Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Zwölftes Kapitel

Er fand folgende Situation vor. Ein splitternackter Mensch rannte mit gespenstischer Lautlosigkeit der Bewegung im Zimmer auf und ab. Er war ziemlich groß, außerordentlich hager, eigentlich bloß Haut und Knochen. Das Gesicht war dermaßen verzerrt, daß man seine Bildung nicht ausnehmen konnte, zudem waren die Lippen von dünnem, weißem Schaum bedeckt. Die linke Hand hatte er in die linke Brust gekrampft, im erhobenen rechten Arm schwang er einen Schürhaken. Die Schreie, die er ausstieß, verliefen jedesmal in ein unartikuliertes irres Gemurmel, das ähnlich klang, wie wenn einer unverständliches Zeug aus dem Schlaf redet. Im Zimmer sah es aus wie nach einer Plünderung. Schrank, Tisch und Stühle waren umgeworfen, der zerbrochene Spiegel, einige Bilder, die zerrissenen Vorhänge, Kleider, Schuhe, Zigaretten, Geldmünzen lagen auf dem Boden, das eiserne Feldbett war von der Wand gerückt. Und hinter dem Bett, im Mauerwinkel, stand Andergast, völlig unbeweglich, die Arme über der Brust gekreuzt. Die Ruhe seiner Haltung und seiner Züge kontrastierte merkwürdig mit der Tobsucht des nackten Menschen; man kam zunächst gar nicht auf den Gedanken, er habe sich an diesen Platz geflüchtet und bediene sich der Bettstelle als Deckung, so sehr machte er den Eindruck eines stumm interessierten Beobachters. Was selbstverständlich Täuschung war, es hätte ihm ja nichts genützt, wenn er um Hilfe gerufen oder sich mit dem Rasenden in einen Kampf eingelassen hätte, er zog es vernünftigerweise vor, sich möglichst still zu verhalten und sich dabei auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Als er Kerkhovens ansichtig wurde, leuchteten seine Augen auf, sonst war keine Veränderung an ihm zu gewahren. In den Augen war etwa zu lesen: Da kommt er also, es ist zwar wie Hexerei, aber ganz in seinem Stil, ich bin neugierig, wie er sich aus der Affäre ziehen wird. Hinter Kerkhoven war Emma Sperling eingetreten und sah abwechselnd bald auf diesen, bald auf den nackten Lorriner, bald auf Andergast. Als wäre es nur eine Nummer gewesen, um ihre mimische Kunst zu zeigen, war alle Angst aus ihrem Gesicht gewichen, statt dessen malte sich eine lächelnde Sensationslust darin wie bei jemand, den man eingeladen hat, einem Boxmatch zuzuschauen.

Es war keine physische Bändigung. Er brachte auch die Spritze nicht zur Anwendung. So weit kam es gar nicht. Wodurch es Kerkhoven gelang, den Tobsüchtigen gefügig zu machen, ist kaum zu erklären. Keinesfalls durch direkte Hypnose, dazu fehlte die Möglichkeit der Verbindung, sozusagen die Operationsbasis. Der Mann war ja nicht zu stellen. Es muß eine andere Form der Willensbeeinflussung angenommen werden, eine durch Zucht, Erfahrung, Wissen, Instinkt gleichermaßen bewirkte äußerste Konzentration, wobei freilich die Frage offenbleibt, ob er diese erstaunliche Fähigkeit bewußt ausübte oder ob sie sich erst am Objekt entfaltete und sie ihn dann trug. Etzel Andergast, der den Vorgang mit brennender Aufmerksamkeit verfolgte, hatte den Eindruck, als sei letzteres der Fall, als sei Kerkhoven selbst das Werkzeug einer ihn beherrschenden Gewalt. Er konnte sich später keine Rechenschaft über seine Empfindungen geben, sprach auch ungern darüber, als habe sich etwas ereignet, was seine Fassungskraft überschritt, als wäre er zum Beispiel Zeuge gewesen, wie jemand ein glühendes Eisen angreift, ohne Brandwunden zu erleiden.

Einen Augenblick sah die Sache gefährlich aus, als Lorriner, den neuen Ankömmling fixierend, sich mit gesteigerter Wut gegen ihn wandte und ausholte, um den Schürhaken auf seinen Kopf niedersausen zu lassen. Kerkhoven war in der Nähe der Tür geblieben, er hatte sich die Stelle gemerkt, wo der elektrische Schalter angebracht war, nun langte er hin und drehte das Licht ab. Mit dem Moment, wo es finster wurde, hörten die nervenzerreißenden Schreie auf, es war mit einemmal totenstill. Offenbar wagte sich auch der Rasende nicht mehr vom Fleck zu rühren. Alsbald drang aus der Stille und Dunkelheit Kerkhovens sonore Stimme langsam, streng, überdeutlich, fast skandiert: »Lorriner ... Lorriner ... Sie hören mich doch ... Ich mache jetzt wieder hell... Sie werden sich anziehen und mit mir gehen... Verstehen Sie, was ich sage, Lorriner? Tun Sie den Schürhaken weg. Ich befehle Ihnen, den Schürhaken wegzutun ... Ein Mann wie Sie weiß, was ein Befehl ist...« Es kam wohl auf den Sinn der Worte wenig an, sondern nur auf Tonfall und Rhythmus, auf eine Eindringlichkeit, die allerdings stärker nicht sein konnte. Nach vier Minuten etwa flammte das Licht wieder auf. Lorriner stand zusammengesunken da, stieren Blicks, mit schlaff hängenden Armen. Kerkhoven trat zu ihm und nahm ihm ruhig das Eisen aus der Hand, ohne Widerstand zu finden. Danach stellte er den Tisch und die Stühle auf die Füße, hob Lorriners Kleidungsstücke vom Boden auf, Hemd, Hose, Rock, Strümpfe, Kragen, legte alles zuerst auf das Bett und reichte ihm dann ein Stück nach dem andern. Das Hemd half er ihm über den Kopf ziehen, drückte ihn dann auf einen Stuhl nieder, kniete hin und war ihm mit der Geschicklichkeit eines geübten Krankenwärters beim Anziehen der Strümpfe, der Beinkleider, der Schuhe behilflich. Die Schuhe schnürte er zu, den Hosengürtel schnallte er fest, den Kragen knöpfte er ein. Bei all diesen Verrichtungen sprach er ununterbrochen, und zwar in einer schlichten Art wie ein Mann aus dem Volk, mit scherzhaften Wendungen und kleinen Lebensweisheiten. Dies wiederzugeben wäre zwecklos und uninteressant, da es ja, auch jetzt noch, lediglich auf die Stimme ankam, auf eine akustische Wirkung schließlich, die er bei jähem Ausbruch eines Paranoids oder einer Demenz häufig erprobt hatte. Aber es war nichts weniger als eine lehr- und erlernbare Maßregel, sie richtete sich nach dem Charakter des Patienten und sonstigen Gegebenheiten, außerdem hing das Gelingen von der Disposition Kerkhovens ab, er mußte seiner inneren Kräfte absolut sicher sein. Manchmal hatte er den Gedanken: Wenn ich selbst allem andern noch Sänger wäre oder Geigenspieler, müßte ich durch ein Lied, ein schön gespieltes Adagio den Paroxysmus des Kranken mühelos brechen können, es wäre die logische Steigerung und vielleicht die Vollendung dessen, was ich mit schwachen Mitteln versuche. Ein ketzerischer Gedanke ohne Zweifel oder ein rückständiger, der das mitleidige Kopfschütteln der ernsthaften Wissenschaftler hervorrufen muß, denn da sind wir ja wirklich nicht mehr weit von anrüchiger Beschwörung und der bereits erwähnten Maultrommel des Doktor Justinus Kerner. Mit theoretischen Erwägungen hatte Kerkhovens Verfahren ohnehin wenig zu schaffen, er handelte unter dem Gebot seiner Natur, die alle menschliche Natur in sich einbezog, wobei er sich aber nicht lossagte von dem sichergestellten Forschungsgut der Zeit. Was Etzel Andergast am tiefsten berührte und ihm eine schier schwärmerische Bewunderung für den Mann einflößte, seltenes Gefühl bei ihm, war die Einfachheit und Bescheidenheit seines Gehabens, eines Wesens so frei von Pose, von professoralem Dünkel und allem damit Verwandten, daß es gerade dadurch etwas unmittelbar Zwingendes, ja Zaubergleiches bekam und es gar nicht unerwartet oder verwunderlich wirkte, als Lorriner, der bis zu dem Augenblick, wo ihm Kerkhoven die Schuhe zuschnürte, idiotisch vor sich hin gebrütet hatte, plötzlich in ein Schluchzen ausbrach, das wie quälender Husten klang. Die gewöhnliche Reaktion, aber hier löste sie erschütternd eine Spannung, die lang angehalten hatte. Kerkhoven, auf Knien, hob den Blick und schaute prüfend in das zerfurchte, von Leidenschaften zerstörte Gesicht das kaum achtundzwanzigjährigen Menschen. Die feuchte hellblonde Haarsträhne, die über der Stirn klebte, vervollständigte das Bild der Verwüstung. »Sind wir soweit?« fragte Kerkhoven aufstehend. Lorriner stand ebenfalls auf, zögernd und schwer. Kerkhoven hielt ihm den Rock hin, damit er in die Ärmel schlüpfte. Er zog den Rock an, schluckte ein paarmal, und mit einer Kopfbewegung gegen Andergast sagte er lallend und sich bemühend, das Lallen nicht merken zu lassen: »Der muß aber mit... der Hund, der gemeine, muß mit, der schofle Komödiant... mit dem hab' ich noch ein Hühnchen zu rupfen... der muß mit...« Kerkhoven nickte. »Er wird bestimmt mitkommen«, erwiderte er und gab Andergast, der bei der Beschimpfung totenbleich geworden war, einen Wink mit den Augen. Als sie sich zu dritt zur Tür wandten, war Emma Sperling verschwunden. Etzel drehte das Licht aus und sperrte die Wohnung ab. Kerkhoven und er nahmen Lorriner in die Mitte.

Hier muß die Geschichte Lorriners ihren Platz finden. Es ist nötig zu wissen, wie und unter welchen Umständen sich Etzel Andergasts Schicksal mit dem seinen verkettet hat. Ich verzichte jedoch auf den stufenweisen Entwicklungsprozeß, sowohl was Lorriners Person als auch was das Verhältnis der beiden betrifft. Ich müßte mich sonst in einem nur seelisch und geistig vorhandenen Raum ohne alle anschaulichen Elemente mit den Bedingtheiten und schwankenden Ergebnisse psychologischer Untersuchung begnügen. Entwicklung, was ist das überhaupt; erschöpfte Form, jeder Aufriß ist wesentlicher, nichts wird Gleichnis in ihr, eine scheinbare Breite der Welt soll das Bild der Welt ersetzen, und an Stelle der lebendigen Figur, die rund ist und etwas bedeutet, tritt das lähmende Nacheinander in der Zeit. Das hört sich an wie eine Ästhetik, ist aber nur die einfache Erfahrung von der geschehenen Veränderung unserer aufnehmenden Sinne.

Zunächst der Vater. Er bestimmte durch sein übermächtiges Temperament die Lebensfärbung des Sohnes. Typus des radikalen Politikers der bürgerlichen Ära. Begann seine Laufbahn als Rufer zum Kampf gegen die Juden im Verein Deutscher Studenten. Wurde Journalist im Dienste der Naumannschen Ideen und erregte in dessen nationalsozialer Vereinigung als Redner Aufsehen. Nach der Auflösung dieser Partei ging er zum extremen Flügel der Sozialisten über und veröffentlichte ein Pamphlet gegen Christentum und Kaisertum, an dessen giftiger Gehässigkeit sogar seine Gesinnungsgenossen Anstoß nahmen. Danach trat der ehemalige Theologe aus der evangelischen Kirche aus, wurde freireligiöser Prediger und orthodoxer Monist. Kurz vor dem Krieg kehrte er reuig nach rechts zurück. Der grimmige Feind der Dynastie verwandelte sich in einen begeisterten Künder vaterländischer Gesinnung und Befürworter militärischer Rüstungen. Er zählte zu den stärksten Stützen des Alldeutschen Verbands. Nach dem Zusammenbruch schlug er sich erst zu den Kommunisten, hierauf zu den Völkischen und versöhnte sich mit der Kirche. Zog als Wanderredner im Land herum, gab ein kleines Hetzblatt heraus, sagte sich von seiner Familie los, wähnte sich von allen Freunden verraten, von der Welt verfolgt, geriet in Armut und Elend und starb in einem Fischerdorf an der Ostsee, wohin er gekommen war, um Haß zu predigen, wie überall. Eine maßlose Natur.

Die Zerrissenheit und Hemmungslosigkeit vererbten sich auf den ältesten Sohn. Der Vater brach in ihm durch, je mehr er sich dessen Geist und Art widersetzte. Die Mutter war ein Schatten. Er hatte als Kind weder Frieden noch Liebe genossen, der Begriff Heimat war ihm fremd. Seine einzige Mitgift war eine ungewöhnliche Schönheit. Lehrer und Kameraden buhlten um seine Gunst. Mit achtzehn Jahren sah er aus wie ein junger Gott aus der nordischen Sage. Es konnte nicht fehlen, daß ihn die Rassentheoretiker unter seinen Freunden als lebendiges Beweisstück dieser neuen Heilslehre betrachteten. Dabei war seine Großmutter väterlicherseits Jüdin gewesen, was er ihnen unterschlug oder was sie für nützlich fanden, der Welt zu unterschlagen. Doch empfand er ebendiese Schönheit sehr bald als Last, wenn nicht als Makel. Er machte die Erfahrung, daß sie seinem Geltungswillen im Wege stand und den Schwerpunkt seiner Existenz verschob. Da er seine Umgebung von höheren Fälligkeiten, die er sich zuschrieb, nicht überzeugen konnte, schloß er sich erbittert gegen sie ab. Eigentlich war der Zauber damit schon zu Ende, nichts verheert ein menschliches Antlitz mehr als vergeblicher Ehrgeiz, doch zum Überfluß brachte er sich eines Tages eine tiefe Schnittwunde in der Wange bei, die eine verunstaltende Narbe zurückließ. Es steckte etwas vom Geißler und Selbstgeißler in ihm. Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr hatte er keine Frau berührt, jedes Entgegenkommen, und daran mangelte es nicht, wirkte als Beleidigung auf ihn, und als später der Umschlag kam, war jede sinnliche Beziehung ein Akt geheimnisvoller Rache. Auch die ganze Brüchigkeit seines Verhältnisses zur Welt ging auf den Vater zurück, der als rastloser Dämon über dem Leben des Sohnes schwebte. Mit siebzehn Jahren hatte er ein Erlebnis, das ich berichten will, weil es besser als alles andere die seelische Struktur des finstern und fanatischen Menschen aufzeigt und die spätere Richtung seines Geistes verstehen läßt. Ein apokalyptisches Bild freilich, aber es ist im großen Teppich mitverwoben, und ich bin ja nicht dazu da, die Welt schön zu färben.

