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Mit großer Lebhaftigkeit und ermunternden Blicken schlug er ihr vor, aufzustehen und mit ihm in die Stadt zurückzukehren. Er setzte ihr den Plan mit allen Einzelheiten auseinander. Er wird telefonisch ein Auto bestellen und, wenn sie angekommen sind, in einer bestimmten Straße aussteigen. Übrigens wird es ja bis dahin dunkel sein, niemand wird ihn sehen. Die kurze Strecke zur Villa wird sie dann allein fahren. Es hängt alles davon ab, daß sie sich jetzt zusammennimmt. Was sie zu Hause tun soll, wird er unterwegs ausführlich mit ihr besprechen. Daß er ihr in dem fremden Ort, in dem öden Wirtshaus keine wesentliche Hilfe leisten kann, liegt auf der Hand. Sie darf sich eine oder zwei Stunden lang nicht nachgeben. Hier, das wird sie einsehen, kann sie nicht bleiben. Er müßte sie auch bald verlassen, über den Abend ist er nicht abkömmlich, dann befände sie sich in verhängnisvoller Einsamkeit. Er würde es unter keinen Umständen zugeben.
Marie sah ihn angstvoll flehend an. Ihr Blick begann wieder zu flackern. Sie fürchtete, daß sie nicht dazu imstande sei, flüsterte sie. Die Farbe in ihrem Gesicht wechselte beständig, die Hände setzten bereits zu den Knetbewegungen an. Kerkhoven befühlte den Puls, behorchte mit dem Stethoskop das Herz, drückte die Finger leicht auf ihre Augenlider. Er sagte: »Es geht, es muß gehn.« – »Was soll ich antworten, wenn sie mich zu Hause fragen?« murmelte sie und hob beschwörend die Hände. Sie hat doch Pflichten, wie soll sie ihre Pflichten als Mutter, als Hausfrau erfüllen? Die Großmutter Irlen ist immer ein wenig ungehalten, wenn sie krank ist, sie hat dann einen mißtrauisch forschenden Blick. Sie kann sich nicht ins Bett legen und sich bedienen lassen, niemand wird ihr diese Krankheit glauben, es ist ja eine hassenswerte Krankheit, man haßt sich nicht nur selber dabei, man findet es auch verzeihlich, daß einen die Menschen meiden. Kerkhoven lachte. Er nahm ihre Hand in seine, und sie verspürte eine unmittelbare Linderung ihrer Erregung. »In dem Punkt müssen Sie sich an mich halten«, erwiderte er, »mir vertrauen. Uneingeschränkt. Denken Sie nicht darüber nach. Überlassen Sie das alles vollständig mir.« Sie hob die Augen zu ihm auf, zaghaft zuerst, aber allmählich füllten sie sich mit dem geforderten Vertrauen. Was für Augen sie hat, dachte er, wie blasse Blumen. Er sagte: »Sie legen sich zu Hause gleich nieder. Dann lassen Sie mich rufen. Heute abend noch. Es kann so spät sein, wie es will. Vorher sprechen Sie mit niemand über Ihren Zustand. Sie kommen von der Reise, haben unterwegs schwere Schwindelanfälle mit Herzklopfen gehabt. Alles Weitere plausibel zu machen ist meine Sache. Ich werde in der Zwischenzeit darüber nachdenken. Ich werde mit Ihrem Mann reden. Ebenso mit der Frau Großmama. Ihr den Ernst der Situation bedarfsgemäß darzustellen hat keine Schwierigkeit. Und Doktor Bergmann, den haben wir ja keinesfalls zu fürchten. Er wird Sie wie seinen Augapfel betreuen.« Sie sah ihn immer noch an, gespannt, gläubig, dankbar. Er hielt immer noch ihre Hand. Er dachte wieder: die Augen ... blasse Blumen. Er fuhr mit suggestiver Eindringlichkeit fort: »Sie müssen in jeder Beziehung ruhen, Frau Marie. Was in der gewissen Angelegenheit zu geschehen hat, erörtern wir mit der Zeit. Vielleicht fangen wir schon morgen mit den Beratungen an. Allzusehr auf die lange Bank schieben dürfen wir es nicht. Aus verschiedenen Gründen. Aber seien Sie guten Muts. Ruhe ist das Wichtigste. Dazu gehört eines. Sagen Sie sich um Gottes willen nicht vor, daß Sie eine ungehörige Krankheit haben, oder, wie Sie es ausdrücken, eine hassenswerte. Es wäre töricht, es wäre schädlich. Tun Sie es nicht. Lassen Sie sich nur ganz fallen. Geben Sie sich dem Zustand ohne schlechtes Gewissen hin. Machen Sie keine moralischen Kraftanstrengungen. Das wirft Sie zurück. Sie müssen im Gegenteil versuchen, keinen Druck und Zwang auf sich auszuüben. Alle Spannung wegtun. Das Leiden seine natürlich Bahn fließen lassen. Das ist ganz leicht. Gar kein Kunststück, bewahre. So wie Sie beschaffen sind, macht es nicht einmal was aus, wenn Sie ein wenig Wollust in dem Kranksein verspüren. Das vergeht alsbald. Wissen Sie«, fügte er mit einem wunderlichen Ausdruck von Pfiffigkeit hinzu, »in Ihrer seelischen Organisation steckt ein Geheimnis, das ich noch nicht kenne, ich werde aber den Schlüssel schon finden, und das wird uns zustatten kommen. Ich gehe jetzt hinunter. Bis Sie fertig sind, ist der Wagen hoffentlich schon da.« Marie fühlte sich gänzlich in seiner Gewalt. Sich gegen seinen Willen aufzulehnen hätte sie jetzt nicht mehr gewagt. Hätte es auch so wenig vermocht, wie man einen Stock missen kann, wenn man sich lahm vom Boden aufgerichtet hat. Sie fürchtet, daß sie nicht die Kraft haben wird, sich anzuziehen, deutet sie an und klammert sich bebend an seinen Arm. Er zerstreut ihre Besorgnis mit einem Lächeln, das ihr wohltut, und fragt, ob er ihr Tee oder ein Glas Kognak heraufschicken soll. O nein, wehrt sie ängstlich ab, jeder Bissen, jeder Schluck würgt sie, dann kommt gleich die entsetzliche Übelkeit, bei der ihr so sterbenselend zumute wird. Er nickt. Er versteht. Beim Hinausgehen verneigte er sich.
Der Vorwand, den er für Maries Bettlägerigkeit erfand und während ihrer Leidenszeit aufrechterhielt, war eine nervöse Magenverstimmung. Wie sie es vereinbart hatten, kam er am gleichen Abend noch auf ihren Anruf und hatte dann ein eingehendes Gespräch mit Ernst Bergmann, der alle Maßregeln zur Schonung der Patientin zu treffen versprach. Kerkhoven empfahl ihm, sie in den nächsten Tagen möglichst ungestört zu lassen, auch alle Besucher und Besucherinnen fernzuhalten. Der Charakter des Übels sei zwar ziemlich manifest, könne aber auch tiefer liegen als in der organischen Umgrenzung, ließ er einfließen, darum scheine es ihm geboten, subjektives und objektives Befinden gleich sorgsam zu überwachen. Mit Absicht wählte er die fachmännisch orakelnde Ausdrucksweise, der Nebel der Wissenschaftlichkeit sicherte ihn vor unbequemer Wißbegier. Der junge Gatte schien sich jedes seiner Worte einzuprägen. »Sie ist so zart«, sagte er beklommen, »ich wußte das, aber ich hielt sie trotzdem für gesund. Ich schmeichelte mir mit der Hoffnung, daß ein großer Fonds von Gesundheit in ihr steckt.« – »Das ist auch durchaus der Fall«, beruhigte ihn Kerkhoven mit jener Autorität, die seit einiger Zeit langsam in ihm wuchs und erstarkte wie ein noch junger Baum in fruchtbarem Erdreich, »durchaus. Sie brauchen nicht betrübt zu sein. Ihre Frau ist zart, ohne Frage, aber es ist die Zartheit, die nicht bricht, sie biegt sich nur.« Ernst Bergmanns Züge erhellten sich. Er drückte Kerkhoven fest die Hand. »Sie verstehen wirklich zu trösten«, sagte er fast heiter. Kerkhoven blickte mit konventionellem Lächeln über die schmale Schulter des jungen Mannes hinüber.
Er konnte nun mit Marie wie hinter einer befestigten Schanze verhandeln. »Ich sehe nur eine einzige Rettung«, gab er ihr am andern Morgen mit freundlicher Bestimmtheit zu verstehen, »und da bin ich gänzlich auf Ihre Hilfe angewiesen, verweigern Sie mir die, so garantiere ich für nichts.« – »Was? Also was?« stieß Marie krankhaft ungeduldig hervor. Kerkhoven schob den Stuhl beiseite, auf dem er gesessen, und nahm auf dem Bettrand Platz. »Sie müssen jenem Mann ... Ihrem Freund den Abschied geben. Unwiderruflich und für immer.« – Marie schwieg. Sie nagte mit den Zähnen an der Oberlippe. – »Es bleibt nichts anderes übrig«, fuhr er sachlich fort, »aus dieser Hörigkeit müssen Sie sich befreien. Unterschätzen Sie nicht den Ernst der Situation. Ich bin Ihnen die Wahrheit schuldig. Ist es nötig, ausdrücklich zu sagen, was auf dem Spiel steht? Es geht um die Zukunft, es geht ums Leben, Frau Marie. Es geht um alles.« – »Ja, ich weiß«, antwortete Marie mit kaum vernehmbarer Stimme, »ich will ja ... ich glaube, ich werde es tun.« – »Das ist mir zu vag. Es genügt mir nicht. Jede Unschlüssigkeit, jedes Hinauszögern belastet Ihr Gemüt, verrammelt den Weg. Schreiben Sie sofort. Warten Sie nicht länger. Nehmen Sie Papier und Feder und schreiben Sie. Niemand kann Sie stören. Dafür ist gesorgt. Niemand wird eine Ahnung haben. Sie geben mir den Brief mit, und alles ist in Ordnung.« – Mit aufgerissenen Augen starrte ihm Marie sprachlos ins Gesicht. »Aber das ... das ist unmöglich«, stammelte sie, »das muß man sich doch erst zurechtlegen ...« – »Wenn es unmöglich ist, Frau Marie, und ich begreife bis zu einem gewissen Grad Ihre Bedenken, dann, fürchte ich, kann ich die Verantwortung nicht länger auf mich nehmen«, sagte er nicht um eine Spur unfreundlicher. »Das beste ist, Sie rufen einen andern Arzt. Daraus erwächst Ihnen keine Verlegenheit. Ihrem Mann gegenüber läßt sich ein Grund leicht finden, sonst sind Sie ja keinem Menschen Rechenschaft schuldig. Ich werde zum Beispiel sagen, daß ich mich in der Sache nicht mehr kompetent fühle und die Behandlung lieber einem Spezialisten anvertrauen möchte. Nichts einfacher als das.« – »Doktor Kerkhoven!« rief Marie schmerzlich-ungläubig. – Er zuckte bedauernd die Achseln. »Nicht zu leugnen, was ich verlange, ist ein radikaler Eingriff, aber alles andere wäre Halbheit und Selbstbetrug. Sehen Sie es nicht ein, Frau Marie? Was schreckt Sie denn? Sie stehen auf einem Balken über einem Abgrund und trauen sich nicht vorwärts, nicht zurück.« Er erhob sich, sie langte ängstlich nach seiner Hand. Er merkte, daß sie schwankend wurde. Er wußte, daß sie nachgeben würde. Wie er es vorausgesehen, war seine Unerbittlichkeit die Erlösung für sie. Und als sie nun inständig bat, er möge ihr vierundzwanzig Stunden Zeit lassen, bis morgen werde sie den Brief geschrieben haben, willigte er ein. Ihr Blick war ruhiger geworden. Wie der Wind die Nebeldünste von einer Wasserfläche fegt und den schimmernden Spiegel enthüllt, wichen unter seinem Einfluß die Wolken der Verstörung von ihr.
