles interessiert mich ja brennend, sein Leben, seine Vergangenheit, daraus lassen sich Schlüsse ziehn, es gehört für mich gewissermaßen zur Anamnese. Na, schön; er hatte noch nicht zehn Worte gesprochen, da wird er aschfahl im Gesicht, kann die Zunge und den Kiefer nicht mehr bewegen, die Augen sind weit offen und blickstarr. Ich wußte, das geht vorbei, es war ja nicht der erste derartige Anfall, und wie ich mich über ihn beuge und ihm in die Augen schaue, seh' ich wie in einer Zauberkammer die innere Verheerung, Leber und Milz vergrößert, Lymphdrüsen vergrößert, Lunge und Magenschleimhaut blutend, das Knochenmark dunkelrot statt grau, die Gefäßwände verändert, die Blutzusammensetzung verändert, alles im Augenhintergrund signalisiert, aus dem Brunnen herauf, der Menschenleib ist ja der tiefste Brunnen der Welt, mir ist so was nie begegnet, mir war zumut wie... na wie soll ich's denn sagen, genau wie dem gewissen Rafael ohne Hände. Was kann mir die Gabe nützen, wenn sie mir andrerseits alle meine Wissenslücken – guter Gott, Lücken! – Gähnende Schlünde! – wenn sie mich meine himmelschreiende Ignoranz hundertfach fühlen läßt? Besitz' ich nicht wenigstens das Ungefähr von dem, was zur Stunde gewußt wird und gelernt werden kann, so bleib' ich auf ewig, was ich bin, nämlich ein Tropf und Scharlatan. Glauben Sie mir, Marie, das ist die Wahrheit. Man bringt's ja nicht einmal so weit, zu wissen, was man nicht weiß. Plätschern, schwimmen, raten; schauderhaft.«
Endlich erkannte Marie seine Not. Sie mußte an Irlens Wort von der Eisdecke denken. Was sollte sie erwidern; die Hilflosigkeit krampfte ihr das Herz zusammen. Im zaghaften Verlangen, ihn zu trösten oder nur zu bedeuten, daß sie da sei, ein mitempfindender Mensch, strich sie ihm mit der Hand über den Rockärmel. Er merkte die mutlose Bewegung gar nicht; in seiner Benommenheit, es war inzwischen finster geworden, stolperte er in den Straßengraben und arbeitete sich leise schimpfend wieder heraus. Da sagte Marie: »Das schlimmste ist, scheint mir, in einem Zustand beharren, den man unerträglich findet.« – »Sehr richtig, kluge Frau Marie, aber wie stellen Sie sich vor, daß ich ihn ändern soll?« – »Daß Sie so fragen, wundert mich nicht. Ich glaube, jeder Mensch, der vor etwas Neuem steht, muß so fragen. Ich, ich weiß es natürlich nicht. Aber wenn Sie's nicht wüßten, insgeheim wüßten, mein' ich, dann hätten Sie mir ja das alles nicht gesagt. Hab' ich recht oder nicht, Doktor Kerkhoven?« Nun geschah etwas ziemlich Sonderbares. Kerkhoven griff in die Tasche, holte eine Streichholzschachtel hervor, zündete eins der Hölzer an, und als es aufflammte, hielt er es Marie vor das Gesicht. Im Schein des Lichts sah er sie an, nickte ernsthaft und warf das noch brennende Holz auf die Erde. »Ich glaube, wir müssen umkehren«, sagte Marie nach einer Weile verwirrt.
Was sich unterdessen mit Nina Kerkhoven zutrug, ist ein trüber Teil dieses Kapitels. Sie hat längst gemerkt, daß mit ihrem Giuseppe etwas nicht stimmte. Man konnte in dieser Hinsicht nicht wachsamer sein als sie. Wachsamkeit ist vielleicht nicht die treffendste Bezeichnung, da es ein Zustand von Blutsverbundenheit war, vollkommene innere und äußere Gleichrichtung und Gleichfärbung, fast ohne Überschuß von Eigenleben. Ein solches Phänomen ist außerordentlich selten, obschon man nach allem, was über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern geschrieben und gedichtet wird, glauben sollte, es käme alle Tage vor. Zu seiner Entfaltung bedarf es einer Atmosphäre, wie sie das Wachstum der Blumen begünstigt, temperierte Wärme; Nina war durchaus ein blumenhaftes Wesen, und jene unveränderliche Wärme, die sie brauchte, die spendete ihr Joseph Kerkhoven mit seiner breiten, an einen gutgeheizten Kachelofen gemahnenden Natur. Dieser Ersatz für südliche Luft und Sonne hatte sie bei der Verpflanzung in ein Klima, wo der Winter sechs Monate dauerte, wahrscheinlich vor dem sonst unvermeidlichen Seelenfrost behütet.
Sie war allgemein beliebt. Die Frauen der Nachbarschaft rühmten ihre häuslichen Tugenden, ihre Gefälligkeit und Anspruchslosigkeit. Die Männer hielten schmunzelnd mit ihrer Meinung zurück, als sei ihre Zustimmung ein Preis, um den möglicherweise noch gekämpft werden könne. »Reizendes Weibchen«, schnalzten sie am Stammtisch und schleuderten einen lüsternen Jägerblick in die imaginäre Richtung des glücklichen Besitzers. Da es sich dabei um Honoratioren handelte, Beamte, Gymnasial- und Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure und so weiter, war die trotz ihrer Rebellenvergangenheit stockbürgerliche Nina zufrieden im Bewußtsein, daß ihr gehuldigt wurde; das geringste Mehr hätte sie schockiert. Die Italienerin lebt sich nie aus der Provinz heraus, und das Gefühl, daß eine Frau verschuldetermaßen Freiwild ist, wenn sie die Liebe ihres Gatten verliert, gehört zu ihren geheiligten Vorurteilen.
In der letzten Zeit hat ihr mancherlei nicht mehr gefallen. Sein Appetit hat nachgelassen, der jungenhaft gesunde Hunger, mit dem er von den Krankenvisiten nach Hause gekommen ist, um erst in der Küche vergnügt zu schnuppern, il ficcanaso, und zu erspähen, was auf der Pfanne brodelte und im Topf kochte. Er hänselte sie gern mit seiner strengen Doktormiene, machte sich über ihren Eifer lustig und blies auf ihre hochroten Wangen, wie man auf einen Kuchen bläst, der noch zu heiß ist, um gegessen zu werden. Oh, er konnte furchtbar spaßig sein, dieser geliebte Giuseppe, die Leute täuschten sich sehr, wenn sie ihn für einen brontolone hielten, mit Unrecht zitterten sie vor seinen dunklen Zaubereraugen, sie hätten nur sehen sollen, wie er strahlte, wenn sie die köstlich duftenden Spaghetti al pomodoro auf seinen Teller häufte, nicht genug konnte er davon bekommen. Die Bereitung der heimischen Gerichte war freilich eine Sache, auf die sie sich verstand, es war nur in der Ordnung, daß er sie jedesmal laut belobte und eine Meisterin des Faches nannte. Aber das hat aufgehört, warum nur, Dio mio? Sie konnte die verführerischste zuppa milanese vor ihn hinstellen, seine Miene erheiterte sich kaum. Wenn ein Mann in den Speisen herumgabelt, statt herzhaft zuzugreifen, ist ihm nicht mehr zu trauen, da hat er was im Sinn, gib acht, Nina.