Er besuchte die Volksschule in einem mitteldeutschen Marktflecken, wo ihn eine Verwandte seiner Mutter aus Mitleid bei sich aufgenommen hatte, da sich um ihn wie um seine Geschwister niemand kümmerte. Der Lehrer an dieser Schule, ich nenne ihn Buchwald, da ich nicht weiß, ob nicht noch Personen existieren, die ein Anrecht haben, die Nennung seines wahren Namens nicht zu wünschen, der Lehrer Buchwald also machte durch seine Freundlichkeit einen unauslöschlichen Eindruck auf das verwahrloste Gemüt des Kindes. Zum erstenmal in seinem jungen Leben trat ihm ein Mensch ohne Härte entgegen, ohne Ungeduld, ohne Zorn, ohne Vergnügen an der Züchtigung, nur mit Güte. Es war die Rettung seiner Kindheit. Ein Gefühl des Dankes, verschwiegene Vergötterung sogar trug er in seine Jünglingsjahre hinüber. Darum horchte er gewaltig auf, als im Herbst 1917, er war damals in der Sekunda und lebte in einer nahe gelegenen Universitätsstadt, die Nachricht zu ihm drang, die durch alle Zeitungen ging und überall im Land Entsetzen erregte, Buchwald sei zum vielfachen Mörder geworden. Eines Nachts hatte er ohne äußeren Anlaß seine Frau und seine vier Kinder umgebracht, war von zu Hause weggegangen, hatte eine Reihe von Scheunen und Ställen angezündet, auf dem Rückweg aus drei Revolvern, die er vorher in die Tasche gesteckt, in die erleuchteten Fenster der Wohnungen geschossen und, als die durch den Brandalarm und das tückische Bombardement erschreckten Bewohner auf die Dorfstraße stürzten, auf alle ihm Begegnenden gefeuert, wobei er insgesamt zwölf Personen getötet und fünfzehn verwundet hatte. Erst als er keine Munition mehr hatte, konnte er überwältigt und in Gewahrsam gebracht werden. Was war mit dem sanftmütigen Menschen geschehen, von dem jeder wußte, daß er kein Tier leiden sehen, geschweige denn töten konnte? Untersuchung und Verhöre förderten das Motiv nur allmählich zutage, da Buchwald lange Zeit überhaupt nicht zum Reden zu bewegen war, aber als einige Briefe, die er vor der Tat an Fremde und an seine vorgesetzte Stelle geschrieben hatte, zur Kenntnis des Gerichts gelangten, schien der Antrieb offenbart zu sein: aufgehäufte Qual, die zu einem mörderischen Ausbruch geführt hatte. Jahr um Jahr war das Gefühl von der Unerträglichkeit des Lebens in ihm gewachsen. Er war nicht mehr imstande gewesen, so schien es, die Fülle der Not, des Unrechts, der Verschuldung, der Leiden mit anzusehen. Die Welt durfte nicht sein, aber da man ihr den Garaus nicht machen konnte, war es notwendig, die Menschen zu vertilgen. Und das wollte er tun. Das Verbrechen war seit Jahren geplant. Was er zu Protokoll gab, war von grausiger Logik. Obwohl in den Briefen ein Ton von Überheblichkeit und angemaßtem Richtertum vorherrschte, war nach dem Gutachten der Ärzte an der vollen Verantwortlichkeit und geistigen Normalität des Mannes nicht zu zweifeln. »Es ist des Volkes viel zuviel«, schrieb er zum Beispiel, »die Hälfte sollte man von der Erde wegschaffen, weil sie schlechten Leibes sind. Von allen Erzeugnissen des Menschen ist der Mensch das schlechteste. Ich bin gesättigt mit Jammer, niemand hat so oft wie ich Beil und Dolch zu Bettgenossen gehabt. Ich glaube an keinen Gott, ich wünsche als Bundesgenossen den Teufel, wenn ihr mich vor meinem Tode martert, will ich's euch danken, ich bin an Marter gewöhnt, eure Tränen kann ich ablehnen wie der Heiland, denn ich bin erlöst ...« Die Briefe wurden in Auszügen veröffentlicht, ihre Sprache wirkte verwirrend auf einen jungen Menschen wie Lorriner, der selber ein verstörter Geist in verstörter Zeit war, und seinesgleichen gab es so viele wie wirbelnde Blätter bei einem Sturm. Dazu kam die Kindheitserinnerung an den sanften Lehrer, der einen bei der Hand genommen, wenn man Kummer gehabt, der einen getröstet und gegen die freche Unbill der andern beschützt hatte. So bot dieser Buchwald, verzweifelter Amokläufer, das Bild eines Helden, der die Konsequenzen seines Leidens und alles Leidens gezogen, der zur Tat hatte werden lassen, was in Schwächeren als Trieb schlummerte. Man darf nicht vergessen, daß in den zutiefst Ernüchterten dieser Generation der Heldenbegriff eine verhängnisvolle Umwertung ins Herostratische erfuhr. Bis zu diesem Punkt wäre es trotz aller Ungeheuerlichkeit ein kriminelles Ereignis gewesen wie manches andere, aber der monströse Teil kam erst nach. Er blieb auf die Akten beschränkt, nur die Fachleute gelangten zu seiner Kenntnis. Ein älterer Freund Lorriners, der auf der psychiatrischen Klinik arbeitete, wußte um die einzelnen Umstände der Entdeckung und gewährte Lorriner Einblick in das Material, da er sein Interesse für den Lehrer kannte. Nie hat es einen Fall gegeben, wo sich Schein und Sein so kraß voneinander schieden. Hier lag etwas wie ein Paradigma der unheimlichen Doppelseitigkeit alles Geschehens vor, der zwei Antlitze, die jede Tat hat, der Unsicherheit dessen, was man Geschichte nennt und was die Wissenschaft vom menschlichen Handeln sein soll. Für einen Charakter, der schon in der Wurzel gebrochen ist, war es schlechthin die Aufforderung, sich ins Chaos zu stürzen, denn jeder andere Zustand setzte Grenzen und jede Grenze einen Kompromiß mit der Lüge voraus. Das Geheimnis des Lehrers Buchwald entschleierte sich durch den zufälligen Fund eines Heftes mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, das er in einer Dachkammer seines Hauses, in der Fuge zwischen zwei Balken, versteckt hatte. Es waren Geständnisse eines Psychopathen, von jener Grausamkeit der Selbstbeobachtung, wie sie allen kranken Gehirnen eigen ist. Als ganz junger Lehrer schon hatte er sich in den Ställen der Bauern an Kühen vergangen, er hatte des schrecklichen Triebes nicht Herr werden können, auch als Gatte und Vater nicht, Unzucht wider die Natur nennt es das Gesetz, aber die Natur hat oft ihren wilden Hohn mit unsern Gesetzen, vielleicht vergilt sie damit nur gleiches mit gleichem. Es war wie ein Befehl, daß er sich erniedrigen, sich mit dem Leib der Erde vermischen solle, wer wagt da hinzudenken, es ist der Bodensatz der Welt, das Ärgste die Scham, die kein Menschenauge mehr ertrug; obwohl niemand etwas ahnte, niemand ihn verdächtigte, glaubte er, alle wüßten es, alle sprächen hinter seinem Rücken darüber, aus jedem Wort seiner Mitmenschen hörte er Verachtung heraus, Gefühl der Unwürdigkeit sammelte sich in ihm, und daß er sein Weib und seine Kinder mit Schande bedeckt habe, die nie abgewaschen werden konnte, daß er sie mit in den Tod nehmen müsse, nachdem er sich an denen gerächt, die ihn immer tiefer in die Schmach getrieben statt sich erbarmend seiner anzunehmen und ihn von der Sünde zu lösen. Als sie das alles schwarz auf weiß vor sich hatten, wußten die Herren Bescheid, denn da waren alle Merkmale dieser besondern Form von Irrsinn, die Angstträume, die Affektausbrüche, die krankhaft gesteigerten Triebe, wie es im Lehrbuch stand, es war aufklärend und befreiend. Für Jürgen Lorriner lag der Fall anders. Er war, in seiner Sprache ausgedrückt, der Menschheit aufgesessen. Er hatte in einen armseligen Verrückten ein menschliches Herz hineingedichtet. Die Lichtgestalt seiner Kindheit war ein äffischer Popanz. Es gab keine Lichtgestalt, die der Prüfung vor dem Auge der Wirklichkeit standzuhalten vermochte. Es ist Schwindel. Den Schwindel so frühzeitig entdecken, daß man nicht darauf hereinfallen kann, ist die einzige Chance, die man hat. Die Welt besteht nur aus Niedertracht und Gemeinheit. Man muß sie das Fürchten lehren. Zu dem Zweck muß man trachten, obenauf zu kommen.

Der äußere Lebensgang ist mit ein paar Strichen skizziert. An geregeltes Studium und Berufsziel verschwendete er nicht einmal einen Gedanken. Er wollte seine Person einsetzen, eine Rolle spielen und Macht erlangen, gleichviel wie und wo, Macht um jeden Preis. Die aufgewühlte Epoche lockte zu einer Abenteurerexistenz, Gelegenheit bot sich überall. Wer nichts zu riskieren hatte als das Leben und bereit war, es in die Schanze zu schlagen, konnte bei einiger Geschmeidigkeit sein Glück machen, besonders wenn er die nötige Geringschätzung für das Leben anderer Menschen mitbrachte. An der mangelte es Lorriner nicht. Er kämpfte im Baltikum, beteiligte sich am Kapp-Putsch, war in die rheinischen Separatistenverschwörungen verwickelt, half die Münchner Räteregierung stürzen, war Mitglied einer der geheimen Organisationen, die durch blutige Akte das Land in Schrecken setzten; mit einemmal sagte er sich von den bisherigen Freunden los oder verriet sie sogar, flüchtete außer Landes, kam über Nordamerika, Japan, Sibirien nach Moskau und blieb drei Jahre lang vollständig verschollen. Eines Tages tauchte er als russischer Emissär wieder auf, entfaltete eine leidenschaftliche Tätigkeit, hielt Reden, schrieb Broschüren, zettelte lokale Aufstände an, war im Besitz bedeutender Geldmittel, über die er auf den bloßen Wink verfügen konnte, lebte aber selbst als Proletarier und gab damit ein leuchtendes Beispiel, das für ihn warb. Sein Anhang wuchs enorm, sein Wort hatte eine zündende Gewalt über die Massen, wo er auftrat, stand er in einem magnetischen Wirkungsfeld, und Unschlüssige wurden zumindest betäubt. Er war in eine gute Schule gegangen. Er hatte die wesentlichen Eigenschaften des erfolgreichen Demagogen: den Mut zum äußersten Extrem, die kalte Wildheit, die aus der Phrase eine Offenbarung macht, die Stahlhärte der Behauptung, die jedes Andersmeinen ächtet, die Beweisführung der Inquisition, die die Welt durch Tod und Mord zu neuem Leben wecken will. Und wieder eines Tages verschwindet er abermals von der Bildfläche. Diesmals ist er zwar nicht sich und den Seinen untreu geworden, wenigstens weiß man davon nichts, auch hat er Deutschland nicht verlassen, nur merkwürdig still wird es plötzlich um ihn, sein Name wird kaum mehr genannt. Man munkelt etwas von einer Weibergeschichte und im Zusammenhang damit von einem Dokumentendiebstahl, der an ihm verübt worden und durch den die Regierung Kenntnis von einem großangelegten Putschplan erhalten habe. Seine Freunde leugneten dies und gaben eine Erkrankung als Grund seines Zurücktretens an. In der Tat lag er fast sieben Monate im Spital einer großen Provinzstadt, das Leiden, das eine so langwierige Behandlung nötig machte, war eine allgemeine Nervenschwäche, weiter Begriff, in dem sich vieles unterbringen läßt, was in keiner Anamnese zu stehen braucht, jedes Symptom kann zugleich Ursache und Wirkung sein, die Seele betrügt den Körper oder der Körper die Seele. Im selben Spital lag zur selben Zeit die bereits erwähnte Sonja Hefter, Freundin Etzels, im letzten Stadium der Schwindsucht. Etzel besuchte sie täglich, es war kurz vor seiner endgültigen Übersiedlung nach Berlin, nur Sonjas tödliches Siechtum hielt ihn noch in jener Stadt. Er erfuhr von Lorriners Anwesenheit. Da er viel von ihm gehört hatte und ihn sehen wollte, schrieb er ihm ein paar Zeilen. Ein junger Assistenzarzt vermittelte die Bekanntschaft. Zwei Stunden vorher hatte Sonja Hefter ihren Geist verhaucht. So stand die erste Begegnung unter einem düstern Schatten. Noch ein anderer Eindruck neben dem Tod der Freundin spielte mit, etwas scheinbar Äußerliches, dennoch schwer zu Vergessendes. Das Spital war eine durchaus moderne Anstalt, ganz auf der Höhe der Zeit, wie man zu sagen pflegt, mit den besten Ärzten, den besten Hilfsmitteln, dem geschultesten Pflegepersonal, nur war kein Sterbezimmer vorhanden. Die Betten der Sterbenden wurden auf den Korridor geschoben und dort mit einer spanischen Wand umstellt. Der Korridor wurde zu einem wahren Todesschrecken. Wenn einem bedeutet wurde, er käme »auf den Gang«, wußte er, daß seine letzte Stunde da war. Es war kein abgeschlossener Flur, die ganze Welt des Krankenhauses bewegte sich auf ihm, Ärzte, Wärter, Schwestern, Studenten, Genesende und Hunderte von Besuchern. Es ereignete sich zum Beispiel, daß ein alter Mann, der unvorbereitet auf den Korridor gebracht wurde, das Bett verließ, die spanische Wand umwarf und hilfeschreiend in den Saal zurückwankte. Ein anderer Moribunder, der seit Monaten gelähmt war, konnte sich in der Todesangst auf einmal wieder bewegen, lief über den Korridor davon und verkroch sich in einer entlegenen Mauernische, aus der er tot hervorgezogen wurde, nachdem man stundenlang nach ihm gesucht hatte. Etzel war Zeuge gewesen, wie eine junge Frau, Sonjas Bettnachbarin, den Arzt händeringend bat: nicht auf den Gang, Herr Doktor, nicht auf den Gang. Sooft er sich in späterer Zeit daran erinnerte, schüttelte es ihn, und er war doch wahrhaftig nicht zimperlich. Lorriner, mit dem er gleich in der ersten Viertelstunde darüber sprach, zuckte die Achseln und sagte: »Was wollen Sie? Überfüllung. Es ist eben alles überfüllt. Die Berufe, die Parlamente, die Wirtshäuser, die Eisenbahnen, sogar die Kirchhöfe. Und trotzdem wehren sich die Leute mit Händen und Füßen gegen das Krepieren. Unbegreiflich.« Er stierte eine Weile vor sich hin, zuckte wieder die Achseln, eigentlich nur die rechte, wodurch die Bewegung etwas noch Verächtlicheres erhielt, und in abgehackten, kurzen Sätzen, mit entfärbter, hinschleifender Stimme erzählte er, daß er in Rußland in einem Haus gewesen, um einen Mann zu treffen, für den er eine wichtige Nachricht hatte. Er wußte aber nicht, in welchem Stock und in welchem Raum der Mann wohnte. Es war Abend, als er hinkam. In dem Haus waren mehr als neunhundert Personen einquartiert, provisorisch, wie es hieß, aber sie lebten drin. Auf allen Stiegen, in allen Fluren, in jedem Winkel hatten sie sich festgesetzt, auf den Fenstersimsen kauerten welche, auf Öfen und Truhen, in Fässern und Kohlenkisten, Leib an Leib, nebeneinander, übereinander, Weiber mit Säuglingen an der Brust, umschlungene Paare, Kinder zwischen den Beinen der Mütter, hie und da mal eine brennende Unschlittkerze, da und dort ein Herdfeuer und ein Topf darüber, die Luft vom Keller bis zum Dach ein einziger stickiger Brodem. Durch den schlug er sich durch, von Stube zu Stube, über Rümpfe, Köpfe, Schenkel, rief den Namen des Mannes, den er suchte, und konnte ihn nicht finden. Nein, das hatte er nicht geträumt, er hatte es erlebt. Dazu ein Gegenstück. Sehr instruktiv. Um in einem der pazifischen Häfen das Schiff zu erreichen, das ihn aufnehmen sollte, hatte er mit mehreren Freunden durch einen Teil von Kalifornien reiten müssen. Da kamen sie zu einer Stadt, namens Baddie, die vor siebzig Jahren an hunderttausend Einwohner gehabt hatte, jetzt aber, da die Goldfelder seit langem keinen Ertrag mehr gaben, vollständig verlassen und verödet war. Der Leichnam einer Stadt, beileibe keine Ruine, ein wohlkonservierter Leichnam, den die außerordentliche Trockenheit der Luft in einem täuschenden Scheinleben erhalten hatte. Breite asphaltierte Straßen, schöne große Plätze, zahlreiche Hotels, Theater, Banken, Kirchen, Paläste, Villen nebst den gewöhnlichen Wohnhäusern: alles leer. Keine Menschenseele. Die meisten Haustore, Läden, Geschäftslokale offen, Zuflucht von Schlangen, Pumas, Eidechsen, Katzen, Ratten und Mäusen. Phantastisch. Die Delirien der Tollhäusler sind ein schwacher Abklatsch von dem, was vor unsern Augen Tag für Tag geschieht ... Etzel schaute die Narbe auf der Wange an, sah in die harten, blauen Augen, die den Ausdruck eines Menschen hatten, der mit geducktem Kopf auf dich zugeht, weil er nicht sicher sein kann, ob du ihm nicht an die Gurgel fährst, und als ihn Lorriner unvermittelt duzte, da er wieder das Wort an ihn richtete, war er keineswegs erstaunt.

