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Mit Kerkhoven zu sprechen, in seiner Eigenschaft als Arzt nämlich, hatte sich Etzel Andergast leichter vorgestellt, als es war. Obwohl die Ordination erst um neun Uhr begann, war das Wartezimmer schon eine Stunde vorher überfüllt. Zwei Frauen in Pflegerinnentracht schrieben die Namen auf und sorgten für Einhaltung der Reihenfolge. Eine Anzahl ambulanter Fälle stand in der Behandlung des Assistenten Doktor Römer, zu dessen Ordinationsraum einer jener langen Korridore führte, die charakteristisch für die Bauart Berliner Häuser sind. Das Haus lag am Ende der Großen Querallee, ein solides zweistöckiges Gebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit einem Portal, das einen Renaissancepalast vorspiegelte. Bis zum Umsturz hatte eine landwirtschaftliche Bank darin amtiert. Im oberen Stock befand sich Kerkhovens Privatwohnung, wo er sich allerdings nur von Mitternacht bis sieben Uhr morgens aufzuhalten pflegte, und auch das nicht immer. Seit er die Leitung der ehemaligen Werther-Frangoisschen Nervenheilanstalt übernommen und sie mit Hilfe staatlicher Zuschüsse nach seinen Ideen und Plänen ausgebaut hatte, brachte er zwei- oder dreimal wöchentlich dort die Nacht in einem primitiven Schlafraum zu.
Andergast war spät gekommen. Es lag ihm nicht daran, bald vorgelassen zu werden. Eigentlich wünschte er der letzte zu sein. Es war unbehaglich, an Wartende denken zu müssen, wenn man Gewichtiges vorzubringen hatte. Um nicht in müßige Erwägungen über den Ausgang seines Unternehmens zu verfallen, widmete er seine Aufmerksamkeit den Menschen ringsherum, fünfzehn bis zwanzig Gesichtern und doppelt so vielen Augen, Schultern, Händen, Schenkeln und Füßen. Bei seinem entwickelten Sinn für das Soziale und der unzähmbaren Wißbegier danach schöpfte er Belehrung aus jeder Gebärde und Miene, aus der Haltung, der Frisur, der Beschaffenheit der Fingernägel und des Schuhwerks. Anhaltspunkte, die es bei einiger Schärfe der Beobachtung nicht schwer machen konnten, Beruf, Lebensweise, Charakter und Temperament zu bestimmen. Dennoch wußte er, daß das Vergnügen an diesem Spiel oft nur so lang dauert, bis es sich vor der Wirklichkeit als Knacken leerer Nüsse herausstellt. Vielleicht war die überelegant gekleidete Person mit dem gipsweißgepuderten Gesicht, den traubengrünen Fischaugen und hennagefärbten Nägeln keine Filmstatistin oder Sängerin in einem Vorstadtkabarett, sondern Kassiererin in einem Handschuhladen oder ehrbare Gattin eines Automobilagenten; man konnte nie sicher sein, die Grenzen verwischen sich immer mehr, Kleinbürgerinnen sahen aus und betrugen sich wie Kokotten, Schnapsfabrikanten waren nicht von Pastoren zu unterscheiden, Reporter nicht von Diplomaten, und umgekehrt. Die einen gaben es nach oben hin etwas billiger, die andern nach unten hin etwas teurer, jeder wollte das am wenigsten sein, was er war. Immerhin müßte man abschätzen können, ob der kahlköpfige Herr in der Ecke, der mit übergeschlagenen Beinen hochmütig zurückgelehnt dasaß, nichts als eine aufgeblasene Null war, Deklassierter, der es sich selbst verhehlte, oder ob er nicht doch einigen Grund zu der lässigen Überlegenheit des einflußreichen Mannes hatte, die er zur Schau trug. Dann der blasse ältere Herr im Gehrock mit der edlen »Denkerstirn«, der neben der Büste von Helmholtz saß; es hatte den Anschein, als sei sein Hirn der Geburtsort eines neuen philosophischen Systems; ebensogut konnten ihn aber die armseligsten Erwägungen beschäftigen, die Höhe der Lebensmittelpreise, Zwistigkeiten in der Familie, ein ärgerlicher Wortwechsel im Amt. Der wie ein lächerlicher Prahler wirkte, konnte ein aufopfernder Bruder sein, die gütigblickende Matrone eine Verleumderin, der Schwätzer, der unaufhörlich seine Nachbarn belästigte, ein genialer Erfinder. Warum konnte man nicht in sie hineinschlüpfen und sie gleichsam überführen, eines jeden Maß und Wahrheit erkennen, seine offene und seine geheime Existenz? Während der junge Mensch mit kalter Ruhe die ungeheuer fremden Gesichter betrachtete, in denen sich Erwartung, Ungewißheit, Hoffnung, Angst und Kummer erschreckend deutlich malte, bekam er einen Begriff von der Macht des Mannes, der sie zwingen konnte, ihm ihre gehütetsten Geheimnisse preiszugeben. Es war Hineingenommenwerden in die Spannung und Willenslockerung all dieser Unbekannten, als wenn der Geist, der hier herrschte, ihn angerührt hätte, und er empfand eine unbestimmte Furcht. Es fehlte nicht viel, und er wäre aufgestanden und weggegangen. Er konnte keinen brauchen, der den eisernen Tresor aufsprengte, um die unter Verschluß gesetzte Seele zu beäugen. Aber wer sollte das fertigbringen? Unsinn. Er wollte ja nichts für sich, kam ja nicht in eigener Sache, es ging um eine andere Person, er selbst blieb außer Spiel.
Meinte er. Und an dieser Täuschung hielt er fest bis zu dem Augenblick, wo der »eiserne Tresor« aufgesprengt war.
Innere Veränderungen erleiden wir gewöhnlich nicht auf einmal und unvorbereitet. Es ist in der Regel ein langsamer Prozeß, der sich ohne unser Zutun und Wissen vollzieht. Verschiedene Strömungen vereinigen sich, und irgendein Geschehnis, das mit dem Umschlag in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen braucht, wirkt mit, jenen Zustand schmerzhafter Empfänglichkeit zu erzeugen, ohne den das Leben zum Mechanismus wird. Am Morgen vorher hatte Kerkhoven einen Brief von Marie aus Lindow bekommen. Seltsames Schreiben voll Andeutung, Sehnsucht, Resignation und trüber Betrachtung. Er hatte es zuerst nur flüchtig gelesen, aber die Worte hatten sich festgehakt und ihn hinter seinen Beschäftigungen beschäftigt, so daß er einige Stunden später den Brief aus der Tasche zog und zum zweiten Male las, aufmerksamer als das erste Mal. Er schüttelte verwundert den Kopf. War das seine aufrechte, heitere, nie kleinmütige Marie? Warum die melancholische Versonnenheit, das schier vernehmliche Seufzen um die vergehende Zeit und daß der Frühling so leer sei, so leer und so kalt, und daß sie friere, innen und außen. (»Du weißt, Lieber, mein Lieber, das Frieren werd' ich nimmer los, aber heuer ist, als seien mir die Blutadern zu Eis geworden.«) Er wußte es. Er hatte sich schon oft Sorgen darüber gemacht. Vermutlich laborierte sie an einer chronischen Zirkulationsstörung. Sie hätte ein paar Monate in den Süden gehen sollen, aber ohne ihn zu reisen, davon wollte sie nichts wissen, und für ihn war es ein unerfüllbarer Traum. Was ihn an dem Brief ein wenig erschreckte, war die Spannungslosigkeit, die Müdigkeit, die er erkennen ließ. Eine glückliche Frau schreibt nicht so, sagte er sich. Und er schüttelte abermals den Kopf, da er ja bis zu diesem Moment überzeugt gewesen, daß sie das gerade war: eine glückliche Frau. Hätte ihn Marie bei diesen Gedanken belauschen können, sie hätte in ihrer zärtlich-spöttischen Weise gelächelt, ganz geschwind und ganz verschwiegen wie über einen geliebten dummen Sohn, der sich's bei Tisch gut schmecken läßt und die Küche über den grünen Klee lobt, ohne im entferntesten zu ahnen, wieviel Kopfzerbrechen und heimliche Opfer der Aufwand Tag für Tag kostet. Denn Marie, das muß hier eingeschaltet werden, ging in der Schonung dieser echt Kerkhovenschen Selbsttäuschung so weit, daß sie eine offenere Kundgebung als das erwähnte Lächeln schon als Verrat an ihm empfunden hätte, vorausgesetzt, er hätte es bemerkt. In der Beziehung glich er einer Zauberfigur, die jedes Jahr einmal die Lider hebt, um sich zu vergewissern, ob in dem Raum, wo sie sich befindet, alle Dinge noch am selben Ort sind: der Tisch, der Ofen, die Truhe, die Frau. Und Maries Aufgabe besteht darin, sich im Moment, wo der geliebte Golem wieder die Augen öffnet, an den Platz zu stellen, wo sie gewesen, als er das vorige Mal die Augen geöffnet hat. Ganz leicht, man muß nur aufpassen und die Zeit wahrnehmen, auf Stunde und Minute läßt sich das Ereignis nicht berechnen; erst wenn er durch ein zufriedenes Nicken festgestellt hat, daß alles in der gewohnten Ordnung ist, kann die Gefahr als beseitigt gelten. Es ist riesig amüsant für Marie, aber auch ein bißchen bitter, und sie kann nichts dafür, daß sich das Bittere Tropfen für Tropfen sammelt und schließlich als Bodensatz in der Existenz verbleibt.