Die sonderbare Person; sie trieb das Achtgeben so weit, daß sie sich nächtelang wach hielt, um seinen Schlaf zu behorchen. Bei jedem Stocken seines Atmens spitzte sie die Ohren und lauschte, ob er im Traum sprechen werde. Wenn sie aus seinen Armen geschlüpft war, grübelte sie stundenlang in körperlicher Unruhe über seine Zärtlichkeit nach, deren Verminderung sie angstvoll spürte, ohne doch einen andern Grund dafür gelten zu lassen als die eheliche Gewöhnung und die Sorgen des Berufs; erlaubte sie ihren Gedanken nur den kürzesten Flug in die Finsternis ihrer Befürchtung, so fühlte sie ihr Bleichwerden wie kalte Nässe im Gesicht und wühlte die Wangen ins Kissen, um schreckliche Vorstellungen drin zu ersticken. Horchen, horchen... Der schwere Schlaf, den er schlief, das schwere, widerwillige Erwachen, als ob nicht sie da wäre, als ob er nicht zu ihr erwachte... Allerdings ist er beim Aufstehen morgens von jeher kratzbürstig und verdrossen gewesen, allein nach einer halben Stunde hat er meistens den Humor seiner Übellaunigkeit erfaßt und sie gelegentlich im Ton einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung darüber belehrt, daß bei einem richtigen Mannsbild die matinale Verdüsterung kein Charakterdefekt, sondern Ausdruck des allgemeinen Lebensjammers sei, bloß die Windbeutel (fanfaroni) begännen ihren Tag mit Holdrio und fidibum. Derlei zweifelhafte Sprüche, verstand sie sie auch nur halb, söhnten sie mit seiner Brummigkeit wieder aus, wurden doch seine Züge mit jeder Stunde heller. Jetzt hingegen wich das trübe Gewölk überhaupt nicht mehr von seiner Stirn, sie konnte die Hände falten und still-verwundert den Kopf schütteln, soviel sie wollte, er bemerkte es nicht. Was ging denn vor, daß er nach dem letzten Bissen aus dem Haus stürzte? Kaum war die Ordination zu Ende: Mantel, Hut und Tasche und fort; ein paarmal hatte er sogar Patienten weggeschickt, die noch warteten. Wohin, Giuseppe, wohin, caro mio? Er zuckt die Achseln, murmelt etwas zurück. In die Anatomie? In die Poliklinik? Warum denn? Jeden Tag in den Seziersaal, ins Spital, zu Vorlesungen, wozu um Gottes willen, bist doch ohnehin ein großer Gelehrter, was willst du denn noch lernen? Da konnte er sie beim Genick packen wie man eine Katze anpackt und sich zu ihr herunterbeugen und lachen, aber in einer Art, daß sie erschrak und ängstlich die Schultern zusammenzog und, genau wie eine Katze, ein wenig miaute. Auch abends hielt es ihn nicht mehr daheim; ins bakteriologische Institut, in die Bibliothek, zu einer angesagten Nachoperation oder viel öfter, wieder und wieder, zum Major Irlen hinaus aufs Glacis. Was ging da vor, ihr Heiligen! Blieb er jedoch zu Hause oder kam er vor Mitternacht zurück, so setzte er sich ins Sprechzimmer zu den Büchern, die auf seinem Arbeitstisch nach und nach zu kleinen Türmen wuchsen, biologische Werke, psychiatrische, histologische, anatomische, urologische, dermatologische und las, las, las bis drei Uhr, vier Uhr früh, zeichnete, exzerpierte, notierte wie ein Student vor dem Examen, vergaß, daß er müde war, daß er eine Frau hatte, daß um acht Uhr die Berufsarbeit anfing. Wenn sie barfuß hinüberschlich, hinter seinen Stuhl, die Hände auf seine Schultern und ihren unbegreifenden Kummer in den Wohllaut ihrer Muttersprache legte, der ihn stets entzückt und bezwungen hatte, dann wandte er den Kopf zurück und schaute sie an wie eine Fremde, die von der Gasse kommt, als wollte er sagen: Wer bist du, was störst du mich, was schwatzest du; da hielt sie ihr Schluchzen zurück, senkte langsam den Kopf, und ihre Finger spielten schüchtern mit dem silbernen Amulett, das auf ihrer Brust hing, seit der Kindheit trug sie es, fest überzeugt, daß sie ihm alles Glück zu verdanken hatte, dessen sie bis jetzt teilhaftig geworden war.
Sie begriff nicht, begriff nicht und zerdachte sich das Hirn.
Mit dem Einbringen der Außenstände hat es immer schon Schwierigkeiten gegeben, die Leute ließen sich Zeit; besonders wenn sie die Krankheit überstanden hatten, dünkte ihnen die bescheidenste Nota zu hoch, viele erinnerten sich nicht mehr, daß sie wochenlang jeden Tag auf den Arzt gewartet hatten wie auf den Erlöser, es vergaß sich wie das Fieber, Gesundheit ist frech. Die Reichen waren darin die schlimmsten, der Arme neigt eher zur Erkenntlichkeit, er findet jede Forderung gerecht, wenn man ihm geholfen hat, und schämt sich, wenn er die geringe nicht begleichen kann. Mahnen, das hat Giuseppe verboten, das lief der Würde zuwider, auf alle Fälle hatte man sich zu gedulden, bis die Säumigen ihrer Schuldigkeit bewußt wurden. Ganz gut, aber von den Sprechstundenhonoraren allein konnte man nicht leben, war doch ohnehin ein großer Teil dieser Patienten mittellos; die Krankenkassenbesoldung war kaum der Rede wert; die einzige Einnahme, auf die man sich stützen konnte, war die von der Lebensversicherungsgesellschaft, doch die waren nicht mehr mit ihm zufrieden, weil seine ärztlichen Deklarationen in letzter Zeit an Eindeutigkeit zu wünschen übrigließen, wie sie behaupteten, so daß mit Quartalsende die Kündigung zu gewärtigen war. Es hatte Ninas ganzer Sparkunst bedurft, Haus und Wirtschaft zu führen, immer am Rande hin, und sorgloses Behagen vorzuspiegeln, wenn es nur mit Zusammenscharren der letzten Groschen gelang, die Wochenrechnung bei Metzger und Krämer zu bezahlen. Voriges Jahr um Weihnachten herum hat sie sogar ihren Verlobungsring ins Leihhaus tragen müssen, Giuseppe hat es nicht gemerkt, Dio sia lodato. Kein Weg ist ihr zu weit gewesen, wenn sie die Butter um fünf Pfennige billiger kriegen, keine Arbeit zu viel, wenn das Budget verringert werden konnte, ei, Frau Doktor, sagte die Rentamtmannswitwe im ersten Stock, wenn sie um sieben Uhr früh mit dem Einkaufskorb auf den Markt ging, schon wieder fleißig, schon wieder auf den Beinen? Und sie: freilick, ich müssen, ich 'aben keine Sseit... Sie wusch, flickte, stopfte, kochte selber, reinigte das Geschirr, putzte die Fenster, nähte ihre Kleider, machte ihre Hüte, und eh sie sich bei einem häuslichen Schaden einen Handwerker zu rufen entschloß, versuchte sie erst mal die Reparatur auf eigene Hand und gewöhnlich mit Erfolg.