Andern Tags reichte sie ihm mit mattem Lächeln den Brief: offen. »Soll ich ihn denn lesen?« fragte er ein wenig bestürzt. – »Ja, ich möchte, daß Sie ihn lesen«, versetzte sie leise. Er zögerte, das Blatt in der Hand. »Haben Sie das reiflich überdacht? Sie könnten es bereuen, Frau Marie. Sie sollten mit Ihrem Vertrauen nicht so... stürmisch sein. Den Schritt können Sie nie ungeschehen machen. Was ich weiß, kann ich verschweigen, aber ich kann nicht machen, daß Sie es vergessen.« – Marie antwortete gesenkten Kopfes: »Ich werde nie wünschen, es zu vergessen. Was Sie von mir wissen, ist geborgen, Doktor Kerkhoven.« – Er trat zum Fenster und las. Der Brief war so sie selbst, so ganz Marie, daß es schien, sie habe ihr Wesen unmittelbar darin abgedrückt, wie man eine Radierung von der Kupferplatte auf den Karton überträgt. Nichts von körperlichem Zusammenbruch, nichts von der düstern Prognose des Arztes. Sich darauf zu berufen wäre ihr feig erschienen. Es ist alles zu Ende, weil es zu Ende sein muß. Daß er sich fügt, schweigend, ist ihre Hoffnung. Lehnt er sich auf und will ertrotzen, was vorbei ist, wird er sie zu allem entschlossen finden, wozu seine Ungroßmütigkeit sie zwingt. Er muß sie vergessen. Mit jedem Stück Vergessen hilft er ihr. Nichts an ihrer Person vermag ihm Ersatz zu bieten für das Unzulängliche, das sie in sich weiß, aber sein Vergessende stolzer und gründlicher, je mehr, wird sie entschädigen für den Kummer, in den sie ihre Schwäche und Begehrlichkeit gestürzt haben. Sie nimmt sich nicht zurück, sie ist nur nicht mehr, wo sie gewesen, mit keiner Faser. Sie hat einen Schatz von Liebe achtlos liegenlassen, weil sie geglaubt hat, ihn entbehren zu können. Sie kann es nicht. Sie besitzt sonst nichts. Der Brief muß ohne Antwort bleiben, nur dann wird die Erinnerung vielleicht eine Spanne Leben verklären, die zu keiner Stunde frohe Gegenwart war. Durch ihre Schuld allein. Adieu. Adieu.
Aber nun wollte Kerkhoven wissen und von ihr hören, ob es ihr ernst sei mit dem »Schatz von Liebe« und ob sie ihn wirklich nicht entbehren könne. Er gab sich mit ihrer Versicherung nicht zufrieden. »Sie müssen in jedem Sinn zu Ihrem Mann zurückkehren«, mahnte er dringlich, »dürfen sich mit keiner Halbheit begnügen. Ich kann mir ja ungefähr denken, was Ihnen vorschwebt. Zärtliche Freundschaft, liebevolle Ergebenheit, jeden Wunsch von den Augen ablesen und was derlei edle Surrogate mehr sind. Lauter Selbsttäuschungen, Frau Marie. Sie betrügen sich, Sie betrügen ihn damit.« Marie drückte die Hand vor die Augen. »Was hülf es«, sagte sie so leise, daß er sich vorbeugen mußte, um zu verstehen, »es wäre mir nicht geholfen. Das ist ... ich fürchte, verscherzt.« – Kerkhoven heftete den jäh getrübten Blick auf ihre Hand, die über dem Gesicht lag. Das feine Gelenk, der an der Schläfe aufliegende Daumen, die sich verjüngenden Finger mit den ovalen rosigen Nägeln, die weiße, leicht ins Gelbliche spielende Haut mit dem blauen Geäder drin, alles war ihm übermäßig nah, niemals hatte er so stark die Empfindung gehabt, daß die Hand ein geschlechtliches Wesen ist, er erschrak. Wie kam es nur, daß er an Nina dachte, ihre aufopfernde Liebe und schweigsame Geduld. Anspruchslose Nina, in jedem Betracht anspruchslos, für jede Gabe dankbar, für jede Umarmung dankbar, alles sanft hinnehmend, gutes und böses Wetter, gute und böse Laune, Kuß und Versagen von Kuß. Neun Jahre. Er erblickte sie greifbar, die neun Jahre, wie neun steinerne Türme, neun Jahre Trott, neun Jahre Mühlrad, neun Jahre Lauheit, Zufriedenheit und fünfzehn Grad Reaumur ... Marie zog die Hand von den Augen, und sogleich hatte er sein früheres Gesicht. »Wenn ich nur wieder richtig schlafen könnte«, seufzte sie. Die Mittel, die er ihr gebe, nützten nicht viel. Nach zwei, drei Stunden wacht sie auf, dann fängt es an, das Gedankenbohren und -bohren. Endlose Schraube. Es ist kein Spaß, liegen und in die Finsternis starren, bis sie rotglühend wird. Ob er das kennt, Viertelstunde um Viertelstunde auf den Uhrenschlag warten, erst der Dom, dann Neumünster, dann die Marienkapelle, dann Sankt Johannis, dann Sankt Peter. Das dröhnt wie vom Himmel herunter, als wenn der Himmel Löcher hätte für die Glocken. Er nickt. Er verweist sie auf den gemeinsamen Ausgangspunkt aller Störungen. Er gebraucht den Ausdruck Konkordanz, Erinnerung an Paracelsus. Ihrer Natur fehlt die Konkordanz. Er kommt wieder auf das Verhältnis zu ihrem Gatten zurück. Er spricht von Abblendung der Gedanken. Es gebe etwas wie Entfeuchtung des Gemüts. Er zitiert eine merkwürdige Stelle aus dem Heraklit, deren er sich zufällig entsinnt: Trockener Glast – weiseste und beste Seele. Marie schaute erstaunt zu ihm auf. Sie entdeckte immer neue Seiten seines Wesens. Er entfaltete sich vor ihr wie eine Landschaft, die voller Geheimnisse und unvermuteter Reichtümer ist. Seine Haltung, jedes Lächeln, jede Wendung des Gesprächs zeugte von überlegtester Vorsorge und war die Eingebung eines genialen Instinkts. Das Kühnste, was er in den folgenden Tagen versuchte, war eine scheinbar objektive und daher lieblos klingende Analyse von Ernst Bergmanns Charakter, durch die er Maries Widerspruch herausforderte und sie in eine Verteidigungsstellung nötigte. Er fand ihn zu pedantisch, zu gemessen für seine acht- oder neunundzwanzig Jahre, eigentlich sei er ein veredelter Schulmeister, hochgezüchteter deutscher Typ des Philologen, der die Anwartschaft auf den Geheimrat schon im Schulranzen habe und doch ewig ein Primaner bleibe, lebensfremd und blutarm. Marie errötete vor Unwillen; nein, das sei nicht wahr, zumindest sei er doch ein Irlen und als solcher keineswegs aus der Art geschlagen, es gäbe keine vornehmere Natur als Ernst. Ja, ja, ja, erwiderte Kerkhoven gedehnt, vornehm, was habe es damit viel auf sich, Vornehmheit und nichts dazu, das sei ein Petrefakt, bei einem Mann wie Johann Irlen sei das was andres, aber man könne nicht verlangen, daß er die gesamte Familie mit Feuer und Auftrieb versorge. Für den Neffen sei nicht genug übriggeblieben, nicht genug Schwung, nicht genug Initiative. »Er sollte mal die Brille heruntertun, der Herr Privatdozent, und mit seinen zwei nackten Augen in die Welt gucken, mit so scharfen Gläsern sieht man keine Bilder mehr, nur noch Umrisse, er sollte sich mal seine Frau als Bild anschauen, nicht als Idee bestaunen.« Ein schreckliches Wort, Marie war betroffen und brach die Unterhaltung ab. Ein paar Tage später fing er von neuem an. Es war Besessenheit, wirkte wie Selbstbetäubung. Doch schwang ein Ton mit, der Marie zum Aufhorchen zwang, wie wenn jemand in eine sonst völlig verständliche Rede Wendungen aus einer unbekannten Sprache mischt, die er aber selbst nicht recht versteht. Mit einem Eifer, als habe er jetzt erst den Kern der Schwierigkeit gefunden, setzte er ihr auseinander, Ernst befinde sich nach seiner Meinung noch im erotischen Schlaf und an ihr sei es, ihn zu wecken, nötigenfalls mit aller List und Kunst, die sie erdenken könne. Marie schlug langsam die Lider auf. Ihr Gesicht zeigte fast keine Bewegung, nur in den Augen lag das Lächeln einer Frau, die sich wundert, worauf die Männer in ihrer vermeintlichen Weisheit verfallen. »Das ... nein«, sagte sie, »das liegt mir nicht. Es liegt auch nicht in unserer Ehe ...« – »Ei was«, rief Kerkhoven ungeduldig, »dann ist es eben überhaupt keine Ehe.« – »Vielleicht nicht«, erwiderte sie still, »nach Ihrer Auffassung vielleicht nicht.«
Sie hätte das Bett schon verlassen können, wenn sie sich nicht in der zweiten Woche erkältet hätte. Sie hustete stark, die Bronchien schienen angegriffen. Kerkhoven hätte sie untersuchen sollen, konnte sich aber nicht dazu entschließen. Ihr anbefehlen, den Oberkörper zu entblößen, zu denken, daß er das Innere ihres Leibes abhorchen sollte, davor schreckte er zurück. Idiotisch, unbegreiflich, aber er brachte es nicht fertig, in seiner ganzen Praxis war ihm dergleichen nie geschehen. »Ich müßte eigentlich einmal nachschauen«, sagte er in beiläufigem Ton zu ihr und machte eine Gebärde, als sei es nicht der Mühe wert und man könne es noch verschieben (wobei ihm aber das schlechte Gewissen aus den Augen sah, denn er war so durch und durch Arzt, daß ihm die geringste ärztliche Unterlassung wie der Ansatz zum Mord vorkam). Marie war noch ganz arglos, als sie die wahre Ursache seines Zauderns in seinem Gesicht las. Ihre innere Antwort war beredt genug: als ob ein Vorhang zugezogen würde, den man aus Gedankenlosigkeit vergessen hat zu schließen. Unruhe, Verwirrung, Scham, Verdruß malten sich nacheinander in ihren ausdrucksvollen Zügen. Sie gehörte zu den Frauen, die ihr Bewußtsein, Frau zu sein, nicht immerfort ängstlich und aggressiv mit sich herumtragen. Die Art, wie sie jetzt daran erinnert wurde, stimmte sie äußerst nachdenklich und schrieb ihr eine veränderte Haltung vor. So etwas planmäßig durchzuführen, war aber auch nicht ihre Sache, dazu war sie zu erschütterbar und ihr Wesen zu fließend. So bemächtigte sich ihrer eine halb furchtsame, halb neugierige Erwartung, nicht auf den andern, nein, ganz auf sich selbst gerichtet. Wenn die Menschen vor vollzogenen Tatsachen stehn, wie sie zu sagen pflegen, ist das, was mit ihnen geschieht, meistens schon geschehen. Es ist nur die Welle, die sie erreicht hat und weiterträgt. Jeder Tag hat seinen Anteil an der Bewegung, unmerklich reift alles zum Schicksal, Liebe ist eine Frucht, Tod ist eine.