Daß Lorriner nach einer Woche das Spital verließ, war hauptsächlich Etzels Werk. Wie es Bluttransfusion gibt, Überleitung gesunden Überschusses in einen anämischen Körper, so auch Einflößung von Auftrieb, Aufschwung, frischem Impuls in den entnervten. Es genügte, daß Etzel kam, daß er da war, daß er sprach, daß er sich gab, wie er war, und der andere erwachte zu sich selbst. Aha, sagte er sich, da ist einer, der mich braucht, folglich bin ich noch wer; einer, und nicht der schlechteste, wie es scheint, der was von mir erwartet und mir dienen will, hinter ihm stehn seine Leute, neue Leute, neue Jahrgänge, unverbrauchtes Material, folglich habe ich noch nicht ausgespielt und kann von vorn anfangen. Etzel war um diese Zeit an einem Punkt angelangt, wo er keinen Weg mehr sah. Er hatte die Richtung verloren. Sein Selbstvertrauen war im vollständigen Schwinden begriffen. Es ging und ging nicht vorwärts, er drehte sich im Kreis herum. Über das, was ihm fehlte, war er nicht einen Augenblick im Zweifel. Es fehlte ihm ein Mensch, an den er glauben, dem er sich beugen, zu dem er aufblicken konnte, der ihm die Last abnahm, die zu tragen er sich offenbar zu früh angemaßt. Man muß ein bestimmtes Quantum Erfahrung haben, mit dem Instinkt allein schafft man's nicht, und mit dem So-als-ob schlittert man in die Hochstapelei. In einem Fall wie diesem aber findet man den unbedingt, den man sucht, weil man nicht mehr wählt, sondern blindlings zugreift. Das Merkwürdige ist nur, daß sich der Gefundene dann als der Gesuchte fühlt und mit all seinen Kräften bestrebt ist, das ideale Bild zu sein und den Rahmen auszufüllen, der gewöhnlich zu groß für ihn ist; er reckt und streckt sich, und manchmal wächst er in der Tat über sich hinaus, bis er unter der seelischen Anstrengung zusammenbricht. In der Gläubigkeit der Jünger liegt eine gewaltige Tyrannei. Die Eigenschaften, die Lorriner von je zum Führer prädestiniert hatten, wirkten jetzt wieder in ihrer ursprünglichen Stärke: der eisern unbeugsame Wille, Schnelligkeit und Festigkeit des Entschlusses und ein untrüglicher Blick für die Brauchbarkeit von Menschen. Etzel brachte ihn im Triumph zu den Freunden, in deren Kreis er von innerer Panik gehetzt neuerdings getreten war. Es waren junge Leute, die weder rechts noch links gerichtet waren, ebensowenig konnte man sie gemäßigt heißen, sie gehörten einer internationalen Organisation an, einem sogenannten Weltbund, der in allen Ländern großen Anhang hatte, aber in politischer Beziehung wenig Einfluß besaß. In der Gruppe Etzel Andergasts hatten bisher konservative Tendenzen vorgeherrscht, man hatte sich sogar an ziemlich weit rechts stehende Bünde angeschlossen, die, vaterländisch gesinnt, kulturelle und zivilisatorische Arbeit leisteten und sich sehr ernsthaft mit den Problemen des Bodens, des Bauerntums und der sozialen Wirtschaft befaßten. Lorriner wünschte reinliche Scheidung und einen klaren Kurs. Unter leidenschaftlichem Hinweis auf die historische Größe der Stunde forderte er die Einbeziehung der kommunistischen Vereinigungen. Seine Beredsamkeit hatte die alte Wucht, was ihm als durchführbar vorschwebte, hatte er Etzel Andergast schon während ihrer gemeinsamen Fahrt nach Berlin entwickelt. Sie saßen in einem Abteil dritter Klasse allein, es war Nacht. Seltsam lässig, als wäre er beglückt, ins Schlepptau einer Idee genommen, von einem Stärkeren gehalten und geführt zu werden, hörte Etzel zu. Ein Experiment, dachte er, ausgezeichnet, wagen wir ein Experiment, wenn's gelingt, bon, wenn du der Kerl dazu bist, ich steh' dir nicht im Weg, aber Gott gnade dir, wenn du nicht der Kerl bist, nicht der, nach dem ich mir die Augen aus dem Kopf geguckt habe ... Und er hing an Lorriners Lippen, glühend, gläubig glühend; trotzdem bewachte er, mit angehaltenem Atem fast, jede Miene, jede Regung des Menschen, dem er sich bedingungslos ergeben hatte, und in der Folge dann jeden Schritt, jedes Gespräch, seinen Umgang, seine gesamte Korrespondenz und womöglich sogar seinen Schlaf. Warum denn nur? Bloß weil ihn seine detektivische Natur dazu zwang? Vielleicht doch nicht ganz. Es hatte eine tiefere Bewandtnis damit. Wir kennen ihn eben noch zu wenig.

Es gibt unter jungen Leuten politische Charaktere (und ein politischer Charakter war Lorriner nach seiner ganzen Anlage), deren Radikalismus auf dem verzehrenden Verlangen nach einer Mitte beruht, nicht einer Mitte der Parteien, einer Lebensmitte. Es ist eine heimliche Sehnsucht, von innen aus zieht es sie nach dem Punkt der Ruhelage, aber das Gesetz des Pendels bewirkt, daß sie nach beiden Seiten gleich weit über ihn hinausschwingen, es sei denn, der Bewegung stelle sich ein Hindernis entgegen, das ihnen Halt gebietet, wobei sie zugleich Gefahr laufen, sich den Schädel zu zerschmettern. Moralische Wertung ist da nicht statthaft, ihnen Verrat vorwerfen wäre dasselbe, als wolltest du den Stein verantwortlich machen, den ein Unbekannter in deine Fensterscheibe schleudert. Von »Abfall« zu reden, das hätte tieferen Sinn. Kerkhoven sagte einmal zu Etzel, die meisten Konflikte, die man als geistige und seelische betrachte, seien rein statisch oder dynamisch. Donnerwetter, dachte Etzel, wenn das wahr ist, und es scheint wahr zu sein, muß man seine Urteile gründlich revidieren.

Eines hatte er bald heraus: ein inspirierter Mensch war Lorriner nicht. Keiner von den Seltenen, denen eine Sache zum Werk wird, wenn sie sich ihr weihen. Er hatte nicht einmal die Unerbittlichkeit der Zielsetzung, weil er im Innern nicht Raum genug hatte für ein hoch- und weitgestecktes Ziel. Er schuf nicht, er bediente sich der von den Schöpfern geprägten Münze. Es war der Gedanke Größerer, den er dachte. Es waren fertige und abgestempelte Worte, die er dem Gefühl der Massen verlieh. Kein wirklicher Heiland, wo denkt ihr hin, die allgemeine Verzweiflung machte ihn zu einer Spezies davon wie so viele andere kleine Kreuzträger, die es doch nicht zum. Erlöser bringen. Die Zeit hat sie mit Schmerzen geboren, das ist alles, was man zu ihrer Verteidigung sagen kann. Erlöser sind dünn gesät. Von Lorriners Vergangenheit wußte er zunächst nur, was als Hörensagen umlief und was Lorriner selbst für gut fand, ihm widerwillig andeutend mitzuteilen. Daß infolge seiner Schwenkung von der äußersten Rechten zur äußersten Linken ein Odium an seinem Namen haftete, ließ sich nicht verbergen. Etzel sah darin nichts Ehrenrühriges, in der Tatsache an sich nämlich. Aber die maßgebenden unter seinen Freunden widersetzten sich aus diesem Grund der Führung Lorriners aufs heftigste. Sie konnten sich nicht entschließen, ihm zu vertrauen, und es kam zu einer erregten Diskussion. »Man ist noch kein Schuft, wenn man seine Überzeugung wechselt«, sagte Etzel, »einem Menschen muß verstattet sein, umzukehren.« – »Er hat seine Fahne verlassen«, antworteten jene, »er wird jede verlassen.« – »Eine Fahne ist ein Fetzen Tuch«, gab Etzel zurück, »jemand an den Eid binden, den er einem Fetzen Tuch geleistet hat, ist Stumpfsinn. Außerdem ist in jedem Eid der Meineid implicite enthalten.« – »Oho. Sei auf der Hut, Andergast. Wenigstens über den Dolus darf kein Zweifel herrschen.« Das mußte er einräumen. Ob man einen Irrtum erkennt und abtut oder ob man die eine Sache aufgibt, weil die andere mehr verspricht, ist nicht dasselbe. Ob man einem Herrn den Dienst aufsagt oder ob einen der Herr vor die Tür setzt, ist nicht dasselbe. Es ist ein Unterschied zwischen dem, der nach innerem Kampf über sich selbst entscheidet, was sein unveräußerliches Recht ist, und dem, der sich als Konjunkturschmarotzer bald auf die eine, bald auf die andere Seite schlägt. Mußte eingeräumt werden, gewiß, aber er glaubte sich für Lorriner verbürgen zu können. Jene wollten sich damit nicht zufriedengeben. Sie fragten: »Warum kommt er überhaupt zu uns? Was können wir ihm bedeuten? Er war schon eine große Nummer in seiner Partei, dann hat man ihn fallenlassen, und jetzt sollen wir ihm die Leiter halten, auf der er wieder hochkommen will. Was kann er da uns bedeuten?« – Etzel, in die Enge getrieben, antwortete mit einem Rabulismus: »Wenn ich eine wunderbare Maschine, die mir geschenkt wird, bloß deshalb nicht arbeiten lasse, weil der frühere Besitzer nichts mit ihr anzufangen gewußt hat, bin ich ein verdammter Idiot.« Das Argument wurde aus Achtung für ihn überhört. »Also wäre zu fragen«, fuhr der Sprecher fort, »kommt er unsertwegen zu uns, oder kommt er seinetwegen zu uns? Das wäre festzustellen.« Schwierige Feststellung, fand Etzel. Einen Menschen auf sein Ja und Nein erforschen, ist schwer; das schwerste, was es gibt. Als ob einer nicht zu gleicher Zeit Künder und Verleugner sein könnte, Kreuzträger und Judas. Ja, wenn man ihm die Seele herausnehmen könnte, dann! Trotzdem sagte er: »Ich bin seiner so sicher wie meiner selbst.« – »Das kannst du gut sagen«, wurde erwidert, »wir aber können durchaus nicht sicher sein. Wo hat er denn seine Haut zu Markt getragen und unzweideutig dargetan, um was es ihm eigentlich geht?« – Darauf Etzel, voll Zorn: »Aber was verlangt ihr denn? Soll er vielleicht in den feurigen Ofen kriechen, damit ihr an ihn glaubt?«

Ein in der Hitze des Kampfes hingeworfenes Wort. So schien es. In Wirklichkeit war es das heimliche Motto, das über seiner ganzen Beziehung zu Lorriner stand, und nicht etwa als Frage wie hier, sondern als Imperativ. Aber hören wir weiter. Es konnte nicht ausbleiben, daß das Gerücht von dem Dokumentendiebstahl, dessen Opfer Lorriner geworden, von der Opposition aufgegriffen wurde. Wenn man dem Gerede glauben durfte, hatte sich die Sache so zugetragen: Lorriner war in die Netze einer raffinierten Frauensperson geraten, einer Tänzerin oder Schauspielerin, die es verstanden hatte, ihn dermaßen einzuwickeln, daß er sich ihr wie ein Gymnasiast ohne Arg anvertraute und ihr schließlich Einblick in jene wichtigen Papiere verschaffte, die sie ihm dann, während er sinnlos betrunken war, entwendete. Etzel bezeichnete die Geschichte als glatte Verleumdung. So konnte es nicht gewesen sein, so war es nicht. Jedoch die Gegner forderten Aufklärung. Es wurde eine Abordnung von fünf jungen Leuten ernannt, die Lorriner um einen wahrheitsgetreuen Bericht ersuchen sollten. Unter diesen fünf war außer Etzel auch Roderich Lüttgens, mit dem er damals schon eng befreundet war. Die Zusammenkunft fand in Lorriners Wohnung statt, noch nicht in der Glasgower Straße, dorthin zog er erst später, in der Landsberger Allee. Alle fünf saßen auf Stühlen in der Runde. Lorriner lehnte mit verschränkten Armen im Winkel eines mit gelbgeblümtem Kattun überzogenen Kanapees. Nachdem sich der Wortführer, ein gewisser Peter Christians, seines Auftrags mit kühler Geläufigkeit entledigt hatte, erhob sich Lorriner, verbeugte sich ironisch, sah einem nach dem andern lächelnd ins Gesicht und sagte: »Ihr bläht euch ja nicht übel auf, ihr Herren Abgesandten. So 'ne Würde. Wer hat euch denn den Klimbim beigebracht? Das erinnert ja ... na, ick weeß nich ... studentische Fatzkereien sind das. Ick lache Tränen. Rechenschaft ablegen. Am Ende auch noch Ehrenwort, wie? Nee, Kinder, mit so 'm Stuß kommt mir nich. Wird nicht verzapft. Macht er nicht.« Während seine Sprache im allgemeinen ohne ausgeprägte Dialektfärbung war, verfiel er, wenn er böse wurde, ins Berlinische. Keiner der fünf rührte sich. Mit einer Kopfbewegung, die die strohgelben Haare zurückfliegen ließ, und einem eindrucksvollen Straffen des hageren Körpers fuhr er fort: »Ob ich Dreck am Stecken habe oder Lorbeer, darum habt ihr euch den Teufel zu kümmern. Das Berühren der Fijüren mit die Foten is verboten. Ich habe mich euch nicht aufgedrängt. Oder habe ich? Rede du, Baron ...« Er nannte Andergast immer nur Baron, ganz ernsthaft, als sei es ein bürgerlicher Name; anfangs hatte Etzel geärgert abgewehrt, jetzt achtete er kaum mehr darauf. »Nein«, sagte er ruhig, »im Gegenteil.« – »Also. Ich war der Meinung, es läge euch was an der frischen Brise. An der geistigen Entlausung. Es läge euch was, habe ich gemeint, verzeiht mir den Irrtum, am Farbebekennen. Es müssen doch welche mal den Anfang machen. Das ist ja das deutsche Unglück, daß schließlich alles in einer mulmigen Romantik versandet. Ihr kommt mir vor wie die Kellner in den Restaurants, wenn sie zwischen den Tischen herumrennen und »Achtung, Sauce« brüllen, aber schaut mal auf eure Schüsseln herunter, die sind ja leer, da ist ja nichts drin. Meine Antwort wollt ihr wissen? Da habt ihr sie: Ich leugne, daß meine Person mit alledem was zu schaffen hat. Meine sogenannte Vergangenheit kann euch vollständig schnuppe sein. Genauso schnuppe, wie sie mir ist. Wer in der Pulverfabrik zu tun hat, kriegt schwarze Hände. In Betracht kommt einzig und allein, ob ihr an mich glaubt. Das natürlich stell' ich jedem frei.« Er ging mit raschen Schritten zur Tür, öffnete sie weit und sagte mit parodistisch-schwungvoller Geste: »Bitte ergebenst: die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen.« Bedrücktes Schweigen. Das hat er nicht übel gegeben, dachte Etzel und blickte Lorriner, der in kraftvoller Gespanntheit, grimmig lächelnd dastand, mit heiterer Anerkennung ins Gesicht. Dies Elementare der Willensausströmung bewirkte auch, daß es so lange dauerte, bis sich Peter Christians erhob. Zwei andere, die auf seine Entscheidung gewartet hatten, folgten seinem Beispiel. Sie nahmen ihre Hüte und verließen in komischem Gänsemarsch das Zimmer. Etzel und Roderich Lüttgens blieben sitzen. Lorriner schlug mit einem Knall die Tür zu und lachte. Auch das Lachen war ein Knall. »Na, und ihr zwei beide«, wandte er sich an Etzel und Roderich, »kleinen Schluck auf den Schrecken?« Er stellte die Kognakflasche und drei Wassergläser auf den Tisch, schenkte für sich ein und goß ein halbes Glas hinunter. Sodann zündete er seine kurze Pfeife an und ging mit Stechschritten hastig auf und ab. Roderich Lüttgens folgte ihm unablässig mit den Augen und sah erregt aus. Aha, dachte Etzel, der hat angebissen. Er kannte den Vorgang. Er kannte ihn nur allzu gut. So hatte es bei ihm auch angefangen. Wiederholung im andern bedeutet fast immer Verzerrung. Aber Roderich, noch umhegt von der Zärtlichkeit der Familie, war Neuling und in seiner brennenden Lebenserwartung viel gefährdeter. Man müßte es verhüten, dachte Etzel bekümmert, aber das hieße eine Gemeinheit an Lorriner begehen, und wahrscheinlich eine nutzlose, der Effekt wäre der gegenteilige. Eine Überlegung, die Etzel nicht ungewohnt war. Freund seiner Freunde, mußte er häufig trachten, einen schwächeren vor Einflüssen zu schützen, die für den stärkeren unschädlich waren. Alles mußte sein richtiges Maß haben. Lorriner, sonst ohne Differenziertheit, spürte, daß ihm Andergast hier entgegenwirkte. Er hatte Absichten mit Roderich, Seine Situation war prekär; er hatte keinen festen Boden mehr unter den Füßen, wenn er in einer bestimmten Angelegenheit Roderichs Vater für sich gewinnen konnte, war er gerettet. Die Erbitterung, die er über den stattgehabten Auftritt empfand und die sich in seinem nervösen Hin- und Herschreiten äußerte, kehrte sich gegen Andergast. Schon deswegen, weil er Zeuge seiner Niederlage gewesen war. Die praktischen Folgen, die sich aus dieser Niederlage ergeben mußten, erwog er dabei gar nicht. Es hätte ihm außerordentlich geholfen, wenn er die zersplitterten Jugendbünde hätte vereinigen und als ihr Führer wieder in die Arena hätte treten können. Es wäre der Weg zu neuem Aufstieg gewesen. (Das hatten ja die jungen Leute geargwohnt und seine Berechnung zunichte gemacht.) Doch für den Augenblick verdroß es ihn hauptsächlich, vor Etzel Andergast schlecht abgeschnitten zu haben. Das hatte nichts mit Eitelkeit zu tun. Er war nicht eitel, sogar in einem auffallenden Grad nicht. Aber in Etzels Miene Mißfallen, Enttäuschung, Unzufriedenheit zu lesen war ihm einfach unerträglich. Zu erklären vermochte er es nicht. Der Bursche brauchte bloß seine kurzsichtig zwinkernden Augen auf ihn zu richten, da war ihm schon zumut wie als Pennäler, wenn er im Griechischen aufgerufen wurde und Angst hatte, nicht zu »entsprechen«. Immer unter Kontrolle, immer vor der stummen Forderung wie vor der Mündung eines geladenen Revolvers, verdammt lästig. Er, der alle in den Sack steckte, Männer und Weiber, sie erschauern machte, wenn er den Kopf zurückwarf, daß die strohgelben Haare flogen, der jeden Widerstand mit einer Bewegung seiner Braue zum Schweigen bringen und eine tausendköpfige Versammlung in hellen Brand versetzen konnte, der einem Stalin imponiert und den Polizeichef von New York genötigt hatte, sich wegen fälschlich angeordneter Verhaftung bei ihm zu entschuldigen: er in innerer Habtachtstellung vor einem Studenten, immer in der dämlichen Sorge, nicht zu »entsprechen«, wo doch nicht einmal ein Zweifel bestand, daß der Mensch zu ihm aufblickte als zu einem Vorbild und mit ihm durch dick und dünn gehen würde...