Seit die unheimliche Änderung in seinem Wesen eingetreten, ist aber Giuseppe immer lässiger in Gelddingen geworden. Oft unterließ er es, die Visiten aufzuschreiben; wo keinerlei Gefahr und Dringlichkeit vorlag, wiederholte er den Besuch nicht, ja er bemühte sich, den Patienten von der Überflüssigkeit seines Kommens zu überzeugen, der Körper wolle bloß ruhen und täusche eine Krankheit vor, bei der der Arzt nichts zu suchen habe. Ja, das sagte er, der Dummkopf, als ob die Menschen dergleichen hören wollten, was verschlug's, wenn er den »medizinischen Schutzmann« machte, wie er unwillig zu äußern pflegte, es ist angenehm für die Bürger, den Schutzmann in der Nähe zu wissen, sie haben das Gefühl, daß der Einbrecher dadurch in Schach gehalten wird. Natürlich wurden die Klienten stutzig und holten sich einen andern Doktor, der sich nicht lang bitten ließ, wenn er vernahm, der Herr Kollege habe auf weitere Behandlung verzichtet; schon redete sich's herum, der Doktor Kerkhoven habe einen Span, die vornehme Kundschaft, Bergmanns und der kranke Afrikaforscher, sei ihm zu Kopf gestiegen, wer ihn brauche, müsse nur die Nummer 2625 anrufen, da sei er meistens zu treffen, die besoldeten ihn wahrscheinlich als Leibarzt. Nun, von Sold wußte Nina leider nichts, sie ärgerte sich, als ihr das Spießbürgergeschwätz zu Ohren kam, aber was ihn eigentlich in das Haus und zu jenem Major Irlen zog, wußte sie auch nicht, gar so krank konnte der Mann doch nicht sein, man sah ihn ja manchmal im Wagen fahren oder, auf einen Stock gestützt, auf dem Residenzplatz und im Hofgarten, eine hübsche junge Person war meistens mit ihm; hatte ein interessantes Gesicht, der Mensch, alle Leute blickten ihm nach; hätte Giuseppe ihr nur erklärt, warum er jede freie Stunde dort verbracht, aber nein, kein Sterbenswort, als ob es ihre Art sei, ihm zur Last zu fallen, wenn das Verständnis über ihren Horizont ging; als ob es ihr nicht schon genügte, wenn er den Versuch machte. Aber so stumm, so lieblos stumm ...
Nina, ein Kind aus dem Volk, ahnte nichts von Problemen des Geistes und der Tragik geistiger Krisen. Was ihre Sinne nicht faßten, blieb ohne Sinn für sie, und weil die Frage nach der tieferen Ursache von Kerkhovens Wandlung überhaupt nicht in ihr entstehen konnte, umkreisten ihre verstörten Gedanken unablässig den einen Punkt, der die Mitte ihres Lebens bildete, den kleinen Herzraum ihrer kleinen Welt. Wie einfach sie war; einfach wie ein Tier. Daß sie seine Liebe verlieren könne, diese Möglichkeit hat sie noch niemals in Betracht gezogen, ebensogut hätte sie sich vorstellen können, die Alpen würden eines Tages vom Erdboden verschluckt werden, an die Unverrückbarkeit dieser Liebe glaubte sie mit derselben ruhigehernen Zuversicht wie an den Augenschein ihrer und seiner Existenz, deshalb hat sie auch nie eine Regung der Eifersucht verspürt, er und eine andere Frau, Jesus Maria, so was zu denken war schon verrückt, die Seele nahm es gar nicht auf. Und doch, es ist nicht mehr so, wie es in all den Jahren gewesen ist, immer hat er sich in der gleichen vertraulichen Nähe befunden, sie mochte allein sein oder unter Menschen, immer war er da, jetzt war es, als ginge er mit jedem Tag weiter von ihr weg, von unsichtbarer Hand unaufhaltsam gezogen, jeden Tag ein Stück mehr, bald wird die Entfernung so groß sein, daß ihn auch ihr Ruf nicht mehr erreicht. Warum? Warum? Hat am Ende sie selbst sich verändert? War sie nicht mehr schön, hat ihre Stimme die Musik eingebüßt, ist ihr Körper fett geworden, ihre Umarmung ohne Feuer, ihr Kuß ohne Süße? Was denn, was denn, es mußte wohl etwas davon sein, aber etwas, wovon sie nicht wissen konnte, denn ihr Äußeres, Haut, Figur, Bewegung, Gang, hat nicht gelitten, der Spiegel log nicht, und ihre Augen sahen gut. Vielleicht hat sie eine Sünde begangen, ist ihm ungehorsam gewesen, vielleicht war sie zu begehrlich, oder zu lau, oder hat es an Achtung fehlen lassen, oder an Freundlichkeit oder an Eifer für sein leibliches Wohl, oder hat nicht immer ganz fest an ihn geglaubt, ihm manchmal die Ehrfurcht in ihrem Herzen verweigert, die er hat fordern dürfen wie kein Mann sonst? Sicherlich lag es daran, und nicht zufrieden mit der strengen Gewissenserforschung, die sie alsbald vornahm, ging sie zur Beichte und zum Abendmahl, kniete täglich eine Stunde lang vor dem Altar der Neumünsterkirche in inbrünstigem Gebet, und eines Tages wallfahrtete sie mit vielen frommen Pilgern zur Kapelle auf dem Nikolausberg, stieg in heiliger Sammlung die zahllosen Steinstufen auf den Knien hinan. Es fruchtete nicht, es wurde nicht besser. Da suchte sie eine Wahrsagerin und Kartenlegerin auf, deren Wohnung in der Domschulgasse ihr das Fräulein in der Papierhandlung unten verraten hatte; beschämt wegen der Verschwendung schob sie das Zweimarkstück auf den Tisch, hielt erregt das rohe Ei in der Faust, dessen Weißes die Prophetin dann in ein mit Wasser gefülltes Glas tropfen ließ, um aus den Figuren die Zukunft zu verkünden; atemlos verfolgte sie den Fall der Karten; klopfenden Herzens streckte sie die offene Hand hinüber, in deren Linien sich das Schicksal offenbarte; aber was sie schließlich erfuhr, war zu vieldeutig, als daß sie Hoffnung hätte draus schöpfen können, Warnung und Trost durcheinander, Unsinn und Belehrung, so kindisch war sie doch nicht, das Gefasel von einer jungen Dame, die ihr auf dem »Weg entgegenstehe« und eine »böse Botschaft« für sie habe, ernst zu nehmen, da konnte sie sich nicht halten, brach in schallendes Gelächter aus und rief: »tante grazie, padrona, basta, basta, a rividerla; guten Abend ...« Die Magierin schaute ihr verblüfft nach, die Lustigkeit hatte nicht ganz echt geklungen. In ihrer Mädchenzeit hatte Nina einmal gehört, daß es Zaubertränke gebe, mittelst welcher eine Frau die Liebe ihres Mannes zurückgewinnen könne, wenn sie merkt, daß sein Gefühl für sie erlahmt. Sie erinnerte sich sogar an ein Rezept: Eisenhut und Pappelblätter gekocht und mit Ruß und einer Unze frischen Bluts aus dem eigenen Körper gemischt; ein Fingerhut voll erzielt die gewünschte Wirkung. Dies zu erproben lockte sie schaurig, allein sie wagte es nicht, sie trug Scheu vor seinem Urteil, ihr Tun konnte ihm nicht verborgen bleiben, sie hatte zu lang in der Helligkeit seines Geistes gelebt, als daß der Schein nicht auf sie übergeglänzt und sie hätte versuchen dürfen, ihn mit schwarzer Kunst zu hintergehn.