Kerkhoven hatte versucht, den Brief zu vergessen, allein es war, wie wenn man sich den Finger geritzt hat, es tut nicht weh und tut doch weh. Als er am späten Nachmittag in die Wohnung kam, um rasch Tee zu trinken, war zu seiner Freude Marie da. Sie hatte sich plötzlich entschlossen, ihrem Brief nachzufahren, sie bereute, ihn geschrieben zu haben, es war eine Dummheit, sagte sie sich, man darf ihn nicht aufschrecken. Sie stellte sich das Gesicht vor, das er beim Lesen gemacht (falls er sich die Zeit zu genauem Lesen überhaupt genommen hatte), sie kannte es so gut, die ratlos blickenden Augen, den bestürzt fragenden Ausdruck eines fälschlich Beschuldigten, unwillkürlich mußte sie lachen. So setzte sie sich, ohne viel zu überlegen, in ihren kleinen Opel-Wagen, den sie selbst chauffierte, und war schon zu Mittag in der Stadt. Nachdem sie verschiedene Besorgungen erledigt, ging sie zu ihrer Schneiderin, wo man ihr die neuen Pariser Modelle vorführte, unter andern ein begehrenswertes Frühjahrskostüm. Man überredete sie, es zu probieren, es paßte wie angegossen, es machte sie schlank, obschon ihr Körper an Schlankheit nichts zu wünschen übrigließ, es machte sie um fünf Jahre jünger, obschon ihr niemand mehr als dreißig, höchstens zweiunddreißig gegeben hätte. Verkäuferin, Direktrice, die jungen Fräulein äußerten eine durch die Würde der Kunst gedämpfte Anerkennung, und in einem angenehmen Rausch, im Wunsch, sich selber neu zu werden (der immer bei dem Verlangen nach schönen Dingen mitspielte), schlug sie die guten Vorsätze leichtsinnig in den Wind und erlag der Versuchung. Einige unbedeutende Verbesserungen mußten vorgenommen werden, dann zog sie das Kostüm gleich an, um sich Joseph darin zu zeigen. Und sie wettete im stillen mit sich, daß er es nicht bemerken würde. Wenn er es wider alles Erwarten bemerkte, war sie zu demütiger Abbitte bereit. Es war keine Abbitte nötig. Vergebens stellte sie sich zwei-, dreimal auffällig vor ihn hin, vergebens lächelte sie mit fast flehendem Hinweis und dehnte sich ein wenig wie ein Kind, das sich größer machen will, er sah nichts. Dabei weiß sie, daß er eines Tages, in sechs Monaten ungefähr, überrascht fragen wird: Hast du nicht ein neues Kleid an, Marie? Woher ist es? Es steht dir ausgezeichnet; und daß er dann hocherstaunt sein wird, wenn sie ihm erklärt, wie lange er es schon an ihr gesehen hat, ohne es zu sehen. Aber was hat es denn zu bedeuten. Sie erlaubt sich auch nicht, länger daran zu denken, als es sich mit der Drastik der Situation verträgt, die in der Wiederholung des gleichen liegt. Sie hatte immer Angst, ihn aus seinem Zauberkreis zu reißen, sie hat einige Übung darin erlangt, sich auszulöschen und zu verschwinden. Ihn nicht stören, das ist seit vielen Jahren der Leitsatz ihres Lebens gewesen, in seiner Befolgung ist sie an den Kindern schier zur Tyrannin geworden; als Aleid noch klein war und die Wohngelegenheit beengt, hat sie immer ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten müssen, daß das Kind nicht zu laut lachte und zu lärmend spielte, wenn er im Hause arbeitete. In den Reden des indischen Buddha wird oftmals von der »innigen Hochachtung« gesprochen, die der heiligen Person gezollt wird. Das war es, was sie allen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, für ihn einflößte, innige Hochachtung, genau das, Kindern, Dienstboten, gleichgültigen Fremden, unabhängig davon, was er durch sich selber war und wirkte. Jetzt hatte sie manchmal die deprimierende Empfindung, als hätten sie einander nicht mehr viel zu sagen. Er war außerhalb der Berufstätigkeit so schweigsam geworden, daß auch sie, die so bedürftig war nach Gespräch und Mitteilung, unter der Entbehrung litt, wie man an Hunger oder Durst leidet, und in seiner Gegenwart zwangvoll verstummte. Jetzt war sie drei Wochen von ihm getrennt gewesen, eine bedrückend lange Zeit, trotzdem sie in diesem Jahr fast den ganzen Winter mit ihm (oder doch im selben Haus wie er) verbracht hatte. Etwas lag ihr schwer auf der Seele, aber sich ihm anzuvertrauen trug sie Bedenken. Sie saß am Fenster, das Kinn in die Hand, den Arm auf das Sims gestützt. Er schritt auf und ab und erzählte ihr mit der Bewegtheit eines Mannes, der nach allem greift, was ihm dienen kann – auch dem scheinbar Entlegenen, weil ihm vieles schon dient, wenn er es bloß ahnt –, ein deutscher Forscher habe im chemischen Institut in Schanghai den Nachweis für die Existenz des Protaktiniums geführt, eines rätselhaften Metalls, schwerer als alle bekannten Metalle, das infolge beständiger Atomexplosionen im Dunkeln leuchte und mit dem sich die Radiologen seit langem beschäftigten. Marie sah interessiert aus, aber sie hörte nur die Worte. Von Zeit zu Zeit blieb er vor ihr stehen und schaute sie halb zerstreut, halb liebreich an mit diesen wundersamen Augen, deren Blick, wenn er sie traf, wenn er sie wirklich faßte, ihr noch immer durch und durch ging.
Endlich sagt sie es ihm doch: sie glaubt sich schwanger. Sie weiß es noch nicht sicher, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Es steht aber so, daß sie dem Ereignis nicht mit Freude entgegenblickt. Über den Grund kann sie sich keine genaue Rechenschaft geben. Daß sie es nicht gewünscht hat, in diesem Moment des Lebens, kommt nicht in Frage. Es ist die letzte Neige der Jugend, nicht zu leugnen, und vielleicht hat das Schicksal noch etwas mit ihr vor, das erhebender ist ab Kindbett und Ammenschaft. Vielleicht, man kann es nicht wissen. Es ist eine kleine, dumme Märchenhoffnung, aber es ist so. Ein leiser Trotz regt sich in ihr, wenn sie daran denkt, daß sie sich dem geistlosen Zufall fügen soll, der ihr befiehlt zu gebären, auch wenn Körper und Seele nicht ganz einverstanden sind. Aber darüber käme sie leicht hinweg. Nicht aus Bequemlichkeit sträubt sie sich, ist ihr doch keine Eigenschaft verhaßter und keine ihrer Natur fremder als Bequemlichkeit, auch nicht weil sie sich innerlich der Verantwortung nicht gewachsen fühlt. Zwar kann sie ihre Erfahrungen nicht ausschalten, nicht einmal die physischen, alle ihre Geburten waren schwer, nach jeder hat sie viele Wochen gebraucht, um sich zu erholen. Jedem Kind muß man in einer neuen Weise Mutter sein, mit neuer Bereitschaft; wird man contre coeur hineingezwungen, so fehlt vielleicht der Schwung, die Heiterkeit, der rechte Mut. Sie denkt auch an ihn, an die abermals vermehrte Last, nicht bloß im groben Sinn, für ihn ist ja alles, was er liebt, zugleich Last, Beschwernis, Aufenthalt. Zudem wird sie Monate und Monate lang als Kamerad für ihn erledigt sein. Schon jetzt ... Dies deutet sie zaghaft an, stockt aber sofort, die Lider zittern verdächtig, zugleich lächelt sie, um den Eindruck zu verwischen, als beklage sie sich, denn noch nie, seit sie an seiner Seite lebt, ist es zu einer sogenannten Szene gekommen. Tapfer lächelt sie, in der nur ihr eigentümlichen Art: ungefähr wie eine Schülerin, die dem bewunderten Lehrer zu verstehen gibt, nichts, was er von ihr verlangt, sei für sie zu schwer. Und wartet mit verhaltener Spannung. Denn alles Widerstreben, alle Unlust, alle diese Bedenken, von denen sie weiß, daß sie selbstsüchtig und ihrer nicht ganz würdig sind, kann er durch ein einziges Wort, einen Laut, eine Bewegung fortfegen, als wären sie nie gewesen. Darauf wartet sie. Deshalb ist sie eigentlich hier. Es war eine Flucht. Sie ist zu ihm geflohen.
