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Bis zu dem Tag, wo Etzel Andergast zu Kerkhovens Entsetzen mit der klaffenden Kopfwunde in seine Klinik kam, einem Sonntag Anfang April, blieb die Beziehung in den durch die Umstände, den Altersunterschied und Kerkhovens berufliche Überlastung gezogenen Grenzen. Kerkhoven konnte sich dem jungen Mann nicht in dem Maß widmen, wie dieser es vielleicht erwartete und zweifellos wünschte, desungeachtet sah er ihn fast jeden Tag und hatte trotz einer Zeitbedrängnis, die ihn mit Minuten zu geizen zwang, immer eine halbe Stunde für ihn übrig. Es heißt ja, die Genies der Arbeit könnten neben ihren eignen noch spielend die Geschäfte besorgen, unter denen die Stümper erliegen, und das ist wahr, Überlegenheit schafft Raum, Leichtigkeit ist das Resultat der inneren Ordnung.
Bewogen durch das ungewöhnliche, vermutlich auf einer spezifischen Begabung beruhende Interesse, das Andergast an den Einrichtungen und den Pfleglingen der Anstalt nahm, hatte Kerkhoven veranlaßt, daß er unbehindert ein- und ausgehen konnte und außer bei Jessie Tinius auch in den Pavillons der offenen Abteilung Zutritt hatte. Für den Universitätshörer und angehenden Naturwissenschaftler eine selbstverständliche Vergünstigung. Er kannte Kerkhovens Besuchsstunden und wartete an bestimmten Plätzen auf ihn, wo er vorbeikommen mußte. In dem ausgedehnten Areal gingen sie dann ein Stück Wegs miteinander. Dann wartete er wieder und verließ mit ihm die Anstalt oder begleitete ihn durch Gärten, Höfe und Korridore bis an die Schwelle des Sprechzimmers. Es konnte auch sein, daß er gegen Mittag, um die Zeit, wo die Ordination zu Ende ging, vor dem Haus in der Großen Querallee auf und ab marschierte, leise vor sich hin pfeifend. Wenn das Kerkhovensche Auto anfuhr, unterhielt er sich mit dem Chauffeur fachmännisch über die Leistungsfähigkeit verschiedener Fabriken und Konstruktionen, weitläufiges Thema. Trat Kerkhoven aus dem Tor, von Leuten, die dort immerfort herumstanden, ehrfürchtig gegrüßt und den Gruß in seiner charakteristischen Art erwidernd, halb wie ein großer Herr, der unerkannt zu bleiben wünscht, halb wie ein Flüchtling, der seinen Wächtern entwischen will, dann näherte sich ihm Andergast mit einigem Zögern, lüpfte zu Boden schauend den Hut und harrte mit gesenktem Kopf der über ihn ergehenden Entschließung. Da sah ihn Kerkhoven jedesmal mit dem nämlichen forschenden Blick an, drückte ihm entweder flüchtig die Hand und stieg allein in den Wagen oder schob ihn zuerst hinein und sagte: »Na, los.«
Andergast hatte sich bald klargemacht, daß seine stürmische Manier zu fragen Kerkhoven nicht angenehm war. Wollte man, daß er aus sich herausging, so mußte man sich ruhiger verhalten, mehr sich selbst erschließend als zufahrend und sozusagen räuberisch. Er nahm sich demnach zusammen und handelte nach einer vorbedachten Strategie. Sich selbst erschließen, davon konnte freilich keine Rede sein, wär's darauf angekommen, er hätte vorgezogen, sich in die Büsche zu schlagen, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Aber er wußte so viel von andern Menschen, daß er gar nicht nötig hatte, von sich zu sprechen. Es war eine echt Andergastsche Logik, mit der er dies für einen vollgültigen Ersatz ansah, geeignet, jede Verlegenheit aus dem Weg zu räumen. In der Tat besaß er eine erstaunliche Kenntnis aller möglichen Verhältnisse, Zustände, Schicksale, Lebenskreise und Personen. Wo er sich nur überall herumgetrieben haben mochte. Wenn er Kerkhoven von dem oder jenem Kameraden erzählte, und davon ging er meistens aus, schon weil ihm dann Kerkhoven am aufmerksamsten lauschte, warf er Bild auf Bild hin, mit bemerkenswerter mitleidloser Kraft, eines immer pittoresker als das andere, ein Gesicht, ein Haus, eine Familie. Wie der Schwamm Flüssigkeit, saugte er Geschehnis in sich auf, menschliche Dinge, Dummheit und Unglück. Es war nicht recht verständlich, wie er mit seinen zwanzigeinhalb Jahren zu so profundem Wissen gelangt war, das um so unerschöpflicher schien, als er sich nie wiederholte und, was er mitzuteilen für gut fand, offenbar nur der kleinste Teil des tatsächlichen Erlebens war. Wenn Kerkhoven ihn verblüfft danach fragte, antwortete er achselzuckend, da sei absolut nichts Wunderbares dran, »der Tag ist zwar kurz, das Jahr ist aber lang, das Zeugs läppert sich, man muß nur die Augen offenhalten.« Mit dieser Erklärung, die keine war, schnitt er weiteres Forschen ab, jedoch Kerkhoven glaubte an die vorgetäuschte Zuschauerrolle ganz und gar nicht, er spürte den drängenden Puls des Mitspielers. Allmählich kam er zur Vorstellung eines Menschen mit zwei oder drei Existenzen, der in jeder Umgebung sogleich deren Farbe annimmt, sich wie alle andern äußert und gibt und es in der Kunst der Anähnlichung bis zur Vollendung gebracht hat, ohne den Selbstwillen zu verlieren und auf Entschlußfreiheit zu verzichten. Eine nicht alltägliche Figur immerhin. So viel hatte Kerkhoven bald heraus, daß er die politischen Versammlungen eifrig besuchte, daß man ihn als Bummler bei den meisten Straßenaufläufen sah, auf den Tribünen im Reichstag, in der staatlichen Bibliothek, in der Charité, im biologischen Institut, aber auch in zweideutigen Tanzlokalen und Bars, in gewissen Vorstadtcafés, wo kleine Reporter, beschäftigungslose Schauspieler und revolutionäre Literaten verkehrten; überall hatte er Freunde, Verbindungen, Verabredungen, blieb jedenfalls nie lange fremd und allein, denn seine Geschicklichkeit im Umgang mit jeder Art und Klasse von Menschen war ebenso groß wie die Unbekümmertheit, um kein stärkeres Wort zu gebrauchen, mit der er Bekanntschaften schloß und sich gelegentlich sogar Eintritt in einen schwer zugänglichen Kreis verschaffte. Das alles war aber nur Fassade.
Eines Tages hatte Kerkhoven mit Marie vereinbart, daß sie in einem Stadtrestaurant zu Mittag essen wollten, es ergab sich, daß er kurz vorher Andergast traf und ihn mitnahm. Er wünschte, daß Marie ihn kennenlernte. Er hatte seiner schon öfter im Gespräch mit ihr erwähnt und war neugierig auf den Eindruck, den sie von ihm haben würde. Ihr Urteil war ihm wichtig, nicht selten verlieh es seinem eigenen erst Sicherheit oder bestärkte es doch in der ursprünglichen Richtung. Diesmal war es anders, zu seiner Verwunderung verhielt sie sich völlig ablehnend. Es ist lehrreich zu beobachten, welche Warnungen und Vorzeichen das Schicksal bisweilen den Menschen zukommen läßt, wenn es sich mit der Absicht trägt, sie zu bedrohen, als wolle es ihnen, in einer Anwandlung von Mitleid, in seiner hinterhältigen Weise zu verstehen geben: noch hast du Zeit und kannst Vorkehrungen treffen, dich zu schützen, ich stoß' dich bloß ein wenig, wenn du was merkst, gut, wenn nicht, ist's deine Schuld. Marie, empfindlicheres Gefäß und den Elementen näher als die beiden Männer und als jeder Mann, spürte vielleicht den »Stoß«, und ein vorahnender Schauder überflog den reinen Spiegel ihres Innern. Kerkhoven und Andergast saßen bereits am Tisch, als sie kam und sich bei ihrem Gatten mit liebenswürdiger Erschrockenheit wegen der Verspätung entschuldigte. Andergast war aufgesprungen, und während das Ehepaar miteinander sprach und er Marie noch nicht vorgestellt war, verstrichen zehn oder zwölf peinliche konventionelle Sekunden, die er sonst wahrscheinlich dazu verwendet hätte, ein unverschämt artiges Gesicht zu schneiden; dazu kam's aber nicht, er starrte Marie mit einem Ausdruck an, fast als sehe er zum ersten Male in seinem Leben eine Frau, einer etwas einfältig-erstaunten Miene und einem Blick, den Marie zufällig auffing und der sie ein wenig frösteln machte, sie konnte ihn nicht bezeichnen, sie wünschte ihn nur schnell zu vergessen, diesen bösen, mißtrauischen, dabei tief überraschten Blick. Offenbar hatte er sich die Frau Joseph Kerkhovens ganz anders gedacht, so anders, daß es ihm zunächst die Rede verschlug und er erst allmählich wieder in seine lockere Form fand, die eine Mischung von schnurriger Spiegelfechterei und einer Freimütigkeit war, die Marie gegenüber etwas gewaltsam wirkte.