Ich kann nicht sagen, wodurch sie von seinem Umgang mit Marie Bergmann Kenntnis erlangte und durch wen. Eines Tages wußte sie es. Möglicherweise hat es ihr eine der Frauen mitgeteilt, die sie kannte und die sie bisweilen auf ihren Gängen in die Stadt traf. Sie blieb dann aus Artigkeit ein paar Minuten stehen und unterhielt sich mit der betreffenden. Kann auch sein, sie erfuhr es von einem Kollegen Giuseppes oder in einem der Geschäfte, wo sie ihre Einkäufe besorgte. Es ist gleichgültig wo und wie; auch ob es ihr boshaft oder arglos, beflissen oder zufällig, mit Einzelheiten oder ohne solche, als Gewißheit oder Gerücht hinterbracht wurde, ist gleichgültig; genug, eines Tages wußte sie's. Mit diesem Tag hörte sie auf, die Nina zu sein, die sie bis zum soundsovielten Januar 1914 gewesen, und wurde eine andere Nina. Sie verwaltete die Wirtschaft wie früher, sie tat ihre Arbeit wie früher, sie machte die Tür auf wie früher, wenn Patienten kamen, und geleitete sie ins Wartezimmer, sie telefonierte nach ihm wie früher, wenn er an ein Krankenbett gerufen wurde und nicht zu Hause war, sie kochte, nähte, wusch und putzte wie früher, alles mit derselben Emsigkeit und Unverdrossenheit, aber es war eine andere Nina. Eine immerfort lächelnde. Wie eigen: beständig lächelte sie. Nie wich ein starres, verblasenes, süßliches Maskenlächeln von ihren Lippen, kein Mensch konnte sich erklären, was es zu bedeuten hatte. Denn alle Leute merkten es, außer Kerkhoven, der merkte nichts, überhaupt nichts. Wunderlich auch, daß sie das Deutsche auf einmal stärker radebrechte als früher, dadurch klang alles, was sie sagte, viel komischer. Eine Menge Wörter und Wendungen, die sie sich in einem Jahrzehnt angeeignet hatte, schien sie gänzlich vergessen zu haben. Betrat sie zum Beispiel einen Konfektionsladen und verlangte einen halben Meter Schirting, hatte sie in der Apotheke einen Auftrag Giuseppes auszurichten, bestellte sie beim Kohlenhändler Briketts für den Winter, so geriet sie ins Stottern und Suchen, warf italienische Brocken ein, so daß auch die mit ihrer Redeweise vertrauten Lieferanten oft nicht wußten, was sie wollte, und andere Leute, die zugegen waren, sich bei ihrem hilflosen Kauderwelsch das Lachen verbissen. Sie hatte beobachtet, daß Giuseppe seit einiger Zeit eine Sorgfalt auf Kleidung und Aussehen verwendete, die er zuvor nicht gezeigt hatte. Da holte sie seine alten Anzüge aus dem Spind, sah sie gründlich durch, reinigte und bügelte sie, unterzog auch seine Wäsche gründlicher Musterung, und als sie entdeckte, daß einige Krawatten schadhaft waren, ging sie spornstreichs aus und kaufte ein Vierteldutzend neue, ohne ihm vorher oder nachher etwas davon zu sagen; und er, er bemerkte es nicht einmal. Bei diesem Einkauf passierte es übrigens, daß sie, während sie an der Kasse zahlte, aufseufzend um sich griff und in eine tiefe Ohnmacht fiel. Sie erholte sich rasch, bat die Inhaberin des Geschäftes um Verzeihung und entfernte sich wie jemand, der sich schlecht benommen hat. Von da an begann sie unter schweren, periodisch wiederkehrenden Migränen zu leiden, die sie aber Giuseppe so lang wie möglich verheimlichte. Und wie von allem andern merkte er auch davon nichts.
Sie schütteln den Kopf, lieber Leser. Die Sache ist Ihnen unverständlich. Sie finden mit Recht, daß sich die gute Nina gegen ihren Mann hätte aussprechen müssen. Sie zucken die Achseln darüber, daß sie sich von einem unüberprüften Gerücht umschmeißen ließ, statt sich vorerst einmal die nötige Gewißheit zu verschaffen. Es ist nicht anzunehmen, daß Joseph Kerkhoven sie mit Lügen hingehalten hätte, soviel wissen wir von dem Mann, und soviel wußte sie natürlich auch. Vielleicht war es aber gerade die Gewißheit, die sie fürchtete. Vielleicht war das Glas schon zersprungen, eh' der Hammer darauf fiel. Zermürbt von der Pein, die ihr sein unenträtselbares Benehmen verursacht hatte, brauchte sie vielleicht die ausdrückliche Bestätigung nicht mehr. Jedenfalls tat sie keinen Schritt nach dieser oder einer anderen Richtung und ließ alles folgende ohne Abwehr und Appell über sich ergehen. Den eigentlichen Grund kann ich nicht angeben. Die Menschen sind eben sehr geheimnisvoll.
Eines Tages sagte die Senatorin Irlen zu ihrem Sohn: »Ich glaube, du solltest mal den Doktor Kerkhoven um seine Nota bitten und nicht bis zum Jahresschluß warten. Er kommt seit Monaten täglich ins Haus, ich hab' nicht den Eindruck, daß der Mann im Geld schwimmt. Man erzählt sich, daß er in der letzten Zeit eine Menge Klienten verloren hat, wieso, ist mir wirklich rätselhaft bei solch ausgezeichnetem Arzt. Wenn du willst, ordne ich die Sache mit ihm.« Nein, das wollte Irlen nicht. Aber er hatte der Mutter für den Wink zu danken; daß er nicht selbst daran gedacht, warf er sich als Phantasielosigkeit vor. Um so unverzeihlicher, als sich sein Zustand seit einer Woche infolge einer von Kerkhoven allmählich und gleichsam tastend aufgebauten Strahlen- und Diathermie-Behandlung, kombiniert mit strenger Milchdiät, bedeutend gebessert hatte. Er hatte fieberfreie Tage, Nächte ruhigen, obschon nur vier- bis fünfstündigen Schlafs, die Hautausschläge waren zurückgegangen, die Muskelkrämpfe, die sich bis zu Teil-Lähmungen gesteigert hatten, meldeten sich nur noch anfallsweise, geblieben war eine allgemeine Schwäche, an der vielleicht die eingeschränkte Ernährung schuld war, vielleicht auch die natürliche Ermattung des Körpers, als der Gesamtaufruhr seiner Säfte niedergeworfen war und bloß in lokalen Revolten da und dort noch flammte. So ungefähr sah es Irlen an, nicht ganz ohne Hoffnung, unter der freilich wieder, in einer tieferen Schicht des Bewußtseins, ein klar umrissenes Bild des wirklichen Verlaufes lag. Denn da war etwas wie verletzte oder gestörte Statik; Raumhunger; Widersetzlichkeit der Sinnes- und Nervenfunktionen; Unsicherheit des Herzens, Herztanz, Flimmerherz, Herzschwulst, Empfindung, wie wenn man an einer senkrechten Wand mit schwerkraftloser Langsamkeit herunterglitte. Dadurch hörte das Leben auf, ein Gefüge zu sein, es zerstückte sich in eine Summe einzelner Sekunden und Augenblicke, als wären sämtliche Buchstaben eines Dramas durcheinander geschüttelt und man hätte an Stelle einer geistbestimmten Form einen Haufen von hunderttausend Alphabeten vor sich.