Kerkhoven blickt schweigend in das ihm offen zugewandte ergebene Gesicht, das sich seit vierzehn Jahren in keinem Zug für ihn verändert hat. Er kennt alle Regungen darin, in den »blassen Blumen« spiegeln sich, davon ist er überzeugt, die geheimsten Gedanken. In dieser Hinsicht ähnelt er einem Mann, dem eines Tages ein großes Vermögen in den Schoß gefallen ist und der dann unbekümmert drauflos gelebt hat, ohne je nachzusehen, was er von dem Kapital noch besitzt; er wiegt sich in der angenehmen Illusion, der Überfluß werde ewig dauern. Derselbe Kerkhoven, der als Arzt die verborgensten Seelenschwingungen zu deuten und mit einem ans Wunderbare grenzenden Instinkt dort schon Gefahr und Leidenskeim zu entdecken vermochte, wo stumpfere Beobachter nicht die geringsten Symptome finden konnten, der hatte für den teuersten Menschen keine Augen und ließ sich täuschen durch einen stolz gewahrten Schein. Was in vielen Verhältnissen die Regel ist, wird hier ziemlich merkwürdig, wo es sich um einen Charakter handelt, der im Physischen wie im Seelischen als Feind und Leugner aller Regel auftritt. Auch in Marie bäumt sich alles auf gegen Regel und Tabulator; schon als Kind war ihr die Vorstellung widerwärtig gewesen, daß jedes Jahr von der Geburt an bis zum Tode dreihundertfünfundsechzig Tage und zweiundfünfzig Sonntage haben sollte. Kam auch in den Schaltjahren noch ein dreihundertsechsundsechzigster Tag hinzu, so war das ein magerer Trost in der arithmetischen Wüste Gobi. Und so hatte sie alles gehaßt, was nach der Vorschrift ging, und alles war ihr verleidet, wenn es Programm wurde. Man kann auch einem andern Menschen zum »Programm« werden, das er erledigt, schlecht und recht; dann ade, Schönheit und Traum. Es war wohl so, daß sein Wissen von ihr an einem bestimmten Punkt stehengeblieben ist. Die Ungeheuern Ansprüche, die er an sich, die die Existenz an ihn stellte, verboten ihm ganz einfach, zu gewähren, was als ungestillter Wunsch ihr Herz aufzuzehren drohte. Sie war ja da, ihr Bild war da, das Gefühl von ihr war da, das mußte genügen. Sie sagte sich auch: Es genügt, es genügt reichlich, und dennoch, es genügte nicht; im untersten Grund des Bewußtseins, dort, wo das »Warten« war, genügte es nicht. Er war in ihren Augen der Meister des Spiels, und sie spielte die Rolle, die er ihr zugeteilt hatte, gehorsam und mit täuschender Wahrheit. Aber verhindern ließ es sich nicht, daß er so über vieles, was sich in der letzten Zeit in und mit ihr ereignet hatte, ahnungslos wie der erstbeste Fremde war. Hätte er sie aufgeschlossen, sie aufzuschließen nur den Willen gehabt, sie hätte ihm seltsame Dinge erzählen können, schwebende, schwer faßbare, die ein großmütiges Verstehen voraussetzten, und unheimlich niedrige, die den Alltag verstörten, wie zum Beispiel das ganze Erlebnis mit der Mutter, das ihr den Aufenthalt in Lindow nachgerade zur Qual machte. In diesem Fall hatte sich's am deutlichsten gezeigt, wie sonderbar er ihr entrückt war, etwa wie einem ein Mensch entrückt ist, dem man fortwährend Briefe schreibt, die er nicht beantwortet. Weil er die Einsamkeit auf dem Gut für sie gefürchtet hatte und es ihm ein unbehaglicher Gedanke gewesen war, sie nur mit den Kindern, ohne einen vertrauten Menschen dort zu wissen, hatte er alles darangesetzt, daß ihre Mutter nach Lindow übersiedelte. Es war ihm endlich gelungen, den Widerstand der Professorin Martersteig zu besiegen, an das Leben in der Stadt gewöhnt und sehr konservativer Natur, hatte sie sich lange gesträubt; er war wenigstens dreimal deswegen zu ihr nach Dresden gefahren. Natürlich hatte sich Marie den Anschein geben müssen, als könne ihr nicht Lieberes geschehen, sie hätte ja keinen triftigen Grund angeben können, weshalb es ihr hätte unlieb sein sollen; seit ihrer ersten Verheiratung hatte sie die Mutter nur drei- oder viermal gesehen, dadurch war ein Gefühl der Verschuldung in ihr entstanden, das ihr die Zustimmung zur Pflicht machte. Desungeachtet hatte sie Josephs Bemühungen mit banger Verwunderung verfolgt, wie wenn er ihr geheimes Gefühl hätte kennen, wie wenn er hätte voraussehen müssen, wovor sie sich dunkel ängstigte und was dann auch eintraf. Aber das gehörte eben zu den Dingen, die sie halb trotzig, halb um ihn zu schonen mit Schweigen bedeckte.
Und nun sah sie ihn an und wartete, was er sagen würde, ob das eine Wort kam, die eine innere Antwort vielmehr, die ihre Niedergeschlagenheit und lastvolle Traurigkeit in Zuversicht, ja in hellen Jubel verwandelt hätte. Er spürte das Verlangen und daß da etwas unendlich Heikles zwischen ihnen war, das ihn zu bedachtester Sorgsamkeit zwang, denn der Augenblick, wo er es im Entstehen hätte beseitigen können, war, das fühlte er, unwiederbringlich vorüber. Er war zu betroffen, um sich zunächst auch nur tröstend oder aufmunternd äußern zu können, er fand nicht einmal die Bestimmtheit der Haltung, die Marie, wie er wohl wußte, in jeder Situation mit der Überschwenglichkeit einer Achtzehnjährigen von ihm erwartete. Er glich einem Pferd, das mitten im Lauf stutzt, weil ein Balken überm Weg liegt. Erst nach und nach faßte er sich und redete ihr gütig zu. Er räumte ein, daß er ein wenig erschrocken sei, aber es sei töricht, es sei frevlerisch, darüber zu erschrecken, viel eher sei Anlaß zur Sorge für ihn, daß sie so verstimmt scheine. Marie lehnte den Kopf an seine Schulter und schwieg. »Du bleibst doch in der Stadt?« fragte er, indem er etwas nervös auf die Uhr sah. Sie nickte. »Ich möchte jetzt gern bei dir bleiben«, sagte sie, »oder wenigstens«, korrigierte sie sich eilig, »da sein, wo du bist.« – »Fein«, sagte er und küßte sie auf die Stirn, ich will trachten, daß ich bald zu Hause bin.« Dann ging er. Als Marie allein war, schaute sie die Tür an, durch die er verschwunden war, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie mit einer zornigen Kopfbewegung unterdrückte.
Etzel Andergast trat ein, setzte sich auf die stumme Aufforderung Kerkhovens diesem gegenüber und wartete die erste Frage ab. Es war schon das Ende der Ordination, Kerkhoven war ermüdet, er ließ einige Minuten verstreichen, bevor er sich dem Besucher zuwandte, und füllte die Frist damit aus, daß er ein paar Stichworte auf ein Blatt Papier schrieb und nur hie und da einen prüfenden Blick auf den vor ihm Sitzenden warf. Dann forderte er ihn auf zu sprechen. Nach den ersten zehn Sätzen war seine ganze Aufmerksamkeit wach. Eine sonderbarere Sache war ihm nie vorgetragen worden, und in welcher Weise noch dazu. Keine Befangenheit, keine Redensarten, kein äußeres Zeichen der Teilnahme, hart, kalt, knapp, sachlich. Kerkhoven stützte das Kinn auf die Hand, neigte den Kopf ein wenig zur Seite, und mit halbgesenkten Lidern nahm er das Bild des Redenden in sich auf. Alles war ungewöhnlich an dem jungen Menschen, zum Beispiel war er mit gesuchter Sorgfalt gekleidet, dabei mindestens seit drei Tagen nicht rasiert; er hatte zarte Gelenke und lange, schmale geistreiche Hände, aber der Brustkorb und die Schultern waren die eines Lastträgers, breit, gedrungen, muskulös; sein Dasitzen mit an den Leib gedrückten Armen hatte etwas Ungeduldiges wie bei einem Gefesselten, damit kontrastierte wieder die maskenhafte Starrheit des Gesichts, das von Kälte und Fühllosigkeit wie von einer Kruste überzogen und von Weichheit, Träumerei und ähnlichen überholten Empfindungen nichts zu wissen schien, was um so befremdlicher wirkte, als es trotz einer gewissen übernächtigten Mitgenommenheit ein recht wohlgebildetes Gesicht war, fast schön in seinen klaren und regelmäßigen Umrissen, mit Augen, die ein Kapitel für sich waren, man vergaß sie schwerlich, wenn sie einen einmal angeschaut hatten; grau, grüngetöntes Grau, mit bösen, spöttischen, jagenden Lichtern, ungeheuerlich erfahren und auf eine verschlagene und täuschen wollende Art jung; in manchen Momenten funkelte es krank und wild in ihnen auf, mit eingespritzten goldenen Körnern in der Iris, in manchen wieder waren es die Augen eines galgenhumoristisch aufgelegten Walzbruders, dreist, bieder, unbekümmert. Sie mußten übrigens, wie Kerkhoven gleich feststellte, hochgradig kurzsichtig sein, das häufige Zwinkern und der verhängte Blick ließen mit Sicherheit darauf schließen, beim Lesen und Schreiben bediente er sich wohl einer Brille, vermutlich nicht unter zehn Dioptrien, merkwürdig, daß er sie nicht ständig trug, es konnte sein, daß er seine Sehkraft ernstlich gefährdete, man mußte es ihm gelegentlich sagen. Wo kam der Mensch her? Was war er? Was stellte er vor? Jedenfalls eine seltsame Vereinigung anziehender und abstoßender Elemente, in einer Form, daß man beinah den Eindruck von Mystifikation oder Schauspielerei gewann, neckend und unheimlich.
Was ihn veranlaßt hat herzukommen, ist eine ganze Geschichte. Fraglich, ob er es ordentlich und in der richtigen Folge erzählen kann, er bittet im voraus um Verzeihung, wenn es verworren klingt, aber in seinem Kopf geht noch alles drunter und drüber, zudem hat er seit zwei Nächten nicht geschlafen. Doch handelt es sich nicht um ihn selber, das zu betonen ist wohl überflüssig, in dem Fall hätte er sich zu einem solchen Schritt nicht entschlossen. Es hat sich im Verlauf von gewissen unglückseligen Ereignissen eine Situation ergeben, bei der eine Familie in Mitleidenschaft gezogen ist, die sich ohnehin in einem Zustand befindet, für den der Ausdruck Verzweiflung noch gelind ist, und da er diesen Menschen nahesteht, hat er es auf sich genommen und ist da. Es muß eingegriffen werden, bevor noch weiteres Malheur passiert, und zwar von jemand, der Macht über eine heillos verstörte Seele hat. Daß er mit seinem Anliegen an der richtigen Stelle ist, weiß er, obschon er sich das Herz dazu erst gefaßt hat, nachdem ihm Eleanor Marschall gestern gesagt: Geh zu Professor Kerkhoven, geh sofort zu ihm, er wird dich anhören, er wird dir helfen. Folgendes ist geschehen. Vor fünf Tagen, in der Nacht vom elften auf den zwölften März, hat sich sein Freund Roderich Lüttgens erschossen, dreiundzwanzig Jahre alt, Sohn des bekannten Redakteurs und sozialistischen Abgeordneten.