Am Abend fragte Kerkhoven Marie: »Wie gefällt er dir? Sonderbarer Mensch, nicht?« Marie sah von dem Buch empor, worin sie las. Sie schien sich zu besinnen, wer gemeint war. »Ach so«, sagte sie, »dein junger Freund ... Ich weiß nicht, Joseph. Offen gestanden, sehr erstaunt bin ich nicht. Sieht gut aus, das schon. Wenn er mir auf der Straße begegnen würde, würd' ich denken: hallo, wer ist denn der ... aber ich könnte mir nie ein Herz zu ihm fassen. Ein bißchen unheimlich. Ich glaub', er hat ungefähr soviel Gemüt wie ein Rasiermesser.« – »Wundert mich«, erwiderte Kerkhoven, »wundert mich, was du sagst.« – »Warum?« – »So schnellfertig. Gemüt ... das ist doch keine ausschlaggebende Qualität in deinen Augen.« – »Ach ja, Joseph, doch, doch. Wenn die Abwesenheit davon betont wird.« – »Findest du? Ich habe eher den Eindruck krankhafter Verleugnung. Ein Mensch, der niemals Zärtlichkeit erfahren hat. Das ist meines Erachtens der Schlüssel. Der Schlüssel zu vielen derartigen Naturen. Du wärst erstaunt über die Kraft, die geistige Inbrunst, die Rabies ... dergleichen habe ich noch nicht erlebt.« – »Möglich«, gab Marie kühl zu, »du hast sicher recht. Nur ... diese jungen Leute jetzt ... sie sind alle so ... so unerbittlich. Ich hab' immer das Gefühl: eben hat er ein Todesurteil unterzeichnet, in effigie natürlich, und dazu ›Ich küss' Ihnen die Hand, Madame‹ geträllert. Nein?« Sie lachte. »Wo kommt er denn her?« fuhr sie lebhafter fort. »Wo tun wir ihn hin?« – »Wenn ich das wüßte. Sein Vater scheint ein höherer Beamter gewesen zu sein. Die Mutter lebt in Baden-Baden. Süddeutsche Familie. Manchmal ist mir, ich hätte den Namen vor Jahren gehört, im Zusammenhang mit irgendeiner Affäre. Ich kann aber nichts aus ihm herauskriegen. Über seine Vergangenheit und seine persönlichen Umstände schweigt er mit einer Beharrlichkeit, die einem zu denken geben könnte ... Na, lassen wir's. Was liest du da, Liebste?«
Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Kerkhoven volle Klarheit über Etzel Andergasts vergangenes Leben erhielt, freilich nicht auf einmal und nicht ohne die nachhaltigste Bemühung.
Es war an dem erwähnten Sonntag um acht Uhr morgens, als Andergast in einem Taxi am Gartentor der Kerkhovenschen Anstalt vorfuhr. Er stieg aus, bezahlte den Chauffeur, der sogleich weiterfuhr, taumelte, sah sich um, lehnte sich an den Mauerpfeiler und hielt sich, die Arme nach hinten, an den Steinkanten fest. Der Pförtner Gottschmann, der ihn oft in Gesellschaft des Professors gesehen hatte, war auf ihn aufmerksam geworden und eilte hin. Zufällig kam zu gleicher Zeit der Oberarzt, Dr. Marlowski, dazu, der in die Stadt fahren wollte, er erkannte ihn (Andergast war ihm von Kerkhoven vorgestellt worden) und brachte ihn mit Hilfe eines herbeigerufenen Krankenwärters in ein unbesetztes Zimmer im Hauptgebäude. Als Kerkhoven zu Mittag kam, schilderte ihm Doktor Marlowski den Vorgang folgendermaßen: »Wie ich vors Tor trete, steht er da, leichenblaß, das Blut rinnt ihm unter dem Tuch hervor übers ganze Gesicht. Den Verband schien er sich selbst angelegt zu haben, war auch danach. Ich frage Gottschmann: Nanu, was ist denn los? Da wendet sich Herr von Andergast selber an mich, lallend, ich möchte ihn irgendwo unterbringen, er wisse, daß er fehl am Ort sei, Professor Kerkhoven werde es aber bestimmt gutheißen, woandershin könne er unmöglich gehen. Man solle ihn nur verbinden, dann könne er ja wieder abziehn. Na, hatte sich was, bei dem Zustand. Ich begriff zwar das Ganze nicht, aber schließlich, Hilfeleistung war notwendig, und da ich Ihre Billigung voraussetzen durfte ... Es scheint, er will um keinen Preis verraten, wie er zu der Wunde gekommen ist, und unter Ihrer Patronanz fühlt er sich gegen unbequeme Fragen am ehesten gesichert. Ist ja ziemlich doll. Sie wollen ihn natürlich sehen ...?« – »Gewiß. Welcherart ist die Verletzung?« erkundigte sich Kerkhoven. – »Leichte Fraktur des os parietale. Hieb mit einem stumpfen Instrument. Leichte commotio mit Somnolenz. Spur Fieber. Daß er in der Verfassung noch die Fahrt im Auto machen konnte ... allein ... alle Achtung.«
Kerkhoven ließ sich durch die Energieleistung nicht täuschen. Dahinter steckte noch etwas anderes. Etwas, das ihn bewegte. Er glaubte nicht zu irren in der Annahme, alle Zeichen deuteten darauf hin, daß da eine halb unbewußte Flucht in seine Nähe zugrunde lag. Dieser junge Mann, der seine Handlungen unter die schärfste Aufsicht der Vernunft gestellt hatte und dessen Existenz durchaus von nüchternen Zwecken regiert schien, hatte unter der Wirkung des äußeren Schocks die Führung verloren und war, lediglich dem Instinkt gehorchend, an den einzigen Ort geeilt, wo er sich mit seiner Wunde verbergen konnte. Sich verbergen hieß für ihn: nicht der Nachforschung ausgesetzt sein, schweigen dürfen und einen Menschen wissen, der über das Schweigen seine schützende Hand streckte. Klar. Das fernere Verhalten Andergasts bestätigte die Vermutung. Seine Miene zeigte unausgesetzte innere Wachsamkeit. Nur wenn Kerkhoven bei ihm war, entspannte er sich. Am dritten Tag, als es ihm schon leidlich ging, die Heilung machte gute Fortschritte, sagte er plötzlich, als ringe er sich zu einem Entschluß durch: »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, Meister. Einen sehr großen Dienst. Ich müßte Ihnen danken. Aber was fangen Sie mit meinem Dank an. Von dem Artikel haben Sie mehr als genug. Statt dessen bitt' ich um was. Noch schöner, werden Sie sagen. Also die Bitte ist, daß Sie Geduld mit mir haben.« Seltsam; diese Worte, obschon sie anscheinend alles boten, was an Wärme und Herzlichkeit vorrätig war, enthielten immer noch Trotz, Abwehr, trotziges Sichzurücknehmen. Überraschend war für Kerkhoven nur die Anrede. Meister. Es hatte etwas Unbedingtes in diesem Mund. Eine unbedingte Huldigung. Es war wie in alten Legenden, wenn der Ritter vor dem Lehnsherrn das Knie beugt. Es blieb dabei. Andergast war der einzige Mensch, der ihn Meister nannte. Und nennen durfte. Und ihn damit zu seinem Meister machte. Woraus Kerkhoven Pflicht um Pflicht erwuchs, bis zum Opfer seiner selbst beinah.
Hinter das Geheimnis der Verwundung zu kommen, war Kerkhoven gar nicht bestrebt. Vorläufig interessierte es ihn nicht. Er liebte nicht, zu bohren, zu verhören, Bekenntnisse herauszulocken. Er hatte nicht die Gewohnheit, Menschen zu überführen und durch noch so wohlmeinende Dialektik einzuschüchtern. Auch als Arzt hatte er nichts vom Untersuchungsrichter und erst recht nichts vom Detektiv. Seine Methoden waren gründlicher und schwieriger. Sie beruhten auf einem Erkennungsdienst, der statt des Allgemeinen und Typischen das Besondere und Einmalige eines Falles festzustellen suchte. Die Tendenz war nicht, zu klassifizieren, das heißt sich beim Begriff zu beruhigen, sondern erstarrte Begriffe von Krankheit und Verwirrung zu verlebendigen, in der Weise wie ein Dichter die Idee, aus der sein Werk geboren wurde, vergessen läßt und in sichtbare Gestalt umschmilzt. Vergessen können, darauf kommt es an.
Er sah in dem unbekannten Geschehnis, das an jenem Sonntagmorgen so übel für Andergast geendet hatte, ein an sich vielleicht bedeutungsloses Glied in einer langen Kette, die man bis zum Anfang zurückverfolgen mußte, wenn man den Zusammenhang aufdecken und die Gesamtsituation kennenlernen wollte. Und daran war ihm plötzlich alles gelegen. Bestimmend für sein unmittelbares Eingreifen waren: 1. Sympathie; 2. Gefühl der Verantwortung für die Person, das der Sympathie entstammte und mit ihr wuchs; 3. generatives Verantwortungsgefühl; 4. Ahnung der Tragweite, da es sich um schwer zugängliches Gebiet handelte und ihn dünkte, man bedürfe gerade dort seiner.
Das erste, was er tat, war, daß er sich mit Eleanor Marschall in Verbindung setzte. Sie besuchte ihn, und er hatte eine lange Unterredung mit ihr. Sie wußte von dem Unfall (oder was es war), der Andergast betroffen, schien aber auch ihrerseits Gründe zu haben, sich nicht darüber zu äußern. Als Kerkhoven eine direkte Frage stellte, war sie sichtlich verlegen und änderte das Gesprächsthema. Sie war in der Konversation außerordentlich gewandt und erzählte glänzend. Ihr Ton war der einer Dame von Welt, die keine ist, sondern nur genau weiß, wie sich eine Dame von Welt benimmt. Sie gefiel ihm und gefiel ihm wieder nicht. Sie mochte zwei- oder dreiunddreißig Jahre alt sein. Sie gehörte zu den Frauen, die nicht recht zuhören, wenn der Partner spricht. Indem sie alle Kräfte und Fähigkeiten darauf richten, ihm eine hohe Meinung von sich beizubringen, verfehlen sie den sichersten und zugleich leichtesten Weg dazu, nämlich aufmerksam zu sein. Aber diese Bemerkungen sind verfrüht, mit ihr haben wir uns ja noch zu beschäftigen. Bei den flüchtigen Andeutungen, die sie über das Vorleben ihres Freundes Etzel machte, wurde Kerkhoven stutzig. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Am nächsten Tag schrieb er einen ziemlich ausführlichen Brief an Andergasts Mutter. Das war das zweite, was er tat, das Entscheidendere. Selbstverständlich verschwieg er ihr, daß Etzel in seiner Klinik lag. Gelegentlichen Äußerungen des jungen Mannes hatte er entnommen, daß sie beständig kränkelte und von ihrer Umgebung in jeder Weise geschont wurde. Es hatte den Anschein, als sei es vor längerer Zeit zwischen Mutter und Sohn zum Bruch oder doch zu einer Entfremdung gekommen, und man mußte in der Form der Einmischung vorsichtig sein. Er schilderte kurz die Beziehung, in die ihn ein eigentümliches Zusammentreffen von Umständen zu Andergast gebracht und welchen Anteil er an seiner Person und seinem Schicksal nehme. Je stärker dieser Anteil werde, und er müsse gestehen, daß er selten so zwingende Beweggründe gehabt, einen jungen Menschen in seine Nähe zu ziehen, je stärker er sich also berührt finde, je mehr beunruhige ihn der wie böses Gewissen wirkende Starrsinn, den Andergast jedem Versuch, Einblick in sein Leben zu gewinnen, entgegensetze. »Eine solche Seelenlage gibt zu denken«, schrieb er, »sie gleicht einem Verhärtungsprozeß. Der Einwand, daß die Jugendlichkeit meines jungen Freundes die Gefahr der Stabilisierung ausschließe, wäre keiner, das spezifische Gewicht der Erlebnisse ist beim Zwanzig- oder Einundzwanzigjährigen um nichts geringer als beim Fünfzigjährigen, der Tiefgang jedenfalls größer. Neben der Last des gegenwärtigen Tages können wir nur noch die des letztvergangenen tragen, das seelische Klima, in dem sich die Lebensvorgänge abspielen, wird nach meiner Erfahrung in jedem Alter innerhalb periodischer Abläufe von fünf bis sieben Jahren reguliert.« Aus all diesen Gründen fühle er sich gedrängt, die kompetenteste Stelle um Aufklärung zu bitten, wenige Anhaltspunkte würden schon genügen und ihm eine Aufgabe erleichtern, der er sich, wie die Dinge einmal lägen, nicht mehr entziehen könne. Natürlich dürfe er, den Notfall gegeben, auch den eigenen Kräften zutrauen, das Dunkel aufzuhellen, allein das abgekürzte Verfahren erspare viel Zeit, viel Mühe, er brauche den Schlüssel, das Schlüsselwort. (Die etwas allzu diskreten Anspielungen Eleanor Marschalls hatten ihm ja nur die Richtung gewiesen und eine noch gestaltlose Erinnerung aufblitzen lassen.)