»Setz dich mal auf deine vier Buchstaben, Lorriner, damit man ein vernünftiges Wort reden kann«, sagte Etzel in die Stille hinein. Lorriner knurrte, klopfte die Pfeife aus und setzte sich auf das Fenstersims. Vielleicht lag ihm daran, daß sein Gesicht im Schatten blieb. »Du solltest uns in dieser Sache doch reinen Wein einschenken«, begann Etzel vorsichtig, »wenigstens Lüttgens und mir. Es sind da einige Unklarheiten ...« – »Dahier ist keine Weinschenke«, brauste Lorriner auf, »ich habe nichts richtigzustellen und erteile kein Privatissimum.« Etzel senkte den Kopf. »Schon«, sagte er, »schon (und spielte mit seinen Fingern), ich hab' mir nur gedacht ... ich meine nämlich, die persönliche Integrität ist unentbehrlich, wenn... ja, ja, ich weiß, das sind bourgeoise Vorurteile... in der Beziehung bin ich rückständig... kurz und gut, Lorriner (er hob den Kopf wieder), ich finde, man muß tadellos saubere Hände haben, wenn man... wenn man so ohne weiteres die Schlechten ins Kröpfchen schickt.« – »Begreife das Geschmuse nicht«, erwiderte Lorriner barsch, »für mich ist der Zwischenfall erledigt. Warum bist du sitzen geblieben? Ich habe euch doch gezeigt, wo der Zimmermann das Loch für die Schlappschwänze gemacht hat.« – »Richtig, Lorriner, aber das war für die Galerie bestimmt. Zwischen dir und mir liegt es ein wenig anders. Ich halte dich für einen außergewöhnlichen Menschen. Ich war vom ersten Augenblick an begeistert von dir. Du machst nicht viel Federlesens mit einem. Reißt einen einfach mit. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich auf der Strecke geblieben. Du hast was in dir, was einen in die Knie zwingt. Aber ich kann an einen Menschen nur glauben, wenn sein Bild ohne den geringsten Flecken ist. Du mußt mir jeden Tag beweisen können, daß du der bist, den ich in dir sehe. Natürlich kannst du es verweigern, aber dann muß ich mich auch verweigern.« – »Das halte nach Belieben. Ich seh' nicht ein... wozu die Sprüche... was hat es mit meinem... mit meiner Integrität zu tun, daß ich einem perfiden Frauenzimmer auf den Leim gegangen bin?« – »Das bist du. Ganz gehörig. Man könnte allerdings einwenden: das ist kein Pech, es ist ein Defekt. In dem Fall. Das ist eine, die! Verflucht. Da versteht man manches. Nun, sie behauptet – « Er konnte nicht weitersprechen, mit einem wahren Jaguarsprung war Lorriner an seiner Seite und umklammerte mit eisernem Griff seinen Nacken. »Du kennst sie?« fragte er tonlos, mit einem unheimlichen Grinsen im Gesicht, das davon herrührte, daß er die unteren Zähne über die Oberlippe schob. Roderich Lüttgens erhob sich erschrocken, setzte sich aber gleich wieder. Etzel befreite sich unwillig aus der schmerzhaften Klammer. »Natürlich kenn' ich sie«, sagte er, »vor einiger Zeit schon hatte ich die Ehre. Hab' mich nicht drum gerissen, hat auch keine Mühe gekostet, das Fräulein Sperling ist recht zugänglich. Na, und es war ganz interessant. Sie behauptet... aber keine Handgreiflichkeiten mehr, sei so gut. Es verdirbt mir die Laune. Es überzeugt mich auch nicht. Muskelübungen mach' ich nur freiwillig. Sie behauptet, du seist ihr gar nicht auf den Leim gegangen, seist nicht mal betrunken gewesen.« – »Sondern?« – »Es sei ein Geschäft gewesen wie jedes andere.« – Lorriner wich zurück. Sein Gesicht war gelb. – »Das braucht dich nicht zu alterieren«, fuhr Etzel fort, »ich werde schon dafür sorgen, daß sie in Zukunft... Aber es muß da noch Verschiedenes zur Sprache kommen ... Am besten wär's, wenn ihr euch mal in meiner Gegenwart... Nein? Na, wie du willst, reg' dich nicht auf. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich hatte dies und jenes gehört, habe aber kein Wort von der ganzen Geschichte geglaubt, nur war ich dir schuldig, der Sache nachzugehen. Wir werden ja sehen...« Trotz der Unverfänglichkeit und der Beschwichtigung in den Worten lag im Ton der Stimme eine gewisse harte Entschiedenheit. Lorriner starrte vor sich hin. »Aus dir wird man nicht klug«, sagte er finster, »du hast was eigentümlich Tückisches an dir. Hätt' ich zu befehlen, ich weiß nicht, ob ich dich nicht an die Wand stellen ließe. Na, laß man«, wehrte er mit einer verächtlichen Handbewegung ab, als Etzel antworten wollte, »laß das man für jetzt. Werde mir das Luder nächstens kaufen.« – »Ja, aber nimm dich in acht, die Dame hat Giftzähne.« – »Laß man, laß man«, wiederholte Lorriner halb drohend, halb gequält. Etzel schwieg, schien aber betroffen. Es verflossen drei oder vier peinliche Minuten, dann sagte Etzel mit veränderter, tieferer Stimme und ohne die Spur jener Harmlosigkeit, mit der er sich sonst gleichsam eine Rückendeckung verschaffte: »Ich möchte noch etwas Abschließendes bemerken, wenn du erlaubst. Ich habe in der letzten Zeit viel über dich nachgedacht und bin zu folgendem Resultat gekommen. Es gibt drei Möglichkeiten, drei mögliche Schlüssel zu deinem Wesen. Fragt sich, welcher der richtige ist. Erstens kannst du ein Neurastheniker sein. Nichts weiter, aber mit allem, was drum und dran hängt. Schwäche in Form von Kraft, viel Wille, viel Ehrgeiz, aber krank, krank, krank. Ich denke jetzt nicht einmal an das Individuum Lorriner, sondern mehr an die Kategorie. Zweitens: du kannst ein Dschingis-Khan sein. Kommentar überflüssig. Es wimmelt von Dschingis-Khans bei uns. Ex Oriente mors. Parole: nicht das Kind im Mutterleib wird geschont. Vielleicht überschätzt man den alten Dschingis-Khan, die neuen verstehen das Handwerk bestimmt besser. Dann wäre das dritte. Du könntest der Mann sein, der in den feurigen Ofen kriecht. Das ist meine große Hoffnung. Du kennst doch die Legende. Es waren drei. Drei Männer im feurigen Ofen. Sie sangen Loblieder, während man einen Braten aus ihnen zubereitete. Genau das Umgekehrte von dem, was der Dschingis-Khan tut, und genau das, was der Neurastheniker auf keinen Fall über sich bringt.« Lorriner stand stocksteif, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und schaute mit einem zerrinnenden bösen und ratlosen Lächeln auf Andergast herunter. Etzel ließ auch seinerseits den Blick nicht von ihm. Auch er lächelte, eigentümlich höflich, mit den kurzsichtig zwinkernden Augen. Während der ganzen Unterredung hatte Roderich Lüttgens nicht einen Laut von sich gegeben. Nur sein Blick war erregt und begierig von einem zum andern gegangen. Auf der Straße fragte er Etzel: »Was hast du eigentlich gemeint mit dem feurigen Ofen?« Etzel blieb stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter, und statt auf die Frage zu antworten, raunte er ihm geheimnisvoll tuend zu: »Ich fürchte, er wird nicht hineinkriechen, du; paß auf, er wird nicht...«

Aus dem ganzen Zwiegespräch geht ziemlich evident hervor, daß Etzels Vertrauen bereits erschüttert war, daß er dies aber um keinen Preis wahrhaben wollte. Er hatte eine unsinnige Angst vor der Enttäuschung und kämpfte verzweifelt darum, sein Idol rein zu erhalten, viel mehr, als er sich merken ließ. Es scheint, daß er nur intellektuell nicht zugänglich ist, sagte er sich bisweilen, oder daß ihm die Bildungselemente fehlen, als Natur und Phänomen ist er ohnegleichen. Hier beginnt er, nicht zu verwundern, den typischen Irrtum der jungen Menschen, daß sie ihr Wunschbild so leidenschaftlich in sich verwirklichen, daß sie die äußere Wirklichkeit fast nicht mehr sehen. Wozu kommt, daß Lorriner in der Tat einige in hohem Grad verführerische Eigenschaften besaß, vor allem eine beispiellose Bedürfnislosigkeit und Uneigennützigkeit (aus diesem Grund erschien es ja Etzel so undenkbar, daß er sich verkauft haben sollte, wie Emma Sperling behauptete), dann die selbstlose und hingebende Art, mit der er sich hilfsbedürftiger Freunde und Genossen annahm; das Elend des Volkes ging ihm nahe, es raubte ihm den Schlaf, es machte ihn krank und wild. Etzel war oft dabeigewesen, wenn er mit Hungernden und Arbeitslosen gesprochen und sie beraten hatte, da war er ein ganz anderer Mensch, etwas Messianisches war dann um ihn, von neuer Zeit und Zukunft. Eines Tages hatten sie ein abstraktes Gespräch über Gerechtigkeit, Lorriner war aber nicht imstande, sich im Gedanklichen zu halten, er erzählte einen haarsträubenden Fall von Klassenjustiz, Akt der Willkür beinah, durch den einer seiner Parteifreunde für zwei Jahre ins Zuchthaus gekommen war. Mitten im Wort unterbrach er sich und verfiel in einen fürchterlichen Weinkrampf, der länger als eine Viertelstunde dauerte und in einen katatonischen Zustand überging. Damals fand Etzel an dem Anfall noch nichts Bedenkliches, nicht das jedenfalls, was ihn später veranlaßte, vom Neurastheniker als einem beherrschenden Typ des öffentlichen Lebens zu sprechen. Im Gegenteil, das Schauspiel bewegte ihn so tief, als wäre es ein Beweis von Auserwähltheit, denn wie wir geboren sind und wie wir leben müssen, pflegt sich Auserwähltheit ja nur im Leiden und im Schmerz zu dokumentieren. Der Eindruck verwischte sich lange nicht, bewirkte lang, daß Etzel im Umgang mit Lorriner zarter und rücksichtsvoller war als gegen die meisten andern Menschen. Er setzte eben alles daran, wider sein rebellisch werdendes Gefühl, wider sein zunehmendes Wissen, zuletzt wider den Augenschein, sich das Bild rein zu erhalten. Die Folge war eine wachsende innere Unruhe, beständiges Schwanken, quälende Uneinigkeit mit sich selbst. Was zieht ihn denn immer herunter, wenn er im Begriff ist zu fliegen? fragte er sich und biß vor Wut in seine Fingerknöchel, Rückfälle in eine Bubengewohnheit; es ist, als ob er sich selber feind wäre, es ist, als ob der Wind in ein Feuer schlüge. Suchend und spähend, kam er auf eine Fährte. Ein großer Teil von Lorriners Leben schien mit seinen erotischen Beziehungen ausgefüllt. Es war ziemlich schwierig, dahinterzukommen, nichts lag am Tage, nichts war frei und offen, es war auch keine Leichtigkeit darin, kein Leichtsinn, alles dunkel, schwül und versteckt. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit verfolgte Etzel systematisch die verschiedenen Spuren. Den Anstoß hatte ihm ein Notizbuch gegeben, das er eines Tages in Lorriners Bude, als er auf ihn wartete, in einer offenen Schublade liegen sah. Er blätterte kaltblütig drin herum und stieß auf eine seitenlange Reihe weiblicher Vornamen, vom Familiennamen nur der Anfangsbuchstabe, dann die Wohnungsadresse und bei den meisten ein Kreuz am Rande, wodurch offenbar dargetan war, daß die Betreffenden ausgespielt hatten, das Kreuz war ein Grabkreuz. Es erinnerte ein wenig an das Memorial eines Provinz-Don-Juans oder gewerbsmäßigen Heiratsschwindlers. In seinem schmerzlichen Drang nach Aufhellung dieses komplizierten Charakters ging er mühselige Wege, auf denen wir ihm nicht folgen wollen. Schwer, diese Geschöpfe mitteilsam zu machen, die trotz der erlittenen Enttäuschungen noch an dem Manne hingen, der sie um alles betrogen hatte. Etzel kam sich selber wie ein Verführer vor, wenn er sie mit vieler List zum Reden brachte, und wie ein Geheimagent, wenn er bei Nachbarn, Mietsfrauen und Brotgebern Erkundigungen über sie einzog. Er war sehr bestürzt über das Gesamtergebnis, sehr deprimiert. Peinlich der Vorgang, klein und banal die Mittel. Wie wenn einer in sturem Vernichtungstrieb sich darauf verlegte, Existenzen zu knicken. Immer nach demselben Schema, immer dieselben Schwüre, dieselben glühenden Briefe, die gleiche Dauer sogenannten Glücks, das gleiche Ende im Stil eines Rührstücks mit veralteten Effekten, die nur darum glaubwürdig wirken, weil sie sich wirklich ereignen: eine Schwangere, die ins Wasser geht, eine von den Angehörigen Verstoßene, die zur Dirne wird, eine verzweifelte Siebzehnjährige, die mit blutiger Rache droht, eine Eifersüchtige, die der Nebenbuhlerin Vitriol ins Gesicht schüttet. Die Opfer gehörten sonderbarerweise nicht dem Proletariat an, es waren fast ausschließlich junge Mädchen aus kleinbürgerlichen Familien, Töchter von kleinen Beamten und Kaufleuten, Zöglinge von Schauspiel- und Musikschulen in der Vorstadt, junge Fürsorgerinnen, zumeist unschuldige, unverdorbene Dinger, auf deren Verschwiegenheit und Ergebenheit er bauen durfte und die ihm wehrlos zufielen, eine nach der andern, wie durch Ansteckung. Sie waren um dreißig Jahre hinter ihrer Zeit zurück; daß sie kniefreie Röcke und Seidenstrümpfe trugen, ins Kino gingen und Tanzdielen besuchten, war ein Anachronismus. Sie waren von keiner ausgeprägten Art, hatten keine höheren Gaben, liebe, sympathische Dutzendpersonen, die schlicht und fleißig dahinlebten, ein wenig wie Pflanzen, die an Orten wachsen, wo keine Sonne scheint. Solche zeitlosen Seelen gibt es viele, Lorriner besaß die Witterung für sie. Es hatte etwas seltsam Gespenstisches.