Von dem Tag an machte die Besserung überraschend schnelle Fortschritte, am Ende der dritten Woche stand sie auf und war wieder heiter, lebhaft, gesellig, mehr als je sogar, doch bei aller scheinbaren Aufgeschlossenheit in einer neuen Weise undurchsichtig. Sie verbrachte fast alle Nachmittage bei Irlen, dessen Zustand seit einem schrecklichen Tobsuchtsanfall, den er in den ersten Märztagen erlitten hatte (seine fortwährende Angst von dem Berliner Aufenthalt her), Anlaß zu Besorgnissen gab. An einem Abend war es geschehen, nach einem unbedeutenden Wortwechsel mit seiner Mutter. Er hatte sich die Kleider vom Leib gerissen und war nackt durch die Zimmer gerannt, laut brüllend, so daß die Passanten auf der Straße stehengeblieben waren. (Marie hatte das Schreien gehört, ihr Mann hatte sie durch irgendeine plausibel klingende Erklärung beruhigt.) Die Senatorin, die ihre Geistesgegenwart nie verlor, hatte den Schäumenden einfach um den Leib genommen, mit dem Aufgebot aller ihrer Kräfte zum Bett geschleppt und ihm kalte Kompressen gemacht. Es war danach in tagelange Somnolenz verfallen, auch die Ödeme hatten sich wieder gezeigt. Auf Kerkhovens Rat war eine Krankenschwester engagiert worden, aber kaum hatte sich sein Befinden gebessert, als er verlangte, daß man sie auf der Stelle fortschicke. Er könne die dauernde Gegenwart einer fremden Person nicht ertragen, wolle man ihn dazu zwingen, so werde er seine Koffer packen und abreisen. Mit derselben Heftigkeit weigerte er sich, einen zweiten Arzt beizuziehen. Frau Irlen wünschte es um so nachdrücklicher, als Kerkhoven durchaus nicht dagegen war. Allein er wollte nichts davon hören. »Laßt mich in Frieden leben oder sterben«, sagte er, »es sei denn, ihr mögt mich hier bei euch nicht haben. Wenn Joseph für ein oberstes medizinisches Gericht plädiert, so spricht er gegen seine Überzeugung. Er weiß über mich Bescheid, und ich sehe keinen Grund, weshalb ich mich an jemand wenden soll, der nicht Bescheid weiß.« Die Senatorin schüttelte den Kopf über so viel Eigensinn, mußte sich aber fügen. Der Anfall war offenbar mit dem Tiefpunkt der Kurve zusammengetroffen, von dem Tag an trat eine Art von Genesung ein, wochenlange Aufwärtsbewegung, obschon er zu bestimmten Stunden müde und teilnahmslos auf dem Sofa lag, mit weit in die Höhlen gesunkenen Augen, der Blick trüb und verschleiert. Längst war die Bronzefarbe des Gesichts einem pergamentfahlen Grau gewichen, die Backenknochen standen wie Klippen hervor, die Lippen waren blutleer, die Haut am Hals und an den Händen faltig eingeschrumpft. Marie fand aber die Züge noch immer faszinierend, namentlich die herrlich aufgetürmte Stirn mit dem erstaunlich schönen Haaransatz und den frühweißen Haaren, die schlicht und peinlich geglättet zum Hinterkopf flossen und einer flachen, silbernen Helmhaube glichen.
Sie kam gewöhnlich gegen vier und blieb bis gegen halb sieben. Als ihr Kerkhoven von der unverhohlenen Freude erzählte, die er bei der Nachricht gezeigt, daß sie wieder gesund sei, waren ihr die Tränen in die Augen getreten. (Das war ein Grund für sie, zu weinen, das ja.) Sie las ihm vor, ordnete seine Hefte, registrierte die Aufzeichnungen und Korrespondenzen und schrieb bisweilen Briefe, die er ihr diktierte. Dadurch erhielt sie unerwarteten Einblick in seine Beziehungen, die Richtung und Haltung seines Geistes wurde ihr wie in einem Anschauungsunterricht verständlich. Sie begriff, daß der leidenschaftliche Anteil, den er den öffentlichen Vorgängen, der politischen Verfinsterung, der immer stärker zu spürenden Beunruhigung Europas schenkte, sein wahres Wesen war und die Existenz als solche anging. Unfaßliche Strömungen, dunkle ???bös???Maschenschaften, eilig schossen Fäden zum Gewebe, das Bild konnte keiner erblicken, aber ein paar Wächter waren da, die schickten einander Meldung und Warnung zu. Dieser da, der sieche Mann da, war einer. Sie kam sich wie auf einem Leuchtturm vor, draußen war das Meer, überm Meer lastete die nervenzerreißende Ruhe, die dem Sturm vorhergeht. Einige Freunde, aufs höchste beunruhigt, wollten ihn aufsuchen, er wehrte ab, er schob den Zeitpunkt hinaus, schweren Herzens ließ er durchblicken, er fürchte, den damit verbundenen Aufregungen nicht gewachsen zu sein. Einem aber, dessen Mitteilungen er mehr Gewicht als allen andern beizumessen schien, es war ein österreichischer Diplomat, Sekretär bei einer Botschaft, soviel Marie dem Brief entnehmen konnte, ließ er sagen, daß er ihn Ende April erwarte, er möge seine Urlaubsreise für einen noch zu bestimmenden Tag unterbrechen, es hänge von der Unterredung ab, welche Entschlüsse zu fassen seien, inzwischen rechne er noch auf entscheidende Berichte von anderer Seite. Leider bleibt die Verantwortung, die auf uns lastet, den Mächten, gegen die wir zu kämpfen haben, tot und stumm, schloß das Schreiben. Das alles erregte Marie, wie einen das unheilverkündende Gesicht eines Boten erregen würde, der nur gestikuliert statt zu sprechen. Eine Frage an Irlen zu richten, die schüchternste nur, verbot sich von selbst. Sie verstand ihn sehr gut. Wenn er nicht auf Verschwiegenheit und Zurückhaltung rechnen durfte, war ihm jeder Dienst wertlos. Er gewöhnte sich an ihre Gegenwart, sie fühlte es beglückt, sein Gefallen an ihr wuchs, die eigentümliche Gehobenheit, etwas unbewußt Freudiges, Beschwingtes und Bebendes, das er in letzter Zeit an ihr wahrnahm, fesselte ihn, der Ursache nachzuspüren lag nicht in seinem Sinn. In ihrer Bewegung, in ihrer Art zu sprechen erinnerte sie ihn manchmal so stark an ihren Vater, daß er es ihr eines Tages lächelnd gestand. »Ja? Wirklich?« fragte sie und blieb vor Freude wie angewurzelt stehen. Beinah hätte sie sich niedergebeugt und aus Dankbarkeit seine Hand geküßt. Er erkundigte sich auch, nicht ohne zarte Vorsicht, denn die Ehe war keine glückliche gewesen, nach ihrer Mutter. Marie hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Sie lebte bei Verwandten in Königsberg.
Zwischen sechs und sieben, fast täglich, kam Kerkhoven. Sie wartete täglich auf den Augenblick, wo ihm das Mädchen im Vorzimmer Hut und Mantel abnahm und sie seine tiefe Stimme hörte, die voller Widerklang war. Es war jedesmal ein Gefühl, als sei sie vor einer Enttäuschung bewahrt worden. Nachdem sie ihn begrüßt und ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, ließ sie die beiden Männer allein. Sie wußte, daß er oft lange unten blieb. Solang er im Haus war, erschien sie sich geborgen. Bisweilen kämpfte sie mit der Versuchung, noch einmal hinunterzugehen, um ihn noch einmal zu sehen, der Vorwand hätte sich finden lassen. Natürlich tat sie es nicht, schon aus Furcht vor dem befremdeten Blick, mit dem Irlen sie vielleicht angeschaut hätte. Bei der Stille im Haus hörte sie mit ihren lächerlich scharfen Ohren seine Schritte, wenn er wegging und das Tor zuschloß. (Er besaß den Hausschlüssel für den Fall, daß er in der Nacht gebraucht würde.) Da erst war der Tag unwiderruflich zu Ende, mit dem Umdrehen des Schlüssels im Schloß. Sie stand hinter den Fenstergardinen und lauschte seinen starken Schritten, die sich entfernten. Es dünkte sie, ab ginge er unerreichbar weit fort. Ein anderes Haus ist eine andere Welt. Zugeschlossenes Tor, Schritte, die sich in der Nacht verloren, nun hieß es sich gedulden, vierzehn Stunden, sechzehn Stunden. Am Vormittag kam er zu ihr, oder sie traf ihn in der Stadt; wenn er verhindert war, rief er sie telefonisch an. Manchmal kam er nur für zehn Minuten, im Vorbeigehn, wie er sagte. Nein, es war kein Vorbeigehn, es kostete ihn den weiten Weg, es kostete Zeit, auch wenn er ein Vehikel benutzte. Sie wußte, wieviel der Tag von ihm, wieviel er vom Tag verlangte. Nicht die äußeren Obliegenheiten nahmen ihn so über Gebühr in Anspruch, Praxis und praktische Berufsarbeit, die hätte er leicht bewältigen können, auf befahrener Bahn fährt sich's rasch, äußerte er oft. Aber es war das andere, die strenge Bestrebung, der harte Wille und Vorsatz zu erringen, was er »das Wirkliche« nannte. Offenbarung? Verkündetes Ziel? Selbstgewähltes Ziel? Er ließ keine hohen Worte gelten. Student. Nina hatte es richtig bezeichnet, Student. Anfänger. Da er aber den unendlich weiteren Überblick hatte, fiel es ihm unendlich mal schwerer als jedem Studenten, Plan und System in die unübersehbare Vielfalt zu bringen. Es schreckte ihn nicht. Die Aussicht auf jahrelange aufreibende Bemühung nicht, die Gefahr und Unsicherheit des Weges nicht. Neben der Arbeit im physiologischen Institut beschäftigten ihn jetzt hauptsächlich bakteriologische und serologische Untersuchungen. Er fehlte bei keiner wichtigen Sektion und wartete jedesmal mit der Spannung eines Schülers auf die Epikrise. Er verbrachte Stunden mit der Enträtselung eines schwierigen Leichenbefunds und freundete sich mit dem greisen Anatomen an, der ihm wohlwollte, der einzige fast unter all den akademischen Größen, mit denen er in Berührung kam. Er zeichnete Präparate, mikroskopierte, las Hunderte von Publikationen und fuhr überdies jede Woche einmal nach Heidelberg (schon um fünf Uhr morgens), um die Goldschmidtschen Vorlesungen über Kolloidal- und Molekularphysik zu hören, die damals Aufsehen erregten. Das aber erfuhr Marie erst nach und nach, mehr von Irlen als von ihm selbst. Er sprach ungern davon. Er beschränkte sich ihr gegenüber auf Andeutungen, die nur seine Bedrängnis verrieten. »Ich bin ein Baumeister, der sein Haus einreißt«, sagte er grimmig. Seine Unermüdlichkeit und ruhig schreitende Beharrlichkeit gemahnten sie an einen Riesen, der front, die schweigsame, sanfte, in manchen Momenten erhabene Geduld, die ihm eigen war, vervollständigte das Bild. Es ist Größe darin, sagte sie sich, was sollte sonst groß sein, wenn nicht das? Es rührte sie, es riß sie hin. Endlich begriff sie Irlens Wort vom Durchstoßen der Eisdecke ganz. Es war ein Schauspiel, das sie demütig machte. Ein wunderbarer Glaube an ihn erfaßte sie, denn sie hatte ja die Kraft verspürt, mit der er sie schützte und führte. Und daß er ihr so viel von seiner Zeit schenkte, dieser kostbaren, heißbegehrten Zeit, das war ein völlig neues Erlebnis für sie. Ein Mann, der Zeit hat, während er in die Enge getrieben ist vom Mangel daran, der immer da ist, wenn man heimlich wünscht, daß er komme, der nicht bloß »vorbeigeht«, sondern verweilt, gelassen, unbefristet, mit all seinem Sack und Pack gleichsam, verschwenderisch großmütig, fünf Minuten zur Fülle, Stunden zu ebenso vielen Minuten macht, das war herrlich, es verlieh einem das Gefühl der Erlesenheit...