Fünf Tage später bekam er die Antwort der Frau von Andergast, siebzehn engbeschriebene Seiten, die ihn nachhaltiger beschäftigten als manches umfangreiche wissenschaftliche Werk.
Noch während des Lesens wurde jene Erinnerung deutlich, als hätte sie nur auf den letzten Anstoß gewartet, um voll ins Bewußtsein zu treten. Es war eine Geschichte, die sich vor ungefähr vier Jahren zugetragen hatte und die mit der Begnadigung eines gewissen Maurizius zusammenhing, eines zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilten Mörders. Dieser Maurizius hatte einstmals den oberen Gesellschaftsschichten angehört und als junger Gelehrter und Privatdozent ziemlichen Ruf genossen, der gegen ihn geführte Prozeß hatte daher europäisches Aufsehen erregt, dermaßen, daß sogar die nach neunzehn Jahren erfolgte Begnadigung eine Zeitlang wie ein öffentliches Ereignis besprochen wurde. Das Interessante war aber nicht die Person des Sträflings und nicht der juristische Akt der Entlassung, sondern die Rolle, die ein sechzehneinhalbjähriger Knabe dabei gespielt. Der Knabe hieß Etzel Andergast. Irgendeinem Journalisten war es gelungen, sich in das Vertrauen eines Familienmitglieds einzuschleichen, einer alten Dame, sein Bericht ging in eine Reihe von Blättern über, es klang alles so romantisch und sensationell wie ein Abenteuer von Sherlock Holmes, aber Kerkhoven entsann sich eines Gesprächs in einem Freundeskreis, wo er als einziger der Meinung widersprochen hatte, ein sechzehnjähriger Knabe könne unmöglich so kühn, so überlegen, so zielbewußt handeln, wie die Zeitungen glauben machen wollten. Ein paar Wochen später versicherte ihm ein Patient, ein Frankfurter Hochschullehrer, daß an der Wahrheit jenes Berichts nicht zu zweifeln sei, ausnahmsweise einmal, alles sei genauso gewesen, Punkt für Punkt. Dann war die ganze Sache in Vergessenheit geraten, ihm und aller Welt. Und jetzt: die Bestätigung. Sonderbare Wege und Umwege. Frühe Kunde, Vorbewegung, flüchtiges Angerührtwerden, Zurücksinken des Geschehens ins Meer der Gleichgültigkeit, dann der Mensch selbst, noch ohne seine Tat, ohne sein Geschick, doch umwittert davon, und schließlich das authentische Zeugnis.
Laßt uns sehen, wie es beschaffen ist, dieses Zeugnis.
Etzel, Sohn des Oberstaatsanwalts von Andergast, erfährt durch eine Reihe scheinbar zufälliger Umstände, daß der öffentliche Ankläger im Prozeß Maurizius, der Mann, dessen juristischer Ehrgeiz und rednerische Gewalt am meisten zur Verurteilung des Beschuldigten beigetragen haben, sein Vater ist, ja, daß Herr von Andergast durch seine drakonische Haltung bei dem Rechtsfall seinen Aufstieg als Beamter begründet hat. Etzel ist einsam aufgewachsen, die Eltern sind geschieden, er hat die Mutter seit seinem neunten Jahr nicht gesehen, ob er den Vater liebt oder nicht liebt, ist ihm nicht bewußt, er bewundert ihn, er fürchtet ihn, seine Erziehung war exemplarisch, der Knabe weiß, was er ihm, seiner Stellung, was er sich selbst schuldig ist. Bei alledem erfüllt ihn eine heimliche Sehnsucht nach der unbekannten Mutter, ein dunkles, süßes Gefühl in einem nicht erschlossenen Seelenraum. Sophia von Andergast wäre neben dem steinernen Mann der Paragraphen verdorrt, hätte sie nicht schon in den ersten Jahren ihrer Ehe in einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung Rettung für ihr Herz gefunden. Herr von Andergast kommt dahinter, nötigt dem Liebhaber, während er die Beweise für den Ehebruch bereits in Händen hält, das Ehrenwort ab, daß er mit Sophia kein Verhältnis hat, und als er auf Grund der Kavaliers-Formel den Meineidsprozeß gegen ihn anhängig macht, erschießt sich der unglückliche Schwächling. Betäubt und eingeschüchtert willigt Sophia in die erniedrigenden Scheidungsbedingungen, nach denen es ihr unter anderm nicht erlaubt ist, sich ihrem Kind zu nähern. Ein gesetzlich unhaltbarer Pakt, aber Scham, Abscheu gegen den früheren Gatten, Krankheit, Lebensekel, Gewöhnung an Einsamkeit verwehren es ihr, sich dawider aufzulehnen, sie wartet in fatalistischer Gewißheit auf ihre Stunde, indes ihr Bild im Gedächtnis des Sohnes nach und nach verblaßt. Nur die dunkle Sehnsucht bleibt in ihm, und sonderbarer Weise vermischt sich die mit der Kunde von dem Mörder Maurizius, als wenn auch von dorther die Unschuld ihre geisterhaften Boten ausgeschickt hätte. Denn im Verlauf seiner unablässigen Fragen, Erkundigungen und der Lektüre der alten Verhandlungsberichte befestigt sich in ihm die Überzeugung, daß da ein Justizmord geschehen ist, daß dieser Maurizius seit neunzehn Jahren als Opfer eines Fehlurteils hinter Kerkermauern schmachtet. Es ist nicht so sehr Erkenntnis als Vision. Er allerdings ist des Glaubens, er habe sich der Wahrheit auf dem Weg logischer Entwicklung und scharfsinniger Schlußfolgerung bemächtigt, aber darin irrt er, es ist die inspirative Kraft seines Gemüts, durch die er ihrer inne wird. Und als ihm der Vater des Maurizius, der seit Jahr und Tag erfolglos um das Wiederaufnahmeverfahren kämpft, die vertrauliche Mitteilung macht, daß der damalige Kronzeuge, Gregor Waremme, dessen belastende Aussage das Fundament von Prozeß und Urteil war, unter verändertem Namen in Berlin lebt, in einer bestimmten Straße, in einem bestimmten Haus, da fängt Etzel zu glühen und zu brennen an, ausgelöscht ist Herkommen, Gehorsamspflicht, Vaterangst, er beschließt, den Mann zu stellen und ihm um jeden Preis das Geständnis des Meineids abzuringen. Er verschafft sich ein paar hundert Mark, entweicht heimlich aus dem Haus, fährt in die fremde Stadt, mietet sich als E. Mohl bei einer etwas zweifelhaften Familie ein, macht den geheimnisvollen Waremme ???recte Warschauer ausfindig und beginnt ihn mit raffinierter Schlauheit, mit meisterlicher Verstellung einzuspinnen, einzukreisen, aufzurütteln. Alle Gedanken seines erfindungsreichen Hirns, Heuchelei, gespielte Schwäche, gespielte Krankheit, Drohung, Bitte, Wut, Demütigung, sogar der Reiz seiner Knabenjugend und ein skabröser Anschlag auf die greisenhaften Lüste des Widersachers, alles muß herhalten, den gefährlichen, bösartigen, zerlebten, keinem Ding, keiner Seele, keinem Gott verbundenen Waremme-Warschauer, den Verräter am Trieb und Renegaten von der Wurzel her, aufzureißen und aus seinen Schalen und Schanzen zu treiben. Uralter Mythos im Grunde: der Zwerg im Kampf gegen das Monstrum. David wider Goliath. Und David siegt.