Kerkhoven hob den Kopf. Schon bei dem Namen Eleanor Marschall hatte er aufgehorcht. Er wußte von ihr. Sie war die Gründerin der Jugendsiedlung in Britz bei Tempelhof, eine junge Amerikanerin, deren Reichtum und extravaganter Charakter gewissen Kreisen seit Monaten Stoff zu aufgeregtem Gerede lieferten. Der Fall Lüttgens war als besonders tragisches Ereignis in allen Zeitungen erörtert worden, schon wegen der Persönlichkeit des Betroffenen, der als führender Politiker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand und (ein weißer Rabe) wegen seiner Ehrenhaftigkeit und moralischen Unbeflecktheit auch von den Gegnern geachtet war. Er hatte nicht nur den Verlust des einzigen Sohnes zu beklagen, auch die Frau war ihm am selben Tag entrissen worden, sie hatte sich zwölf Stunden mit aller Kraft zusammengenommen, hatte in erstaunlicher Haltung das Nötige angeordnet, sogar, wie versichert wurde, dem Mann und den beiden Töchtern mit heiterer Ruhe Mut zugesprochen, plötzlich war sie, im Übermaß des beherrschten Schmerzes, zusammengebrochen, ein Herzschlag hatte ihr Leben beendet. Als Etzel Andergast an Kerkhovens Miene erkannte, daß er um diese Vorgänge von ungefähr wußte, nickte er erleichtert, weil er sich dadurch kürzer fassen durfte, und schwieg einige Zeit mit sorgenvoll verzogener Stirn. Wie nicht anders zu erwarten, habe man von Mißhelligkeiten zwischen Roderich und seinen Eltern gefabelt, berichtete er weiter. Daran sei kein wahres Wort. Namentlich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn sei das herzlichste gewesen, das man sich denken könne, wie zwischen ungleichaltrigen Brüdern, zärtlich und nachsichtig von der einen Seite, voll Vertrauen und Respekt von der andern. Nach seinem, Andergasts, Geschmack sei es sogar des Guten zuviel gewesen. (Wieso das, dachte Kerkhoven, zuviel Vertrauen, zuviel Liebe?) Jedenfalls gibt es für Roderichs Selbstmord kein nur halbwegs plausibles Motiv, deshalb erwähnt er die blödsinnigen Gerüchte. Auch er war total ???stuff und konnte sich die Sache auf keine Weise erklären. (Ob er in dem Punkt ganz aufrichtig ist, dachte Kerkhoven; mit seinem für jede Schattierung in Stimme und Tonfall empfänglichen Ohr glaubte er eine leise Übertriebenheit in der Beteuerung herauszuhören, die auf ein verhehltes Anderswissen schließen ließ, jedoch er tat natürlich, als hege er nicht den leisesten Zweifel.) Schließlich kann man sich nicht wundern, meinte Andergast, die Jungs und Mädels haben es bereits in der Übung, es braucht ihnen bloß der Daumen zu jucken, da knallt es schon. Am Sonntagabend ist er noch mit Roderich beisammen gewesen, in größerer Gesellschaft, gegen elf sind sie nach Hause gegangen, vor dem Schlafengehen hat er über irgendeine Dummheit auf der Treppe so laut gelacht, daß ihn Etzel hat ermahnen müssen, er solle seine Leute nicht aufwecken, dann ist jeder in sein Zimmer gegangen, und eine Viertelstunde später krachte der Schuß. Auf einen fragenden Blick Kerkhovens schaltete er erläuternd ein, Lüttgens hätten ihm seit November in ihrer Gartenvilla in der Lessingstraße eine Mansardenstube eingeräumt, und er habe das gastliche Anerbieten angenommen, wenigstens für gewisse Tage oder Wochen, denn er habe eigentlich kein ständiges Quartier, wohne bei verschiedenen Freunden, bald bei dem, bald bei jenem, oft auch draußen in der Marschallschen Siedlung. Das sei natürlich nicht von Belang, er teile es aber mit, um die Beziehung zu Lüttgens klarzustellen, da er nicht allein mit Roderich befreundet gewesen sei, sondern auch mit den Schwestern gut stehe, namentlich mit Hilde, der älteren, und indem er sie erwähne, sei er auch schon beim entscheidenden Punkt.
Es erscheint mir ratsam, die Erzählung Andergasts ohne Rücksicht auf mehr oder weniger interessante Einzelheiten auf ihren Kern zusammenzudrängen, da es sich hier nicht um eine Sitten- und Charakterstudie handelt, sondern um Historie. Der Leser hat dann nicht zu befürchten, daß der Vorgang stimmungsmäßig aufgebauscht und durch ein darin befangenes Medium gefärbt ist. Und was ihm an Spannung entgeht (ich komme immer mehr dahinter, daß es nichts Langweiligeres gibt als die sogenannte Spannung), gewinnt er an Überblick und rascher Folge.
In der Dienstagnacht (am Nachmittag hatte das Begräbnis von Mutter und Sohn stattgefunden, und zwar unter der Beteiligung zahlreichen Publikums) läutete gegen halb zwei das Telefon bei Lüttgens. Doktor Lüttgens hatte ein starkes Schlafmittel genommen und hörte das Signal nicht, nur Hilde war wach und ging an den Apparat. Eine matte Stimme rief klagend den Namen Roderichs, zwei-, dreimal, und als Hilde beklommen und unwillig fragte, wer es sei, kam keine Antwort mehr. Zwanzig Minuten darauf schrillte die Glocke abermals, Hilde ging wieder hin, und wieder kam die Stimme und rief nach Roderich, flehend, fast wimmernd. Um Gottes willen, wissen Sie denn nicht..., flüsterte Hilde bestürzt, und dann: Wer sind Sie denn? Wer ist es denn? Kaum vernehmlich sagte die Stimme bloß: Hilde, oh, Hilde. Geisterhaft wie aus dem Jenseits. Hilde war weder abergläubisch noch leicht in Furcht zu setzen, zuerst dachte sie an eine dumme Büberei, einen schaurigen Spaß, den sich jemand machte, der Stimme nach ein Frauenzimmer, da kam es ihr vor, als habe sie die Stimme schon einmal gehört. Sie blieb eine Weile am Telefon stehen und wartete. Hierauf nahm sie den Hebel wieder auf, um sich mit der Auskunft verbinden zu lassen und in Erfahrung zu bringen, wer angerufen habe, unterließ es jedoch und sagte laut vor sich hin: Das muß Jessie Tinius gewesen sein. Sie stand da, die Hand an der Stirn und überlegte. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt. Fünf Minuten später war sie zum Ausgehen fertig, stieg in die Mansarde hinauf und klopfte an Andergasts Türe. Er war bis eins bei ihr drunten gewesen und wollte eben zu Bett gehen. Sie bat ihn um seine Begleitung. Ihr Vorhaben erklärte sie mit drei Sätzen. Er stellte keine einzige Frage, nickte bloß, schlüpfte in den Mantel, und nach einigen Minuten waren sie auf der Straße und gingen zu einem Taxistandplatz. Sie fuhren in die Nürnberger Straße. (Die Adresse hatte Hilde unlängst auf einem Brief Roderichs gelesen.) Keines sprach ein Wort. Es dauerte ziemlich lang, bis ihnen das Haustor geöffnet wurde. Oben im vierten Stock, an der Tür links ein Messingschild: Carola Breitenfeld, darunter eine Visitenkarte: Jessie Tinius. Sie läuteten und läuteten. Nichts rührte sich. Erst als Andergast mit der Faust an die Tür hämmerte, schlurften Schritte. Eine schmierige Person im Nachthemd und grünem Kittel, offenbar die Dame Breitenfeld, fragte erbost, was sie zu nachtschlafender Zeit hier suchten. Ich übergehe die Verhandlungen und wie sie durch Gewaltanwendung Andergasts in Jessies Zimmer drangen. Andergast packte Hilde am Arm und hielt sie fest. Achtung, Leuchtgas, zischte er. Er stürzte in die Küche, näßte ein Handtuch an der Wasserleitung, schlug es über sein Gesicht, daß nur die Augen frei blieben, eilte so in Jessies Stube und riß die beiden Fenster auf. Sie hatten das Schlimmste gerade noch verhütet. Unter dem widrigen Gejammer und Schimpfen der Carola Breitenfeld stellten sie Wiederbelebungsversuche an, die Erfolg hatten. Andergast brauchte hierzu keinen Arzt. Seine Anweisungen waren kurz und zweckentsprechend. Um vier Uhr früh verließ er das Haus, Hilde blieb bei Jessie. Er schlief vier Stunden, unterrichtete beim Frühstück Hildes Schwester Hedwig von dem Geschehenen, und um neun war er wieder in der Nürnberger Straße. Daß Jessie nicht unbeaufsichtigt bleiben konnte, war klar. Daß man sie nicht Fremden übergeben möge, flehte sie mit aufgehobenen Händen. Spital oder Klinik war nicht mehr notwendig, sie klagte nur, Folge der Vergiftung, über quälenden Kopfschmerz und Brechreiz. Hilde war zu Hause nicht entbehrlich, der Vater bedurfte ihrer, die sechzehnjährige Hedwig war hilflos ohne sie, beide Dienstmädchen waren nach dem Doppeltod in törichter Panik