Er steckte fünf Hundertmarkscheine und eine Karte in ein Kuvert und schickte es mit dem Bergmannschen Diener zu Kerkhoven. Auf die Karte hatte er geschrieben: Damit ist der materielle Teil meiner Schuld weder getilgt noch beziffert, der andere muß ohnehin auf Nachsicht des Gläubigers rechnen. Er glaubte so die Sache abgetan, aber zu seiner Verwunderung zeigte sich Kerkhoven äußerst verstimmt und bat ihn, das Geld zurückzunehmen; als er die Karte gelesen, habe er im ersten Moment gemeint, er sei verabschiedet. Irlen fragte: »Hattest du beschlossen, daß ich zu deiner Armenpraxis gehören soll?« – »Es geht nicht«, erwiderte Kerkhoven, »es geht wahrhaftig nicht.« Wenn einer aus dem Wasser gezogen und vom Ertrinken gerettet worden sei, könne er vom Retter nicht noch Honorar verlangen. »Ich will mich ja nicht aufspielen«, sagte er und rieb verlegen das Kinn, »es sieht vielleicht aus, als wollt' ich mich großartig aufspielen. Ich bin ja nicht in der Lage, um ... sei mir nicht böse, Irlen, aber es geht nicht.« Irlen wurde ungeduldig, die eisblaue Flut seiner Augen verdunkelte sich. »Wieder mal eins von den Mißverständnissen, die das Leben überflüssig komplizieren«, sagte er. »Du findest, unsere Freundschaft steht zu hoch für die Erledigung gemeiner Geldfragen. Kinderei. Es scheint dir dabei etwas von idealem Gewinn vorzuschweben, den dir unsere Beziehung gewährt und der unvereinbar ist mit elendem Mammon. Wie? Nun überlege: Entweder ist der besagte Idealgewinn auch auf meiner Seite, oder er ist illusorisch. Im Grunde mutest du mir zu, daß ich die sehr realen Dienste, die du mir leistest, mit freundschaftlichen Gefühlen bezahlen soll. Schöne Wirtschaft. Du begreifst, daß ich die Debatte darüber ablehne. Wenn das Zartgefühl sich überspitzt, wird es zum Ärgernis wie eine stachlige Mimose. Du nimmst mir doch die kleine Standrede nicht übel?«
»Nein«, sagte Kerkhoven. Dann schwieg er, den Kopf gesenkt, ganz tief herunter, als müsse er, was er antworten wollte, auf dem Teppich lesen. »Stimmt alles«, begann er nach einer Weile, »stimmt auffallend, ist aber trotzdem nur Symptom. Ich bin da in verteufelter Bedrängnis. Eine von meinen vielen Sackgassen. In der Sache zwischen uns magst du recht haben, das heißt, ich muß dir Recht lassen, wennschon der Wert meiner Bemühungen ... du schätzt sie zu hoch ein. Ich bin keine Leuchte der Wissenschaft ... fünfhundert Mark ... Herrgott, ist ja lachhaft. Na, schön ... ich darf mich eigentlich nicht wehren, wie die Dinge liegen, wär's der pure Bettlerstolz. Leider. Wenn ich aufgemuckt habe, so steckt was andres dahinter ... vielleicht darf ich es ... ich will mich kurz fassen. Ein offener Konflikt. Es ist alles virulent geworden ... ich bin außerdem überreizt ... sitze die Nächte durch und büffle, alle Tritt ins Spital, ins Ambulatorium, ins chemische Institut, Tierversuche, anatomische Präparate, hab' keine Ruh mehr in mir, keine Sicherheit, komme mir vor wie ein aufgerissener Acker. Verrückter Zustand. Aber das nur nebenbei. Entschuldige. Was ich sagen wollte, ist folgendes. Es macht mir seit einiger Zeit Beschwer, die Leute für Geld zu behandeln. Natürlich gibt das ein queres Verhältnis zur ganzen Existenz. Es hat immer was Klägliches, wenn sich ein einzelner mit unzureichenden Mitteln gegen das Bestehende auflehnt. Das Soziale ist ein eiserner Reifen. Auch die Priester und die Künstler müssen ihre Seele verkaufen. Opfer, das steht auf einem andern Blatt, es läuft gewöhnlich auf den Narrenturm hinaus. Meine Skrupel ... es sind gar keine Skrupel ... du wirst gleich hören ... weiß der Himmel, was es ist, vielleicht überheb' ich mich bloß ... Aber mach' ich dich nicht müde, Irlen?« Er hob erschrocken den Kopf. »Es ist ja schließlich leeres Gerede, mit dem ich dich behellige.«
Da Irlen mit entschiedener Geste verneinte, griff Kerkhoven nach der Kognakflasche, die auf dem Taburett zwischen ihnen stand, schenkte ein Likörglas voll und goß es hastig hinunter. Den Rumpf wieder gegen die Schenkel gekrümmt, so daß Irlen gut aufmerken mußte, um ihn zu verstehen, entwickelte er seinen Gedankengang, wobei das Abgerissene und nach jedem Satz Stockende sich allmählich verlor. Er sagte, Arzt, das sei eine Kategorie für sich. Als Kind war er überzeugt, jeder Doktor sei ein Engel. Es lebte ein Doktor Übeleisen in seiner Heimatstadt, er sah aus wie der Moses von Michelangelo; nie wieder hat er solchen Ehrfurchtsschauer verspürt, als wenn der in die Stube trat, der Karbolgeruch um ihn war Weihrauch für seine Nase. Im Volk empfinden noch viele so, versicherte er; was für Heilmöglichkeiten gehen mit diesem Glauben verloren. Nun, die Gottähnlichkeit erstrebt er nicht, er dünkt sich in keiner Weise erhaben, im Gegenteil, er ist mit sich selbst nicht einverstanden, es ist eben der gewisse Punkt ... Er beugte sich vor, langte nach dem Schürhaken und malte wie mit einem Griffel Zeichen auf den Teppich ... »Lassen wir die Luxuskranken beiseite«, fuhr er fort, »meinetwegen auch die Scheinkranken, obwohl es Scheinkranke genaugenommen nicht gibt, auch die unzähligen Fälle, wo nichts zu kurieren ist, weil es sich nicht um Krankheit handelt, sondern um Ablaufshemmungen, die der Körper braucht und sich erzwingt, schad ums Medikament, hätten die Leute Grütze und wüßten was von der Natur, sie ließen eher den Gesanglehrer holen als den Doktor. Mag's hingehen, daß man ihre Instinktlosigkeit ausnützt und teilweise von ihnen lebt, angenehm ist es nicht. Das sind aber die, bei denen schon der Kern getroffen ist, da sind die Moribunden, sind die Schwindsüchtigen und Syphilitiker, mit Karzinom und Sarkom Behafteten, die Väter und Mütter lebensunfähiger Kinder, die krassen Fälle von Knochen-, Nieren-, Gebärmutter-Tuberkulose, und so weiter, wozu die Aufzählung, das Tollste ist eigentlich, daß man sich dran gewöhnt, es gab eine Zeit, wo ich ... im Anfang bin ich nah am Umsatteln gewesen ... man kommt da vor sich selbst in Situationen ... Sich gewöhnen ... ich weiß nicht ... wenn jetzt ein Kollege mich hören könnte, er würde sich ins Fäustchen lachen ... Der Unterschied ist, ob man stumpf wird oder nicht. Doch klar. Und Nichtstumpfwerden heißt so viel zusetzen ... wer hat denn so viel in sich, daß er immerfort zusetzen und zusetzen kann? Der Routinier hat's nicht nötig, der setzt nichts zu ... Vielleicht kann es überhaupt keinen richtigen Arzt geben ohne Routine. Es wird allgemein angenommen. Du bist nicht der Meinung, scheint mir? Was mich betrifft, mir fehlt einfach das Talent dazu. Ich bin wahrscheinlich ein Dilettant. Aber was soll jetzt noch aus mir werden, in meinem fünfunddreißigsten Jahr?«