Mittlerweile ist das Unerwartete geschehen, daß Herr von Andergast auf seine Weise gleichfalls zur Überzeugung von der Unschuld des Maurizius gelangt ist. Auf seine Weise, das heißt auf Maulwurfswegen, verkrochen, widerstrebend und still, jedoch mit unbedingter Sachtreue und der Überlegenheit des geschulten Fachmanns im Wiederaufbau der Tatbestände. Ein Brief Etzels hat ihn über die Ursache von dessen Flucht unterrichtet. Er hat es zuerst nicht notiert, hat es innerlich abgelehnt, sich damit zu befassen, hat Anstalten getroffen, den Jungen verfolgen zu lassen, hat die Verfügung widerrufen, und alles Schwanken, Grübeln, olympisches Grollen und hochmütiges Drüberwegleben hat ihn nur noch unwiderstehlicher zum Studium der alten Prozeßakten gedrängt. Das Bild der Verhandlung ersteht, die Zeugen sprechen wieder, der Angeklagte tritt auf, alle Vorgänge gewinnen eine unheimlich nahe Wirklichkeit, und zu gleicher Zeit, simultanes Geschehen, erhebt sich das Bild des Sohnes vor ihm, als Kind, als Knabe, aus verkrampfter Brust herausgeisternd, eine anmutig-liebenswerte, aber in einem rätselhaften Sinn verletzte und mißkannte Erscheinung, quälender Spuk für ihn. Er wird den vorwurfsvollen Schatten nicht los, der Traum-Etzel weist ihn auf die vergilbten Blätter hin, erschüttert sein starres Gefühl von der Unabänderlichkeit der sozialen Ordnung, macht es verdächtig, macht es anrüchig, umwölkt es mit Zweifel und Angst: der Boden unter seinen Füßen weicht. Der wachsenden Bedrängnis zu entgehen, bleibt kein anderes Mittel als dem Sträfling Maurizius persönlich gegenüberzutreten, er besucht ihn im Zuchthaus. Dreimal. Verhängnisvolles Resultat: er lernt den Gerichteten kennen, den Menschen mit der zerstörten Seele, das Schlachtopfer der vergotteten Ordnung, sein Schlachtopfer, eine zerrissene Kreatur. Da wird er selbst zum Gerichteten. Als er nach der letzten Unterredung das Strafhaus verläßt, graut ihm vor seiner Welt. Zu Hause erwartet ihn Sophia, die den Sohn von ihm fordern wird, dem fühlt er sich nicht mehr gewachsen, die Schwäche, von der er ergriffen ist, dehnt sich über alle Lebensverhältnisse aus, und es ist wie Loskauf von Sophia, wie uneingestandene Abbitte an den Sohn, als er die Begnadigung des Maurizius befürwortet und erlangt. Damit glaubt er alles getan zu haben, was getan werden kann, und ahnt nicht, daß er nichts von dem getan hat, was er tun müßte. Etzel kehrt zurück. Er hat seinen Zweck erreicht, Waremme-Warschau hat den Falscheid gestanden, Maurizius ist unschuldig, der Spruch kann als nichtig erklärt, die Ehre des Verurteilten kann wiederhergestellt werden. Und zwar hat das ohne Verzug zu geschehen, keine Stunde Zeit darf verloren werden; als man ihm mitteilt, seine Mutter sei in der Stadt, hört er kaum hin, es gibt nichts von Belang außer dieser einen Sache. So steht er vor dem Vater. Der ganze Mensch Flamme. Der ganze Mensch Botschaft. Maurizius unschuldig, er bringt den Beweis. Herr von Andergast: Das mag schon seine Richtigkeit haben, ist jedoch nicht mehr relevant, Maurizius ist begnadigt und aus dem Zuchthaus entlassen. Etzel traut seinen Ohren nicht. Begnadigt? Wie das? Was soll das heißen? Hat er denn Gnade verlangt? Geht es nicht um Gerechtigkeit? Wirft man ihm ein schmutziges Almosen hin, statt zu bezahlen, was man schuldig ist? Der Staat? Die Würde des Gesetzes? Was für lumpige Vorwände noch? Herr von Andergast, die Ruhe selbst, ruhig wie der Tod, ignoriert die beleidigende Wildheit des Knaben, er hat ihm nichts entgegenzusetzen als einen schalen Sarkasmus, der sein Ziel verfehlt und die morschen Überreste einer Autorität, die unterhöhlt ist vom Gefühl der Unhaltbarkeit seiner Position als Mensch, als Vater, als Beamter. Es ist ein Rückzugsgefecht, hinter den Worten lauert die Verzweiflung. Etzel hört nur die Worte. Ihm ist die Welt umgestülpt. Aller Sinn des Lebens hat sich in Unsinn verkehrt. Er führt sich auf wie ein Tobsüchtiger. Verfolgt von dem entsetzten, der seelischen Verstörung bereits verfallenen Vater rast er durch die Stuben, zertrümmert mit den Fäusten die Fensterscheiben, ein etwas armseliges Symbol seiner Weltvernichtungswut, und mit dem Aufschrei »man soll meine Mutter holen« bricht er zusammen. Sophia kommt. Sie bringt ihn ins Haus der Generalin, seiner Großmutter, deren Gast sie selbst ist. Sie weiß natürlich von dem Geschehen, aber sie weiß es nur von außen, bis sie es ganz erfaßt und in seiner Folge überblickt, vergeht viel Zeit. Sieben Jahre hat sie um den Sohn gebangt, sieben Jahre auf »ihre Stunde« gewartet, jetzt hat sie ihn und hat ihn schon wieder nicht mehr. Ja, ganz zuerst, da ist er an ihrem Hals gehangen und hat geschluchzt wie ein kleines Bübchen, geschluchzt und sich krampfhaft an sie geklammert, sie hat das Zimmer nicht verlassen dürfen, kein anderer Mensch durfte in seine Nähe kommen, aber als das vorüber war, da ist er innen und außen verstummt, da ist ihm Geist und Herz eingefroren, ist ihr, der Welt, sich selber gestorben. Er ist rätselhaften Ohnmachtsanfällen ausgesetzt und liegt dann zwanzig bis dreißig Minuten steif da. Ärzte kommen, man denkt an Epilepsie, an Bewußtseinsstörungen, einer glaubt sogar Symptome von Hebephrenie wahrzunehmen. Auch das geht vorüber, und dann kommt das Schlimmste von allem. Was ist das für einer, dieser Sohn, den sie als Kind verlassen hat und der ihr jetzt als fremder Mensch entgegentritt? Den Weg zu ihm erst suchen zu müssen, darauf ist sie vorbereitet gewesen, aber es scheint keinen Weg zu geben. Dieser hartgeschlagene, eiserne, zähnezusammenbeißende Bursche, wer ist das? »Von dem, was nun folgte, kann ich jetzt nicht schreiben«, schloß der Brief, »vielleicht ein andermal, es ist zu schmerzlich, es geht zu tief, es schwärt noch, ich muß erst die Kraft dazu finden, und ich hoffe, ich werde sie finden, denn Ihr Brief, hochgeehrter Herr, war der erste Lichtblick seit Jahren. Es kann ja auch nicht so einfach erzählt werden wie das andere, von dem ich bloß erfahren habe, ohne es mitzuerleben, dies hab' ich erlebt und weiß noch immer nicht, was geschehen ist. Vielleicht können Sie mir das Verständnis erschließen. Ich war wie eine, die sich unsinnig darauf freute, in einen Garten zu gehen, von dessen wundersamer Blütenpracht sie jede Nacht geträumt hatte, und wie sie endlich hineinkam, waren keine Blumen mehr da, alles welk und kahl ...«
Kerkhoven trug den Brief zwei Tage mit sich herum, ehe er sich zu antworten entschloß. Es geschah unvermittelt, spätnachts, als er von einem Krankenbesuch bei einem fünfzehnjährigen Mädchen nach Hause kam, das an einer schweren Kokainvergiftung mit Halluzinose litt. Der Fall hatte ihn erschüttert, er war zu erregt, um schlafen zu können, so setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb an Frau von Andergast wie folgt:
Verehrte Frau! Ich bin Ihnen für die eingehende Darstellung eines nicht alltäglichen Sachverhalts um so dankbarer, als ich Ihren Brief für einen Vertrauensbeweis anzusehen habe, den Sie dem Unbekannten auch hätten verweigern können. Sie haben mir die Binde von den Augen genommen, so daß ich endlich klar zu sehen vermag, und wieder einmal muß ich mir sagen, wie kläglich man mit der Erfahrung dran ist, wenn es sich um die Erkenntnis des Menschen handelt. Ein unsäglich geheimnisvolles Wesen ist der Mensch, ohne seherische Gaben kann man ihn kaum enträtseln. Ihre Bemerkung von dem Blütengarten, der sich Ihnen erst im Zustand der Welke auftat, hat mich außerordentlich bewegt. Ein einfaches Bild, und wie überzeugend gibt es einen Vorgang wieder, dessen tiefe Gesetzmäßigkeit wir erst zu ahnen beginnen. Die Katastrophe, auf die Sie am Schluß Ihres Schreibens hindeuten und von der Sie mit Recht annehmen, daß sie sich bis auf den heutigen Tag erstrecke, ist ja kein singulärer Prozeß gewesen, sondern ein allgemeiner und ein naturnotwendiger. Betrachten Sie diese etwas doktrinäre Feststellung nicht als Empfindungs- und Phantasiemangel, ich bitte Sie, aber den Aufschluß, den ich Ihnen schuldig zu sein glaube, oder die Auslegung bloß, kann ich nur geben, wenn ich meinen Zirkel so weit wie möglich spanne, über das Persönliche hinaus.
Sie haben an Ihrem Sohn Etzel das erlebt, was alle Mütter, alle Väter an ihren Kindern erleben. Die Mehrzahl von ihnen geht blind daran vorüber, und wenn sie sich auch der Tatsache nicht verschließen, nach der Ursache zu forschen fühlen sie sich nicht versucht. Nicht zu diesen rechne ich Sie, gnädige Frau, Ihr Brief hat mir einen hohen Begriff von Ihrem klaren Blick und der Kraft Ihres Herzens gegeben; dennoch haben Sie vielleicht die wahre Natur des Geschehens verkannt, und ich wage zu hoffen, daß ich Ihnen einen neuen Aspekt eröffnen kann und daß Sie dann die Dinge mit andern Augen ansehen, weniger trostlos und mehr im Sinn einer werdenden Anthropomorphie, zu der ich hier mit unzulänglichen Mitteln einen Beitrag liefere, betitelt etwa: der seelische Absturz und Charakterbruch bei den Siebzehn- und Achtzehnjährigen.