weggelaufen. Jessie in ihrer Wohnung bei der erbitterten Breitenfeld zu lassen war unmöglich, sobald man den Rücken wandte, würde sie den mißglückten Versuch wiederholen, und mit größerer Umsicht diesmal, ohne vorherigen Ruf ins Telefon (welche Tatsache vielleicht Zweifel an dem Ernst ihres Vorhabens wecken konnte, aber es war eine halb wahnsinnige Anwandlung gewesen, als bilde sie sich den Tod des Freundes vielleicht bloß ein, ein letztes Sichklammern an den Namen, ein Adieu und, mit einem Funken Hoffnung möglicherweise, die Kundgebung: noch leb' ich, noch könnt ihr mich retten). So beschlossen Hilde und Andergast, sie ins Lüttgenssche Haus zu bringen. Hilde glaubte diese Maßnahme ihrem toten Bruder schuldig zu sein, sie handelte und fühlte genauso, als ob Jessie ihre legitime Schwägerin sei, obgleich sie sie nur zweimal im Leben gesehen hatte, das erste Mal um Weihnachten auf dem Polytechnikerball, wo Roderich sie ihr als seine Freundin vorgestellt hatte, dann erst wieder beim Begräbnis, da war sie abseits gestanden, allein, im schwarzen Kleid, ganz bleich. Jessie erhob nur schwachen Einwand, zu Mittag war die Umquartierung geschehen, im Mansardenstock war neben der von Andergast bewohnten noch eine Kammer frei, dort wurde sie untergebracht, und Andergast, Hilde und Hedwig teilten sich in die Aufgabe der Überwachung, dem Doktor Lüttgens wurde die Sache aus guten Gründen verheimlicht, was nicht viel Verstellung erforderte, da er keinerlei Teilnahme für das zeigte, was um ihn vorging. Beide Töchter waren von so vielen häuslichen Pflichten in Anspruch genommen, hatten so viele Besuche zu empfangen und abzufertigen, daß Andergast den größten Teil des Tages wohl oder übel allein bei Jessie bleiben mußte und sich höchstens einmal auf eine Stunde entfernen konnte: den ganzen Mittwoch, die Nacht auf den Donnerstag, den ganzen Donnerstag und die letztvergangene Nacht. Am ersten Tag weinte sie unaufhörlich. Andergast ging entweder schweigend im Zimmer herum, oder er saß am Fenster und schwieg auch dort, mißlaunig. Was fängt man mit der Närrin an, dachte er; fatale Geschichte, von der kein Ende abzusehen ist. Wenn er sie anredete, gab sie keine Antwort und verzog nur schmerzlich das Gesicht. Gegen Abend schlief sie ein wenig, in der Nacht lag sie mit weit geöffneten Augen da. Hilde hatte auf dem Sofa ein Notbett aufgeschlagen, aber sie hatte sich in den Kleidern aufs Bett geworfen, sich auszuziehen weigerte sie sich stumm. Am Morgen bat sie um Zigaretten und rauchte ununterbrochen, so wie sie am Tag zuvor ununterbrochen geweint hatte. Einigemal machte sie Anstalten, aufzustehen und wegzugehen, Andergast bedeutete ihr unfreundlich, er könne sie nicht fortlassen. Sie fügte sich mit feindseliger Miene. Natürlich kannte sie ihn längst. Zu ihrem Verdruß hatte Roderich ihn bisweilen aufgefordert, mit ihnen beiden beisammen zu sein. Sie fürchtete sich vor ihm. Sie hielt ihn für einen schlechten Menschen und behauptete, er habe einen unheilvollen Einfluß auf Roderich. Er wußte es. Er hätte ähnliche Erfahrungen schon öfter gemacht. Das Mißverständnis lag nah und verdiente Mitleid. Jetzt faßte er plötzlich Interesse für das Mädchen. Nicht bloß für den »Fall«, auch für die Person, also mit einer Zutat von Sympathie. Sie war klein und unscheinbar und hatte etwas Infantiles im Wesen, aber als er einmal beim Auf- und abwandern einen Blick auf sie warf und sie auf dem Bett kauerte, mit dem Gesicht nach unten, die Stirn auf der Armbeuge, rührte ihn der schmale Nacken, der einem entschälten Ast glich. Er fing an, darüber nachzudenken, wie man ihr helfen könne. Er konnte nicht ewig bei ihr Posten gehen und die Polizisten nachahmen, die in der Nähe gewisser Brücken patrouillieren, um bei der Hand zu sein, wenn die Selbstmörder ins Wasser springen. Es war albern, man mußte einen Ausweg aus der dummen Verlegenheit suchen und die Lüttgens-Mädels von der Last befreien. Das einzige Mittel war, ihr die krankhafte Todessucht auszureden, eine Hoffnung in ihr zu entfachen, ihr ein Ziel zu zeigen. Er erinnerte sich nun, daß ihre ganze Beziehung zu Roderich nichts anderes war als sinnliche und seelische Betäubung dieser Todessucht, der Freund hatte es ihm einmal gestanden, ich bin ihr Opiat, hatte er gesagt und dann hinzugefügt: na ja, was willst du, auf diese Weise hängen wir alle aneinander, sofern wir aneinander hängen. Er legte sich einen Plan zurecht, es erwies sich aber bald, daß er die Schwierigkeit unterschätzt und sich in der Annahme geirrt hatte, er könne sie mit billigen Weisheiten bekehren. Wohl verstand er sie zu fassen, sie mit List oder Derbheit aus ihren kleinen Hinterhalten zu locken und ihre etwas beschränkten Verstocktheiten ins Lächerliche zu ziehen, er war vertraut mit der Vorstellungswelt solcher Geschöpfe, kannte ihr Idiom, ihre Vorurteile, ihren engen Lebenshorizont. Sozial betrachtet gehörte sie einem verbreiteten Typus an, Artistin mit bürgerlichen Ambitionen. Als Weib war sie mit ihrer Mischung von Gewitztheit und Unschuld, Zynismus und Opheliahaftigkeit nicht ohne Reiz für Neulinge. (Wir müssen annehmen, daß es kein geringes Erfahrungsmaterial war, das den Zwanzigjährigen zu derlei Erwägungen und Unterscheidungen führte; später werden wir sehen, wie es sich damit verhält.) Aber wie gesagt, er kam mit seiner ganzen Taktik nicht sehr weit. Er erkannte, daß die Todesentschlossenheit tiefer verwurzelt war, als er geglaubt, es trat da eine aus dem Blut stammende Willenslenkung zutage, wenn man es nicht Wahn oder psychopathische Verkrampfung nennen wollte, und das dargebotene Bild war weniger das eines einzelnen Schicksals als vielmehr, auf eine für ihn nicht überraschende, obschon ihn immer wieder beunruhigende Weise, das von vielen, von schauderhaft vielen. Da genügte kein bloßes »Zureden«, keine onkelhafte Alltagslogik, genügten keine moralischen Gemeinplätze, da hieß es Kraft einsetzen, mit Umsicht handeln, und als er das erst begriffen hatte, wurde sein Ehrgeiz rege; er sagte sich: das Mädel muß ich herumkriegen, die darf mir nicht so mir nichts dir nichts entschlüpfen. Darum weigerte er sich, in seine Stube zu gehen, als ihn Hedwig in der zweiten Nacht ablösen wollte, und schickte sie mit einem gnädigen Kuß schlafen. Kurz vorher hatte Jessie wieder den Versuch gemacht, sich einer Zwangsaufsicht zu entziehen, die sie in verbissenen Trotz hineintrieb; als er sie fragte, wohin sie wolle, zuckte sie die Achseln, er gab sich den Anschein, als hätte er nichts dagegen, daß sie ihrer Wege ging, sie hatte schon die Türklinke in der Hand, da legte er den Arm um ihre Schultern, zog sie ein paar Schritte zurück und zitierte mit parodistischer Weinerlichkeit die Verse: ich bin so dumm, du bist so dumm, wir wollen sterben gehen, kumm. Sie lachte, zum ersten Male. Bis jetzt hatte sie keinen Bissen gegessen, er brachte sie dazu, etwas zu sich zu nehmen, er hatte Brot und Butter in der Lade, öffnete eine Sardinenbüchse und stellte Wasser zum Tee auf den elektrischen Kocher. Seinem Drängen nachgebend, aß und trank sie mit ziemlichem Appetit und sah ihn dabei mit ihren feuchten Malaiinnen-Augen fortwährend scheu und mißtrauisch an. Aber sie hörte ihm doch zu, als er mit ihr redete, ihre Miene wurde aufmerksam, allmählich ließ sie sich herbei, seine Fragen zu beantworten, seine Gründe zu widerlegen, seine Meinung über sie zu berichtigen und das zu verteidigen, was sie als ihr verdammtes Recht bezeichnete, das einzige, das ihr und ihresgleichen niemand streitig machen könne, wie sie sagte. Sie geriet in Eifer, sie wurde schlagfertig; wenn er sich eine Blöße gab und sie ihn bei einem Widerspruch ertappte, hakte sie geschickt ein, so daß er sich halb ärgerlich, halb verwundert bemühen mußte, die erlittene Schlappe wieder gutzumachen. Er kam überhaupt aus dem Staunen nicht heraus, da war eine naturhafte oder volkshafte Art, die Dinge anzuschauen, die keine Zweideutigkeit, kein Zwielicht zuließ, eine furchtlose Entschlossenheit zum