Er lachte kurz auf, und da sich in Irlens Gesicht kein Zug veränderte, schlug er die Augen nieder. Er fährt in lauter abgebrochenen Sätzen fort. Stockt, greift zurück, sucht mühselige Argumente. Diese zerfetzte Rede mit allen hilflosen Einschaltungen und Abschweifungen wiederzugeben ist kaum möglich. Ich beschränke mich auf das Wesentliche. Es besteht in der Frage, die er sich täglich und in jedem einzelnen Fall vorlegt, ob er sich von den Todeskandidaten bezahlen lassen darf. Ganz schnöd herausgesagt: bezahlen. Ob sich das mit der moralischen Sauberkeit verträgt. Mit der Idee des Berufs. Reich oder arm, das ist im Prinzip egal. Ob er für Herrn von Soundso am Jahresende eine vornehme Nota schreibt oder beim Händewaschen dem armen Teufel in der Sprechstunde zu verstehen gibt, daß er seine Mark zu blechen hat, ist egal. Denn (mit erhöhter Stimme): »Was richt' ich denn aus? Was ist denn meine Leistung?« Daß er das traurige Gefühl seiner Ohnmacht mit biederen Redensarten verkleistert. Daß er Mittel verschreibt, von denen er a priori weiß, sie sind für die Katz. Daß ihm dann und wann eine richtige Diagnose gelingt. Na und? Was weiter? Das bedeutet ja meistens schon das Ende. Diagnose ... Sie kommen ja immer zu spät. Erst der Schmerz macht ihnen Beine, das allerletzte Signal, wenn sich der Organismus nicht mehr anders helfen kann. Da rennen sie, mit dem fertigen Tod im Leibe kommen sie, und er muß sich hüten, sie nur mit einem Blick merken zu lassen, wie's in Wahrheit mit ihnen steht. Manche Kollegen sind furchtbar stolz auf ihre Diagnosen, oft haben sie alle Ursache dazu, aber sie vergessen, daß sie in der Schicksalslotterie spielen und sich ihre Nieten gern unterschlagen. Diagnose ist ein Griff ins Irrationale, man muß schon ein Seher sein, damit nicht das Quentchen Mogelei einfließt, das der Teufel auch in die reinsten Absichten zu mischen pflegt. Und dann, nach geschehener Feststellung, was dann? Die modernen Erkenntnisse und Behelfe in Ehren, man steht in staunender Bewunderung davor, wahrhaftig, der Mensch ist ein Riese, aber Gott oder Natur, oder wie ihr's nennen wollt, richten eine Mauer auf, da sind eherne Pforten drin, da heißt es: Halt, elender Zwerg, Eintritt verboten. Schwer mit dem überzeugten Brustton von Heilung zu reden, von Besserung, verflucht schwer, wenn der Mensch dich vom Grund der Seele aus befragt und du weißt, er ist verloren. Sie hoffen auf das Wunder, kein einziger, der nicht auf das große Wunder hoffte, der kranke Mensch hat eine kranke Wirklichkeit, und er, der Arzt, muß tun, als wäre das Unwahrscheinliche die Regel und das Unmögliche möglich zu machen sein tägliches Geschäft. Sie haben alle so schöne Augen, die, so bittende Augen. Kann er sie nicht von der Todesfurcht befreien, und das vermag einer nur durch das, was er ist, nicht durch das, was er weiß, dann ist's besser, er wird Versicherungsagent. Er erzählt von einem Fall, den er neulich gehabt: jüngerer Mann, in verantwortlicher Stellung, unverheiratet, erhält aber die Eltern und drei Schwestern samt deren Familien. Der konsultiert ihn, nachdem er bei einem halben Dutzend andern Ärzten war, Internisten, Nervenärzten, Psychoanalytikern, Homöopathen, irgend jemand hat ihm von Kerkhoven gesprochen, er hat das Gefühl, dieser Kerkhoven wird ihm helfen, keiner hat sich ausgekannt, Störungen des Sympathikus, innersekretorische Störungen, hat es geheißen, er leidet an Ohnmächten, jagender Unruhe, Pulssturm, Schwindel, hauptsächlich aber ist es die Unruhe, die ihn quält, sie steigert sich häufig zu lähmender, entsetzlicher Angst. Kerkhoven hat ebenfalls lang herumgeraten, hat untersucht und wieder untersucht, bis ihm eines Tages klar wird, was da los ist, soweit einem so was klar werden kann. Miliares Aneurysma. Was das ist? Erbsengroße Verdickung im Gehirn, eine richtige kleine Bombe, können auch mehrere sein, ja eine Bombe, die früher oder später explodieren wird, dann ist's aus, der Tod ist noch ein Glück. Zu wollen ist da nichts, da versagt die Wissenschaft, er muß die Angst von dem Menschen nehmen, sonst gibt es nichts. Und es gelingt. Bis zu einem gewissen Grad gelingt's. Ohne Morphium, überhaupt ohne Mittel, davon hätte ja der Mann nichts, er muß arbeiten, muß täglich auf dem Posten sein, mit ihm steht und fällt die Firma. Kerkhoven hat es versucht, ihn, bis zu dem gewissen Grad eben, zum Herrn über die Angst zu machen. Es geht. Er kämpft wenigstens. Irlen wird sagen: Das ist doch Leistung genug, was denn noch? Richtig. Wenn sich's nur nicht so von selbst verstünde. Nicht eine einfache Pflicht wäre. Samariterdienst. Klar, nicht? »Findest du, daß ich dafür die Rechnung präsentieren kann?« fragte er den Kopf vorstoßend, Irlen ins Gesicht hinein. »Ist das erlaubt? Denk mal nach, Johann. Doch schandbar, wie? Königlicher Lohn ... ja, das ließe man sich gefallen, notabene, wenn man greifbare Resultate erzielt hat ... aber um die Tarife feilschen wie ein besserer Friseur ... danke. Ich tu's natürlich, muß es tun, in die Ordnung bin ich nun einmal hineingeboren, wovon soll man leben, mit einer Frau außerdem. Ich kann nicht von heut auf morgen die Kabinettsfrage stellen und den Bannfluch der gesamten Kollegenschaft auf mich laden. Soviel kommt mir auch nicht zu. So wichtig bin ich nicht. Mancher glaubt, er ist schon ein Martin Luther, wenn er verkündet: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Wir sind kleine Leute, allzumal. Immerhin, das Dilemma bleibt. Ich seh' keinen Ausweg. Du wunderst dich vielleicht ... es klingt alles ein wenig ... wie soll ich sagen ... ein wenig neugebacken. Ja, das stimmt. Früher war mir's nicht bewußt. Hier und da ein Schatten, aber seit ich dich kenne ... erfaßt man einmal die Symptome, so hat man auch schon das Krankheitsbild. Ich wundere mich selber. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was der morgige Tag aus mir machen wird ...«
Wir haben diesen Joseph Kerkhoven als einen wortkargen und verschlossenen Mann kennengelernt. Alle Anzeichen deuteten darauf hin. Die Mitteilungsleidenschaft, die er immer wieder gegen Irlen, bisweilen auch gegen Marie Bergmann an den Tag legte, bildet eigentlich keinen Widerspruch hierzu, sie beweist nur, selbst wenn man die Fiktion eines festumrissenen Charakters aufrechterhält, was mehr und mehr seine Schwierigkeiten hat, daß die Quellen der Rede und der Verständigung außerordentlich tief verlagert, vielleicht stellenweise sogar gänzlich verschüttet sind. Er hat nie einen Freund gehabt. Es ist nie eine Frau in sein Leben getreten, die ihn aus seinen Verschanzungen zu locken verstanden hätte. Seine Einsamkeit war halb eine Trägheits-, halb eine Verzichts-Einsamkeit. Man findet diese Kreuzung bei vielen begabten Naturen. Eines Tages ziehen sie die letzte Folgerung und verkapseln sich im edlen Schmollwinkel, trotzig vermauert gegen eine Welt, die gar nicht daran denkt, das Idyll zu stören. Diese Gefahr war von Joseph Kerkhoven durch seine Freundschaft mit Irlen endgültig abgewendet. Was sich in vielen Jahren in seinem Gemüt gestaut hatte, brach nun über die Dämme. Es war ihm aber nicht ganz wohl dabei zumute. Oft blieb ein quälendes Gefühl von Mißbrauch zurück. Er hatte nie Angst, zu viel gegeben zu haben, er warf sich nur vor, zuviel genommen zu haben: Zeit, Kraft, Anteil, Aufmerksamkeit. Woran mag es bloß liegen, daß mich der wunderbare Mensch so selbstbesoffen macht? fragte er sich dann naiv betrübt. Eigentümlicher Irrtum. Dieser intuitive Kenner der Menschenseelen wußte wenig von Menschen und fast nichts von den Gesetzen der seelischen Vergesellschaftung. Sonst hätte er sich sagen müssen, daß in einem derartigen Verhältnis nehmen und geben vollkommen identisch ist. Er hätte dann auch seinen Trieb, kein Geheimnis mehr für den andern zu sein, nicht so kleinlich mißverstanden.