Man ginge sehr fehl, wenn man das Unternehmen des siebzehnjährigen Etzel als eine einmalige Eingebung, beruhend auf einer einzigartigen Geistes- und Gemütsverfassung ansähe. Der sogenannte gesunde Menschenverstand sträubt sich natürlich gegen eine andere Betrachtungsart, ihm ist alles ungewöhnlich Scheinende verdächtig, nur der Zauberer tut für ihn Wunder, nicht die ewig wunderbare Natur. Ich für meine Person bin überzeugt, daß Etzel, als er wie ein hochgemuter Sankt Georg auszog, den Drachen zu töten, wie ein richtiger Junge handelte, genau wie hunderttausend andre Jungens, nur ein wenig folgerichtiger in seinen Entschlüssen, ein wenig logischer in seinem Denken, ein wenig entflammbarer in seinem Gefühl. Nun, auf das wenige kommt es eben an. Es ist eine Frage des Bewußtseins. Bewußtsein scheint als Strahlung innerhalb eines scharf begrenzten Kreises zu wirken, der sich nur bei erlesenen Individuen merklich erweitert. Sonst wäre es unerklärlich, daß der Vierzigjährige nichts mehr von seiner Zwanzigjährigkeit weiß, der Zwanzigjährige sogar den Fünfzehnjährigen, der er war, bis zu einem Grad vergessen hat, daß die Regungen, Begierden und Leidenschaften, die ihn damals erfüllten, nur noch um den Rand seiner Träume zittern und sich später derart umkrusten, daß manche Seelenforscher es für nötig halten, die Schale aufzusprengen, wenn sie die Persönlichkeit enträtseln wollen. Man hat sogar eine Therapie darauf gebaut. Ich konnte es immer wieder beobachten, jeder blickt auf sein früheres Ich wie auf eine unvollkommene Form herab, deren er sich zu schämen hat, in die verdammt er das Opfer tadelnswerter Verirrungen war. Warum denn bloß? Warum liebt kein Gewordener den, aus dem er geworden ist? Als ob jedes Heute das Gestern umbringen und auffressen müßte, damit ein Morgen sein kann. Lernten wir doch wieder zurückzuschauen, die Gegenwart wäre uns vielleicht erträglicher und die Zukunft nicht so finster.
Kein Siebzehnjähriger wird sich über Etzel Andergasts Tun gewundert haben. Die gesetzten Leute mußten sich wundern, und ihr Zweifel an der Vollbringung, der Möglichkeit des Vollbringens war ein Akt der Selbstverteidigung. Was sollten auch junge Menschen daran zu staunen haben? Sie sind ja des gleichen Aufschwungs fähig. Fast alle sind bereit, sich ohne Vorbehalt einzusetzen; träfe sie zur rechten Stunde der rechte Ruf, keiner würde sich verweigern. Es ist ein Zustand seelischer Unabhängigkeit und geistiger Entschlossenheit, den das Leben im selben Maß zerstört, wie es die Forderung nach seiner Erhaltung und sozialen Einordnung geltend macht. Der Verlauf wird nur darum nicht in seiner ganzen Aussichtslosigkeit empfunden, weil er so tückisch allmählich ist. Zum Glück. Wäre es anders, so müßten sich die meisten anständigen Menschen mit neunzehn Jahren erschießen. Gewiß, viele waren schon im Mutterleib gezeichnet, viele haben ihre Kindheit in einer Verwahrlosung zugebracht, die sie für immer zu Schuldnern der Gesellschaft macht; auch zu ihren Gläubigern, aber was nützt der Anspruch bei angesagtem Bankrott. Ich habe zahllose gesehen von den frühzeitig Gebrochenen, die das Gift ererbter Lebensschwäche im Blut tragen und zwangsläufig ins Laster, ins Verbrechen, in die Selbstvernichtung geraten. Zahllose, aber ich zähle sie nicht mit. Ich denke nur an die normale Entfaltung. Da tritt mir überall dieselbe unerbittliche Haltung entgegen, das Ins-Auge-Fassen des Ganzen statt eines Teils und die bis zur Askese gehende Verachtung der gegenwärtigen Nützlichkeit zugunsten einer künftigen, kurzum das, was wir Vierzig-Fünfzig-Sechzigjährigen nicht verstehen, weil wir es vergessen haben, nicht verstehen wollen, weil uns damit das Dach überm Kopf fortgerissen wird. Absurd genug: das eigentlich Menschenwürdige erscheint vernunftwidrig. Oder um bei unserm Fall zu bleiben: das Etzelhafte wird zur Abnormität.
Ich möchte nicht bei Ihnen in den Geruch kommen, verehrte Frau, als wolle ich die Halbwüchslinge auf ein Postament heben, das sie ohne Unterlaß selber für sich errichten, oder als stelle ich mich taub gegen den Lärm, den unsere jungen Leute von ihrer Jugend machen. Minderjährigkeit allein gibt noch keinen Vorrang, nicht einmal in einer Welt, in der die Väter ihren Söhnen unter anderm eingestehen müssen, Gerechtigkeit zu erwarten sei eine törichte Illusion. Aber ist nicht vieles von dem, was uns auf die Nerven fällt und das Herz bedrückt, das Schwinden jeglicher Ehrfurcht, die eisige Kälte der Formulierung, das unergründliche Mißtrauen gegen die geschichtlich gesetzten Institutionen, ist es nicht Ausdruck der Verzweiflung, und haben nicht wir diese Verzweiflung entfacht? Auf Abwehr ist alles in diesem Alter eingestellt. Ich könnte Ihnen von jungen Menschen erzählen, die bis zur Selbstgeißelung, bis zum blutigen Bruderhaß daran leiden, daß die Welt so ist, wie sie ist, und, um sich dafür zu rächen, irgendeine Gemeinheit begehen, einen niederträchtigen Verrat, eine kriminelle Handlung sogar. Ich weiß von einem Knaben, der Gedichte so leidenschaftlich liebte, daß er in der Verborgenheit seiner Kammer Stunden damit verbrachte, sich schöne Verse vorzulesen, aber wenn ein Kamerad in seinem Beisein dasselbe tat, spuckte er aus und höhnte über das Geleier. Ein anderer hatte einem alten Diener, den seine Eltern wegen einer geringfügigen Verfehlung entlassen hatten, den Koffer zur Bahn getragen, und als ihn ein Schulfreund dabei betraf und am nächsten Tag die Rede darauf brachte, wurde er knallrot und schwor Stein und Bein, er sei es nicht gewesen, nannte sogar den Namen einer Familie, die er zur selben Zeit besucht haben wollte. Ein Alibi der Schamhaftigkeit. Sie könnte in vieler Hinsicht erziehlich auf uns wirken, diese Scham des jugendlichen Menschen. In der Seele der Siebzehnjährigen ist ein Richtungsweiser, der unbeirrbar wie die Magnetnadel, obschon zitternd wie sie, auf das Vollkommene weist, und es will mir scheinen, daß sich darin ein elementarer Trieb der Menschennatur zeigt, der ursprünglich sittliche Instinkt, der, mögen die Mechanisten sagen, was sie wollen, uns genauso eingeboren ist wie der des Hungers und der Fortpflanzung. Nur ist er verletzlicher und gefährdeter, und um sich von der Niedrigkeit der Umwelt äußerlich nicht abzuheben, bedarf er eines schützenden Gehäuses. Die Zugeschlossenheit dieses Alters ist in der Tat größer, als die erfahrensten Erzieher wissen. Um Erklärungen bin ich nicht verlegen, wenn man mich danach fragt, viele sind schon zu Gemeinplätzen geworden und jedem psychologischen Quacksalber geläufig, der Einschlag sinnlicher Strömungen etwa und die zu ihrer Bewältigung erforderliche Seelenarbeit, oder der klaffende Zwiespalt zwischen Freiheit und Bindung. Das Nächstliegende wird nicht beachtet, das ungeheure Gewicht der Welt nämlich, das nicht in langsamer Zunahme und so den Geist gewöhnend fühlbar wird, sondern mit zermalmender Plötzlichkeit auf den Unvorbereiteten niederwuchtet. Mit dieser Materie sich befassen heißt einen unbekannten Kontinent betreten, dessen Bewohner nicht allein unsere Sprache nicht sprechen, sondern überdies eine hostile Schweigsamkeit bewahren. Ihre scheinbare Offenheit darf uns nicht zu dem Glauben verführen, daß sie sich mitteilen, ihr vorgebliches Interesse an uns Bejahrteren ist ein verwickeltes System von Heuchelei, und noch ihr Wissendurst ist eine Falle für uns. Sie täuschen uns damit über ein Wissen hinweg, das sie a priori besitzen, eine Intuition der Welt von einer Glut und einem Reichtum, der gegenüber unsere empirische Lebenskenntnis sich ausnimmt wie ein Gemüsegarten gegen eine Tropenwildnis. Ein ungewußtes Wissen freilich, wenn Sie mir das Paradoxon verzeihen wollen, und ein praktisch unverwertbares, das sich nicht funktionell, nur als seelisch-geistige Disposition auswirkt. Nutzanwendung auf das Leben kann nicht aus ihm gezogen werden, ohne daß die Unschuld verlorengeht, mit der es steht und fällt. Wenn ich Wissen sage, bediene ich mich der erstbesten Wortkrücke, es ist ein Zustand konzentrierter Empfänglichkeit und feinsten Spiegelungsvermögens, der auch bei bevorzugten Exemplaren nur eine kurze Spanne Zeit dauert und bei den meisten folgenlos erlischt. Ich sehe in ihm den eigentlichen Geniemoment im Leben des jungen Menschen, das Reservoir für alle späteren Leistungen. Genaugenommen kann er keine Erfahrung mehr machen, keine Entscheidung über sein Schicksal treffen, kein Werk vollenden, die ihm in diesem Augenblick höchster Steigerung und Spannung nicht schon innegewohnt hätten.