In einer Seitengasse am Dom hatten sie eine kleine Konditorei entdeckt, dort trafen sie einander an manchen Vormittagen, dort erzählte er ihr auch zuerst von Nina und der Angst und Sorge, die er ihretwegen hatte. Ohne zu erwähnen, welche unheilvolle Rolle Marie bei der Verfinsterung ihres Gemüts schuldlos gespielt, schilderte er sie und ihr Leben, ihre Einsamkeit und Vereinsamung. »Es sind die Umstände«, sagte er mit niedergeschlagenen Augen, »ich kann ihr nicht mehr sein, was ich ihr einmal war, und sie fühlt es.« – »Ich wußte nicht, daß sie so einsam ist«, antwortete Marie. »Hat sie niemand? Keine Freundin? Niemand als Sie?« – »Niemand.« Es klang, wie wenn man von einer, Last spricht, von der man endlich weiß, daß sie nicht mehr zu tragen ist. – »Und wenn ich einmal zu ihr ginge, wenn ich sie besuchen würde?« fragte Marie. »Wie würde sie es aufnehmen? Was denken Sie?« Es war unvorsichtig, sie spürte es sofort, aber nun war es heraus, Kerkhoven war auch so überrascht, daß er nicht gleich eine Erwiderung fand. »Wenn Sie das tun wollten, Marie, das wäre...«, stammelte er halb erfreut, halb erschrocken. Er vergegenwärtigte sich die Trübseligkeit seiner Behausung, die schmucklosen Zimmer mit ihrem Doktorgeruch, die scheue, wortkarge Nina, was für eine Begegnung sollte das werden ... Doch nur der erste Gedanke war unbehaglich, die Folgen konnten ersprießlicher sein, als sich im Augenblick absehen ließ. Er vermied es gleichwohl, auf den Vorschlag näher einzugehen. Erst einige Zeit später kam er dazu. Marie ging wirklich zu Nina Kerkhoven, und das wurde ein Schicksalstag.
In einer der folgenden Nächte träumte Marie, sie befinde sich in der Wohnung der Berta Willig, jener Näherin, der das einzige Kind gestorben war, und die aufzusuchen Kerkhoven sie gebeten hatte. Das war vor Monaten gewesen, sie hatte mit der armen Person nur ein paar Worte gesprochen und die Sache längst vergessen. Woher nun der Traum? Die Stube im Traum hatte keine Ähnlichkeit mit der wirklichen, die die Näherin bewohnt hatte. Außer einem Kinderbett standen keinerlei Möbel darin, auch die Wände waren vollständig kahl. An einem hohen Fenster, das wie ein Kirchenfenster aussieht, lehnt feindselig-stumm Berta Willig, dann ist noch eine andere Frau zugegen, schattenhaft wirkend, von der Marie weiß, unerklärlich wieso, daß sie eine Ärztin ist. Sie trägt einen weißen Kittel, kotbespritzte Gummischuhe, die ihr viel zu groß sind, und ist angestrengt bemüht, eine Arzneiflasche zu entkorken. Marie sitzt am Bett des Kindes und zeigt ihm die Bilder in einem Bilderbuch. Es ist eigentlich Aleids Buch, sie macht sich Vorwürfe, daß sie es dem fremden Kind gebracht hat. Sie begreift es um so weniger, als das Kind zwar spricht und sich bewegt, aber im übrigen aussieht, als sei es aus Wachs. Sie faßt es an der Schulter an und bemerkt durch das Hemdchen durch, daß die Eindrücke ihrer Finger als Löcher in der Haut bleiben, genau wie wenn man Wachs anrührt. Da wendet sie sich unwillig zur Mutter und sagt: Was ist denn das, das Kind war doch schon tot, und jetzt lebt es. Die Willig nimmt von ihren Worten keine Notiz, statt ihrer antwortet die Ärztin verbissen, indem sie die Arzneiflasche schüttelt: Daran ist nichts zu staunen, alles ist jetzt umgekehrt, die Tage und die Zeiten sind in Unordnung geraten. Während sie diese dunklen Worte spricht, öffnet sich die Tür, und Maries Vater tritt ein. Zu ihrem großen Schmerz scheint er sie nicht zu erkennen, er nickt nur und wiederholt mit einer Stimme, die nicht seine eigene ist: Ja, die Tage und die Zeiten sind in Unordnung geraten.
Obwohl ihr der Traum unmittelbar nach dem Erwachen aus dem Gedächtnis entschwand, bedrückt sie sein Gewicht den ganzen Tag hindurch. Ernst war für zwei Tage zu einem Freund nach Freiburg gefahren, zu Mittag sollte sie bei Bekannten in der Stadt essen; bevor sie fortging, sah sie wie gewöhnlich nach Aleid und wunderte sich über das Gefühl der Erleichterung, das sie empfand, als sie wahrnahm, daß das Kind ruhig spielend auf dem Fußboden saß und mit der Pflegerin plauderte. Nachmittags hatte sie häusliche Besorgungen zu machen, auch bei der Schneiderin war sie bestellt, so wurde es ziemlich spät, als sie sich endlich auf den Heimweg begab, sogar die Zeit, die sie bei Irlen zu verbringen pflegte, war versäumt. Sie wollte ein Taxi nehmen, fand aber keins, und während sie ging, wuchs eine unerklärliche Unruhe in ihr, sie beschleunigte ihre Schritte und kam atemlos an. Die Ahnung hatte sie nicht betrogen, Aleid lag . fieberglühend zu Bett. Die Pflegerin meinte, es sei wohl eine Halsentzündung, sie war eben im Begriff, die Temperatur zu messen, das Ergebnis deutete auf eine ernstere Erkrankung: vierzig Grad. Marie war zumut, als seien ihre Beine aus Blei. Das Kind begann zu delirieren. Sie schickte die Pflegerin zu Irlen hinunter, ob Doktor Kerkhoven noch da sei. Unglücklicherweise hatte er den heutigen Besuch abgesagt. Sie telefonierte in seine Wohnung, Ninas Stimme antwortete, er sei in der Klinik (angenehme Stimme, dachte sie mitten in ihrer Verzweiflung), als sie die Klinik anrief, wurde gesagt, er sei eben weggegangen, die Angst schnürte ihr die Kehle ab, sie rief der Pflegerin zu, sie solle nasse Tücher vorbereiten; während sie im Telefonbuch nach der Nummer eines andern Arztes suchte, denn da war kein Zuwarten mehr möglich, stand der Traum der vergangenen Nacht von Anfang bis zu Ende lebendig vor ihr, und ihr Herz erstarrte vor Schrecken. Sie fuhr mit dem Finger über die Kolonne der Adressen, fand die eines alten Medizinalrats, den sie vor Kerkhovens Zeit konsultiert hatte, aber als sie sich zum Apparat wandte, schrillte das Läutwerk, er war es. Er wollte ihr mitteilen, daß er nicht zu Irlen kommen könne. Sie rief zehn Worte in die Muschel, die genügten, eine Viertelstunde später war er da. Kurze Untersuchung. Diphtherie. Nicht überraschend, es herrschte eine Epidemie in der Stadt. Das Serum hatte er mitgebracht, es war keine Zeit zu verlieren, die Pflegerin assistierte. Es war halb acht, er blieb noch bis acht, um die Wirkung abzuwarten. Als er ging, versprach er wiederzukommen, es könne spät werden, aber er wolle auf jeden Fall noch einmal nachsehen. Um halb zehn schickte Marie die Pflegerin schlafen: sie solle sich im Gastzimmer einrichten. Sie selbst setzte sich mit einem Buch an Aleids Bett. Natürlich blieb das Buch unaufgeschlagen auf ihren Knien liegen. Sie schaute die kleine Schläferin unverwandt an, das Kinn in die Hand gestützt. Das von den rötlichen Lockenhaaren überschattete Gesichtchen war noch immer vom Fieber gedunsen, noch immer sott das Blut in den Adern. Fieber ist auch nur ein Blühen, ein entartetes, das Leben will aus seinem Gefängnis heraus, rebellisch wie ein Vogel, der dem Bauer entwichen ist, um dann gegen die Fensterscheibe zu stoßen. Maries Blick ruhte zärtlich auf den fetten, winzigen, rätselhaft gegliederten Händchen, die sich ins Kopfkissen gekrampft hatten, als seien sie entschlossen, auf dieses greifbare Stück Welt, somit auf das Dasein überhaupt, um keinen Preis zu verzichten. Sie dachte: Herrgott, was für ein Menschlein, ein richtiges Menschlein, und man hat es geboren. Das ewige Staunen der Mütter. Als Kerkhoven kam, es war elf, machte er leise die Tür auf und trat auf Fußspitzen näher. Sie nickte ihm zu. Wie selbstverständlich, daß er da war, sie nicht allein ließ, tief in der Ordnung der Dinge. Er ließ das Gitter des kleinen Bettes herab, legte das Ohr auf die Brust des Kindes. »Es ist gut«, murmelte er, »es geht seinen richtigen Gang.« Er zog einen Stuhl herbei und setzte sich neben Marie. So saßen sie bis Mitternacht. Schweigend. Es war vollständig überflüssig, irgend etwas zu sagen. Es wäre störend, es wäre enttäuschend gewesen. Nachdem Kerkhoven das Haus verlassen hatte, blieb er in der Mitte der Straße stehen, riß den Hut vom Kopf und schaute in den bestirnten Himmel hinein. Es gibt Stunden, wo uns die Sterne zum erstenmal scheinen.
Einige Tage später war es, daß Irlen Marie und ihm die Geschichte des Äthiopiers Ngaljema erzählte. Es kam so. Als Marie gegen fünf Uhr bei ihm erschien, merkte er, wie benommen sie war. Sie wußte selber nicht, was mit ihr vorging, schon der Schreck mit Aleid hatte ihr zugesetzt, aber davon hatte sie sich bereits erholt, es war etwas anderes, manchmal war ihr zumut, als habe die Welt um sie keine rechte Realität mehr. Sie übertrieb Gesehenes, die Eindrücke verzerrten sich in ihr, so hatte sie heute beim Mittagessen zu fühlen geglaubt, Ernst verfolge sie mit vorwurfsvoll-schmerzlichen Blicken. Ein Wahn, sie war überzeugt davon, daß es ein Wahn war, aber in ihrer aufgewühlten Stimmung konnte sie seiner nicht Herr werden. Irlen wollte sie durch eine Erkundigung nicht noch mehr irritieren, er nahm es nicht allzuschwer, bei einer andern als Marie hätte er es überhaupt nicht beachtet, er wußte ja wenig von Frauen, nur als soziale Figuren und Genossinnen männlicher Schicksale erregten sie zuzeiten sein Interesse. Aber weil es eben Marie war, die er nicht für eine alltägliche Erscheinung hielt und deshalb in seinen privaten Lebenskreis hatte eintreten lassen, wollte er ihr behilflich sein, sich aus der Umfangenheit zu befreien. Sie hatte stets mit begieriger Aufmerksamkeit zugehört, wenn er von seinen afrikanischen Erlebnissen gesprochen hatte, und da er den bewundernden Blick auffing, den sie auf dem langen Dolchmesser mit dem kunstreich geschnitzten Elfenbeingriff ruhen ließ (er hatte es am Vormittag seinem kleinen Museum entnommen, um eine Beschreibung für den Katalog anzufertigen), sagte er, mit diesem Stück habe es eine eigene Bewandtnis, es stamme ursprünglich aus einem Elfenbeintempel der Aruwimi, die noch vor dreißig Jahren für Kannibalen gegolten hätten, müsse aber aus dem Heiligtum entfernt worden und in den Besitz der Häutplingsfamilie übergegangen sein, denn Ngaljema, der letzte Häuptling, habe es ihm kurz vor seinem schrecklichen Ende als eine Art Pfand übergeben.
Er war sehr ruhig an diesem Tag, das einzige, worüber er klagte, war der seit dem Morgen herrschende Föhn. Er hatte unter dem Klima viel zu leiden, Scirocco nahm ihn hart mit, Kerkhoven nannte ihn einen Wetterfühler, was ein medizinischer Terminus ist, es gibt eine besondere Krankheitsform, die man Zyklonose nennt. Er hatte seine Erzählung eben begonnen, als Kerkhoven kam. Er winkte ihm lächelnd zu und wies auf den Sessel, der neben Marie stand. Marie neigte kaum merkbar den Kopf.