Wirklichen (so wie er das Wirkliche verstand), die wie alles Einfache und Echte den Eindruck erweckte, als sei es zum erstenmal so gesehen und werde zum erstenmal so gesagt. Ein Wort, eine Wendung, und ein Erlebnis flammte auf, das in ihren Augen nicht weiter bedeutungsvoll war und dabei das schärfste Schlaglicht nicht bloß auf ihre Existenz, sondern auf eine ganze Klasse warf, auf eine halbe Million Jessies gleichsam, als sähe man einen langen, langen Zug von Schatten, die zwischen der Finsternis, aus der sie kamen, und der Finsternis, in die sie gingen, für die Dauer eines Augenblicks in den Kegel eines Scheinwerfers tauchten. Nun, das war Wasser auf Etzel Andergasts Mühle, er hatte nicht bedacht, daß er plötzlich in die Notwendigkeit versetzt wurde, des Teufels Advokaten zu machen. Wenn sie ihn wild und höhnisch anfiel: Was wollen Sie? Sagen Sie, was Sie wollen, sagen Sie mir, was ich tun soll, ehrlich, mein Lieber, nur ehrlich, dann schnappte er nach Luft, biß sich in die Lippen, packte die Hand des Mädchens und drückte ihre Finger so heftig, daß sie laut aufschrie. Es gab kein Zurück mehr für ihn. Da sie allmählich in seinen Anteil hineinwuchs, das heißt, teil an ihm hatte, bürdete sie sich seiner Sorge auf, und der Appell erging an sein Pflichtbewußtsein. Versagte er, so war seine Anmaßung auf der einen Seite, seine Schwäche auf der andern offenbar. Zuviel Tod ringsherum, zuviel Defätismus, und alle diese waren keine Römer, die sich, um nicht zu Sklaven zu werden, ins eigne Schwert stürzten, sie kapitulierten von vornherein, lieferten sich mit gebundenen Gliedern aus, feig, servil und entnervt. Verrat. Fahnenflucht. Deshalb war er ja auch diesem Roderich so gram, daß er nicht mehr von ihm hören und reden wollte; als er an seiner Leiche gestanden, hatte ihn die Wut übermannt, am liebsten hätte er den Toten an den Schultern gerüttelt und ihm ins Ohr geschrien: warum, du Idiot? So schien's fast eine Abwehrhandlung, daß er sich die Kugel ins Ohr gejagt hatte. Jessie starrte ihn mit entsetzt aufgerissenen Augen an, als er ihr dies mit herzloser Ruhe auseinandersetzte. Seine eisige Leidenschaftlichkeit schüchterte sie unbeschreiblich ein; es wäre besser, wenn er mich schlüge, dachte sie. Dann wieder wurde er in komödiantischer Weise zärtlich, beschwor und flehte, versprach ihr seine Freundschaft und allen Beistand, den sie haben wollte, das ängstigte sie noch mehr, sie brauche seinen Beistand nicht; nein, er solle ihr vom Hals bleiben mit seiner Kakelei, und sie schüttelte halbe Minuten lang den Kopf: nein, nein, nein, nein. Was lag ihm schon daran, was lag ihm an ihr. Ich glaube, du bist ein ganz doller Lügner, sagte sie (mitten in der Nacht hatten sie plötzlich angefangen, einander zu duzen.) Instinktiv spürte sie, daß es ihm nicht so sehr um ihr persönliches Wohl und Weh ging als vielmehr um eine Kraftprobe, deren Sinn sie allerdings nicht verstand, eine Art Sportleistung; das erbitterte sie und verlieh ihrer Widerspenstigkeit etwas Fanatisches. Willst du mir vielleicht was für mein Leben zahlen, rief sie ihm haßerfüllt zu, oder bekommst du was dafür gezahlt, streckte ihm aber gleichzeitig mit zuckenden Lippen die flach aneinandergelegten Hände entgegen. Ja, beim Reichspräsidenten kassier' ich's ein, erwiderte er trocken. Ob es nun Erschöpfung war oder einfach die menschliche Nähe, seine Haltung verlor immer mehr von jener rabiaten Sachlichkeit, die sie so abstieß und verletzte, er fand Worte, die sie bewegten und ihr ans Herz griffen, und das war das Schlimmste, was passieren konnte, da schlug das Unglück vollends über ihr zusammen, das Unglück, nichts zu sein und niemand zu besitzen, nicht leben zu können und nicht sterben zu dürfen, und es endete, wie es begonnen, mit hemmungslosem, unstillbarem Weinen.
Wollte ich das ganze Gespräch aufschreiben, so müßte ich wenigstens hundert Seiten damit füllen. Es dauerte mit geringen Unterbrechungen einundzwanzig Stunden. Eine der Unterbrechungen war, daß er zum Telefon ging und Eleanor Marschall anrief. Neil, so wurde sie im intimen Kreis genannt, lag mit einer Halsentzündung zu Bett, sonst wäre sie gekommen, denn daß man Jessie zu Lüttgens gebracht und welche Schwierigkeiten sich daraus ergeben, hatte er ihr schon am Mittwoch mitgeteilt. Sie hatte das Ganze für eine bodenlose Dummheit erklärt, das Verkehrteste, was man hatte tun können. Jetzt, nachdem er ihr berichtet hatte, wie verzweifelt die Sache stand, sagte sie: »Du hast einen Gefangenen gemacht, der dich nicht losläßt, treib die Pfuscherei um Gottes willen nicht noch weiter; siehst du nicht, daß du mit aller Gewalt etwas herbeiführst, was du verhindern willst?« Dann eben gab sie ihm den Rat, Kerkhoven aufzusuchen, sie habe Unglaubliches von ihm gehört, in solchen Fällen vollbringe er wahre Wunder. Als er in die Mansardenkammer zurückkehrte, lag Jessie vor Hilde auf den Knien und bettelte um ein schnellwirkendes Gift. Wozu die Unkosten, warf Andergast brutal hin, kannst ja in die Spree gehn oder dich im Tiergarten an einem Baum aufhängen. Er wußte nicht mehr, was er sagte, der Kopf war ihm ganz wüst. Hilde zog ihn in eine Ecke und raunte ihm zu, Vater habe was gemerkt, lautes Sprechen höre man durch den Fußboden durch; wenn er erfahre, die Geliebte seines Sohnes sei im Haus und unter solchen Umständen, seien die Folgen nicht abzusehen, leider habe sie sich das vorher nicht überlegt. Sie kamen überein, Jessie eine starke Dosis Brom in den Tee zu mischen. Bei dem rohen Ausfall Andergasts war sie zusammengezuckt und hatte die Hand auf den Mund gepreßt. In ihrem schwarzen Trauerkleid saß sie am Tisch, folgte den beiden mit den Blicken und ließ alles mit sich geschehen. Das Medikament tat die gewünschte Wirkung, sie schlief ein. Hilde verbrachte den Rest der Nacht bei ihr und hörte sie mehrmals im Schlaf schmerzlich aufseufzen. Andergast, statt endlich zu Bett zu gehen, verließ um Mitternacht das Haus, fragte in einer Bar und in einer Weinstube, ob Lorriner da sei, den man gewöhnlich um diese Zeit dort traf, und da er ihn nicht fand, lief er bis zum Tagesgrauen planlos durch die Straßen. Mit zwanzig Jahren verfügt man über Kräfte, die sich schon durch eine andere Richtung der Bewegung erneuern.
Kerkhoven ersuchte ihn, eine Viertelstunde im Wartezimmer Platz zu nehmen, er werde gleich mit ihm gehen. Der Mann macht wenigstens keine Geschichten, dachte Andergast und war ebenso angenehm überrascht, als der Professor auf die Sekunde pünktlich erschien und ihn mit einem Kopfnicken bedeutete, er sei bereit. Unten stiegen sie ins Auto. Kerkhoven blieb während der Fahrt schweigsam. Sonderbarerweise hatte dieses Schweigen nichts Bedrückendes für Etzel Andergast. Er empfand weder Unbehagen noch Verlegenheit, hatte auch nicht, wie es in solchen Situationen häufig vorkommt, den leeren Impuls, etwas zu sagen, weil man sonst mitsamt dem andern plötzlich in ein finsteres Loch fällt. Nach seinen Beobachtungen beruhte die Angst der meisten Menschen vor dem Schweigen darauf, daß jeder die Gedanken des andern fürchtet wie eine Beleidigung, vor der man sich nur durch pausenloses Reden und Fragen schützen kann. Von dieser argwöhnischen Haltung, die vielleicht auf einer Tiefenverletzung des Selbstbewußtseins beruhte, hatte er die würdigsten, die von sich selbst erfülltesten Personen nicht frei gefunden. Der Mann an seiner Seite war frei davon, und das mit Sicherheit zu fühlen und zu wissen hatte etwas von einem unverhofften Geschenk, denn es war selten. Es war vor allem in seinem Dasein selten, das voller Tumult, voller Worte, voller Kampf gegen Anspruch und Argwohn war. Er schloß die Augen, und ihn dünkte, als gebe ihm der Mann an seiner Seite die Erlaubnis zu ruhen, als verstehe er seinen Zustand besser, als jeder andere Mensch ihn verstehen konnte, ja als befehle er ihm innerlich, mittels einer ihm verliehenen Kraft, sich ihm ohne Widerstand hinzugeben. Es war ungeheuer wohltuend. Merkwürdiger Mann, der Mann an seiner Seite.