Fassen Sie, verehrte Frau, das Gesagte nicht so auf, als wollte ich Sie belehren, ich bitte Sie darum. Das Gegenteil ist der Fall. Mich selbst wollte ich belehren, meine zerstückten Gedanken und da und dort gewonnenen Einsichten zusammenfassen, die Dinge einmal recht greifbar vor mich hinstellen und mir auf diese Art, auf dem Weg der Rekonstruktion, zu dem Bild verhelfen, das Ihnen Etzel nach dem Kollaps darbieten mußte. Denn nur so kann ich den heutigen Etzel begreifen, nur so mir die dazwischenliegenden Jahre anschaulich machen, auch ohne Kenntnis der Ereignisse, nur so in seine Labyrinthe dringen und ihn, vielleicht, ich will es hoffen, herausgeleiten. Ich traue mir das zu. Warum auch nicht? Was wär's denn groß, alles, was ich gewirkt habe, wenn ich mir's nicht zutrauen dürfte? Ich taste mich also zurück bis zu dem Tag, wo jene krankhafte Athymie begann, von der Sie berichten. Er war höher hinaufgetragen worden als viele andre, der Sturz mußte um so tiefer sein. Aber er hätte nicht den katastrophalen Zusammenbruch erfahren, wenn es nicht zugleich die katastrophale Lebensepoche gewesen wäre. Die Enttäuschung, die einer erleidet, der zum erstenmal das Fundament der menschlichen Gesellschaft auf seine Tragfähigkeit prüft, ist wohl die schrecklichste von allen. Die Forderung nach Gerechtigkeit macht auf unsereinen keinen Eindruck mehr, wir sind abgestumpft dagegen, und sie kommt uns reichlich unreif vor, wenngleich sie so alt ist wie die Welt, so alt wie ihre Vergeblichkeit, aber sie in der eignen Brust quasi als Idee entdecken, das ganze Sein darauf stellen und vor dem Tribunal der Menschheit damit abgewiesen werden, das muß erlebt werden, muß überstanden werden, und wer's übersteht, der hat eben den Knacks weg, wenn so einer wieder in die Höhe kommen will, muß er schon eine Bärennatur haben. Eben noch sahen wir eine hingerissene Feuerseele, jetzt liegt ein Haufen Hilflosigkeit da. Kein Aufruhr mehr, kein Fieber, nicht einmal eine richtige Finsternis, nur Leere. Nichts annehmen, nirgends hinrühren, nicht gefragt werden, nicht gehegt werden, nur leer sein und leer bleiben. Er hat alles durchschaut, man kann ihm nichts mehr vormachen, er ist fertig, er ist alt. So jung ist er noch. Nicht wahr, so ist es gewesen, verehrte Frau, ein Winterschlaf der Seele, das muß es gewesen sein. (Und ist es noch.) Alles Schwebende, Zarte, Naive, das ihm eigen gewesen sein muß, verschwunden, wie eine blühende Landschaft verschwindet, wenn der Eisenbahnzug in einen Tunnel fährt. Ich habe natürlich keine Vorstellung von der Dauer und den besonderen Symptomen des Zustands, ich skizziere ungefähr die mir bekannten Formen, doch wenn ich mir Etzels Charakter und Wesensart vor Augen halte, weiß ich schon, daß alle meine Schulbilder vor der Wirklichkeit verblassen, die Sie durchlitten haben. Und ebenso weiß ich, ich hätte es nicht in Ihrem Brief erst lesen müssen, daß Ihr Leiden noch weit entfernt von Heilung ist. Aber wir dürfen uns über eines nicht täuschen, auch für ihn ist der Sturm nicht vorüber, der ihn zu Boden geschmettert hat. Dabei ist der fast einundzwanzigjährige ein alter Mann, gemessen am Siebzehnjährigen, jede Dekade unseres Lebens hat ja ihr Kindes-Mannes- und Greisenalter, wodurch freilich das Wunderbare entsteht, daß wir immer Kind und Greis zugleich sein können. Das Zeitvergehen half ihm nichts, die Peripherie seines Daseins umzog sich mit Nüchternheit, die unaufhaltsam gegen die Mitte vordrang, schließlich sollte er etwas »werden«, das erwartete man doch von ihm, und was hätte er werden sollen, fragte ich, da er doch eben aufgehört hatte zu sein? Es gibt keine verhängnisvollere Ratlosigkeit als die des Achtzehn- oder Neunzehnjährigen nach dem Absturz, wenn er etwas »werden« soll.
Was mir noch zu sagen übrigbleibt, verehrte Frau, denn ich muß zum Schluß kommen, erschöpft sich in einem einzigen Satz. Ich will mich dieses jungen Menschen bemächtigen. Ich will ihn führen. Ich will ihn aufschließen und die Seele aus ihrem Kerker befreien, denn sie wartet ja nur darauf, dessen bin ich sicher. Ich habe mir die Aufgabe gesetzt, und ich werde sie nach meinem besten Vermögen vollenden. Fürchten Sie nichts. Sorgen Sie sich nicht. Es ist eine unsinnige Kraft in ihm, Kraft der Selbstbewahrung, eine animalische Kraft, die dem Leben gewachsen ist, und eine geistige, die den Tod nicht anerkennt, in keinerlei Gestalt. Ich habe in meinem eignen Leben erfahren, was der Mensch am Menschen verrichten kann. Als ich um viele Jahre jünger war, hatte ich einen Freund, der tat das nämliche an mir, mit unvergleichlich größeren Mitteln allerdings, was ich jetzt versuche, an Ihrem Etzel zu tun. Und so bezahle ich nur dem Schicksal eine Schuld, da doch alles, was wir haben, geliehen ist.
Es ist vier Uhr morgens, eben schlägt die Uhr, und die Hand gehorcht mir gerade noch so weit, um Ihnen meine Ehrerbietung zu übermitteln.
Kerkhoven, der täglich um sechs Uhr aufstand und um halb sieben frühstückte, schlief am folgenden Morgen um acht Uhr noch, und Marie war ein wenig beunruhigt, als ihr das Mädchen dies mitteilte. Wenn ein Mann, der nie von der Regel abweicht, einmal gegen sie verstößt, kann er das ganze Haus dadurch in Aufruhr versetzen. Marie trat leise an seine Schlafzimmertür, öffnete einen Spalt, und da sie ihn friedlich atmen hörte, entfernte sie sich wieder. Als sie durch das Arbeitszimmer ging, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch, und sie sah eine Menge beschriebener Blätter dort liegen. Seine feste, klare, fast kalligraphische Handschrift hatte immer etwas Anziehendes für sie, die Ordnung und Übersichtlichkeit bereiteten ihr einen ästhetischen Genuß, so nahm sie das oberste Blatt und las den Schlußsatz: es ist vier Uhr morgens, eben schlägt die Uhr ... Da wußte sie Bescheid um sein Langschlafen. Sie wunderte sich über die Länge des Briefes, setzte sich hin, las da und dort eine Stelle, wurde immer mehr gefesselt, fing dann von Anfang an und las bis zu Ende. Den Brief der Frau von Andergast hatte Kerkhoven ebenfalls offen liegen lassen, neben seinem. Marie las auch diesen, sehr aufmerksam, und als sie damit fertig war, den Brief ihres Mannes zum zweiten Male. Wohl hatte sie das Gefühl, eine Indiskretion zu begehen, es war sonst nicht ihre Art, in Kerkhovens Korrespondenz zu stöbern, sie war sogar so ängstlich darin, daß sie jedes herumliegende, nicht für sie bestimmte Blatt Papier, wenn es auch nur eine mit Bleistift hingekritzelte Notiz enthielt, ohne es anzusehen in einer Lade des Schreibtisches verwahrte. Hier war die Lockung zu groß. Wenn sein armer Kopf nicht von einem Dutzend solcher Affären voll wäre, hätte er mit mir darüber gesprochen, entschuldigte sie sich vor sich selbst und beschloß, es ihrerseits jedenfalls nachzuholen und ihm den Übergriff zu beichten. Doch sie hatte beinah Furcht. Der Brief an die unbekannte Frau erfüllte sie mit scheuem Respekt. Sie kam sich wie auf einen hohen Berg hinaufgeschoben vor, wo sich ihr Kerkhovens Bild in einer durchsichtigeren Luft zeigte, reiner und wahrer als in der trüben Niederung des alltäglichen Tages. Sie saß in tiefen Gedanken. Die »blassen Blumen« öffneten sich weit und blickten durch das Fenster in einen waschblauen Aprilhimmel. Man verliert einander aus den Augen und aus dem Sinn, dachte sie, wo bist du denn eigentlich, Joseph? Gib mir doch auch einmal wieder von der herrlichen Speise, die du an so viele austeilst; meinst du nicht, daß mich danach hungern könnte? Sie erschrak, schüttelte ganz schnell und kurz den Kopf, stand auf und ging in sein Schlafzimmer hinüber. An seinem Bett stehend, schaute sie eine kleine Weile versonnen in das Gesicht des Schlafenden, dann beugte sie sich herunter und küßte ihn auf die Stirn. Es war nur ein Hauch, trotzdem erwachte er sofort. Sie wußte: nun wird das unsägliche Entsetzen in seinen Zügen sein wie immer, wenn man ihn aufweckt. Und so war es auch. Er fuhr empor und starrte sie an wie ein Gespenst. Nur eine Sekunde lang, dann war er wieder bei sich, bei ihr, aber Maries Herz zog sich doch schmerzlich zusammen. Da lag eine Qual dahinter wie vom Anfang der Welt, die Angst der Kreatur vor den chthonischen Gewalten.