»Ich lernte Ngaljema zufällig kennen, als ich mich mit mehreren meiner Gefährten im Urwald verirrt hatte«, fing er nochmals an. »Damit du im Bilde bist, Joseph, Marie hat sich für dieses Messer mit dem schöngeschnitzten Griff interessiert, und ich will ihr erzählen, wie ich in seinen Besitz gelangt bin. Also wir suchten den Weg zu einem großen Dorf im Norden des Flusses, wo sich arabische Elefantenjäger festgesetzt haben sollten. Ich hatte Nachricht, daß einer von ihnen, Scheich Mehemed Ali, der von der Westküste kam, Post für mich mitgebracht hätte. Um Briefe zu bekommen, marschiert man dort hundert Kilometer weit. Trotzdem sah ich der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen. Die arabischen Jäger und Händler sind nämlich seit Jahrhunderten das große Unglück des Herzlands von Afrika. Sie haben uralte Handels- und Durchzugsprivilegien, aber darauf allein verlassen sie sich nicht. Ganze Geschlechter von ihnen sind im Urwald reich geworden; um Elfenbein zu gewinnen, scheuen sie vor keiner Tücke und Grausamkeit zurück, ihre Habgier geht über alle Begriffe. Von Nubien bis zum Kongo herunter ersäufen sie das Land in Blut, ich habe verbrannte Dörfer gesehen, wo die Kochherde noch warm und die Toten noch nicht verwest waren. Richten sie mit ihrer Übermacht und brutalen Gewalt nichts aus, so greifen sie zu andern Mitteln, die unter Umständen noch wirksamer sind, noch verheerender, ich meine den Alkohol und die Rauschgifte. Das haben sie dem christlichen Europa abgeguckt, und wenn auch nicht, das christliche Europa hat ihnen nichts vorzuwerfen, da es doch dreihundert Jahre lang mit schwarzem Menschenfleisch geschachert und sich bereichert hat, Europa und Amerika, das ihm über den Kopf gewachsen ist, sie sind eines Geistes. Ich glaube nicht, daß sich irgendein Faktoreiagent, der gestern noch kleiner Kommis in einer Marseiller oder Bremer Überseehandlung war, ein Gewissen daraus machen würde, für eine Wagenladung Gummi oder ein Dutzend Elefantenzähne einen ganzen Volksstamm abzuschlachten. Europa ist der Mord, seine Religionen, seine Praktiken, seine Zivilisation, jedes für sich, alle zusammen. Ngaljema sagte einmal zu mir, als wir schon Blutsbrüder waren: Wie können die weißen Männer gute Männer sein, da man nie ihre Füße sieht und sie bis zum Hals in Gewändern stecken? Das ist es, schon mit den Kleidern fängt für sie die Lüge an. Diesem einen Menschen hatte die Natur freilich den triftigsten Grund gegeben, Kleider zu verachten, einen solchen Körper kann man sich nicht vorstellen, vollendet im Wuchs, mit den feinsten Gelenken, biegsam wie ein Pantherleib, die Haut, lichtbraun wie Milchkaffee, hatte ein Timbre wie das Innere von Muscheln, das Gesicht vom edelsten äthiopischen Schnitt, wie man ihn noch selten findet, die Rasse stirbt mit Vehemenz aus. Sie ist so auf den Tod gestimmt, daß sie keiner Krankheit mehr widersteht, nur in unauffindbaren Gebieten können sich ihre Reste erhalten. Ich bin sicher, die ägyptischen und griechischen Künstler müssen sie gekannt haben, es gibt antike Skulpturen, bei denen die Verwandtschaft bis in anatomische Einzelheiten geht. Und welcher Formensinn, schaut euch doch diese Figürchen und Ornamente an, die Grazie der Darstellung, ich kenne wenig Ähnliches. Aber das nur nebenbei. Es ist nicht einfach, euch begreiflich zu machen, was die Bekanntschaft mit Ngaljema für mich bedeutet hat. Er war ja nicht der erste, zu dem ich in nähere Beziehung trat, ich hatte bereits verschiedene Freundschaften geschlossen. Wenn ich mich zu einem Dorfältesten setzte und mich in stundenlange Gespräche mit ihm verlor, war mein Ruf schon begründet. Die Unterhaltung ist lapidar, Dolmetscher finden sich überall, und das Gemeinsame der zahllosen Dialekte erfaßt man rasch. Durch bloße Freundlichkeit kann man alles bei ihnen erreichen. Und wenn sie einsehen, daß man keine Zwecke verfolgt. Daß man sie selber sucht, daß sie einem Wohlgefallen einflößen. Da blicken sie zu einem auf wie Kinder. Stößt man auf Argwohn und Feindschaft, so ist nicht zu zweifeln, daß der »weiße Mann« seine Spuren hinterlassen hat. Oder der Araber, den der Burnus verhüllt und der ihnen daher noch verräterischer erscheint, noch mehr als böser Zauberer. Ich war also, was Kenntnis der Bräuche und der Menschen betrifft, nicht mehr ganz Neuling, aber durch den Umgang mit Ngaljema änderten sich meine Anschauungen insofern, als das bloß Gewußte und von außen Erfaßte zum Bild wurde. Das war ja der alleinige Sinn meines... na, nennen wir es Abenteuer. Du hast mich neulich danach gefragt, Joseph. Heute kann ich dir antworten. Es handelte sich darum, einmal aus den sämtlichen Hüllen und Schalen herauszuschlüpfen, in die die Existenz innerhalb einer so tyrannisch-gleichmacherischen Lebensform wie die unsere uns einschnürt. Wir haben uns ja verloren. Einen großen Blickpunkt aus großer Weite zu finden, darum ging's. Als stünde man auf einem zehntausend Meter hohen Berg in vollkommen reiner Atmosphäre. Was hatte ich denn nötig als zu sehen, wie Ngaljema einen Eingeborenenpfad im Wald entlangschritt. Unsereins würde überhaupt nicht ahnen, daß da ein Weg ist, wo er mit königlicher Sicherheit wie auf einer breiten Straße geht. Ein Mensch, der mit so ergreifender Selbstverständlichkeit in jedem Augenblick des Handelns ungeteilte Kraft und ungetrübter Spiegel ist, bringt einen auch in ein wahres, ich möchte sagen absolutes Verhältnis zu dem Element, in dem er sich bewegt, also zur Natur, um das allgemeinste Wort zu gebrauchen. Und so hab' ich durch ihn die afrikanische Landschaft eigentlich erst erlebt, Baum, Wasser, Fels, Gras, Sumpf und Steppe, diese überseltsame Landschaft, wo man sich auf einer gewöhnlichen Wiese mit den drei Meter hohen Halmen wie Gulliver in Brobdignag vorkommt. Er und nur er gab mir den Begriff von den Millionen kleiner Leidenschaften der Wildnis, wie Stanley so schön sagt, ich glaube, an derselben Stelle, wo er auch von der sphinxhaften Unbeweglichkeit und Ungeselligkeit dieser Landschaft spricht und den afrikanischen Sonnenschein trotz seiner Glut ein intensiveres Mondlicht nennt. Es ist wahr. Es ist unbeschreiblich, von beinahe abstoßender Feierlichkeit, die den Menschen sprachlos macht. Was ich jetzt erzähle, könnt ihr nur verstehen, wenn ihr euch das alles in Ngaljema verkörpert denkt. Die Sache war die, daß Mehemed Ali und seine Leute von einem großen Elfenbeinvorrat gehört hatten, der sich seit langer Zeit im Besitz der Aruwimi befand, es sollten hundertfünfzig Zähne sein, jeder mindestens anderthalb Meter lang, also ein enormer Wert. Tauschangebote waren schon früher gemacht worden, aber ohne Erfolg. Die größten Versprechungen blieben wirkungslos. Zuletzt hatte der Scheich zweitausend Gewehre, hundert Fässer Munition und hundert Flaschen Branntwein angeboten. Ngaljema weigerte sich und schickte die verdutzten Unterhändler jedesmal zurück. Ich gestehe, auch ich war erstaunt, als ich es erfuhr, es kommt niemals vor, daß ein Stamm solchen Verführungen nicht erliegt. Ngaljema erklärte mir aber, warum er das Elfenbein nicht ausliefern könne. Es war der Schatz des alten Tempels, vierundvierzig von den Zähnen waren die Säulen gewesen, die andern heilige Fetische. Ngaljemas Vater hatte das Tempelhaus selbst zerstört, um es den habsüchtigen Blicken der Fremden zu entziehen, und er und seine Priester hatten alles Elfenbein im Urwald vergraben, an einer Stelle, die nur Ngaljema allein bekannt war. Als sein Vater den Tod nahen fühlte, hatte er ihm mit dem heiligsten Eid des Stammes geloben müssen, den Platz nie zu verraten, ich habe Grund zu glauben, daß das Messer, das da vor uns liegt, eine Rolle dabei spielte, es ist ein uraltes Opfermesser, mit dem den Kriegsgefangenen das Herz herausgeschnitten wurde. Sie schaudern, Marie, Sie werden das Ding nicht mehr berühren wollen, trösten Sie sich, unsere Ahnen in grauer Vorzeit haben es nicht anders gemacht, der Erzvater Abraham war sogar drauf und dran, den eigenen Sohn zu schlachten. Es scheint, Ngaljema hat den Eid auf das Opfermesser leisten müssen, das ihm als sakraler Besitz zuwuchs. Symbol der Macht wie bei uns das Zepter; wenn er seinen Schwur brach, war der Untergang des Stammes besiegelt, er selbst würde in einen vogelköpfigen Zwerg verwandelt werden. Das vertraute er mir an, als wir in einer Mondnacht vor meinem Zelt saßen. Sein Vater muß übrigens ein weiser Mann gewesen sein, der die Gefahren zu ermessen wußte, von denen sein Volk bedroht war. Indem er sie eines greifbaren Reichtums beraubte, der sie in Versuchung und Unglück bringen mußte, gab er ihnen den Traum davon und errichtete nach bewährtem Rezept durch einen Mythus die Schranke der Furcht. Natürlich bestärkte ich Ngaljema in seinem Widerstand. Zu fürchten hatte er ja die Araber kaum, der Stamm war zahlreich und gut bewaffnet. Nur durch Hinterlist konnten sie zu Fall kommen, und davor warnte ich Ngaljema eindringlich. Leider umsonst. Hast du einmal Stanleys Bericht über die Auffindung Emin Paschas gelesen, Joseph? Und Sie, Marie? Auch nicht davon gehört? Eins der interessantesten Bücher der Welt. Er sitzt, ich weiß nicht wieviel hundert Meilen im Norden, nachdem er unter den undenklichsten Mühsalen den Urwald durchquert hat, und wartet auf die Nachhut, die in Jambuja zurückgeblieben ist und ihm nach einer genau bestimmten Zeit folgen sollte. Sie kommt nicht und kommt nicht. Er hat sie unter der Führung der verläßlichsten, tapfersten, ergebensten Männer zurückgelassen, es vergehen Wochen, es vergehen Monate, sie kommt nicht. Da entschließt er sich, noch einmal die sechzig Tagereisen durch den fürchterlichen Wald zu machen, und am vierzigsten oder am fünfundvierzigsten Tag, ich erinnere mich nicht mehr, stößt er auf diese Nachhut, um die er gezittert und gebangt hat, aber die Abteilung ist in vollkommen aufgelöstem Zustand, dezimiert, moralisch verkommen, der Führer beraubt. Was ist geschehen? In Jambuja, am Fluß, hatte sich der König der arabischen Händler mit seinen Leuten festgesetzt, der