Da war keine Ähnlichkeit, nicht die entfernteste, mit dem, was Etzel und alle seine Kameraden, alle jungen Männer, die er kannte, mit allen Mädchen und Frauen, die er kannte, verband. Der Fall regte ihn zum Nachdenken an. Wie ist es denn mit dir? fragte er sich und schaute sich prüfend in seinem Leben um, wie würde zum Beispiel ein anderer Etzel, ein Überetzel nehmen wir an, in der Sache über dich urteilen? Er suchte einen Punkt zur objektiven Betrachtung seines eigenen Ichs, erschreckt von dem Gedanken, er beurteile sich vielleicht viel zu nachsichtig. Er hat kein Talent zu einem heiligen Antonius, stellt er fest. In richtiger Erkenntnis der inneren Gleichgewichtsgesetze sorgt er dafür, daß die Versuchungen nicht zur Phantasiebelastung werden. Es läuft nicht allemal glatt ab. Es gibt Aufregungen, Wirrnisse, Mißverständnisse. Man muß unmotivierte Ansprüche zurückweisen und sich übertriebenen Erwartungen entziehen. Man darf sie nicht wecken, die Erwartungen, man darf sie auch nicht hegen. Sich jemand in den Kopf setzen ist schädlich. Er hat es bisher mit Erfolg vermieden. Er hat sich vor jeder Gefühlsbindung schwer gehütet. Ohne sich übermäßige Skrupel zu machen, hat er doch stets das fair play beobachtet. Er entsinnt sich nicht, daß es je zu einem sogenannten Bruch mit Lärm und Szenen gekommen ist. Das Wesentliche ist, daß man ohne Ausrufungszeichen lebt. Ausrufungszeichen sind aus der Mode. Man trennt sich in gegenseitiger Achtung, bei Wiederbegegnung lächelt man einander aus den Augenwinkeln freundlich wissend zu, über die Kluft hinweg, die die veränderten Umstände geschaffen haben. Er ist für Abwechslung. Eine einzige Nacht kann mehr bedeuten als zwanzig, die nachher kommen und sich abschwächen. Und das alles beruht auf Übereinkunft, auf freier Entschließung. (Später, in seinen Geständnissen gegen Kerkhoven, sprach er sich ja ähnlich aus. Da war es schon ein Programm, und dieses Programm befliß sich im Hinblick auf das Wort und den Begriff Liebe einer puritanischen Enthaltsamkeit, als käme »Liebe« für ihn so wenig in Betracht wie eine Reise mit der Postkutsche. In der Selbstverständlichkeit, mit der er von einem Gefühl keine Notiz nahm, es sozusagen totschwieg, das immerhin einige Jahrtausende hindurch die menschlichen Angelegenheiten beherrscht hatte, lag eine gewisse herzerfrischende, obschon unfreiwillige Komik.)

Ungeheuer fremd also, was sich ihm vom Leben Lorriners enthüllte. Abwegig und bedauernswert. Das Barbarische erweckt Mitleid. Er fand es wenigstens. Die verhehlte Brunst, das Aufspüren der Beute, die finstere Gier nach Seelenmord, die fixierte soziale Sphäre (so wie ein Raubtier sein bestimmtes Revier hat), die Roheit und Unfreiheit, es berührte ihn wie Rückfall in einen Urzustand, Verrat an der helleren Welt, die doch konstituiert werden sollte. Er sah keine Möglichkeit der Aussprache, zu fragen stand ihm nicht zu, zu richten stand ihm erst recht nicht zu, es war, wie es war, leider Gottes. Der Achtundzwanzigjährige ist ein fertiger Mensch, die sieben Jahre, die er voraushat, verleihen ihm eine materielle Autorität, in die Substanz kann man nicht eingreifen, moralische Verwirrung heißt schließlich nichts anderes als Fehlschlag der Natur, nur er selber kann sich dann korrigieren, kann sich dem gewandelten Verhältnis anpassen, allein das ist schon das Ende von Bewunderung und Enthusiasmus, ein trübes Wesen mit Vorbehalt und Kompromiß. Aber noch gab er Lorriner nicht auf, konnte es gar nicht, selbst wenn er es gewollt hätte, da waren zu viele Fesselungen, zu viel Gemeinsames, zu viel Verpflichtendes, zu viel Vertrautheit. Und zu viel Glaube. Es sei nicht Feigheit gewesen, rechtfertigte er später seine Haltung gegen Kerkhoven, er sei sich vorgekommen wie bei einer Gletscherbesteigung, da könne man auch nicht den Führer mir nichts dir nichts zurückschicken, weil einem vielleicht seine Nase nicht mehr gefällt, man muß weiter mit ihm, oder man kommt um. »Schlechter Vergleich«, antwortete Kerkhoven darauf, »umgekommen wären Sie auf ein Haar auch so, und der andere war's ja, der Sie im Stich gelassen hat.« Aber der große Arzt wußte natürlich Bescheid über die geheimnisvollen Hintergründe solcher Bindungen. Er hatte es nicht für gut befunden, Lorriner die ganze Wahrheit über die Beweggründe mitzuteilen, die ihn zu Emma Sperling geführt hatten. Auch daß er sie schon drei Wochen kannte, hatte er verschwiegen. Ferner war er ihr keineswegs zufällig begegnet, wie er Lorriner glauben gemacht, sondern hatte ihr geschrieben, er müsse sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Er hatte ja seine Ohren überall, zwei- oder dreimal hatte er ihren Namen zusammen mit dem Lorriners und der Dokumentengeschichte nennen hören, und zwar immer mit ausdrücklicher Ausschaltung einer intimen Beziehung. Niemand fiel es ein, etwas anderes darin zu sehen als eine politische Fädelung, sei es, daß die Person Lorriners diesen andern Gedanken nicht aufkommen ließ – Menschen, die öffentlich wirken, haben ja ihre bestimmte Marke, sie stehen gleichsam unter einem allgemein angenommenen Vorurteil –, sei es, daß Emma Sperling es mit ihrer fabelhaften Geschicklichkeit verstanden hatte, einen solchen Verdacht von vornherein zu zerstreuen. Zudem hatten nur sehr wenige Menschen Kenntnis von dem Geschehnis, auch das Gerede war nur auf einen engen Kreis beschränkt. Etzel hatte triftigere Gründe als alle übrigen, nicht an eine Liaison zwischen Lorriner und der Tänzerin zu glauben, das schloß sich sozusagen chemisch aus, meinte er und hielt deshalb das ganze Gerücht für eine böswillige Erfindung; was sollte Lorriner (bei kaltem Blut also) zu einer solchen Kopflosigkeit bewogen haben, dazu war er viel zu gewitzt, viel zu mißtrauisch. Etzel wäre auch fürs erste gar nicht darauf verfallen, sich an Emma Sperling zu wenden, wenn er nicht Zeuge eines sonderbaren Auftritts geworden wäre, der sich in einer kleinen Bar im Westen abspielte. Er saß mit Lorriner, Lüttgens, dessen Schwester Hilde und einem gewissen Max Mewer an einem Tisch, als eine Gesellschaft von zwei Damen und zwei Herren eintrat, die sich ziemlich laut gebärdete, namentlich eine der Damen machte sich durch eine Lebhaftigkeit bemerkbar, die an Exaltation grenzte. Es war Eleanor Marschall, er lernte sie wenige Tage nachher kennen. Die andere war Emma Sperling, die von allen Gästen im Lokal neugierig angestarrt wurde. Da sie vor kurzem einen großen Erfolg gehabt hatte, war ihr Name in aller Mund, die illustrierten Blätter hatten ihr Bild gebracht, so war es kein Wunder, daß die Leute wußten, wer sie war. Als Lorriner ihrer ansichtig wurde, blieb ihm das Wort in der Kehle stecken, sein scheu auflodernder Blick glitt an ihr vorüber zu Eleanor Marschall, und während ihn Emma Sperling mit ihrem stereotypen Rätsellächeln musterte, ohne dabei mit einer Miene merken zu lassen, daß sie ihn kenne, malte sich im Gesicht ihrer Begleiterin ein intensiver Schrecken, freilich nicht länger als eine Sekunde, dann kehrte sie sich jäh einem der Herren zu und fuhr augenscheinlich verwirrt in einem begonnenen Gespräch fort. Weder eine Geste noch ein Blick der drei entging Etzel. Bis jetzt hatte außer ihm keiner der am Tisch Sitzenden etwas wahrgenommen. Das Eigentümlichste an ihm war, daß er seine Beobachtungen, denen es doch an Schärfe nicht fehlte, oft ganz unabhängig von den Augen machte, es mußte eine außerordentliche Reaktionsfähigkeit der Nerven sein, die ihn von geschehenen Veränderungen in seiner Umgebung unterrichtete, denn Gesichter, die durch die Weite eines Zimmers von ihm entfernt waren, konnte er schon nicht mehr unterscheiden. Er war jedoch gespannt, wie sich die Dinge entwickeln würden, und im Verlangen nach deutlichem Sehen nahm er unauffällig die Brille aus dem Futteral und setzte sie auf. Aus irgendeinem Grund mußte Hilde Lüttgens darüber lachen. Dieses Lachen war für Lorriner das Signal, von seinem Sitz aufzuspringen, so jäh, daß der Stuhl hinter ihm umfiel und, sie sowohl wie Andergast drohend anzustieren. Etzel begriff sofort, daß es sich um ein Scheinmanöver handelte, einen krampfhaften Ablenkungsversuch, und legte beschwichtigend seine Hand auf Lorriners Arm. Er spürte, wie der ganze Mensch von oben bis unten bebte. Lorriner schüttelte mit einer rabiaten Bewegung die Hand ab. Da sah Etzel, daß Neil Marschall, die ihnen Gesicht zu Gesicht gegenübersaß, den Blick mit einem beschwörenden Ernst auf Lorriner heftete, zugleich winkte sie ihm kaum merklich zu, wie wenn man jemand zu verstehen geben will, er führe sich auf wie ein Narr. Ei, die kennen sich also auch, ging es Etzel durch den Kopf. Lorriner griff nach seinem Hut und stürmte in größter Hast, wort- und grußlos, davon. Und noch etwas nahm Etzel wahr. Emma Sperling hatte sich zuerst neben Eleanor Marschall gesetzt. Dann schien es, als fühle sie sich unbehaglich. Es war offenbar das Benehmen Roderichs, das sie störte. Der junge Mensch schaute ihr unablässig wie entgeistert ins Gesicht. Sie erhob sich brüsk und wechselte den Platz. Sie saß nun mit dem Rücken gegen Etzels Tisch. Sie hatte den Pelzmantel anbehalten. Über dessen Kragen erhob sich ein schmaler Knabenkopf mit einer Knabenfrisur und kleinen rosigen, frechen Ohrmuscheln.

Emma Sperling zu einer stichhaltigen Aussage zu bewegen, war ein Kunststück. Was sie mit ihrer tiefen, heiseren Stimme sagte, wirkte ungemein treuherzig und zutraulich, dann wandte sie ganz langsam den Kopf zur Seite und machte ein Gesicht, als freue sie sich diebisch, daß man ihre Worte für bare Münze nahm. Wenn sie eine Zeitlang ernst geredet und Etzel ihr ernst zugehört hatte, brach sie plötzlich in ihr Baßgelächter aus und rief begeistert: »Das haben Sie geglaubt? Wirklich? Aber Sie sind ja ein Eselchen, Sie sind ja ein ganz entzückender kleiner Idiot!« Etzel stellte sich, als sei ihm ein so widerspruchsvolles Wesen noch nie vorgekommen, ging eifrig auf alles ein, schien in naiver Weise düpiert und hingenommen, auf einmal tat er maßlos erstaunt, wie wenn ihm ein Licht über ihren interessanten Charakter aufgegangen wäre, und verlautbarte den Umschwung seiner Meinung durch eine beiläufig klingende Bemerkung, die der Überraschten vor Ärger das Blut in die Wangen trieb, weil sie sich durchschaut und selber gefoppt fühlte. Dann schmollte sie und versuchte es mit einer neuen Harlekinade. Sie war ihm gewachsen, vielleicht sogar über. Er spürte es gleich. Aber mit ihrem urwüchsigen Weiberinstinkt, dem Instinkt einer Paria, die sich mit zusammengebissenen Zähnen hat durchsetzen müssen, erkannte sie den ebenbürtigen Gegner.

Der Beginn war komödienhaft. Sie hielt ihn für einen Reporter, der sie interviewen wollte. Er ließ sie eine Weile dabei. Als er fand, daß sie sich mit dem hochtrabenden Getue eines frischgebackenen Stars genügend lächerlich gemacht hatte, sagte er trocken, er sei ein Analphabet, könne kaum einen Brief schreiben, geschweige einen Zeitungsartikel und hoffe, sie werde sich mit seiner Bewunderung unter vier Augen begnügen. Sie platzte beinahe vor Zorn, mußte aber trotzdem lachen. Die Mischung von Hanswurst und Wildkatze trat in all ihren Lebensäußerungen zutage. Sie erfaßte jede Situation blitzschnell wie ein Tier, das gewohnt ist, sich gegen erfahrene Verfolger zu wehren, und seinen Ehrgeiz darein setzt, es auf möglichst geschmeidige und erfinderische Manier zu tun. Ihre lärmende Vitalität fiel ihm auf die Nerven. Wenn sie mit ihrer Jungfer herumschrie oder die Friseurin wegen einer Unpünktlichkeit abkanzelte, erinnerte sie an ein leicht angetrunkenes Marktweib. Sie hatte auch nicht mehr Erziehung als ein Marktweib. Obenauf lag ein bißchen gesellschaftliche Tünche. Wenn sie mit Menschen beisammen war, die sich gegen ihre Hemmungslosigkeit empfindlich zeigten, übertrieb sie sich noch. Mit Frauen vertrug sie sich leidlich, ihre Grundeinstellung gegen Männer war eine bacchantische Verachtung. Sie hielt jeden Mann für eine Art Mißgebilde, töricht, leichtgläubig, überheblich und weitaus lasterhafter, als irgendeine Frau sein konnte. Ein Geschlecht, das die Stirn hat, die Welt regieren zu wollen, und sie so auf den Hund bringt, daß man am liebsten drauf spucken möchte, verdient doch nicht, daß man es ernst nimmt, pflegte sie zu sagen. Über Etzel machte sie sich zunächst bloß lustig, war wütend, daß er immer wieder kam, und bedeutete ihm, er möge sie ungeschoren lassen, er sei ihr »höchst assommant«. Dann gewöhnte sie sich an seine Besuche, war sogar ungehalten, wenn er einmal ausblieb, dann erfuhr sie von Nell Marschall, die wieder von ihren jungen Freunden unterrichtet war, Dinge über ihn, die sie veranlaßten, ihn mit andern Augen zu betrachten. Aber sie traute der Sache nicht recht. »Sie sollen ja ein so rares Exemplar sein«, sagte sie eines Tages, »alle Leute behaupten es.« Er schien verwundert. »Rar? Wieso? Ich bin gar nicht rar. Ich bin sehr häufig.« – »Ich verstehe nur eins nicht... wenn wirklich was los ist mit Ihnen, warum hängen Sie sich denn an ein Subjekt wie den Lorriner?« – »Vielleicht hilft er mir zu meinem Fortkommen.« – »Unsinn, damit verplempern Sie doch nur Ihre Zeit.« – »Ich hab' unmenschlich viel Zeit. In der Beziehung bin ich ein Rockefeller.« – »Was jeden andern zugrund richtet, kann doch nicht zu Ihrem Fortkommen dienen. Ausgerechnet der.« – »Ich bin eine Ausnahme, Spatz. Es ist alles umgekehrt bei mir. Mein Leben ist in Spiegelschrift geschrieben ...« Sie schaute ihn verdutzt an. In ihren Augen flimmerte eine träge Begehrlichkeit, als wolle sie sagen: Man könnte es mal mit dir probieren. In seinem Blick hingegen lag die Antwort: Ich sag' nicht nein, aber zuerst will ich Bescheid haben, vor allem will ich die Wahrheit über die Geschichte mit Lorriner wissen. Die Person ließ ihn nicht kalt. Er dachte es sich nicht ohne Reiz, eine Woche lang ihr Geliebter zu sein. Vorläufig studierte er sie noch, dann würde man sehen. Alles nach der Reihe. Ihre Herkunft, Lebensführung, Gewohnheiten und Neigungen beschäftigten ihn zum Zweck der Artbestimmung wie einen Käfersammler, der einen noch nicht klassifizierten Deckflügler gefunden hat.