Beim Frühstück gestand sie ihm, daß sie die Briefe gelesen habe. »Das ist gescheit«, sagte er, »hoffentlich bist du nun von deiner Abneigung gegen Andergast geheilt.« Ihre unschlüssige Miene belehrte ihn, daß dem nicht so war. Sie begriff es selbst nicht, denn es stand ja so mit ihr, daß ihr Geist mit krankhaftem Verlangen alles einsaugte und verarbeitete, was von der Außenwelt an Geschehen und Gestalten zu ihr drang. Es war eine Begierde, die immer heftiger wurde, ein nervöses Fieber, besonders draußen auf Lindow war ihr oft zumut, als sei sie von den Menschen vergessen worden und müsse sich schleunigst, von weit her, aufmachen und zu ihnen gehen, um wieder in ihren lebendigen Kreis aufgenommen zu werden. Das Gefühl des Weitentferntseins wurde sie überhaupt nie recht los, wenn es noch ein paar Jahre so fortgeht, sagte sie sich manchmal, bin ich mit vierzig ein schrulliges Original aus einem Roman von Dickens. Nach ihrer ganzen Veranlagung und nach allem, was sie nun von Etzel Andergast wußte, hätte sie sich für ihn interessieren müssen; ein ungewöhnlicher Mensch, der ungewöhnliche Wege ging und von Leben und Erlebnis vibrierte, wie hätte sie keinen Anteil daran nehmen sollen. Doch ihr innerer Widerstand war unbesiegbar, etwas in ihr lehnte sich gegen ihn auf, nahm ihn nicht an, wollte nichts wissen von dieser »Unbedingtheit«, der unnachgiebigen »Forderung«, dem Kriegszustand in Permanenz. Zu viel Finsterkeit, zu viel Krampf. Zu wenig Blüte, zu wenig Liberalität. Sie sagte das nicht geradezu, sie ließ es nur durchblicken; wenn sie sich negativ äußern mußte, tat sie es mit einer liebenswürdigen Schüchternheit und Vorsicht und vermied jede Schärfe. Doch war sie in der Debatte unvergleichlich gewandter als Kerkhoven, oft gar nicht zu fassen und erst recht nicht zu schlagen; er begnügte sich meist mit einer etwas lässigen Parade und flüchtete schließlich in philosophisches Schweigen. »Das merkwürdige ist, daß fast alle Gerechtigkeitsfanatiker so provokant ungerecht sind«, sagte sie, »woher kommt denn das? Wahrscheinlich verausgaben sie in der Idee so viel von ihrer geliebten Gerechtigkeit, daß für ihr Privatleben nichts mehr übrigbleibt. Als Kind, wenn von einem Gerechten die Rede war, dacht' ich mir immer einen Mann, der aussah wie der Prophet Jeremias, schrecklich langer Bart, blutunterlaufene Augen, die knöcherne Faust in der Luft, jedenfalls nicht sehr gepflegt, nicht angenehm zum Haben.« – »Das wird schon so sein«, erwiderte Kerkhoven lächelnd, »die großen Dinge und die großen Leute sind nicht bequem, das geb' ich zu. Aber hör mal«, lenkte er ab, »da ist was passiert mit Andergast ...« In wenigen Worten erzählte er der gespannt Aufhorchenden, wie Etzel vor einigen Tagen nicht unbedenklich verwundet in die Anstalt gekommen, dort behandelt worden, nun aber auf dem Weg rascher Heilung sei. »Hättest du was dagegen«, schloß er, »wenn ich ihn ein oder das andre Mal zu uns zu Tisch bitten würde? Ich glaube, es wäre ihm sehr gedient damit, es würde ihm was bedeuten.« Marie hatte nichts dagegen. Sie fragte nur etwas erstaunt, weshalb er ihr den Vorfall verschwiegen habe; alles, was diesen Andergast betreffe, scheine ihn seltsam unfrei zu machen. »Oh, nicht verschwiegen«, sagte Kerkhoven aufstehend, mit dem obligaten Blick auf die Uhr, »ich wollte erst mit mir ins reine kommen. Du hast ja gelesen ... Die Hauptsache steht mir jetzt bevor. Harter Bissen. Dir was verschweigen? Nein, Marie«, er nahm ihre Hand und drückte seine Lippen darauf, »das müßt' ich noch lernen, ich wüßte nicht, wie ich das machen soll ...«
Jedermann sieht, was nun kommen muß. Etzel Andergast wird zu tun haben, wenn er seine Festung verteidigen will. Der erste Angriff wird nicht mehr lang auf sich warten lassen. Ehe Kerkhoven dazu überging, hatte er noch ein Gespräch mit Neil Marschall. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, von ihr etwas über den geheimnisvollen Lorriner zu erfahren. Die Nachforschungen, die er unterderhand angestellt, waren ziemlich ergebnislos geblieben. Auch sein Aufenthalt konnte nicht ausfindig gemacht werden. So widersprechend alle Angaben über ihn lauteten, eines war sicher, harmlos war der Mann nicht. Er schien Böses auf dem Gewissen und allen Grund zu haben, sich zu verbergen, das an Andergast verübte Verbrechen war wohl die geringste seiner Taten. Obwohl Neil Marschall bei dieser Unterredung mehr aus sich herausging als bei der vorigen, hüllte sie sich über die Person Lorriners in Schweigen. Nicht einmal zu einer Andeutung über die Art seines Verhältnisses zu Andergast war sie zu bewegen. Kerkhoven hatte den Eindruck, daß sie sich fürchte oder selbst verstrickt war. Hintergründige Natur, dachte er, während er ihr freundlich und interessiert zuhörte und bemüht war, den Schlüssel zu ihrem prickelnd unruhigen, ehrgeizig werbenden Wesen zu finden. Sie sprach über Etzel Andergast wie eine geschulte Pädagogin, mit dem feinsten psychologischen Verständnis, lachte häufig über ihre wirklich witzigen Vergleiche, nahm einen zu starken Ausdruck zurück, schaltete eine Anekdote ein, machte die treffendsten Bemerkungen über Zustände und Charaktere und entschuldigte sich dabei immer wieder mit ihrer schönen, schmeichlerisch hinfließenden Stimme, daß sie sich erlaube, einen Joseph Kerkhoven mit Dingen zu unterhalten, die für ihn das Abc seien. »Sie sind zu bescheiden, Fräulein Marschall«, sagte er. O nein, entrüstet sie sich, das ist sie keineswegs, »warum wollen Sie mich beleidigen? Ich weiß nur Bescheid (mit einem Lächeln über das Wortspiel), weiß, was man Männern von Rang schuldig ist.«
Sie ist vollkommen glücklich, daß sie ihn kennenlernen durfte, sie möchte ihm so vieles sagen, aber ihre Gefühle in Worte zu kleiden ist ihr nicht gegeben. Ei, man sollte meinen, gerade das sei ihre Force, denkt Kerkhoven. Unmöglich könne er sich vorstellen, wie froh sie der Gedanke macht, daß er sich Andergasts angenommen; das ist es, was ihm gefehlt hat, der autoritative Mensch. Ja, ein Phänomen, dieser Andergast, von einer Willenskraft, die Felsen sprengt, wenn sie ihm im Weg stehen, und was der Mensch alles weiß, mit welcher Distinktion er es weiß, erstaunlich. Trotzdem, wohin soll es führen? Man muß Angst um ihn haben. Solche Selbstherrlichkeit, solche Menschenverachtung, wohin, bitte, soll es führen? Kraft, schön, aber wenn die Kraft, und sei sie noch so groß, keinen Widerstand findet, zerschellt sie, zerstäubt sie. Oder übertreibt sie diese Befürchtung? Nein, erwidert Kerkhoven lakonisch, doch worauf gründe sie sich in dem Fall? Liege ein bestimmtes Faktum vor? Neil Marschalls Augen verschleiern sich, ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den flaumigen Wangen wird blasser. Das Gesicht einer Amazone, denkt Kerkhoven, wahrscheinlich ist sie eine unversöhnliche Feindin, die nie den Moment verpaßt, nie zu früh losschlägt, sie beherrscht sich glänzend. Neil Marschall dämpft ihre Stimme. Da sie genötigt ist, von ihrem Werk, ihrer Leistung, von sich zu sprechen, ist sie oder tut sie leicht irritiert. Einem Mann wie Professor Kerkhoven wird es ja kein Geheimnis sein, daß sie mit Leib und Seele bei der Jugend steht. Ihre jungen Brüder und Schwestern, das ist eine einzige Familie. Es ist ein Clan sozusagen. Der Marschall-Clan. Ihr Leben hat keinen andern Sinn und Zweck als diesen Dienst. Es ist ihre Form von Politik, ihre Form von Kommunismus, es ist ihr Element. Es klingt, als wolle sie eine Festrede über Neil Marschall halten, schrecklich, aber warum soll man nicht in aller Freiheit einmal über sich selbst sprechen. Ein kleines Reich, das sie beherrscht. Ein kleines Reich und ein großes Volk. Mit eigenen Gesetzen, eigener Verwaltung, unabhängig und zu künftiger Macht bestimmt. »Mein Gott, wie langweilig muß ich Ihnen sein«, unterbricht sie sich und nimmt ihr Gesicht zwischen ihre beiden Kinderhände, »nur noch zwei Minuten schenken Sie mir ...« Worauf sie kommen will, ist folgendes. Sie hat eine Sorge. Es handelt sich um ein junges Mädchen, das ihr nahesteht. Das liebt sie. Emma Sperling, genannt Spatz. Tänzerin. Blutjung. Süß. Und so phantastisch es sich anhört bei dem allgemeinen Zustand, unschuldig wie der neue Tag. Sie, Neil, hat Bürgschaft übernommen. Sie möchte nicht, daß Andergast ... er kennt keine Rücksichten ... leider scheint Amma eine Schwäche für ihn zu haben; wie er es jedesmal anstellt, ist rätselhaft, in der Beziehung hat er überhaupt kein Gewissen, dem armen Roderich Lüttgens ist es ja auch zuviel geworden. Sie seufzt, als Kerkhoven erstaunt die Brauen hebt. »Es war da was mit Hilde ... es hat zweifellos mitgespielt bei seinem unseligen Entschluß. Wissen Sie, wie mir das alles vorkommt, verehrter Freund?« sagte sie aufstehend, mit seltsam glitzernden Augen. »Wie Marionettenspiele, wie Zwergentragödien in einem Marionettentheater, zehn, zwanzig, dreißig durcheinander, man weiß schließlich nicht mehr, in welches Stück die eine Person, in welches die andere gehört. Amüsantes chassez croisez, zum Verrücktwerden amüsant, aber auch zum Verrücktwerden ernst.« Sie lachte hell. Schon zur Tür gehend, streckte sie Kerkhoven die Hand hin, und wie alle guten Diplomaten brachte sie ihr eigentliches Anliegen zuletzt vor: Kerkhoven soll versuchen, Etzel Andergast zu einem ehrenhaften Verzicht auf Emma Sperling zu bewegen; wenn ihm an Nell Marschalls Freundschaft und Achtung noch gelegen ist, soll er die Hand von ihr lassen. Sie hat es ihm auch geschrieben, jedoch sie fürchtet, daraus macht er sich nichts, es bedarf der höheren Instanz.