damals weitberühmte Tipu-Tip, ein unheimlicher Mann. Er hatte es darauf angelegt, die Nachhut aufzuhalten und mit den raffiniertesten Mitteln ihre Disziplin zu zerstören, ich glaube, er hatte gewisse Verträge mit Stanley, die ihm lästig geworden waren und ihn wünschen ließen, daß die Expedition scheiterte und ihre Teilnehmer zugrunde gingen. Durch welche Mittel er die Eingeborenen und einen Teil der Weißen in sein Lager zu locken verstand, mit was für tückischen Künsten sie dort zum Ungehorsam, zur Desorganisation, zur völligen Verlotterung gebracht wurden, ist aus der Darstellung Stanleys nicht recht ersichtlich, ich denke, er wollte seine Gefährten schonen, es war jedenfalls ein teuflisches Spiel, das dieser Tipu-Tip getrieben hat. Etwas Ähnliches unternahm Mehemed Ali, um den Elfenbeinschatz der Aruwimi zu erlangen. Ich muß gestehen, es ging mir nicht viel anders wie Stanley. Ich weiß bis heute nicht, was eigentlich vorgegangen ist. Alles geschah hinter einem Schleier. Wenn ich zurückdenke, ist es wie ein langer, schwerer Traum, aus dem nur einige Bilder deutlich hervortreten. Ein afrikanischer Traum, finster, sehr finster, gewitterschwül und von Fiebern durchzuckt. Kultische und sexuelle Einflüsse wirkten zusammen, die Aruwimi gefügig zu machen und zu zermürben; daß sie erlagen, ging wohl auf eine geschlechteralte fatalistische Überlieferung zurück. Mit einem geheimnisvollen Licht im Urwald fing es an. Die jungen Männer der Aruwimi wurden unruhig. Ängstlich klagende Stimmen weckten sie aus dem Schlaf. Sie gingen in den Wald, manche kamen nicht wieder, oder erst nach Tagen, dann waren sie stumm und müde, und wenn die Stimmen wieder lockten und das Licht wieder durch die Lianenwirrnis schimmerte, brachen sie wieder auf. Es hieß, sie hätten das brennende Gold gesehen. Die Sage vom brennenden Gold hing mit dem Verschwinden eines Sees zusammen, an dessen Stelle ein unermeßlich tiefer Brunnen sein sollte, aus dessen Grund alle siebzig Jahre eine Fontäne aus feuerflüssigem Gold schoß. An einem Abend bot sich uns ein überraschender Anblick. Wir sahen etwa zwanzig nackte Tänzerinnen, die auf einer Lichtung einen Reigen tanzten, fremde Frauen. Das geisterhafte Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, es war wie eine Luftspiegelung, plötzlich war es wie fortgehaucht. Das geheimnisvolle Licht habe ich selbst nie gesehen, aber die Stimmen hab' ich gehört. In der Tat war es das Schauerlichste, was ich je vernommen habe, als ob die Toten aus Gräbern klagten. Das sonderbarste war, daß die wilden Tiere fortzogen und kein Vogel sich mehr blicken ließ. Das erste Zeichen der Verzauberung eines Dorfes ist immer, daß die Weiber aufhören zu arbeiten. Gegen Sonnenuntergang lagen sie vor ihren Häusern auf dem Rücken und lachten. Ihr habt sicher schon lachende Neger oder Negerinnen gesehen, es ist immer eine Explosion, die Lustigkeit von Dämonen, aber stellt euch zwei- oder dreihundert Weiber so vor, auf der Erde liegend, mit weit offenen Mündern, die schwarzen Rachen, die weißen Zähne, das endlose, sinnlose, tobende Gelächter, es war ein hysterischer Massenanfall, letzte Entfesselung; sie sagten, der böse Geist sei über sie gekommen und kitzle sie. Nagljema kam zu mir und beschwor mich, ich solle den Zauber aufheben, ich mußte aber mein Unvermögen bekennen; das erschütterte seinen Glauben an mich, ich merkte, daß er schwankend wurde. Wie um das Verhängnis voll zu machen, beteiligte sich auch die Natur an der Verhexung, es brachen um diese Zeit die periodischen Nebel jener Gegenden ein. Alles war verhüllt von schattenhaften, phantastischen Rauchgebilden, Palmen, Bananen, Zuckerrohr, die ungeheuern Laubdome, alles voll fransiger Fäden, wie man sie in Fieberdelirien sieht. Wenn ich auf einen Hügel stieg, könnt' ich nicht erkennen, was braunrote Erde, grauer Fluß oder aschfarbener Himmel war, die Landschaft hatte was Schlaftrunkenes, das Gemüt wurde schwer davon bedrückt. Rätselhaft, daß sich von den Arabern und Manjemma des Scheichs niemals einer zeigte, auch meine Leute bekamen sie nie zu Gesicht, aber das ist ihre Taktik, es geschieht alles nach genauen psychologischen Berechnungen. Diese Orientalen, in europäischen Methoden erfahren, waren geübt in der Kunst, auf die Phantasie von Naturkindern zu wirken, aber auch meine Gefährten wurden angesteckt, auch ich. Eines Nachts weckte mich mein sudanesischer Diener, und als ich auffuhr, sah ich Ngaljema in der Öffnung des Zeltes stehn. Er näherte sich mir, er zitterte wie Espenlaub und raunte mir zu, der Scheich habe ihm Botschaft geschickt. Alle seine jungen Krieger drängten ihn, den Handel abzuschließen, sie hätten ohne sein Wissen bereits vierzig Ballen Stoffe und sieben Kisten mit Glasperlen ins Lagerhaus des Stammes getragen. Nacht für Nacht hätten sie alles herübergeschleppt, die Gewehre und das Pulver sollten erst noch geliefert werden und für ihn selbst ein wunderbares Kleid. Ich fragte ihn streng, ob er schon im Lager der Araber gewesen sei. Eine weiße Frau war im Spiel, ohne Zweifel, das macht sie ja rasend, der bloße Gedanke an eine weiße Frau. Kein europäisches Gehirn kann erfassen, wohin diese Menschen im Sinnlichen, Geschlechtlich-Sinnlichen getrieben werden können, in die unterste Hölle, in die glühendsten Himmel. Doch das führt wörtlich, ins Bodenlose. Ich sah ihn lange an, ich hob fragend die Hand. Er kniete nieder, ergriff meine Hand und legte seine Stirn darauf, zugleich schob er einen großen, sorgfältig in Palmblätter eingewickelten Gegenstand vor mich hin. Nimm es an dich, Sungi, sagte er – so nannte er mich, Sungi, das heißt der Mond –, wenn ich eidbrüchig geworden bin, soll es Sungis Eigentum bleiben, Ngaljema und sein Volk hat dann keinen Anspruch mehr darauf. Ehe ich noch etwas erwidern konnte, war er verschwunden wie ein Geist. Es waren die letzten Worte, die er zu mir sprach. Er war mir wie ein Bruder, wie ein Sohn, vom Anfang der Zeiten her. Das übrige ist rasch berichtet. Ein paar Tage später führten mich mehrere meiner Leute mit geheimnistuerischem Gehaben in den Urwald, ziemlich weit, bis zu einer Stelle, wo ein Orkan, vor Jahren schon, Hunderte gewaltiger Bäume gestürzt hatte, dort war eine Grube, vier Meter im Geviert etwa und drei Meter tief, eine leere Grube. Die Männer deuteten schweigend hinunter. Erst dacht' ich, sie wollten mir eben nur die leere Grube zeigen; daß sie vor kurzem noch das Versteck des Elfenbeinschatzes gewesen war, könnt' ich aus der frischausgehobenen Erde, den herumliegenden Schaufeln und dem zertretenen Boden erkennen, aber dann sah ich, daß unten in der Grube ein toter Mensch lag, oder nein, nicht lag, an einen Erdhaufen gelehnt war, in aufrechter Stellung fast, und höchst absonderlich, höchst widerwärtig kostümiert, nämlich mit einem alten Zylinderhut auf dem Kopf, wie ihn bei uns die Droschkenkutscher tragen, einer roten goldbordierten zerrissenen Jockeyjacke und einer nagelneuen karierten Hose. Zuerst konnt' ich das Gesicht nicht ausnehmen, es war tiefe Dämmerung im Wald, trotzdem es mitten am Tage war, aber die düstern Mienen meiner Leute veranlaßten mich, näher hinzutreten, da erkannte ich Ngaljema. Die Leute erzählten mir später, er habe sich in den europäischen Fetzen von sämtlichen Kriegern bewundern lassen, die ihm in das Araberlager gefolgt waren, der Scheich selbst habe sie ihm Stück für Stück angelegt. Warum aber hatte er sich umgebracht? Ich habe es nie erfahren. Ich habe die Aruwimi auszuforschen versucht, ich habe den Scheich darüber befragt, niemand wußte es oder wollte es mir sagen. Und daß er sich selbst getötet, ließ keinen Zweifel zu. Unter der schändlichen Jockeyjacke fand man den Schaft einer langen, dünnen, rostigen Nadel, mit der er sich das Herz durchbohrt hatte, und zwar mit geradezu wissenschaftlicher Akkuratesse.«
Der folgende Tag war ein Sonntag, Marie hatte mit Kerkhoven eine Verabredung, daß sie ihn bei schönem Wetter in eine nahe gelegene Ortschaft begleiten würde, wo er eine Krankenvisite zu machen hatte. Es war dort ein altes bischöfliches Schloß mit schönem Park, in welchem sie auf ihn warten wollte. Aber in aller Frühe rief er sie an, um ihr mitzuteilen, er könne nicht abkommen, mit Nina stehe es so, daß er einen psychiatrischen Kollegen werde zu Rate ziehen müssen. Sie habe die ganze Nacht unaufhörlich geweint, ohne jeglichen Grund, all sein Zureden und Bemühen habe nicht gefruchtet. Momentan sei sie wieder ruhig, die häusliche Arbeit lenke sie immer ab, doch wolle er sie möglichst wenig unbeaufsichtigt lassen. Auch am Nachmittag werde er sich schwerlich losmachen können und nach dem Spitalsdienst gleich nach Hause gehn. Marie fragte aufs Geratewohl, ob sie ihm jemand schicken solle, sie kenne eine junge Person, mit der sie sogar ein wenig befreundet sei, Tochter eines pensionierten Offiziers, die sich in solchen Fällen schon öfter nützlich gemacht habe und sich gern zur Verfügung stelle. Kerkhoven erwiderte, nach einer sonderbaren Pause, das sei nicht nötig, die Professorin Gaupp habe ihm gütigerweise ihre Hilfe angeboten, heute sei sie allerdings verhindert, aber von morgen an werde sie in ihren freien Stunden Nina Gesellschaft leisten. Ihm sei es freilich zweifelhaft, ob Nina noch lange im Haus werde bleiben können. Man werde ja sehen. Damit läutete er ab. Marie blieb bestürzt vor dem Apparat stehen und überlegte. Was mochte er wohl gedacht haben in jener Pause, die ihr so sonderbar erschienen war? Hatte sie bedeutet, daß er sich an ihr Anerbieten, Nina zu besuchen, erinnerte und sie jetzt nicht mahnen mochte, erstaunt, daß sie nicht mehr davon sprach? Sie wußte nicht, was sie tun sollte, ihr Schwanken setzte sie selbst in Verwunderung und verriet ihr Motive, die sie erschreckten und die entkräftet werden mußten, ein unzulässiges Spiel mit Schatten. So machte sie sich um drei Uhr ohne weiteres Grübeln auf und fuhr zur Kerkhovenschen Wohnung. Es war ihr nicht wohl zumut dabei, sie fühlte, daß es kein glücklicher Schritt war, aber sie konnte nicht anders.