Sie war polnischen Ursprungs, war aber schon als Kind, Kriegskind, nach Deutschland verschlagen worden. Der Vater war Uhrmacher gewesen. Sie war im Elend aufgewachsen. Sie erzählte es stolz. Sie erzählte unter anderm, daß sie als Achtjährige drei Stunden durch den Schnee marschiert sei, weil ihr die Gutsfrau ein Korallenhalsband zu Weihnachten versprochen hatte. Ihre Eltern waren seitdem in die Stadt gezogen, niemand hatte ihr die Korallen gebracht. Als sie hinkam, war die Gutsherrschaft tot, vom Schloß waren nur rauchende Trümmer übrig. Einer der kampierenden Soldaten labte sie mit Branntwein, der Leutnant schenkte ihr eine Pelzjacke, die er von einem Berg von Kleidungsstücken nahm und die ihr viel zu groß und zu weit war, so daß sie eine Schleppe hinter ihr machte. Aber sie fühlte sich märchenhaft glücklich. Daher rührte ihre Leidenschaft für Pelzwerk.

Alles ist erobert in ihrer Existenz, alles auch gesetzlos, das Gestern zählt nicht. Ihre Unordentlichkeit ist einer Zigeunerin würdig. Den ganzen Tag sucht sie ihre Sachen. Beim Aufstehn sucht sie ihr Hemd, im Bad die Seife, bei der Toilette den Schminktiegel, beim Ausgehen die Ringe. Die Zimmer sehen aus wie Jahrmarktsbuden vor dem Abbruch. Ihre Rechnungen bezahlt sie gar nicht oder zweimal. Mit dem Geld ist es überhaupt ein Jammer. Sie weiß nie, wieviel sie besitzt und was sie ausgegeben hat. Wenn nicht ehrliche Leute um sie sind, ist sie verloren. Am Tag, wo sie ihre Gage erhält, versteckt sie eine Handvoll Noten in die Matratze, eine andre in einem Blumentopf oder in einer alten Zigarettenschachtel, braucht sie dann das Geld, so wirft sie alles in der Wohnung verzweifelt durcheinander, und wer zu ihr kommt, muß suchen helfen. Jedem, der sie darum angeht, leiht sie oder schenkt sie, aber weniger aus Gutherzigkeit als aus Großmannssucht und Gedankenlosigkeit. Ebenso gedankenlos nützt sie andere aus, und was man ihr nicht freiwillig gibt, fordert sie ohne die Spur von Scham. Zehn Jahre hat sie von Wurst und Käse gelebt, jetzt will sie Austern und Kaviar haben, natürlich auf fremde Kosten. Sie hat die seltsamsten Gepflogenheiten. Zum Beispiel wandert sie, wenn sie allein ist und sich langweilt, im Zimmer auf und ab, macht einer imaginären Person eine lange Nase und schneidet die scheußlichsten Grimassen. Fast jede Woche hat sie ihren melancholischen Tag, da läßt sie niemand zu sich, verhängt die Fenster, schminkt sich eine Dumme-August-Fratze zurecht und sitzt stundenlang am Klavier, mit dem Zeigefinger Melodien zusammenstoppelnd. Außer einer etwas negerhaften Putzsucht hat sie keine besonderen Passionen, ihr Erfolg als Tänzerin beruht mehr auf Clownerie als auf Kunst, trotz ihrer Robustheit ist sie hypochondrisch, medizinische Bücher sind ihre Lieblingslektüre, wenn sie sich in den Finger schneidet, wird sie ohnmächtig. Sie hält sich nicht für schön, aber sie weiß um den Zauber ihres Lächelns und der zwei Wangengrübchen, den Perlmutterglanz ihrer Haut und die sinnliche Ausstrahlung ihres Körpers. Von der Liebe hält sie nichts, hie und da ist sie der Anlaß zu einer Vergnüglichkeit, sonst lediglich ein Mittel, Karriere zu machen. So widerwärtig ihr der Gedanke an eine Ehe ist, einen Grafen zu heiraten wäre sie nicht abgeneigt. Primitiv. Aber solche Geschöpfe sind primitiv. Anfangs leugnete sie, mit Lorriner überhaupt zu tun gehabt zu haben. Sie habe ihn ein paarmal bei Nell Marschall gesehen, wo sie ihn auch kennengelernt, das sei alles. Das Gerücht über die Dokumente gehe auf ihren freundschaftlichen Verkehr mit einem Generalstabsoffizier der Reichswehr zurück, dessen Name in einem Spionageprozeß viel genannt worden sei. Etzel konnte ihr jedoch beweisen, daß sie innerhalb einer gewissen Zeit fast täglich mit Lorriner beisammen gewesen war. Und daß sie außer mit jenem Offizier auch mit einem berüchtigten Spitzel, der im Sold einer Rechtsfraktion stehe, lebhaft verkehrt habe. Zum Beispiel sei sie mit ihm in Leipzig gesehen worden. Sie preßte trotzig die Lippen aufeinander. Sie sagte, es könne bald der Moment kommen, wo sie seiner Impertinenz satt sei, dann werde sie ihn im Bogen hinauswerfen. Er schaute sie groß an. »So«, sagte er. Mit kurzem gestoßenem o. Weiter nichts. Sie kannte den Grund seiner Hartnäckigkeit. Eines Tages riß ihr die Geduld. »Dein Lorriner ist ein Schwein«, fuhr sie ihn an, »ich lass' ihn grüßen und ihm sagen, er ist ein Schwein. Wenn du dann noch weiter vor ihm auf den Knien rutschen und ihn als gottähnlich verehren willst, weißt du wenigstens, wie ich darüber denke.« Und in der unverkennbaren Absicht, Etzel alle Illusionen auf einmal zu rauben, setzte sie ihm mit grausamem Hohn auseinander, daß Lorriner die Papiere für zehntausend Mark ausgeliefert habe, einen genauen Umsturzplan mit topographischen Karten und einer Proskriptionsliste, die vierhundert Namen enthielt. Etzel blieb ruhig. »Aufgelegter Schwindel, Spatz. Erstens, was soll Lorriner mit dem Geld gemacht haben, wo soll es hingekommen sein? Für sich hat er jedenfalls keine Verwendung dafür. Zweitens ist er einer solchen Gemeinheit nicht fähig, das weiß jedes Kind, auch nicht, wenn man ihn vorher in Alkohol legt. Was steckt dahinter? Rede, Spatz, oder du wirst es bedauern. Wirklich, du wirst es bedauern. « Sie sagte: »Schluß mit Jubel. Drohen kannst du deiner Waschfrau.« Er redete ihr ins Gewissen. Er schmeichelte, er verlangte Angaben im einzelnen und hielt ihr deren Unwahrscheinlichkeit vor, bis sie schließlich, in die Enge getrieben, zugab, es habe sich nicht um eine so große Summe gehandelt, es sei ein Gedächtnisfehler. Kurzum, die zehntausend Mark schrumpften auf fünfhundert zusammen. Etzel lachte ihr ins Gesicht. »Und du meinst, ich soll glauben, ein Lorriner verkauft seine Seele für fünfhundert Mark?« rief er. »Was steckt dahinter, Spatz, was steckt dahinter?« Sie beharrte. Sie könne nichts anderes sagen. Er habe sich damals in einer scheußlichen Klemme befunden. Gelder, auf die er seit Monaten gewartet, seien ausgeblieben, eine Familie, der er Unterstützung versprochen, sei am Hungertod gewesen, er selber krank, kaum imstande, sich aufrecht zu erhalten. Es klang zumindest plausibel. Ob er ihr die Originaldokumente übergeben habe oder nur Abschriften, oder sie nur Einblick habe nehmen lassen, forschte Etzel wie ein Untersuchungsrichter. Sie wand sich und wollte sich nicht mehr erinnern können.

Was steckte also dahinter? Der Plan, den er schon bei dieser Gelegenheit erwog und den dann Lorriner, mit einer Geste bloß, aber wild genug zurückwies, nämlich ihn Emma gegenüberzustellen, ließ sich nicht durchführen. Da hätte er ihn und sie gefesselt zueinander bringen müssen. So viel war ihm alsbald klar: auf Seiten Lorriners war eine unsinnige, geradezu verrückte Leidenschaft im Spiel. Müde der billigen Eroberungen und einer Gleichförmigkeit der Abenteuer, die seiner trüb und unruhig flackernden Sinnlichkeit keine neue Nahrung mehr gab, war ihm Emma (Tänzerin! Künstlerin!) wie die Erscheinung aus einer andern Welt in den Weg getreten. Daß der finstere, in seinen Trieben so eindeutige Mensch bei der kapriziösen, herzenskühlen und gesellschaftlich streberhaften Emma kein Gehör gefunden, daß sie seine Huldigung verlacht, sein Werben verspottet und ihn zuletzt, da ihr jede Art von Besessenheit schreckhaft und zuwider war, hart hatte ablaufen lassen, daran war nicht zu zweifeln, es ließ sich aus den Charakteren rekonstruieren. Nicht ganz erklärlich war ihr unversöhnlicher Haß gegen ihn. Ihr war ja nichts zuleide geschehen, ihm hatte sie Leid zugefügt, und im Übermaß, nicht nur indem sie sich ihm in einer Weise verweigert hatte, als wäre sie ein unnahbarer Engel (daher rührte wohl auch die schwärmerische und reichlich komische Überzeugung Nell Marschalls von ihrer »Unschuld«), sondern auch dadurch, daß sie sich zum Lockvogel bei einer politischen Zettelung gemacht und allen Widerwillen vergessen hatte, um sich zur Delila herzugeben, die einen unbequemen Simson entmannt. Es sah beinahe aus, als habe sie nebst diesem niedrigen Auftrag noch den andern erhalten, ihre beleidigten und geschändeten Schwestern an ihm zu rächen. So was gibt es. Es gibt Solidarität des Geschlechts. Da hätte er ja dann seinen Lohn dahin, sagt sich Etzel, Don Quichotte der Gerechtigkeit, der er ist. Wenn er es auch um keinen Preis wahrhaben will, daß Lorriner, wie Emma behauptet, ein Unheil für die Welt und insbesondere sein, Etzel Andergasts, Verhängnis sei, in der einen Sache, wo sie selber nicht weiß, daß sie ein Werkzeug der Vergeltung ist, muß er still sein und die Augen niederschlagen. Er kann sich nicht recht rühren. Er kommt unter die Räder und wird überfahren.

Nun die Ereignisse, die zu Roderich Lüttgens' Selbstmord führten. Zwei oder drei Tage nach der Auseinandersetzung mit Lorriner, in deren Verlauf er hatte zugeben müssen, daß er in Verbindung mit Emma Sperling stehe, fiel Etzel das gedrückte Wesen Roderichs auf. Direkte Fragen und freundschaftliches Zur-Rede-Stellen hatten zunächst keinen Erfolg, der andere verschloß sich ängstlich. Er mußte seine gewohnten Umwege gehen und sich aufs Beobachten verlegen. Da ergab sich denn, daß der Mensch heillos in Emma Sperling verschossen war. Auch der. Wie die alle hineinsausten. Betrübliche Duplizität. Man kann doch nicht die Kinderfrau machen. Der Teufel hol dich, Spatz. An jenem Abend in der Bar war das Malheur geschehen. Von da an war er jeden Abend, an dem sie auftrat, im Theater. Nach der Vorstellung wartete er zwischen Ladenmädchen, Handlungsdienern und ähnlichen Enthusiasten am Bühnenausgang, um sie im Vorüberhuschen zu sehen. Täglich schickte er ihr, ohne sich zu nennen, Blumen in die Garderobe, eine Ausgabe, die über seine Verhältnisse ging. Durch Jessie Tinius, die sich nun mit seiner brüderlichen Freundschaft begnügen mußte, wurde er in die Siedlung eingeführt und machte die Bekanntschaft Eleanor Marschalls. Eines Tages traf er Emma bei ihr. Sie beachtete ihn kaum. Sie kam ziemlich regelmäßig zu Nell, das heißt dorthin, wo Nell war, mit dieser konnte man nicht allein sein, stets war eine Korona von Anhängern, Helfern und Hilfesuchenden um sie versammelt. Lüttgens fehlte nie. Er saß in einem Winkel und sprach kein Wort. Für ihn war nur Emma vorhanden. Je mehr seine Verliebtheit wuchs, je aussichtsloser erschien sie ihm. Er beging die üblichen Dummheiten, schrieb Briefe von zwanzig Seiten Länge, die er nicht abzuschicken wagte, stand halbe Nächte vor ihrem Haus in der Matthäikirchstraße und schaute zu den Fenstern empor, machte Gedichte und kaufte alle Bilder von ihr, deren er habhaft werden konnte. Doch es war ein tiefes Gefühl, eins, das den Menschen trägt und wandelt, nicht sinnliche Behexung wie bei Lorriner, noch weniger eine verspätete Jugendtorheit. Das eben übersah Etzel, als er wußte, wie es um den Freund stand; denn schließlich eröffnete sich ihm Roderich doch. Merkwürdiges Geständnis, er lag auf dem Bett, die Hände im Nacken gefaltet, und sagte, wie ihm zu Sinn sei, die Zukunft verdunkelt, das Herz wund, ganz, ganz hoffnungslos, aber bei alledem war er gefaßt, beinah heiter und nahm es als Schicksal. So hatte Etzel eine kleine Entschuldigung dafür, daß er die Art dieser Ergriffenheit so leichtfertig verkannte. Ihm war dergleichen nie passiert und würde ihm wahrscheinlich nie passieren, folglich sah er keine Realität darin. Jedoch dauerte ihn Roderich, er tröstete ihn nach Kräften und machte ihn aufhorchen, als er ihm sagte, er solle nicht den Kopf hängenlassen, er, Etzel, halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß ihm geholfen werden könne. Andern Tags sagte er zu Emma Sperling: »Du, Spatz, da ist einer, ein sehr guter Freund von mir, der verliert aus Liebe zu dir den Verstand, nimm dich doch ein bißchen seiner an.« Am folgenden Sonntag, nach dem Theater, brachte er Roderich zu ihr. Emma hatte unterdessen erfahren, daß Lüttgens der Unbekannte war, der ihr so oft Blumen geschickt, das rührte sie. Es stimmte sie gnädig. Sie sah einen jungen Menschen vor sich, dem sie alles bedeutete, was es Hohes und Schönes auf der Welt gibt, dessen Gesicht ein einziges Leuchten war, wenn sie ihn bloß anschaute, der zudem nach was aussah und einen populären Namen trug; schmeichelhaft. Sie fand es über die Maßen spaßig, daß Andergast sich so eifrig für den Freund einsetzte, in frivoler Gefallsucht schürte sie die Glut, statt sie niederzuhalten, gewährte kleine Freiheiten, entzog sich wieder, und einmal, als mehrere Freunde, die den Abend bei ihr verbracht hatten, gegangen waren, gab sie ihm ein Zeichen und behielt ihn bei sich. Damit war auch schon alles zu Ende. Sie empfing ihn nicht mehr. Sie wollte ihn nicht mehr sehen, wollte nichts mehr von ihm hören. Etzel fragte sie verwundert, was denn vorgefallen sei, weshalb sie ihm ohne ersichtlichen Grund den Laufpaß gegeben. Sie erwiderte brutal: »Soll ich ihn vielleicht zu meinem Favoriten auf Lebenszeit ernennen, deinen verliebten Kapaun? Leute mit Nervenkrisen gehören ins Sanatorium und nicht zu mir ins Bett.« – »Versteh' ich nicht, Spatz. Er hat doch ein Mädel. Du hättest Geduld mit ihm haben sollen ...« Da lachte sie wie toll, warf sich in den Handstand und baumelte mit den Beinen vor seiner Nase herum, daß er zurückfuhr. »Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, die nachts gut lieben, und keine hysterischen Schulbuben«, quäkste sie ihm vom Boden herauf zu.