Der Besuch hinterließ in Kerkhoven gemischte und verworrene Empfindungen. Er kannte sich nicht aus. Eine blendende, durchdringend gescheite Person, und so anzweifelbar, so unsicher und unsicher machend. Leidenschaftliches Temperament, das nicht fähig war zu binden und offensichtlich darunter litt. Ursprünglich prüde Natur, die sich unter inneren Qualen zur Vorurteilslosigkeit vergewaltigt. Maßgebend für Kerkhovens Beziehung zu Menschen war ihr Verhältnis zur Wahrheit, das heißt einer vom Willen des Betreffenden abhängigen, nachprüfbaren Sauberkeit der Aussage. Der leise Argwohn, der ihn bei den Mitteilungen Nell Marschalls über die »unschuldige junge Tänzerin« beschlichen, bestätigte sich, als er am selben Tag bei Andergast die Bekanntschaft des Mädchens machte. Er glaubte ja nicht an eine bewußte Entstellung Nells, sah vielmehr eine Frau in ihr, die gezwungen ist, in seelischen Abblendungen zu leben, bei künstlichem Licht gleichsam. Er hatte nicht gewußt, daß jemand bei Andergast war; nachdem er angeklopft, trat er rasch ein und blieb etwas betroffen an der Tür stehen. Die Situation war die: Etzel lag, im Pyjama, mit verbundenem Kopf auf dem Korbsessel und blickte mit dem Ausdruck gelangweilter Geringschätzung zur Decke. In der Mitte des Zimmers stand eine bildhübsche, sehr damenhaft wirkende, vielleicht zwanzigjährige Person, die Hände kreuzweis in den weiten Ärmeln ihres Blaufuchsmantels, das Gesicht zu Boden gekehrt, mit einem Ausdruck von Trotz, der auf einen vorangegangenen Streit schließen ließ. Das Eintreten Kerkhovens schien sie nicht zu bemerken, sie rührte sich nicht, stand da wie eine Statue. Andergast erhob sich etwas schwerfällig, es war, als ob der Verband ein erhebliches Gewicht für ihn sei, und stellte das Fräulein mit der steifen Förmlichkeit eines Corpsstudenten vor, die Kerkhoven fast zum Lachen reizte. Emma Sperling neigte so nachlässig-gnädig den Kopf, daß Andergast sie zornig anblitzte. Sie lächelte nur. Aber Kerkhoven sah, daß das Lächeln beständig in ihrem Gesicht war, das sonderbarste stereotype Lächeln, das sich denken ließ. Die Augen blieben dabei ernst, fast traurig, sie hatten einen langen, saugenden, sinnlichen Blick, das Lächeln wohnte wie bei der Mona Lisa in den äußersten Winkeln des Mundes, der dadurch etwas außerordentlich Faszinierendes, Sphinxhaftes bekam, und auf den Wangen zeigten sich, wie mit einem Instrument ausgehöhlt, zwei unveränderliche Grübchen. Die hat was, nicht zu leugnen, dachte Kerkhoven, ich würde vor ihr auf der Hut sein, verehrte Neil Marschall, und auf alles eher bauen als gerade auf ihre Unschuld ... »Enteile jetzt, Spatz«, wandte sich Andergast an sie, »der Meister kann dich hier nicht brauchen.« Als sie gegangen war, rutschte ihm das widerwillige Geständnis heraus, daß sie ihm unter anderm auch Nachricht über Lorriner gebracht habe. Sie habe auf einmal blödsinnige Angst, sie und Neil, als sei er, Andergast, nicht Manns genug, sich seiner Haut zu wehren. »Ja, allerdings, das sieht man«, sagte Kerkhoven ironisch, indem er sich anschickte, den Verband abzunehmen. Andergast errötete und schien den Anfall von Offenheit zu bereuen. Er murmelte störrisch: »Ein Wolf ist kein Schoßhund, die Schoßhündchen müssen ihm ja nicht in die Nähe gehen.«
Manches kam in diesen Tagen zusammen, um in Kerkhoven das Gefühl zu erregen, als sei alles wirkungslos, was er tat, viel zu gering, viel zu beschränkt. Er konnte sich nicht mit dem Bewußtsein erfüllter Pflicht begnügen, nicht mit dem vollbrachten Tagewerk, so groß es immer sein mochte, was bedeutete es gegenüber dem Nichtgetanen, dem Wissen von der Vergeblichkeit im Ganzen. Man konnte das Fahrzeug nicht lenken, wurde getrieben und mitgetrieben, und was sie die Welt nannten oder die Zeit, das war ein unheimliches Element, das zur eignen Person in einem dauernd nachweisbaren, aber durchaus unerforschten Bezug stand. Das spürte er immer am schärfsten, wenn er kranke und verwirrte Menschen vor sich hatte, Schuldige, Gerichtete, Opfer des Schicksals. Die Wehrlosigkeit! Die Unabänderlichkeit des Wegs! Und wie alles ehern verkettet war in Ursache und Folge. Er hatte als Sachverständiger vor dem Gerichtshof in Moabit ein Gutachten abzugeben über eine jugendliche Verbrecherin, Arbeitslose, die von ihrem Bruder geschwängert worden war und vom Kassenarzt verlangt hatte, er solle ihr die Frucht nehmen. Der Mann hatte sie natürlich weggeschickt, nach einiger Zeit kam sie wieder, sie hatte es mit Pillen und Tränken versucht, war vom Dach eines Schuppens gesprungen, das Geld, um eine professionelle Helferin zu bezahlen, hatte sie nicht. Der Arzt sagte: Ich kann das nicht tun, ich riskiere das Zuchthaus, was sollte er wirklich tun, die Ärzte können auch nicht, wie sie wollen, und als das achtzehnjährige Ding vor ihm auf die Knie fiel und ihn beschwor, es doch zu machen, sie könne, dürfe, wolle das Kind nicht austragen, wurde er grob und hieß sie zum Teufel gehen. Da zog sie blitzschnell ein Küchenmesser aus dem Mantel, stieß es dem Doktor in die Brust und lief sinnlos schreiend davon. Der Mann war an der Verletzung gestorben.
So was lesen wir jeden Tag in der Zeitung, werdet ihr sagen. Selbstverständlich, abgedroschene Sache. Kolportage. Nehmt noch das hinzu, daß sie zu sieben im Verschlag eines Trockenspeichers gewohnt hatten, vier Quadratmeter Raum, so ist alles beisammen. Ich erwähne es auch nur, um die Verstimmung Kerkhovens zu motivieren, als er spätabends in die Anstalt hinausfuhr, wo er noch Anordnungen zu treffen hatte, auch Andergast einen Augenblick sehen wollte, der am nächsten Tag das sichere Asyl verlassen mußte, so gut wie geheilt. Aus dem Augenblick wurden Stunden. Es kam auf einmal über ihn, daß er sich entschloß zu bleiben, die tiefe Stille außen, der schmerzliche Tumult innen, das junge Gesicht vor ihm, das seiner Ohnmacht zu spotten schien, in trotziger Wachsamkeit jeden auch nur anrührenden Blick zurückwies, alles hielt ihn fest. Er sprach von der Verhandlung, der Atmosphäre papierner Amtlichkeit, dem leeren Geklapper des gerichtlichen Apparats, der Angeschuldigten, die ausgesehen wie ein vierzehnjähriges rachitisches Schulmädchen, dem Vorsitzenden, einem zweifellos an Leberatrophie leidenden Herrn, der den ganzen Fall behandelte wie ein Zollinspektor die Abfertigung der Reisenden. Andergast machte eine Miene, als interessiere ihn das alles nur mäßig, als seien solche Vorgänge samt den Begleiterscheinungen tägliche Erfahrung für ihn. Er spürte, daß Kerkhoven etwas anderes im Sinn hatte, und um diesem andern möglichst lang zu entgehen, erzählte er, daß er neulich bei einer Verhandlung gewesen sei, wo ein Mensch zu acht Jahren verurteilt wurde und der Richter ungerührt wie ein Stein in der Motivierung des Urteils fortfuhr, während der Verurteilte, der ohne Frage unschuldig war, mit entsetzlichen Schreien zu Boden stürzte, die Augen verdrehte und mit Händen und Füßen zum sich schlug. Das Publikum war alarmiert, man rief nach einem Arzt, sogar die Schutzleute waren bestürzt, aber der Richter redete, redete und schien von der greulichen Szene nichts zu sehen und zu hören.
Kerkhoven nickte bloß. Plötzlich sagte er: »Ich bin Ihnen das Geständnis schuldig, Andergast, daß ich mit Ihrer Mutter in Briefwechsel stehe.« Etzel lehnte sich schweigend zurück. Seine Ohren wurden rot. Er sagte: »Ja, Meister ... und?« Sonst nichts. »Da es Ihnen, aus welchem Grund weiß ich nicht, an Vertrauen zu mir fehlte und ich andererseits den Wunsch hatte ... nehmen Sie an, aus Sympathie für Sie ... eine freundschaftliche Beziehung läßt sich nur schwer aufrechterhalten, wenn sich der eine Teil in vorsätzliches Schweigen hüllt...« – »Sie haben mich nie direkt gefragt, Meister.« – »Sie wissen genau, daß ich nur fragen konnte, wenn ich sicher war, daß Sie mir Rede stehen würden.« – »Wie hätte ich wissen sollen ...« Kerkhoven unterbrach ihn durch eine Handbewegung. »Nein, Andergast, spielen Sie jetzt nicht noch den Zartfühlenden, der nicht lästig fallen wollte, das glaub' ich Ihnen nicht. Ihr Verhalten in der Sache hat eine verteufelte Ähnlichkeit mit dem von gewissen Patienten, denen die Krankheit aus den Augen springt und die jedem, der es hören oder auch nicht hören will, versichern, sie seien so gesund wie ein Fisch. Vielleicht eine Form von Eitelkeit. Ich, der Soundso, brauch' eure Ratschläge und euer Mitleid nicht.« – »Nein. Falsch«, stieß Andergast zornig heraus. – »Also was?« – Der junge Mensch sah finster vor sich hin. »Haben Sie von der Valentina Visconti gehört?« fragte er abgekehrten Blicks. »Die sagte vor ihrem Tod: rien ne m'est plus, plus ne m'est rien.« Als Kerkhoven etwas spöttisch den Kopf neigte, warf er seinen trotzig zurück und sagte: »Gewiß; ist ja alles Kohl. Kann nur nicht einsehen, was gerade Sie damit zu schaffen haben sollen, Meister. Schad um Ihre Zeit.« Kerkhoven beugte sich vor und legte die Hand flüchtig auf Andergasts Arm. Die Berührung, so kurz sie war, machte Etzel befangen. Er schaute erst wie hilfesuchend um sich herum, dann sah er Kerkhoven in die Augen. »Meine Mutter«, sagte er achselzuckend, »was die schon für 'ne Ahnung hat. Was hat sie Ihnen denn geschrieben? Wahrscheinlich von der faulen Geschichte damals ...« – »Die Geschichte lassen wir auf sich beruhen, Andergast. Sie wissen, ich bin kein Freund von Aufgraben und Ausholen. Ich möchte nur, daß Sie einige Dinge, zum Beispiel das Zerwürfnis mit Ihrer Mutter, wenn es eins war ... es war keins? Um so besser ... was es eben war .. daß Sie das mal quasi mit sich selber durchsprechen, und ich höre einfach zu. Was meinen Sie zu dem Vorschlag? Ich kann ja gelegentlich mit einer Frage nachhelfen ...«
Jetzt kommt er mir doch mit so einem Trick, dachte Andergast wütend und wand sich wie ein Fuchs, wenn die Falle eingeschnappt ist.