Finstere steinerne Stiege. Als sie den elektrischen Knopf an der Eingangstür niederdrückte, zitterte ihre Hand. Leise, leichte Schritte, die vor dem Öffnen der Tür zögerten. Und dann stand Nina vor ihr. Sie war überrascht. Sie hatte sie sich nicht so hübsch vorgestellt. Fremdländisches Wesen, fremde Rasse, dunkle Kraft. Welch eigensinnige Stirn. Eine verschlagene Glut in den chinesisch geschlitzten Augen, die Haltung bescheiden, mehr als bescheiden, zugleich ein beängstigender Trotz darin wie bei einem verstockten Kind, das zu Unrecht gezüchtigt worden ist und sich eher die Zunge abbeißt als sich beklagt oder beschwert. Die roten Korallenohrringe ... ein bißchen negerhaft ... kleine Füße, grobe Hände, deren Finger von Nadelstichen verunschönt waren ... das alles nahm Marie mit einem einzigen Blick wahr, als seien ihre Sinne unnatürlich geschärft, über die sonstigen Fähigkeiten hinaus. Und mit demselben Blick spürte sie die unerbittliche, unversöhnliche Feindin. Sie erschrak vor dieser Erkenntnis. Ja, diese Frau würde ruhig lächelnd zuschauen, wenn man sie, Marie Bergmann, vor ihren Augen zerfleischte, mit keiner Wimper würde sie zucken. Ich hätte vielleicht doch nicht kommen sollen, ging es ihr durch den Kopf. »Ich bin Marie Bergmann«, sagte sie mit etwas affektierter Artigkeit. Ninas dunkle Brauen hoben sich. »O! si ... si ... trete' Sie ein, signorina, prego, prego ...«, rief sie in singendem Tonfall, trat mit ungeschicktem Knicks zur Seite und wies mit dem Arm auf die offene Tür des Wohn- und Eßzimmers. Marie schaute sich zaghaft um. Dumpfe Engigkeit, banale Möbel, billige Teppiche, armselige Kunstdrucke an den Wänden. Sie hatte sagen gehört, um einen Menschen ganz zu kennen, müsse man seine Behausung kennen, aber es gab wohl Personen, die sich dieser Regel nicht fügten, heimatlose, die anderswo hausen, als wo sie ihr Geschick hinverdammt hat, zu schlafen und zu essen, sonst hätte man um Joseph Kerkhoven weinen müssen. Indem sie diesem Gedanken nachhing, verzieh sie sich ihn nicht und haßte das luxuriöse Behagen, in welchem sich ihr eigenes Leben abspielte. Ihr Blick fiel auf ein Gebetbuch, das auf dem Tisch lag, auf dem schwarzen Deckel ein Ring, ohne Zweifel Ninas Ehering, warum mochte sie ihn abgestreift haben, es war alles so seltsam, und die schwermütige Stille in den Zimmern ... Befangen nahm sie auf dem Stuhl Platz, den ihr Nina anbot. »II dottore non è a casa«, plapperte sie dabei, »nicht zu 'ause ... is wegg ... avanti ... grossse Ehre für mich, signorina, oh ich weiß ... signorina Bergmann ... grossse Freundin von Giuseppe. « Sie lachte. Marie rieselte es bei dem blechernen Lachen kalt über den Rücken. Was soll ich ihr denn um Gottes willen antworten, dachte sie, wie etwas halbwegs Vernünftiges sagen... »Wolle' Sie warten?« fuhr Nina schmeichlerisch fort, mit der Hand die Tischdecke umklammernd, in der devoten Verneigung einer Kellnerin, die eine Bestellung entgegennimmt. »Muß bald surück sein, Giuseppe ... subito ... hat mir gesakt, kommt um vier ... alle quattro ... sicuro.« – »Nein ... ich ... Sie sind im Irrtum, Frau Doktor«, stotterte Marie (noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verlegen, so vollkommen ratlos gefühlt), »ich komme ja zu Ihnen. Ich wollte Sie endlich kennenlernen. Doktor Kerkhoven hat uns so viel von Ihnen erzählt ... er sagte, Sie gingen nie zu Leuten, auch zu seinen besten Freunden nicht, da dacht' ich mir ...« – Nina hob die gefalteten Hände an die Lippen. »Per Dio .. hat Giuseppe so gesakt?« rief sie in unverständlicher verwunderter Entzücktheit, »il ladro! Ja, is wahr, è vero,« fügte sie mit beschwörend ausgestrecktem Zeigefinger hinzu, »ich gehe nirgends wohin. Nix. Ist so. Wirklich. Bin, wie heißt man ... Ofensitzerin.« Wieder das blecherne Gelächter. Marie versuchte ein Lächeln. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse«, sagte sie, immerfort mit der beschämenden Empfindung der Sinn- und Zwecklosigkeit all dieses leeren Geschwätzes, »Doktor Kerkhoven hat mir zugeredet, ich hätte mich sonst nicht getraut, Sie zu stören ...«, aus lauter Verzweiflung log sie und spielte ein bißchen die scheue junge Frau, die sich gegen die ältere was herausgenommen hat. Nina schlug mit lautem Krach die Hände zusammen. »Ma perchè?« versetzte sie mit erschrockenem Bedauern, »ist wahr'aftig grossse Ehre für mich, carissima signorina. Tanto piacere. Grossse Freude. Wolle' Sie was zu sich nehmen? Kaffee? Cioccolata? Nein? Peccato. Macht nix. Is in zehn Minuten fertig. Nein? Mi dispiace molto.« Sie starrte Marie mit verschlingender Neugier an. Der Körper war dabei nach vorn gebeugt. Das Gesicht hatte, seit Marie ins Zimmer getreten war, den nämlichen Ausdruck grundlos aufgeregter Heiterkeit beibehalten. Plötzlich stürzte sie auf die Knie, umschlang Maries Beine, küßte die Schuhe, den Rocksaum der zutiefst Entsetzten, und unter herzbrechendem Schluchzen murmelte sie erstickt: »O bellissima ... così giovane ... così gentile ...« Mit überströmten Augen emporschauend, wühlte sie die Finger beider Hände in die Haare. Marie erhob sich zitternd. »Bitte, bitte bitte«, hauchte sie und streckte die Arme vor. Dann, von Mitleid ergriffen: »Stehn Sie doch auf, Liebe, stehn Sie, bitte, doch auf ... ich weiß ja nicht ... was tun Sie denn ...« Im Nu hatten sich Ninas Züge verändert. Mit unheimlichem Interesse musterte sie auf einmal Maries weiße Glacéhandschuhe. »Fein«, sagte sie bewundernd, »come una principessa. Elegante, molto elegante.« Sie sprang empor, es war die Bewegung einer Wildkatze, huschte ans Büfett, riß eine Schublade auf und brachte einen Revolver zum Vorschein, der ganz hinten zwischen Servietten und Tischdecken versteckt gewesen war. Ein alter Trommelrevolver, den Kerkhoven vor vielen Jahren gekauft hatte, er war Nina samt einer Schachtel Patronen in die Hände gefallen, als sie einige Wochen zuvor in einer aus der Heidelberger Zeit stammenden Kiste gekramt hatte. Sie verstand mit Waffen umzugehen, aus ihren Verschwörer- und Irredenta-Tagen her, so hatte sie den Revolver gereinigt, geladen und heimlich aufbewahrt, ohne sich etwas dabei zu denken. Mit der den Verstörten eigenen Kurzschluß-Assoziation war jetzt die Erinnerung aufgeflammt. Sie näherte sich von der andern Seite her dem Tisch und wog die Waffe bedächtig in der Hand, dabei trat das geronnene Lächeln auf ihre Lippen, unerwartet für Marie, sie kannte es nicht, überhaupt keine solche Art von Lächeln, es schnitt ihr in die Seele. Die Situation hatte trotz der Bedrohlichkeit und Sonderbarkeit für ihren Wirklichkeitssinn etwas so Theatralisches, daß sie vor lauter Erstaunen die augenscheinliche Gefahr zunächst übersah. Nina hantierte an der Sicherung herum, warf den Kopf hoch und sagte mit einem herausfordernden Gurren in der Kehle: »Wenn ich Ihnen jetzt schieße, signorina Maria, sind Sie tott ... piff, paff, mausetott. Soll ich?« Grausig neckend erhob sie den Arm mit dem Revolver und zielte.
Marie rührte sich nicht. Ihre Gedanken waren der Reihe nach folgende: Kerkhoven kann jeden Augenblick kommen, dann kann alles noch gut ablaufen; er scheint doch nicht zu wissen, daß die arme Person den Verstand total verloren hat; geschieht das Verrückte wirklich, und sie trifft mich, so ist es jedenfalls für ihn furchtbar, was wird er tun? Es kann auch sein, daß ich dabei umkomme, so was geschieht manchmal, man liest es dann in der Zeitung, ob er um mich trauern wird? Das ist die Frage, ich weiß nicht, was ich ihm bin; eigentlich hab' ich bisher nicht viel von meinem Leben gehabt, jetzt vielleicht wäre es schön geworden; die ganzen letzten Tage war ich so aufgeregt, ich muß geahnt haben, daß mir was Schlimmes bevorsteht; ich habe aber nicht die Spur von Angst, ich möchte nur nicht, daß er Kummer durch mich hat, das Schicksal ist ohnehin nicht freundlich gegen ihn; wenn sie losdrückt und die Kugel fährt mir ins Herz oder ins Gehirn, ist es ein dummer und gemeiner Tod. Dann sah sie wunderlicherweise das Gasthofzimmer vor sich, in dem sie krank gelegen, als sie Kerkhoven zu sich gerufen hatte: die zwei häßlichen Betten, die Plüschdecke auf dem Tisch, den halbblinden Toilettenspiegel, der sich in einem Scharnier drehen ließ, die Glühbirne an einer Schnur, an der drei tote Fliegen hingen, den Schrank, dessen Tür entsetzlich knarrte, wenn man sie öffnen wollte ... Während ihr alles dies im Lauf von fünf oder sechs Sekunden durch den Kopf ging, hörte sie sich Nina etwas zurufen, ungefähr: Lassen Sie das doch, Frau Doktor, damit scherzt man doch nicht, und Nina ihrerseits rief ein paar italienische Worte zurück, die sie nicht verstand und die nur wie durch Wolle zu ihr drangen. Überhaupt war alles, was sich bis zu Kerkhovens Eintritt und auch eine Viertelstunde länger noch zutrug, wie hinter eine Wand geschoben, deswegen hatte sie auch sein Kommen überhört, er stand unvermutet unter der Tür, dann mit einem Sprung neben seiner Frau, die mit durchdringendem Schrei, ähnlich wie ein Pfau schreit, aus dem Zimmer in das nebenan gelegene Schlafzimmer rannte. Er trat zu Marie, packte sie an beiden Armen, stammelte zwei, drei Fragen, eilte zur Tür, hinter der Nina verschwunden war, kehrte plötzlich wieder um und bat Marie mit einem flehenden, zugleich aber befremdlich finstern Blick, sie solle warten, er habe mit ihr zu reden. Dann stürzte er hinaus. Sie hatte, unbegreiflich warum, den Eindruck, er sei erzürnt über sie; dies dünkte ihr kaum erträglich, im übrigen verspürte sie eine namenlose Schwäche, in der das Verlangen war, aufgehoben und fortgetragen zu werden. Sie saß in einer Ecke des schwarzen Ledersofas und zählte die weißen Knöpfe am Holzrahmen, sie kam bis neununddreißig, dann begann ihr vor der Unzahl zu schwindeln. Wie aus weiter Ferne hörte sie Kerkhovens Stimme am Telefon, bald darauf das vorsichtige Gewisper einer Frauenstimme an der Eingangstüre und die kurzen Antworten oder Unterweisungen, die er gab. Sie dachte: Das ist alles unwahrscheinlich, es paßt gar nicht zu mir, es ist gar nicht mein Genre von Erlebnissen ... Sie mochte recht haben, aber das Schicksal hat zuweilen seine Launen und schert sich nicht darum, daß wir seine Knalleffekte stillos finden.