Er war aufgesprungen und marschierte mit großen Schritten kreuz und quer durchs Zimmer. Irlen saß kerzengerade, Bein über Bein. Kerkhoven konnte nicht ahnen, was in Irlen vorging, während er in seiner »Selbstbesoffenheit« schilderte, wie er die Todgeweihten um das Wissen vom Tod betrügen mußte. Malte er denn nicht eine Situation, die der Zuhörer als seine eigene anzusehen hatte? Irlen sagte sich logischerweise: Aha, deshalb will er kein Geld von mir nehmen. Er hielt minutenlang die Augen geschlossen, und Kerkhoven bemerkte es natürlich nicht, schon weil er meistens in den Boden hineinredete. Es war aber nur eine Anwandlung. Welches Maß von Takt wäre auch erforderlich gewesen, um mitten im Bekenntnis der erschütterten Existenz zu spüren, daß man, vielleicht, eine Illusion des andern zu schonen hatte. Irlen war sehr stark, sehr großmütig und mehr als klug, er gab sich dem Eindruck nicht hin, sicherlich wäre Kerkhoven in die größte Bestürzung geraten, wenn er ihm diesen Sinn mit Worten unterschoben hätte. Er meint es auch gar nicht, überlegte er mit einem inneren Lächeln der Sympathie, für mich mag es ein Memento sein, für ihn ist es höchstens der unbewußte Traum von mir, er träumt sich ja in meinen Blutgang hinein, das Merkwürdigste, was mir je an einem Menschen begegnet ist. (Ein Schluß, der nicht triftiger hätte sein können, wenn Irlen das Hexenbruch-Gespräch zwischen Kerkhoven und Marie belauscht hätte.)
»Ist es wahr, was man mir erzählt, daß deine Praxis seit einiger Zeit nachgelassen hat?« erkundigte sich Irlen. Kerkhoven blieb endlich stehen. »Ja und nein«, erwiderte er; »ein Teil der Stammkundschaft ist mir tatsächlich untreu geworden. Eben die Leute, von denen man die Rente bezieht. Sie sind nicht mehr zufrieden. Warum, weiß ich nicht. Meistens die gutsituierten Familien. Vielleicht finden sie, daß ich mich nicht genug ins Zeug lege. Dafür haben sich neue eingefunden, ganze Menge, ohne daß ich was dazu getan hätte.« – »Was für neue?« – »Hm. Wie soll ich das erklären. Es gibt welche, die alle Vierteljahr den Doktor wechseln, wie es Männer gibt, die's bei keiner Frau aushalten. Einmal erwischen sie dann doch die richtige. Viele Patienten wandern von Arzt zu Arzt, weil ihnen was vorschwebt vom großen Zauberer. Es sind fast immer schwere Fälle.« – Irlen, mit einem Lächeln: »Und du? Fühlst du dich à ton aise als Zauberer?« – »Ach Gott, sie bleiben nicht lang im Zweifel, daß ich keiner bin. Möcht' schon, möcht' schon, bin's aber nicht.« – »Aber warum laufen sie dir zu?« – »Es könnte sich herumgesprochen haben, daß ... na, daß ich so meine besondern Methoden habe. In der Hinsicht haben die Kranken einen Instinkt wie die Bienen. Bienen riechen den Honig meilenweit.« – »Aber Joseph! So könnte jeder Kurpfuscher argumentieren.« – »Gewiß, Kurpfuscher ... was willst du damit sagen ... Ist der Unterschied zwischen einem gelehrten und einem ungelehrten Nichtswisser gar so groß? Man hat noch nicht festgestellt, welcher mehr Schaden anrichtet. Christus war auch kein Doctor medicinae. Hippokrates war ein einfacher Mann aus dem Volk. Braucht man ein Diplom, um helfen zu dürfen? Es scheint so, aber der Heilige Geist ist selten beim Rabbi. Geh mal in unsere Hörsäle und betrachte dir die Gesichter. Studierende Jugend ... da fragt man sich erschrocken: quis custodiet ipsos custodes?« – »Trotzdem wirst du mir nicht einreden wollen, daß es die Methoden sind, die dich ... Das dürfte kein anderer von dir sagen.« – »Methoden ... auch nur ein Wort. Du weißt, was ich meine.« – »Nicht ganz. Du mußt deutlich sein.« – »Ich möchte es so genau nicht untersuchen. So genau gar nicht wissen. Wozu ... Es ist eine Veranlagung, mit der man übel dran ist. Der andere sein ... hinüberschlüpfen ... in ihm drin sein ... jedesmal ein Fünfsekundentod ... ein Teiltod ... scheußlich.« – »Aha, ich verstehe.« Irlens Gesicht wurde sehr ernst. Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er zögernd: »Also auch mit dem Aneurysma war es so?... Hegel spricht einmal vom sichtbaren Unsichtbaren. Der momentane Selbstverlust ist wahrscheinlich der Einsatz ...« – »Ja, ungefähr«, erwiderte Kerkhoven mit merklicher Unlust. – »Aber wenn du nicht die praktische Erfahrung hinter dir hättest, würdest du dennoch im finstern tappen, Irrtümer wären unvermeidlich, glaubst du nicht?« – Kerkhoven zuckte die Achseln. »Das sind sie auch so. Ich will die Erfahrung nicht herabsetzen, aber sie macht müd. Man erstickt unter ihrem Gewicht.« Auf einmal flammte er auf: »Wer die Erfahrung vergessen könnte, in der Art, daß sie im Blut bleibt und aus dem Blut heraus wirkt, transitorisch, lastlos, wie Geruch und Geschmack aus den Nerven, der wäre ein großer Arzt.«