Lüttgens war zwei Tage lang verschwunden. Er hatte einen Zettel in Etzels Stube gelegt, worin er ihn bat, den Eltern gegenüber sein Wegbleiben mit einer Ausrede zu erklären. Als Etzel ihn wiedersah, war er fast nicht zu erkennen. Schlottrig, hohlwangig, wie einer, der ein Verbrechen auf dem Gewissen hat, kam er ins Zimmer, reichte Etzel nicht die Hand, stand da, schaute stumm vor sich hin. »Wo kommst du her?« fragte Etzel. – »Von Lorriner.« – »Von Lorriner? Ich war gestern bei ihm, er hat nicht dergleichen getan...« – »Ich bin erst abends zu ihm gekommen. Hab' auf seinem Sofa geschlafen.« – »Und was geschieht jetzt? Du siehst aus, als seist du schon wieder auf dem Sprung.« – »Nein, ich muß auf Vater warten. Hab' mit ihm zu sprechen.« – »Wegen Lorriner am Ende?« – »Ja.« – »Was denn?« – »Kann's nicht sagen.« – An der Tür drehte sich Roderich wieder um, schien unschlüssig und bedrückt, fragte dann: »Sag mal, Andergast, hast du eigentlich was mit Hilde?« – »Warum?« – »Antworte zuerst.« – »Gott... wir haben uns ganz gern. Ist nichts Ernstes. Mach dir keine Sorgen.« – »Nichts Ernstes«, murmelte Roderich bitter, »das ist es ja... nichts Ernstes...« – »Was meinst du? Sprich dich doch aus.« – Und jener gequält, mit irrendem Blick: »Ich meine...weil es so ist...weil wir so leben...Nichts Ernstes...so gemein leben wir...« und mit einer Wendung ins Saloppe: »Na, behüt dich der Himmel, Alter. Können wir uns abends noch sehen?« – »Ja. Können wir.«

Zwischen fünf und sechs Uhr an diesem elften März fand das Gespräch zwischen Vater und Sohn Lüttgens statt, das auf den Entschluß Roderichs, zu sterben, nicht weniger Einfluß hatte als seine unglückliche Leidenschaft und in deren Verlauf die schrecklichen Eifersuchtsszenen, die ihm Jessie Tinius machte. Von diesem Gespräch erfuhr Etzel erst eine Woche nach der Katastrophe, eine Andeutung Hildes veranlaßte ihn, Doktor Lüttgens aufzusuchen, der um diese Zeit wieder leidlich hergestellt war und nicht zögerte, ihm den Inhalt des Gesprächs mitzuteilen. »Mein Sohn hat damals von mir verlangt, ich solle Jürgen Lorriner in meiner Zeitung rehabilitieren«, berichtete er mit seiner kränklichen verbrauchten Stimme; »Roderich war durchdrungen davon, daß es gefälschte Papiere waren, die man Lorriner herausgelockt. Lorriner scheint ihm diese Überzeugung beigebracht zu haben, so als ob es sich um eine bewußte Irreführung der Regierung gehandelt hätte. Derartige unsaubere Köder, durch die eine Partei die andere zu Unbesonnenheiten verlocken will, sind ja in unserm politischen Leben an der Tagesordnung. Auf meinen Einwand, daß in diesem Fall Lorriners eigene Leute für ihn eintreten müßten, antwortete Roderich, das habe Lorriner verschmäht, er habe selber das Tischtuch zerschnitten. Die Gründe wußte Roderich nicht, auch ich kenne sie bis heute nicht, aber um der bloßen Sensation willen und ohne schlagende Beweise konnte ich Lorriner das Blatt nicht zur Verfügung stellen. Ich bin ja verantwortlich. Sein Artikel hat mir vorgelegen. Roderich hatte ihn mir gebracht. Eine fulminante Schrift, außerordentlich geschickt in der Verteidigung wie im Angriff. Wir hätten damit möglicherweise eine bedeutende Kraft zu uns herüberziehen können. Ich hatte das Vertrauen nicht. Ich mußte ablehnen. Mein armer Junge schien sich Lorriner gegenüber verpflichtet zu haben, er geriet in schreckliche Erregung, zum erstenmal gab es zwischen uns böse Worte ... Aber ich konnte ihm nicht zu Willen sein. Ich konnte nicht.« Er schwieg und zupfte nervös an seinem grauen Bart. Etzel erinnerte sich plötzlich an die überschäumende Lustigkeit Roderichs am letzten Abend seines Lebens. Solche Lustigkeit (oder Lust?), Aufhebung der Schwere, kommt wohl erst über den Menschen, wenn er ganz mit sich im reinen ist, dachte er. Keine Emma Sperling mehr, kein Lorriner, keine Hilde, keine Jessie, kein unerbittlicher Vater, kein blöder, blinder Etzel Andergast mehr: Frieden. Unflat, Dummheit, Stunk und Krach im Rücken, vor sich: Frieden. Das macht offenbar lustig. Aber Roderichs Tod zeigte sich nun in einem neuen Licht, vielmehr, es kam ein Licht hinzu. Es sind eben viele Stöße nötig, um einen Menschen so weit zu bringen.

Vorerst konnte er weder klar denken noch planmäßig handeln. Die Katastrophe mit Roderich lag ihm in den Knochen wie eine schlecht überstandene Krankheit. Daß er so ahnungslos gewesen und dann vor der vollzogenen Tatsache mit offenem Maul gestanden war, bäh, das wurmte ihn, beschämte ihn und schraubte sein Selbstgefühl auf den Nullpunkt herunter. Wozu bin ich denn gut, klagte er in sich hinein, wenn sie sich vor meinen sehenden, allerdings miserabel sehenden Augen die Hirnschale zertrümmern, weil sie Dinge für unwiderruflich halten, die man mit einem Minimum von Grütze einrenken kann, wozu bin ich denn gut, wenn sie mir nichts dir nichts die Flinte ins Korn werfen und es nicht mal der Mühe wert finden, einem richtig adieu zu sagen, bevor sie sich trollen. Kurzum, seine Verzweiflung war groß, viel größer, als er merken ließ und als sogar Kerkhoven ermaß. Lorriner war für ein paar Tage nach Hamburg gefahren, er kam von dort mit den fertigen Plänen zu dem Putsch in Neukölln zurück, von dem gleich die Rede sein wird und der mittelbare Anlaß zu der schweren Kopfwunde war, mit der Etzel in die Anstalt Kerkhovens flüchtete. Es dauerte ziemlich lang, bis er Lorriners habhaft wurde, es schien, als ginge ihm der geflissentlich aus dem Weg. In der Tat wechselte Lorriner während dieser Zeit dreimal seine Wohnung, wahrscheinlich, um sich den polizeilichen Recherchen zu entziehen. Als er sich in der Glasgower Straße eingemietet hatte, kamen viele Leute zu ihm, die nicht aussahen, als sei es ihnen um ein Plauderstündchen zu tun. Er hatte einen scheuen Blick und war unstet wie eine Ratte. Eines Abends, nachdem sie eine halbe Stunde in einem gewittrigen Schweigen voreinander gesessen waren, fing Etzel an, von Lüttgens zu sprechen. Da sprang Lorriner auf, packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn, daß ihm Hören und Sehen verging, und sagte mit hohl rasselnder Stimme: »Wußte gar nicht, daß du auch Kuppelgeschäfte betreibst, du Scheißkerl. Besser, du hältst die Fresse, noch einen Ton, und die Nase sitzt hinten.« (Er hatte also Wind bekommen von der Geschichte mit Roderich und Emma Sperling, hatte es die ganze Zeit in sich hineingewürgt. Wer mochte es ihm zugetragen haben? Vielleicht war ihm auch Roderichs Zustand aufgefallen, er hatte ja solche Macht über ihn besessen, daß es ihn keine Anstrengung hatte kosten können, ihn zum Beichten zu bringen.) Etzel erhob sich. »Hände weg!« befahl er leise. »Hände weg, sag' ich! Du kannst mir den Schädel einschlagen, wenn dich das freut und du mich dazu kriegst. In dem Fall hab' ich mich nur vorzusehen. Aber anrühren? Anrühren wirst du mich nicht mehr. Verstanden?« Lorriner wich in geduckter Haltung zurück. »Den Schädel einschlagen?« murmelte er mit dem zerrinnenden Lächeln. »Du, das ist eine glänzende Idee. Daran hab' ich noch gar nicht gedacht. Sieh mal an, was das Männeken für Erleuchtungen hat.« – »Diese Alternative interessiert mich aber nicht«, fuhr Etzel trocken fort, »la guerre comme à la guerre. Was mich ausschließlich interessiert, weißt du. Solltest du's vergessen haben, so wende dich an den andern Lorriner, mit dem du zusammen schläfst. Vielleicht sagt er dir's im Schlaf.« Lorriner zog die Schultern bis an die Ohren, wollte antworten, bekam aber einen heftigen Hustenanfall. Mitten im Keuchen stieß er die Worte hervor (es klang als erbräche er sie): »Ich wollt', ich hätt' dich nie erblickt. Ich wollt', du bliebst mir überhaupt vom Leibe.« – Etzel warf sich auf einen Stuhl und bohrte die Hände in die Hosentaschen. »War ja wieder ein Meisterstück von dir, den armen Lüttgens ins Trommelfeuer zu schicken«, sagte er. Lorriner fuhr herum, wagte aber nicht, etwas zu entgegnen. »Jaja«, sprach Etzel weiter, »die guten ins Töpfchen. Nützliche Sache. Man muß nur Dumme finden. Selber spielt man dann den großen Mann.« (Wir werden diese Stimme noch einmal hören, diese Tonart noch einmal, dann wird der Gehetzte, zur Raserei gebracht, versuchen, dem Bedränger den Mund zu verschließen, den Ausgang kennen wir ja.) Eine Weile herrschte Schweigen. Lorriner ging auf und ab und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, die von dem Hustenanfall mit Schweiß bedeckt war. Endlich sagte er: »Von deiner Welt zu meiner Welt ist kein Weg. Das hätt' ich früher begreifen müssen. Ihr tut alle nur so. Da ist und ist kein Weg.« – »Mag schon sein«, erwiderte Etzel, »dafür sorgt ihr schon selber, daß keiner ist. Der Haß kann nichts bauen.« – Lorriner blieb stehen. Er streckte die Hand aus und sagte mit abgekehrtem Gesicht: »Laß mich nicht im Stich. Mensch. Und wenn, dann nicht grad jetzt. Vielleicht wirst du mit mir zufrieden sein. Nur kneif nicht.« Zögernd ergriff Etzel die dargereichte Hand. Aber mit dem Glauben war es vorbei. Es gibt Erlebnisse, die in der Erinnerung wie Visionen sind, denn die echte Vision ist der Wirklichkeit an Kraft und Dauer überlegen. Sie drücken nicht bloß eine abgeteilte Zeit und ein spezifisches Geschehen aus, sondern einen Weltzustand. Das Irreführende der Nähe vergeht, ein umfassendes Gefühl von Schicksal bleibt. Wenn Etzel später an die Stunden zurückdachte, die er, mehr hingezogen als hingehörend, mehr schauend als tätig, im schrecklichen Getümmel des Aufruhrs verbracht hatte, erschien ihm das Bild eines Menschen, und dieser Mensch war er selber, der am ungeheuren Klöppel einer Ungeheuern Glocke angebunden ist und mit dem nach rechts und links an die gewaltig tönende Metallwand schwingt.

Es war eine großangelegte Aktion. Daß Lorriner auf eigne Faust gehandelt hatte, stellte sich erst heraus, als der Anschlag mißglückt war und ihm diejenigen, die sonst mit ihrer Anerkennung nicht gekargt hätten, die Verantwortung in die Schuhe schoben. Auf einen Gewaltstreich kam es ihm an. Wenn er gelang, war seine Stellung gesichert, waren seine Sünden vergessen. Aber er begann schon mit dem Fehler, daß er sich zuerst an eine auswärtige Gruppe wandte und sich von dort Unterstützungsgelder verschaffte. Die Zentralleitung fühlte sich überrumpelt. Wichtige Befehle gingen über Nebenstellen, deshalb konnten zum Beispiel die Sturmabteilungen erst viel zu spät eingesetzt werden.

Von dem, was sich vorbereitete, hatte Etzel keine Ahnung. Er gehörte nicht zu den Eingeweihten, man hielt ihn nicht einmal für einen Parteigänger, man ließ ihn mitlaufen. Niemand nahm Anstoß an seiner unklaren Haltung, nicht bloß, weil ihn Lorriner deckte oder irgendein anderer, der gerade was zu sagen hatte, sondern weil das eben die Form war, die alle für ihn gelten ließen, stillschweigend, jetzt wie früher. Außerdem hatte er auch hier seine Freunde, die ohne Rücksicht auf politische Anschauungen zu ihm hielten, in Familien, auf den Arbeitsstätten, unter den Stemplern. Um halb sechs kam er zu Lorriner, als dieser mit mehreren seiner Leute, äußerst entschlossen aussehenden Burschen, seine Wohnung verließ. Lorriner gab ihm einen Wink, ihnen zu folgen, unten stand ein Taxi, sie fuhren los. Von da an war alles Traum. In einer Seitengasse sind sie aus dem Wagen gestiegen, Lorriner und seine Leute sind verschwunden. Was ihm Lorriner zugerufen, hat er nicht mehr gehört. Eine tausendköpfige Menge hat ihn verschluckt, schiebt ihn weiter und weiter. Es riecht nach Kohlenrauch und Schweiß. Zuerst sind sie unheimlich ruhig, die Tausende, plötzlich steigt ein vereinigter Schrei aus der Masse empor, die Bewegung wird zum Krampf, alles stiebt nach allen Richtungen auseinander, die Straßenbeleuchtung erlischt, Etzel ist wie blind, tastet sich vorwärts, die Straße ist leer, in seinem Hirn spukt ein Reim herum, mit dem ihn seine Großmutter geneckt, als er ein kleiner Bub war: armer Etzel, ganz allein, muß in die weite Welt hinein. Panzerautos rattern in die verdunkelte Straße, die Mannschaft hochaufgerichtet, die Karabiner schußbereit im Arm. Es ist Weisung ergangen, daß in den Häusern kein Licht brennen darf, auf jeden, der sich am Fenster zeigt, wird geschossen. An den Mauern huschen Schatten entlang, in den Lichtkegeln der Scheinwerfer tauchen in fahlen Bündeln wutverzerrte Gesichter auf, Scharen von Halbwüchslingen drängen sich schrill johlend und pfeifend unter den Haustoren, auf den Dächern kauern Leiber, die sich gegen den düsterlohenden Himmel wie Aufsatzfiguren abheben, Schüsse kreuz und quer, explodierende Handgranaten, da und dort das dumpfe Kommando: Hände hoch, ein Platz, angestopft mit Ballonmützen, die tief über die Augen ihrer Besitzer gezogen sind und aussehen, als trieben phantastische Pflanzen auf einem finstern Wasser. Etzel geht ziemlich ruhig, ziemlich ungerührt durch die verrückte Hölle, mehrmals hat er das Gefühl, daß ihn die Kugeln durchlöchern, ohne daß er was merkt, er hat nicht acht auf Zeit und Weg, auf einmal wird er am Arm gefaßt, es ist eine junge Person, die bei der Roten Hilfe arbeitet, er kennt sie durch Hilde Lüttgens, sie zieht ihn schweigend vorwärts, in der Bergstraße schiebt sie ihn durch eine Tür in ein Lokal. Sie nimmt wohl an, daß er sich verlaufen hat und seinen Freund Lorriner sucht; wo der sich aufhält, weiß sie. Im Winkel eines dielenartigen Raums brennen ein paar Kerzen auf einem langen Tisch, vor diesem sitzt Lorriner und schreibt. Er fertigt Befehle aus, junge Leute kommen und gehen, einige stehen um den Tisch herum, dies ist offenbar das Parteibüro, eine Art Hauptquartier, Etzel tritt an den Tisch und schaut und schaut, Hände auf dem Rücken, ein einziges Mal begegnet sein Blick dem Lorriners, und nachdem er eine ganze Weile geschaut hat, entfernt er sich wieder. Er trifft auf eine Kette von Schupoleuten, die ihn nach einigen Fragen passieren lassen, dann wandert er in tiefen Gedanken der Stadt zu. Bis Mitternacht treibt er sich planlos umher, dann fängt er an, Lorriner in verschiedenen Bars, Weinstuben und Cafehäusern zu suchen, wo sie einander zu treffen gewohnt sind. Er findet ihn nirgends. Gegen drei Uhr nachts stößt er zufällig auf einen gewissen Kahlbaum, es ist einer von denen, die Lorriner am Nachmittag abgeholt haben, der teilt ihm mit, daß Lorriner in einer Kneipe in der Windhuker Straße sitzt. Er geht hin. Es ist eine räucherige Stube, eine Kellerwirtschaft, keine Seele mehr da außer Lorriner. Er hat die Ellbogen auf die schmierige Tischplatte gestützt, den Kopf zwischen den Händen, grüßt nicht einmal, als Etzel sich zu ihm setzt, stiert bloß, seine Augen sind blutunterlaufen. Eine halbe Stunde vergeht, keiner redet eine Silbe, da erscheint der Wirt und setzt sie an die Luft. Nachdem sie etwa dreihundert Meter auf der völlig verödeten Straße gegangen sind, bleibt Etzel stehen und spricht in die Stille der Nacht hinein: »Also der feurige Ofen, das ist ein unbrauchbares Möbel, den wollen wir mal in die Rumpelkammer stellen, Lorriner. Hab mir's jetzt überlegt. Sehe ein, daß es schlauer ist, in der Direktionskanzlei zu hocken und mit dem Federhalter zu kämpfen als selber auf die Barrikaden zu steigen. Eklige Sache. Kann dir das nachfühlen. Bluten sollen die andern. Dazu sind sie da.« Herausforderung sondergleichen. Ihr offener Hohn entspringt der endgültigen, unheilbaren Enttäuschung. Neuer Bruch. Neuer Absturz. Es ist einer der Momente, wo sich innere Umwälzungen vollziehen, die sich erst nach langer Zeit auswirken. Er hat Lorriner den Weg vertreten, schaut ihn von oben bis unten an, wobei seine Lippen beben, dann macht er kehrt, um allein weiter zu gehen. Lorriner stöhnt auf. Er langt in die Tasche, zieht den Schlagring hervor, holt aus und läßt ihn dreimal mit voller Wucht auf Etzels Hinterkopf niedersausen. Als der Hingestreckte sich nicht mehr bewegt, nickt der Meuchler befriedigt. Das Nicken bedeutet: Jetzt hab' ich Ruhe vor dir. Dann geht er gleichmütig weiter.