Es dauerte ziemlich lang, bis Kerkhoven wiederkam. Er hatte verschiedene Anordnungen getroffen, über die er mit ein paar Worten hinwegging. Es handelte sich um Ninas Überführung in die Beobachtungsstation der psychiatrischen Klinik. Um sieben erwartete er den Kollegen, der die Entscheidung treffen sollte. Sie schlief jetzt. Er hatte ihr eine Morphium-Einspritzung gemacht, da die Aufregung sich noch gesteigert hatte. Er könne leider nicht bis zum Abend bei ihr bleiben, fügte er hinzu und sah hastig auf die Uhr, um halb sechs müsse er bei einem Schwerkranken in der Zeller Straße sein, eine unaufschiebliche Visite, er habe deshalb Frau Rentamtmann Günther im ersten Stock gebeten, Nina zu überwachen, bis er zurück sei. Er sprach zusammenhanglos, sein Gesicht war zerwühlt wie nach einer durchwachten Nacht. »Ja, ich muß mit Ihnen reden, Marie«, sagte er und drückte Zeige- und Mittelfinger gegen die Augenlider, »aber wo? Im Ordinationszimmer? Ich möchte das nicht ... Hier? Nicht wünschenswert, gerade hier. Aber wir haben keine andern Räume.« – »Ich weiß nicht«, sagte Marie mechanisch. – »Man lebt wie ein Schuster«, grollte er und ging ungeduldig vor dem Sofa auf und ab. Er sah Ninas Ehering auf dem Tisch liegen, nahm ihn, zuckte die Achseln und steckte ihn in die Westentasche. – »Sprechen Sie doch«, flüsterte Marie abgespannt, »es ist ja einerlei wo.« Dann, mit einem leichten Schauer und einem Blick gegen die Schlafzimmertür: »Oder ... ich weiß ja nicht ...« – »Nein«, machte Kerkhoven mit beschwichtigender Geste, »das ... ist ausgeschlossen. Sie schläft fest. Frau Günther sitzt schon an ihrem Bett. Sie würde mich rufen.« – »Gewiß«, stimmte Marie in derselben mechanischen Weise zu, »aber ich weiß ja nicht, was Sie mir sagen wollen.« Er ging zur Tür des Schlafzimmers und zog den roten Vorhang vor, der in den Ringen einer Messingstange lief. Darauf setzte er sich Marie gegenüber und schaute abermals auf die Uhr. »Ich habe knapp eine halbe Stunde«, sagte er, »kann die Leute unmöglich im Stich lassen. Das beste wäre, Sie würden mich begleiten, Marie, Sie hatten mir's ja ohnehin für den Vormittag versprochen, ich nehme ein Auto und bringe Sie von dort aus heim.« Er unterbrach sich mit der Bemerkung, sie sehe erschöpft aus. Sie bat ihn um ein Glas Wasser. Um seine Besorgnis zu zerstreuen, lächelte sie, als er es brachte. Von seinen Gedanken gequält, schaute er auf die Spitze ihres kleinen Schuhes und wunderte sich, daß darin ein menschlicher Fuß Platz hatte. »Ich will Ihnen sagen«, begann er überstürzt, mit gedämpfter Stimme, »daß das, was hier geschehen ist, nicht gewesen sein darf. Sie müssen es aus Ihrem Gedächtnis streichen. Das heißt, wenn Sie im geringsten was von mir halten. Man kann das. Man kann so vergessen, daß von einer Tatsache weniger übrigbleibt als von einem Traum. In manchen Märchen gibt es ein Kraut, wenn man es zu sich nimmt, vergißt man. Böses und Gutes. Hier handelt es sich um Böses. Leider. Sie müssen es vergessen. Sie müssen nur wollen, und es ist nicht mehr da. Sie haben einfach geträumt.« – »Warum liegt Ihnen daran?« fragte Marie, erregt flüsternd. – »Ich kann es schwer erklären«, erwiderte er, ebenfalls flüsternd und nicht minder erregt. »Vielleicht ist es ein Aberglaube. Es kommt mir vor, als wenn ich in Ihren Augen gezeichnet wäre. Nein, antworten Sie nichts. Es wird da etwas zur Wahrheit ... wie lautet das Wort? Das Gesetz, nach dem du angetreten ... Sie müssen wissen, meine Mutter ... sie war wahnsinnig ... sie ist im Irrenhaus gestorben ... ich habe Irlen davon erzählt ... ich war ihr Abgott, ihr Idol ... genauso. Wiederholung. Ich hab' mir's immer verschwiegen ... Eines Tages ist sie auf den Klassenvorstand mit dem Messer losgegangen, weil er mir eine schlechte Note gegeben hatte, ein andermal hat sie die Küchenmagd beinah erdrosselt, weil sie zu zärtlich mit mir war, als ich mich in den Finger geschnitten hatte. In meinem Leben, scheint es, wiederholen sich gewisse Dinge ... Ich bin dann das Opfer analoger Konstellationen. Es geht so weit, daß der Herzpuls damit zusammenhängt, die Kurve von Gelingen und Fehlschlag, ich könnt' es auf dem Papier zeichnen. Was ich möchte, Marie ... was ich mehr als alles wünsche ... es läßt sich höchst einfach formulieren: unsere Beziehung darf um keinen Preis der Welt mit einem Stigma behaftet sein. Sie ist ja quasi noch ohne Haut, diese ... diese Freundschaft. Die leiseste Verletzung, und sie verblutet. Davor habe ich Angst, Marie. Dazu kommt noch eins. Ihre Phantasie. Ich weiß, was es damit auf sich hat. Sie haben nämlich keine gewöhnliche Weiberphantasie, die nur leeres Stroh drischt. Bei Ihnen nehmen die Dinge ein wahrhaftiges Leben an. Und das ist meine Hauptangst. Sie müssen mich, mich, diesen Joseph Kerkhoven, aus der Vergangenheit herausschälen und sozusagen als einen neuen Menschen nehmen, heute erschaffen, vor Ihren Augen erschaffen quasi. Sonst wird nichts. Verstehen Sie mich?« – »Ja, ich verstehe, das verstehe ich ausgezeichnet«, versicherte Marie atemlos. – »Sehen Sie, ich wußte es, Sie verstehen alles, Sie, Liebe, Liebe, Wunderbare«, fuhr er mit einem ungeschlachten Ton von Zärtlichkeit fort, der sie einfaßte, ringsum, wie eine goldene Wolke. »Es liegt ja auf der Hand. Dieses verpfuschte, zertrampelte Leben, es ist auf einmal um- und umgestülpt. Mir ahnt oft, es gibt einen inneren Wendekreis, über den muß man hinüber, um unter einen besseren Himmel zu kommen. Es hängt von der Idee ab. Wenn sich ein Mensch nicht zu der Idee durchringt, die er nach dem Plan der Schöpfung vorstellt, ist er eine Uhr ohne Zifferblatt. Er meldet keine Zeit, er weiß keine Richtung. Eines Tages hat mich der Geist angerufen: Joseph, steh auf, du bist dran. Natürlich wollte ich zuerst nicht. Ich bin von Haus aus faul und stumpfsinnig. Im Grund ist mir's am liebsten, wenn die sieben Wochentage einer um den andern vorbeimarschieren wie die Soldaten auf dem Exerzierplatz, reglementmäßig. Aber dann, wenn ich mich mal entschlossen hatte, da war auch schon das Unterste zuoberst gekehrt. Und ich weiß, daß es einen argen Weg nehmen wird, vorläufig. Ich spür's in allen Gliedern wie die Seekrankheit. Doch ich habe was, und das kann mir keiner rauben. Mag's immerhin bloß Einbildung sein. Tut nichts. Ich bin gegen alles gefeit, was mir überhaupt zustoßen kann. Die Gespenster sollen keine Gewalt drüber haben. So steht es. Die Gespenster sollen sich hüten, es anzutasten. So steht es.« Er stand auf und trat zum Fenster. Marie, tief erschrocken, sagte fast unhörbar: »Die Gespenster leben.« – Er nickte düster. – »Und man muß mit ihnen leben«, fügte sie ebenso leise hinzu, »sie sind in der Regel stärker als wir.« – Seine Beredsamkeit schien erschöpft. Er erwiderte schroff: »Das hab' ich auch geglaubt. Deshalb ist es so weit mit mir gekommen.« – »Trotzdem muß man wissen, was man gewinnt und was man verliert«, sagte Marie. – Und er: »Bah, wenn das alles ist. Ich hab' mein Sach auf nichts gestellt. Schon lang.« – Marie senkte den Kopf. Das halsbrecherische Bis-ans-Äußerste-Gehen des Gesprächs begann sie zu foltern. Das Zimmer drehte sich im Kreis. Sie erhob sich so jäh, als fehle ihr die Luft zum Atmen. Kerkhoven wandte den Kopf und sah sie mit trübem und schüchternem Blick an. Die »blassen Blumen« öffneten sich weit. Sie sagte mit bebendem Lächeln: »Was auch da wird, ich fürchte mich nicht, Joseph.« – Aus seinem Gesicht wich alles Blut. Zwei Worte entrangen sich ihm: »Mein Gott.« Das war alles. Nach einer Weile sagte er in kühl hinwischendem Ton: »Es ist Zeit. Wir müssen gehn.«
Von der Fahrt im Mietsauto, bei strömendem Regen, hinaus an die Grenze der westlichen Vorstadt, wäre manches zu sagen und ist am Ende nichts zu sagen. Denn während ihrer ganzen Dauer geschah nichts und wurde nichts Erhebliches gesprochen, weder auf dem Hinweg noch auf dem Rückweg zum Bergmannschen Haus, an das entgegengesetzte Ende der Stadt. Sie saßen nahezu stumm nebeneinander, die ganze Zeit. Jedoch muß sie für beide von einschneidender Bedeutung gewesen sein. Es liegt ein Brief Kerkhovens an Marie aus dem Jahre 1916 vor, in einem Feldlazarett an der polnisch-russischen Grenze geschrieben, worin er sich ausführlich und wie über ein lebenswichtiges Ereignis darüber äußert. Was um so schwerer wiegt, als er zu dieser Zeit nicht bloß den aufreibendsten militärischen Dienst versah, sondern infolge seines Rufes, der sich überall, wohin er kam, schnell verbreitete, auch von der Zivilbevölkerung, Bauern, Juden, Kleinstädtern, bis zum völligen Schlafraub beansprucht wurde. Es heißt in dem Schreiben unter anderm: »Wie man sich an etwas erinnert, was sich vom Himmel als Geschenk kaum hat erhoffen lassen, habe ich heute mitten im Stöhnen und Schreien der Verwundeten, Verstümmelten und Fiebernden an jenen Mainachmittag zurückgedacht, zweieinhalb Jahre ist es her, an dem wir in die Zeller Straße hinausfuhren. Weißt du noch? Von der ersten Minute an hast du ununterbrochen am ganzen Leib gezittert, Schauer auf Schauer überlief dich, und ich entsinne mich noch genau, trotzdem der Regenguß die Scheiben wie mit grauen Vorhängen bedeckte, an welchem Punkt der Fahrt die Bewegung auch mich ergriff, als wär' ich angesteckt, und so heftig, daß ich die Ellbogen in die Seiten drückte und die Zähne, damit sie nicht klappern sollten, fest aufeinanderbiß. Ich spürte zum erstenmal deine elektrische Natur, lach mich nicht aus, später hast du mir ja selbst oft gezeigt, wie aus deiner Seidenwäsche die Funken knisterten, wenn du sie auszogst, und an manchen Tagen war es auch so, wenn ich mit der Hand über deine Haare strich, sie knisterten auch. Aber das war es nicht allein. Die unbegreifliche physische Erschütterung, von der ich dich hingenommen sah, zauberten mir eine Vision deines Körpers vor, als gehörtest du mir schon, sie machte dich so hüllenlos, völlig nackt warst du mir da, und ich empfand das geisterhafte Mitleid, das in jedem Mann, der nicht bloß Tier ist, die Erstlingsflamme dämpft und das so nah an die Angst und an den Tod grenzt. Mir war, wenn ich dich anrührte, müßt' ich augenblicklich sterben. Ich fragte dich, ob ich dir meinen Mantel umtun sollte, denn du schienst mir zu leicht gekleidet, du schütteltest aber nur den Kopf. Ich streichelte deinen Arm, immerfort, das beruhigte dich ein wenig, du legtest den Kopf in die Ecke des Wagens und schlossest die Augen. Dann war ich bei dem alten Mann, der schon in der Agonie lag, ich konnte nicht mehr helfen, nur den letzten Kampf erleichtern, aber ich sprach und handelte wie mein eigener Schatten. Daß ich dich draußen wieder finden würde, machte alles andere unwirklich, und die halbe Stunde, die du noch bei mir bleiben würdest, erschien mir wie ein Leben für sich, der elende Ratterkasten von Auto eine Welt für sich ...«