Es war eins jener Worte, von denen Irlen sagte, sie brächen wie Blitze aus einem Menschen hervor. Kerkhoven stand am Fenster und starrte in die schneedurchleuchtete Dunkelheit. »Ein großer Arzt«, sprach er vor sich hin, »das wäre was, das wäre was ... Man redet immer vom ärztlichen Beruf. Es ist aber kein Beruf, mit andern verglichen. Man ist kein Wissenschaftler, man ist kein Künstler, was ist man denn? Staat, Gesellschaft, Fortschritt, nichts geht mich was an. Der Arzt war schon da, wie die Menschheit in der Wiege gelegen ist; er wird sie auch begraben müssen. Ich habe mit dem Urzustand zu tun; die paar Jahrtausende, was bedeuten die. Jede andere Menschentätigkeit ist bedingt und auf Schichten beschränkt, meine nicht. Ich bin eine Ausnahme. Als Ausnahme muß ich auch leben. (Er drehte sich um.) Vielleicht hätte ich das Zeug zu einem richtigen Kerl... es steckt was da drin, kommt mir vor ... wenn die Umstände günstiger wären, könnte ich ... Quack, es sind gar nicht die Umstände ... es gebricht mir an was. Es fehlt an was.« – »So? Was könnte das sein?« forschte Irlen gespannt. – »Ich bin einfach, eine einfache Natur«, erwiderte Kerkhoven, »aber ich bin's aus einem Mangel heraus...« – »Wie ... aus einem Mangel, wie meinst du das?« – »Ganz klar. Es fehlt mir das Doppelte, das die großen Leute haben, der innere Dual.« – Irlen war so überrascht von dem Ausspruch, daß er Kerkhoven wortlos anschaute. – »Ja«, fuhr dieser fort und lachte ein bißchen gezwungen, »wenn ich dich noch in mir hätte, Johann. Als Komplement sozusagen ... Unser Herrgott hat mich nicht fertig gemacht. Was mir fehlt, das bist du. Verstehst du?« – Irlen sagte, nicht ganz im Ton eines Scherzes: »Nun, dem ließe sich vielleicht abhelfen.« – »Wüßte nicht, wie.« – »Vielleicht braucht es nur unsern Willen und Vorsatz, um in einem andern weiterzuleben. Nicht als Komplement. Eher als Amalgam.« Jetzt war die Reihe an Kerkhoven, verwundert zu sein. Etwas schroff sagte er: »Das führt zu nichts.«
Irlen erhob sich, legte Kerkhoven, wie er bisweilen zu tun pflegte, beide Hände auf die Schultern und fragte mit einer angenommenen heiteren Neugier, hinter der ein geheimer Plan zu stecken schien: »Wenn dich nun jemand von dem Druck der gewissen Umstände ... ich setze den Fall, Joseph, es findet sich ein Mensch, der so überzeugt ist von dir, daß er dir nach jeder Richtung hin volle Unabhängigkeit verschafft. Eine Hypothese. Wie würdest du dich dazu stellen?« – Kerkhoven strich mit der flachen Hand bedächtig über seinen Scheitel. Eine Viertelminute standen sie einander stumm gegenüber, Blick in Blick. Dann antwortete Kerkhoven, während er sich sanft den Händen Irlens entzog: »Ich glaube, ich müßte verzichten. Ich glaub's nicht nur, ich weiß es bestimmt.« – »Und warum das?« – »Weil ... erstens weil ich eine geschenkte Unabhängigkeit nicht ... nicht zu schätzen wüßte. Es wäre keine für mich. Es brächte falsche Verantwortungen mit sich. Aber darüber könnte man zur Not hinwegkommen. Es ... wenn wir schon über deine komische Hypothese ernsthaft verhandeln wollen ... so eine Freiheit muß verdient werden, die darf einem nicht in den Schoß fallen. Glücksgaben für die Glückskinder. Leute wie ich müssen sich ihr Schicksal selber zurechthämmern, sonst paßt es ihnen nicht auf den Leib. Ich belehr' dich da. Lächerlich. Als ob du nicht besser wüßtest, daß das den Charakter angeht. Zu jeder Freiheit muß man erst reif werden, klar, nicht? Sogar zu der schäbigsten, der materiellen.«
Irlen gehörte zu jenen Männern, die trotz eigener Geisteskraft und tiefer Bildung das ungewöhnliche oder nur treffende Wort eines Freundes mit einer Dankbarkeit aufnehmen, als seien sie dadurch in überraschender Weise bereichert worden. Er drückte Kerkhoven die Hand und sagte: »Sehr wahr, daß man zu jeder Freiheit erst reif werden muß. Der Satz könnte als Motto über meinem Erlebnis mit Otto Kapeller stehen.« – »Ja, du hast schon öfter davon gesprochen, warst schon einmal drauf und dran, zu erzählen ...« – »Es ist eine lange Geschichte, aber wenn du Lust hast, es geht mir heute ganz leidlich ... Bleib zum Abendessen bei mir...« Kerkhoven sah nach der Uhr: halb acht. Um acht wollte er in der Klinik sein, der Chefarzt, Professor v. Möckern, hatte ihn bestellt. Mit dem Hier-Essen werde es hapern, meinte er, jedoch um neun Uhr könne er leicht zurück sein. (Die Erwähnung v. Möckerns bereitete ihm sichtliches Unbehagen. Der Widersacher. Zum ersten Male erschien der Widersacher, greifbare Gestalt, bis dahin war er nur »umgegangen«, als »Geist«, jetzt hatte er Menschenzüge.) Irlen versicherte, er könne warten, bei seiner Säuglingskost verschlage ihm das wenig, zudem sei er allein, die Mutter sei für ein paar Tage nach Frankfurt gefahren. Indem Kerkhoven aufstand, um sich zu verabschieden, klopfte es leise, und Marie trat ein. Irlen war zum Schreibtisch gegangen, er wollte Kerkhoven einen Brief mitgeben, den er in den Kasten werfen sollte. Marie grüßte Kerkhoven mit den Augen und fragte Irlen, wann er zu essen wünsche, die Großmutter habe die Köchin bis morgen beurlaubt, er sei bei ihr in Pension. »Wenn es Ihnen nicht unbequem ist, erst um neun«, sagte Irlen, während er unter einem Stoß von Papieren den Brief suchte, »aber Doktor Kerkhoven ist mein Gast, Sie müssen so freundlich sein, liebe Marie, und auch für ihn –« – »Eine Kleinigkeit, ein Butterbrot«, fiel ihm Kerkhoven ins Wort und ging auf Marie zu. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß etwas mit ihr war, sie kam ihm bedrückt vor, in ihren sanften, sonst so ruhigen Augen lag etwas Fremdes, wie verheimlichter Kummer. Er stellte eine alltägliche Frage, sie gab eine alltägliche Antwort. Irlen hörte auf zu suchen. Ein Ton hatte seine Aufmerksamkeit erregt, eine Schwingung, vielleicht nur eine um ein Minimum zu ausgedehnte Pause, genug, er erhob den Kopf wie ein witterndes Tier. Sekundenkurze unsinnige Regung. Er schaute nicht zu ihnen hin, fühlte beide bloß am Rand seines Blickfelds, sie sprachen diese alltäglichen Phrasen ... allein es war da etwas ...
Irlen legte die Schreibmappe, die er in der Hand gehalten, so vorsichtig auf den Tisch zurück, als decke er ein Bild zu, das je wieder zu betrachten durchaus vermieden werden mußte.