Hilde Lüttgens stand an der Treppe zur Mansarde und schloß sich Kerkhoven und Andergast an, als sie hinaufgingen. Sie berichtete flüsternd, Jessie habe bis sieben Uhr morgens geschlafen, das Frühstück habe sie unberührt stehenlassen und wieder Zigaretten verlangt, von denen sie mindestens zwanzig geraucht habe. Gesprochen habe sie nichts, soviel man aber erkennen könne, sei sie furchtbar erregt, weswegen sie sie keinen Augenblick allein gelassen habe. Kerkhoven hörte still zu, dann bat er, man möge ihn zu ihr führen. Hilde eilte voran, öffnete die Tür ein wenig und winkte ihrer Schwester, die drinnen bei Jessie war, sie solle herauskommen. Kerkhoven verbeugte sich an der Schwelle vor den drei jungen Menschen, womit er ihnen zu verstehen gab, daß er ihrer nicht mehr bedürfe. Die Mädchen gingen in das untere Stockwerk, Etzel Andergast, um Kerkhoven den Weg zu weisen, wenn er das Zimmer verließ, und darauf zu achten, daß nichts geschah, was Doktor Lüttgens die Anwesenheit des fremden Arztes verraten konnte, setzte sich im Flur auf eine Fensterbank und wartete. Er hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen, las aber nicht darin. Von Zeit zu Zeit starrte er in den Hof hinunter, den rußiger Nebel so dicht verhängte, daß von zwei teppichklopfenden Weibern nur Umrisse zu sehen waren und sogar das marternde Klopfen sowie in den Pausen das gänsehafte Geschnatter der beiden davon gedämpft wurde. Nach dreiviertel Stunden öffnete sich die Tür, Kerkhoven und Jessie traten heraus, er erhob sich und ging hin. Jessies Gesicht war verändert. Als sie seiner ansichtig wurde, streifte ihn ihr Blick nur ganz flüchtig, als sei es ihr nicht erlaubt, ihre Aufmerksamkeit von Kerkhoven abzuwenden. Dieser legte behutsam die Hand auf ihren Arm und sagte mit einer Stimme, die Etzel durch den außerordentlich tiefen Klang wie verstellt erschien: »Sie haben alles Nötige bei sich, nicht wahr? Sonst können wir auch in Ihre Wohnung fahren und holen, was Sie brauchen.« Dann, mit derselben tiefen Stimme, zu Etzel gekehrt: »Ich bin sehr froh. Fräulein Tinius hat sich entschlossen, mit mir zu gehen. Sie kann mir nämlich in einer schwierigen Angelegenheit recht behilflich sein. Sie sind vielleicht so freundlich, Herr von Andergast, die Damen Lüttgens zu benachrichtigen, wir wollen uns verabschieden.« Gelungen, meditierte Andergast auf dem Weg, er wickelt sie scheint's um den Finger. Er hatte den Eindruck, als sei der Kerkhoven da oben nicht mehr derselbe wie der, dem er im Sprechzimmer gegenübergesessen war. Darin lag etwas Verwirrendes wie in der Darbietung eines Zauberkünstlers, es löste auch ein ähnliches bestürztes Erstaunen aus. Natürlich nur, solange man den Trick nicht kannte. Zu Hilde sagte er, während sie hinaufgingen: »Der Mann ist uns verflucht über, der versteht sein Geschäft.« Als Hilde und Hedwig auf Jessie zutraten, spielte sich eine stumme kleine Szene ab, die Andergast mit kritischer Neugier verfolgte. (Vielleicht weil er auf den Trick kommen wollte.) Der Abschied von den Schwestern rief nämlich einen Rückfall hervor, den Kerkhoven offenbar gewünscht hatte, um die Widerstandskraft zu prüfen, die er ihr eingeflößt; sie kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Wand und schaute verstört von einem zum andern, dann gegen die Treppe hin, als überlege sie die Möglichkeit einer Flucht. Ohne sich ihr zu nähern, sagte Kerkhoven leise, jedoch mit unerwarteter und daher erschreckender Strenge: »Nehmen Sie sich zusammen, Kind. Haben Sie vergessen, was Sie mir versprochen haben? Sie müssen endlich begreifen, daß Sie Ihren Freunden etwas Rücksicht schuldig sind, Sie haben ihre Geduld ohnehin auf eine harte Probe gestellt. Oder nicht?« – »Ja«, hauchte Jessie, »ja.« Sie lächelte unterwürfig. Stärker als die Worte wirkte das Auge des Mannes auf sie, soviel Andergast beurteilen konnte, und stärker als das Auge die Gewalt seiner Gegenwart. So sind mächtige Bäume oder Tiere gegenwärtig. Wo war also der »Trick«? Es gab vielleicht keinen. Vielleicht gab es nicht einmal etwas wie Routine bei dem. Vielleicht hatte er auch nur äußerlich mit der Wissenschaft zu tun. Vielleicht war er auf eine Weise Arzt, die nur entfernt mit der aller andern seines Zeichens zusammenhing, nicht mehr als seine, Andergasts, Existenz mit all den Existenzen, die sie scheinbar berührte und kreuzte. Schon möglich bei dem Mann. Es war etwas Aufregendes um den Mann, nicht zu leugnen. Sich ihm anvertrauen war ein Gedanke, der nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen war. Anvertrauen, dummes Wort; sich ihm in den Weg stellen, ihn aufhalten, ihm zurufen: Schau mal her, was da für einer ist und ob du ihn brauchen kannst. Wozu, das wird sich finden. Ob sich's dir lohnt, wird sich finden. Nicht ausgeschlossen, daß er stutzig wurde und wirklich hinsah. Nicht ausgeschlossen, daß er, mit diesen Hexenmeister-Augen, zu sehen imstande war, was keiner sah, wenigstens keiner von denen, die, jenseits der Wendekreise, in der verderblichen Zone des Erfolgs und der Geschäfte wohnten: die Fetten, die Beruhigten, die Aktionäre, die Gesetzeshüter.
Unerklärliches Verlangen, das sich auf einmal regte. Eitle, verrückte, abstruse Hoffnung, als ob, was nie sich ereignet hatte, in der bittersten Verzweiflung nicht, jetzt sich ereignen könne. Gab man der verdächtigen Regung nach und wurde schwach, so konnte man elend hereinfallen, und was in aller Welt sprach dafür, daß man nicht hereinfiel? Du bist ein gebranntes Kind, hüte dich vorm Feuer. Trotz dieser Erwägungen, mit denen er sich zu ernüchtern und abzuschrecken suchte, überlegte er hin und her, wie er es ermöglichen könne, wieder mit Kerkhoven zusammenzutreffen, vielmehr sich ihm auf eine Art zu nähern, die eine andre Verbindung herstelle als diese flüchtige, deren Anfang auch schon Ende war. Natürlich sah er die Aussichtslosigkeit, soweit sein eigner Wunsch in Frage kam, vollständig ein, es war ungefähr so, wie wenn er erwartet hätte, der Justizminister würde ihn täglich zum Mittagessen bitten, weil er vor Jahren einmal, als halber Bub noch, für die Unschuld eines zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten beinah sein Leben eingesetzt hatte. Doch er war heftig im Wunsch, sein Wille war schwer zu brechen, er gewann es nicht über sich, mutlos zu verzichten. Er begleitete Jessie und Kerkhoven ans Auto, und im letzten Augenblick, als dieser schon den Fuß auf dem Trittbrett hatte, fragte er ihn, wohin er Jessie Tinius bringe und ob sie dort Besuche empfangen dürfe. Die eigentümliche Bezüglichkeit im Ton, das Aufglimmen der goldigen Einsprengsel in der Iris verriet Kerkhoven den Hintersinn der Frage, er fixierte den jungen Menschen einige Sekunden lang, wobei ihm die Frische der Lippen und die jugendliche Schönheit der Stirnbildung auffiel, und während er freundlich Bescheid gab (»Sie werden sie in meiner Anstalt finden, selbstverständlich können Sie kommen, zu jeder Zeit«), empfand er außerordentlich intensiv und viel bewußter als vor zwei Stunden im Sprechzimmer den fast beunruhigenden Reiz, den dieses Gesicht auf ihn ausübte, und er fügte rasch hinzu: »Vielleicht suchen Sie auch mich dort mal auf, ich bin jeden Tag da, und wir unterhalten uns ein wenig miteinander.« Andergast, barhaupt, ohne Mantel, sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Darauf ist kein Verlaß, sprach er zu sich, es ist mir nicht sicher genug, der Mann hat mehr zu tun als sich an so vage Aufforderungen zu erinnern, würde mich komisch angucken, wenn ich ihn beim Wort nähme. In seiner herrischen Ungeduld dünkte ihn jeder Aufschub von Übel, jedes Zuwarten Verringerung der Möglichkeit. Es war wie Examenfieber, er begriff sich nicht. Die schreckliche innere Bedrängnis, die war chronisch bei ihm, die war er gewohnt, aber diese akute Wut, sich einem Menschen »in den Weg zu stellen«, von dem man schließlich nichts wußte, nichts erwarten durfte und der alle Ursache hatte, die Zudringlichkeit mit einem Fußtritt zu beantworten, was sollte die bedeuten, wozu sollte es führen?
Andern Tags kam Hilde in seine Stube und erzählte, der Vater habe eine schlechte Nacht gehabt und sehe überdies so leidend aus, daß sie die ärgsten Befürchtungen habe. Da riet ihr Andergast, den Professor Kerkhoven anzurufen; wenn er sich nur zu einer Untersuchung bestimmen lasse, sei schon viel gewonnen. Dies leuchtete Hilde ein, und sie ging gleich zum Telefon. Nach einer Weile kehrte sie erfreut zurück und berichtete, sie habe ihn nicht selbst sprechen können, aber er habe ihr durch den Assistenten sagen lassen, er sei bereit zu kommen, vorausgesetzt, daß Doktor Lüttgens nicht schon in Behandlung eines andern Arztes sein, in welchem Fall er nur als Konsiliarius erscheinen könne. Sie hatte versichert, es sei noch kein Arzt dagewesen. Am späten Nachmittag kam er. Andergast war unten bei den Mädchen. Seit dem Mittag schon. Er spielte mit Hedwig Schach. Bei jedem Läuten spitzte er die Ohren. Während Kerkhoven dann bei Doktor Lüttgens war, sah er zwanzigmal auf die Uhr. Nach einer halben Stunde kam Kerkhoven wieder heraus. Er gab Hilde einige vorläufige Anweisungen und beruhigte sie. Andergast begleitete ihn in den Vorplatz. Sie sprachen ein paar Worte miteinander, dann ging er mit ihm. Kerkhoven schien es erwartet zu haben. Er rief dem Chauffeur eine Adresse zu und ließ das Auto vorausfahren. Alles hatte sich ganz natürlich ergeben.
So spann sich das an.