Etzel lag anderthalb Stunden bewußtlos auf dem Pflaster. Der Kopf hing über den Randstein. Kein Mensch ging während dieser Zeit vorbei. Als er aus der Ohnmacht erwachte, dämmerte es. Er kroch quer über den Bürgersteig, lehnte sich an die Hausmauer, verband sich notdürftig mit seinem Taschentuch und schleppte sich langsam bis zur Afrikanischen Straße, wo ihn eine vorüberfahrende Autodroschke aufnahm.

In den ersten Tagen, wo er ganz stilliegen mußte, war er bemüht, ein wenig Ordnung in sein Inneres zu bringen. Es war sehr notwendig. Es sah aus da drin wie in einem Magazin vor einer Versteigerung. Er dachte viel über Lorriner nach. Er empfand nicht den geringsten Groll gegen ihn. Er sagte sich: Urteilt man unvoreingenommen, so hat der Mensch in berechtigter Notwehr gehandelt. Wenn einer das mir tut und mir nicht von der Pelle geht und absolut einen Arnold von Winkelried aus mir machen will, was doch schließlich ein fauler Zauber ist, reißt mir wahrscheinlich auch der Geduldsfaden; bei Licht besehen, hab' ich mich aufgeführt wie ein Kamel; nichts zugelernt, die Realität der Dinge nicht begriffen. Als er so weit mit sich im reinen war, schrieb er einen Brief an Lorriner, sehr freundlich, sehr trocken, worin er ihm mitteilte, daß er den häßlichen Zwischenfall als ungeschehen betrachte, es aber im beiderseitigen Interesse für wünschenswert halte, daß sie einander nicht mehr begegneten. Dieser Entschluß wurde ihm natürlich durch den zunehmenden Einfluß, den der Umgang mit Kerkhoven und seine beruhigende Nähe auf ihn hatten, wesentlich erleichtert. Eine seltsame Verzagtheit hatte sich seiner bemächtigt, ja, es kam vor, besonders in der Nacht, daß er sich einer herzeinschnürenden Angst zu erwehren hatte, als sei er dem nicht mehr gewachsen, was ihm bevorstand. Aus der Finsternis riefen Stimmen nach ihm, erst leise, dann immer lauter, erst mahnend, dann ungeduldig, dann befehlend. Er antwortete: Was wollt ihr, ich bin ja da, ich kneif doch nicht, zuletzt bohrte er die Finger in die Ohren, um nicht mehr hören zu müssen. Zitternd, schweißnaß wartete er auf den Anbruch des Tages, und wenn es Tag war, wartete er sehnsüchtig auf Kerkhoven. Da er ein unglaublich feines Gehör hatte, erkannte und unterschied er seinen Schritt, sobald er den Korridor betrat, dann starrte er auf die Tür, sein Puls ging schneller und schneller, endlich öffnete sich die Tür, und die hohe Gestalt mit der wundervollen Stirn und den unsagbaren Augen erschien, ja sie erschien und verjagte den Nacht- und Dämmerspuk.

Nur der Auflockerung seines Wesens, die einen Instinktverlust bedingte, war es zuzuschreiben, daß er seinem Vorsatz, Lorriner nicht mehr zu sehen, untreu wurde und sich neuerdings in Gefahr begab, in größere als vorher. Durch Emma Sperling, die von Nell Marschall wußte, daß er in der Kerkhovenschen Anstalt war, erfuhr er, daß Lorriner sein Quartier verlassen und in der Siedlung Unterschlupf gefunden hatte. Lorriner hatte Ursache, sich eine Weile zu verstecken, der Überfall auf Etzel machte ihm noch die wenigsten Sorgen; von ihm hatte er keine Anzeige zu befürchten, daß er ihn anderswie verfolgte, schloß sich aus, auch wenn er ihn nicht fürs erste knockout geschlagen hätte. Nell Marschall nahm ihn mit offenen Armen auf. Sie traf die umsichtigsten Vorkehrungen für seine Sicherheit, brachte ihn sogar, um unliebsame Begegnungen zu verhindern, in einem entlegenen Raum ihrer eigenen Wohnung unter, wo sie ihn betreute und ihm in ihren freien Stunden Gesellschaft leistete. Sie bewunderte ihn mit dem ganzen Schwung, dessen sie wie wenig andere Frauen fähig war, außerdem lebte sie in bezug auf ihn und seine Existenz in einem Gespinst phantasievoller Fiktionen, die mit der Wirklichkeit kaum noch etwas zu schaffen hatten. Freilich war ihr Verhältnis zu fast allen Dingen und Menschen so, durchaus illusionistisch, von einem vorsätzlichen Optimismus getragen; das hing mit ihrer amerikanischen Herkunft und Erziehung zusammen. Hätte ihr jemand den Beweis geliefert, daß sie ihre Begeisterung an einen Unwürdigen verschwende, sie hätte nur ein verächtlich-entrüstetes Lächeln dafür gehabt. Da sie ungewöhnlich klug und ebenso scharfblickend war, wußte sie vermutlich an einer heimlichen Stelle ihres Intellekts recht gut Bescheid, aber sie begehrte dieses Wissen nicht, sie ließ es nicht in sich aufkommen. Fiktion Nr. 1: Lorriner, das große politische Genie, das am Neid und an der Undankbarkeit der Zeitgenossen scheitert. Fiktion Nr. 2: Dieser große Mensch nicht nur verkannt, sondern auch umdüstert von einer tragischen Liebe, die ihn zur Entsagung zwingt. Dem Gegenstand dieser Liebe galt dann logischerweise die Fiktion Nr. 3: Emma Sperling, stolzes jungfräuliches Geschöpf, dessen einziges Lebensziel die Kunst ist, rührende Nachtwandlerin, die man nicht aus ihrem holden Trancezustand reißen darf. Wer darin ein zu bestimmtem Zweck errichtetes Lügengebäude sehen wollte, ginge in der Beurteilung einer solchen Natur sehr fehl, diese Dichtungen wurden mit unheimlicher Kraft festgehalten, sie waren ein Lebensbedürfnis, und nicht allein jede Kritik, auch jede Tatsache prallte machtlos an ihnen ab. Was Emma Sperling betrifft, so ließ sie sich die Idealisierung seelenruhig und vergnügt gefallen. Es wäre unpraktisch gewesen, die Märchengestalt zu zerstören, die sie für Nell darzustellen hatte; sie war Nell verpflichtet für vielfache Förderung, sie hielt sie für unermeßlich reich und war ihr auch in ihrer tierchenhaften Weise zugetan. Ihr widersprechen war ein Ding der Unmöglichkeit, auch konnte man ihr nicht gram sein, sie war die aufopferndste Freundin und fühlte sich nur glücklich, wenn sie helfen und sich für die Ihren einsetzen konnte. Aber man mußte offen erklären, daß man zu den Ihren gehörte. Man mußte es immerfort und bei jeder Gelegenheit erklären.

Sie war vielleicht der einzige Mensch, dem Lorriner Vertrauen schenkte. Ihre Anbetung duldete er mit einem paschahaften, etwas mürrischen Ernst. Ihre Vorhaltungen über sein unvernünftiges Leben, die zerstörerische Wildheit seines Temperaments hörte er schweigend an und schien bisweilen zerknirscht. Manchmal machte er ihr schwerwiegende Geständnisse, die bis zu einem gewissen Grad aufrichtig waren und durch die er sein Verlangen nach Selbstgeißelung befriedigte. Während der zehn Tage, wo sie ihn beherbergte, war er schlimmen Depressionen ausgesetzt, die unvermittelt in heftige Erregungszustände übergingen. Sie ahnte den wahren Charakter des Leidens nicht, sprach auch mit niemand darüber. Daß zwischen ihm und Andergast eine entscheidende Auseinandersetzung stattgefunden, erwähnte er gleich am ersten Abend; es ließ ihm offenbar keine Ruhe, er kam immer wieder darauf zurück und bekannte schließlich, daß die Sache nicht eben glimpflich für den jungen Menschen geendet habe. »Wie denn«, erkundigte sie sich atemlos, »erzähle.« Da erzählte er es. Nell erschrak gewaltig. Da er sich mit dem Tatsachenbericht begnügte, ohne sich auf die Beweggründe einzulassen, und sie ihn bei aller Verhimmelung von einem verbrecherischen Anschlag nicht ganz freisprechen konnte, blieb ihr nichts übrig, als die Reihe der Fiktionen um eine zu vermehren. Sie wußte von tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Lorriner und Andergast; ferner wußte sie, daß zwischen diesem und Emma Sperling eine Beziehung bestand, die, so unschuldig sie in Nells Augen war, dennoch für Lorriner (wie sie Lorriner sah) eine Quelle unerträglicher Seelenpein geworden sein mußte, so daß er schließlich die Besinnung verloren und sich von dem Rivalen, in zwiefachem Sinn Rivalen, zu befreien gesucht hatte. Aus diesen beiden Motiven erwuchs die Fiktion Nr. 4: Etzel Andergast, ein satanischer Geist, mephistoähnlich, der den Freund verriet und das ätherische Märchenwesen bedrohte. Diese Redaktion der Wirklichkeit bestimmte dann ihr Verhalten in den Unterredungen mit Kerkhoven.

Der Absagebrief Etzels versetzte Lorriner in eine unbeschreibliche Wut. Mit Schaum vor dem Mund schwor er, er werde dem Dreckbuben das Genick umdrehn, der Lump müsse erledigt werden, die erste Lektion sei vorbeigelungen, die zweite werde besser glücken. Aber gerade dieser Ausbruch legte die geheimnisvollen Fäden bloß, die ihn mit Andergast verbanden. In seinem Unbewußten hatte er auf Versöhnung gehofft; der, an dem er sich menschlich messen konnte, in dessen Aug und Sinn er gleichsam auferstanden war, entzog sich, paschte ab, überließ ihn seinem lichtlosen, seinem maßlosen Geschick: übel, sehr übel, in keiner Weise auszuhalten, daneben fiel der Denkzettel nicht ins Gewicht, den er ihm gegeben, so was kommt doch mal vor unter Kameraden...Nell Marschall wurde äußerst besorgt. Sie sah voraus, daß Lorriner über kurz oder lang seine Freiheit wiederzuerlangen wünschte und seine Drohungen zur Tat machen würde; so wandte sie sich an Emma Sperling und trug ihr auf, Andergast zu warnen; sie fand es am ratsamsten, wenn er für einige Zeit verreiste. Emma stimmte ihr zu und besuchte Etzel in der Anstalt.

Auch von anderer Seite wurde Etzel bedeutet, er möge sich vor Lorriner hüten. Es stehe bedenklich mit ihm, alle seine Bekannten gingen ihm aus dem Weg. Er war in die Glasgower Straße zurückgekehrt, den Tag über sperrte er sich ein, bei Nacht strich er in den Straßen umher. Ja, das war die richtige Bezeichnung, er strich umher wie ein Wolf und suchte Etzel Andergast. Der Gedanke an Andergast beherrschte ihn ausschließlich. Allen möglichen Leuten gab er zu verstehen, daß er bald ein Ende machen werde. Es war sein Wahn. Etzel hatte keine Angst. Er lachte anfangs über die Warnungen. Es kam aber doch so, daß er sich beengt und allerorten umstellt fühlte. Etwas in ihm erschlaffte und wurde schwach. Er sagte zu sich selbst: Du wirst feig, E. A. (so redete er sich oft an: E. A.), und läßt dich von einem Gespenst ins Bockshorn jagen, in dieser Tonart geht's nicht weiter. Er geriet in Verwirrung. Er hatte Halluzinationen. Es war wie ein seelischer Schwindel. Am Tag, wo er bei Kerkhovens zu Mittag war, hatte er Lorriner wissen lassen, er werde zu ihm kommen. Er mußte mit ihm »fertig werden, so oder so«, wie er zu Marie sagte. Der Einfall, Emma Sperling mitzunehmen, kam ihm ganz zuletzt. Er zweifelte freilich an der Ausführbarkeit und war auf Emmas Weigerung gefaßt. Von dem Zweck, der damit erreicht werden sollte, hatte er nur unklare Vorstellungen. Es war wieder die alte Zwangsidee von Konfrontation. Der Gerechtigkeitsfimmel. Noch immer war die Schuld Lorriners in der Dokumentengeschichte nicht erwiesen. Wenn schon Abrechnung, dann Generalabrechnung, dachte er. Daß es sich um »Abrechnung« längst nicht mehr handelte, entging ihm in seiner Verstörtheit. Er mußte in der Matthäikirchstraße fast eine Stunde auf Emma warten. Als sie eintrat, saß er vor einem Haufen Chrysanthemumblättern. In seiner Nervosität hatte er sieben oder acht von den großen Blüten nacheinander aus der Vase genommen und zerrupft. Jetzt war ihm leid um die Blumen. Er hatte ihr etwas antun wollen, nicht den Blumen. Seit Roderichs Tod war sie ihm in der Seele zuwider. Er ließ ihr nicht Zeit zu ärgerlichen Bemerkungen, sprang auf und sagte ihr, weshalb er da sei. Sie war sprachlos. Seine Miene, die Stimme, der Blick schüchterten sie dermaßen ein, daß ihr Herzschlag stockte. Er packte sie am Handgelenk, um sie mit sich zu ziehen. Sie rief: »Um Himmels willen, Mensch, warte wenigstens, bis ich mich bemalt habe.« Sie eilte zum Spiegel und »bemalte« sich. Sie überlegte dabei. Sie preßte die Hände an die Wangen und schaute furchtsam zu ihm zurück. Er stampfte vor Ungeduld auf den Boden. Sie sagte: »Wenn du bei Trost wärst, tät' ich's nicht. Aber du bist nicht bei Trost, so mag's also sein.« Neugier und Sensationslust hatten ihren Widerstand besiegt. Hätte sie den Ausgang geahnt, nichts hätte sie bewegen können, ihm zu Willen zu sein, auch nicht die Angst, die sie vor ihm empfand. Lorriner wurde erdfahl, als er ihrer ansichtig wurde. Etzel schien er zunächst gar nicht zu gewahren. Er wich langsam zum Fenster zurück, umklammerte die Klinke mit der rechten Hand, die linke streckte er gegen Etzel aus, und mit pfeifender Stimme richtete er drei Fragen an Emma, die sie alle drei mit einem kurzen Kopfnicken beantwortete. Halb machte es den Eindruck, als finde sie es nicht mehr der Mühe wert, zu leugnen, halb als erliege sie der dämonischen Gewalt des Moments. In ihrer Haltung war sogar etwas Wollüstiges, eine grausame lüsterne Freude. Ja: sie hat ihn ins Netz gelockt. Ja: sie hat ihn betrunken gemacht. Ja: sie hat ihm die Papiere aus der Tasche gezogen. Schön, und? Was ist dabei? Lorriner verbeugte sich unzählige Male vor ihr und begleitete jede der Verbeugungen mit einem gräßlichen Gelächter. Dann wandte er sich zu Etzel und schrie, indem er die Arme im Kreis in den Gelenken schwang: »Na, was sagst du, Baron? Was sagst du zu der Hure? Sieh dir's nur recht genau an, das Saumensch... von wegen ... du weißt schon ... von wegen der Integrität.« Um gleich darauf vor Emma auf die Knie zu stürzen und vor ihren Füßen die Stirn auf den Boden zu schlagen.

Und dann kam der Anfall, der damit begann, daß er sich die Kleider vom Leib riß.


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