Kein Mensch, auch der im breitesten Wirkungsfeld stehende nicht, kann alle Provinzen des Lebens überschauen. Im Gegenteil, je größer die Kreisfläche ist, die er abschreitet, je mehr unerforschtes Gebiet wird sie in sich schließen. Es ist die ungeheure, ununterbrochene Bewegung der sozialen Welt, die es verursacht, daß sie nie aufhört, geheimnisvoll zu sein, und zwar so, daß gerade der erfahrenste Betrachter am meisten davon verwirrt und gequält wird. Alles vorgebliche Wissen täuscht, alles noch so verbürgte Material, alles da und dort ans Licht gezogene Geschehen; sie vermitteln immer nur die ungefähre Kenntnis eines Ausschnitts, einer jeweiligen lokalen Erschütterung, während die entscheidenden Vorgänge und Verflechtungen verborgen bleiben. Das Verhältnis zwischen Aufklärbarkeit und Unzugänglichkeit liegt ähnlich wie bei der Erdmasse, der tiefste Brunnen, die tiefste Bohrung durchstoßen nicht einmal die alleroberste Schicht und Epidermis, das Innere bleibt Mysterium. Es gibt Geister, die daran zerbrechen, daß es sich ihnen nicht entschleiert.
Mit den Jahren hatte sich in Kerkhoven ein unermeßlicher Lebensstoff angehäuft. Ihn zu sichten oder zu verarbeiten und bestimmte Schlüsse praktischer oder theoretischer Natur daraus zu ziehen war ihm nicht gegeben. Dazu fehlte ihm alles. Er war kein intellektueller Mensch. Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Probierstein der Phänomene und Prozesse, in deren Mitte ihn sein Schicksal gestellt hatte. In der Rückwirkung gegen ihn erwies sich der Aggregatzustand, die Affinität, der Gehalt, das Karat der andern, und so mußte er die Menschen gleichsam erst erleiden, um sie verstehen zu können. Vielleicht beurteile ich ihn ungerecht, aber ich glaube, er besaß die Fähigkeit zur Definition und Analyse nur in sehr geringem Grad, und dies war nicht nur ein geistiger Mangel, er trat auch in seinem Charakter hervor. Darin lag vermutlich der Grund, weshalb seine Bedeutung als Wissenschaftler von so vielen angezweifelt wurde. Er hatte wenig Ideen, er hatte nur Gesichte. Er war niemals denkerisch an einem Problem interessiert; betraf es ihn überhaupt, so ging er mit seinem ganzen Wesen darin auf. Eine ständige Gefahr, aber die Weisheit seines guten Dämons hatte Mittel gefunden, ihn davor zu schützen: einmal die Langsamkeit, ja fast Trägheit seiner Reaktionen und dann eine seltsame sinnliche Liebe zu aller Erscheinung. (Wenn ich ein psychologisches Porträt von ihm zu liefern hätte, würde ich von diesen beiden Grundeigenschaften alle übrigen ableiten.) Die Tragödie im Haus Lüttgens und die Sache mit Jessie Tinius, in die ihn der junge Andergast wie der Bote im antiken Drama handelnd einzugreifen zwang, waren natürlich nichts Unerhörtes oder nur Ungewöhnliches in seiner Praxis. Ähnliche Fälle kamen ihm fast täglich unter, ihre Gesetzmäßigkeit, soziale Bedingtheit und ihre typischen Formen hatten wieder und wieder sein beklommenes Nachdenken erregt. Die Anzeichen einer Epidemie ließen sich nicht verkennen, und zwar als einer klinisch-pathologischen Tatsache, wie wenn der Gesamtorganismus der Gesellschaft in einer lebenswichtigen Funktion beschädigt sei. (Schon in einer der ersten Unterhaltungen mit Andergast sprach er davon als von einer »Massenerkrankung des Wirklichkeitssinns«, infektiös insofern, als eine generelle Widerstandslähmung vorlag.) Ja es war etwas wie Eiterung im Körper des Volks, ein krebsiges Geschwür, kein Chirurg konnte da herankommen, auch wenn er übermenschliches Genie besessen hätte, und bei der »Bestrahlung« hätte ein Berg aus Radium nichts genützt, denn so weit sind wir noch nicht, daß die Seele wie wucherndes Gewebe zu beeinflussen wäre durch die Atomwanderung von Elementen. Keine Krankheit schlägt so tief ins Gewissen des Arztes wie die, die er nur zu erkennen vermag, ohne helfen und heilen zu können; bringt ihn das Versagen aller Wissenschaft und Menschenmacht schon im einzelnen Fall zur Verzweiflung, wie erst, wenn er einer panischen Seuche gegenübersteht, bei der die Symptomgleichheit noch erschreckender wirkt als die Unaufhaltsamkeit des Verlaufs. Er kann die Zeit beschuldigen und die menschlichen Einrichtungen verantwortlich machen, die Entartung zentraler Triebe, Schwächung bestimmter Abwehrfunktionen, doch damit wäre nicht gedient, ihm nicht, der Sache nicht. Es muß eine kosmische Störung sein, sagte sich Kerkhoven manchmal, eine Unordnung in den Gestirnen, gegen die anzukämpfen freilich so vergeblich wäre, wie wenn einige Infusorien in einem Wassertropfen beschließen würden, sich dem Wellengang zu widersetzen, den der Sturm verursacht.
In den Raum der bedrohten Vitalität und des zynischen Sterbens, in dem Kerkhoven bisweilen zumute war, als sei alle Jugend von einem Wundmal gezeichnet und wehre sich immer weniger gegen den Tod und immer mehr gegen das Leben, das heißt gegen das Leben-Sollen, gegen das Sein als solches (vielleicht kennt die Geschichte kein schwereres Verhängnis, sagte er sich), trat nun mit einem Mal dieser Etzel Andergast. Trug eine bemerkenswerte Entschlossenheit zur Schau. Kannte offenbar genau den Sitz des Übels und schien gesonnen, dagegen anzukämpfen, zu diesem Zweck gewissermaßen bis an die Zähne bewaffnet. Ließ in naivem Draufgängertum, mit einer Art unschuldiger Frechheit durchblicken, daß er ihn, Joseph Kerkhoven, nicht ungern zum Verbündeten hätte. Oder mißverstand Kerkhoven die Geste? War es nur die Not, die ihn die Haltung eines Fordernden einzunehmen zwang? Ein Hilfeschrei kann kategorischer klingen als ein Befehl. Oder gab er die gutgespielte Kreuzfahrer-Rolle nur vor, gehörte er in Wirklichkeit selbst zu denen, die leukämisch entkräftet am Ende aller Dinge standen, ehe sie noch recht begannen? Nicht wahrscheinlich, doch konnte sich Kerkhoven dem Verdacht nicht ganz entziehen, in manchen Momenten glaubte er eine durch und durch erschütterte Natur vor sich zu haben, die derartige Wälle um sich aufgetürmt hatte, daß es unmöglich schien, sie zu fassen, in andern wieder dünkte ihn, er sei noch nie einem menschlichen Wesen von solcher Ungebrochenheit und Durchsichtigkeit begegnet. Dies verwirrte ihn, er fragte sich verwundert, was ihn an dem jungen Menschen, kaum daß er ein paar Worte mit ihm gewechselt, so unwiderstehlich angezogen hatte, daß es ihn weder überraschte noch befremdete, als er ihn nach dem Besuch bei Doktor Lüttgens plötzlich an seiner Seite und in einer seltsamen Weise zutraulich fand, einer kindlichen Weise fast, bei aller Härte und kalten Gerafftheit, als wäre für ihn keine Distanz vorhanden, kein Unterschied des Alters und der Stellung. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt und durch ein nagelneues, wenn schon 'noch nicht allgemein bekanntes Gesetz dekretiert, daß ein kleiner Student sich einem Mann von Namen, Rang und Jahren »in den Weg stellt«, zunächst in keiner andern Absicht, wenigstens keiner eingestandenen, als um, wie der Interviewer einer Zeitung, im Lauf von zehn Minuten drei Dutzend Fragen an ihn zu richten und, je nachdem die Antwort ausfiel, entweder anerkennend zu nicken oder zweifelnd, mißbilligend, erstaunt den Kopf zu schütteln. Und was für Fragen: »Kann man einen Charakter jemals ganz erkennen?« – »Gibt es überhaupt Charakter oder was man so nennt?« – »Kann man einen Menschen ändern?« – »Sind Umstände denkbar, unter denen eine lebensnegierende Geistesverfassung ansteckend wirkt und welche?« – »Warum ist alle Wissenschaft steril, sobald der Mensch seine Handlungen danach einrichten will?« – »Ist Seelenkrankheit eine Realität oder eine Hypothese, eine vom Innern der Natur aus gesehen unhaltbare?« – »Ist nicht überall da, wo wir ein Minuszeichen vor eine lebendige Erscheinung setzen, ein gewisser mathematischer Hochmut schuld, der die Verkümmerung der Phantasie durch Begriffe und Konstruktionen verdecken will?« Und so fort. Alles atemlos hervorgestoßen, zugleich herrisch und bittend aufs knappste formuliert, immer mit dem Unterton: Halt mich nicht hin, ich muß das unverzüglich erfahren, keine Ausreden, keine Winkelzüge, ich geh' dir nicht von der Falte, bevor ich nicht weiß, wie du darüber denkst. Es schwindelte Kerkhoven. Das Tempo war eine Zumutung für ihn. Es war wie ein Überfall. Es erinnerte an Verhöre, die man im Krieg mit Spionen vornimmt. Er hatte kaum Zeit, die eine Frage, so gut es eben ging, zu beantworten, da kam schon die nächste, mit derselben kalten Glut, derselben gebieterischen, flehentlichen Dringlichkeit. Es war neu. Es war unerhört neu und interessant. Dieser Mensch stand unverkennbar in einem Spannungsverhältnis zur Umwelt, das sein Nervensystem, seine Empfindung, alle aufnehmenden und ausgleichenden Kräfte beständig in die Nähe der Verbrennung brachte, eine Gefahr, die durch den eisernen Willen zur Bändigung und eine ins Innerste gedrungene, fast zur Selbstaufhebung gewordene Skepsis erhöht wurde. Die Grundeinstellung war die: Bilde dir nicht ein, daß ich dir glaube, ich versuch's bloß mit dir wie mit andern auch; wenn ich die übliche Abfertigung in der Tasche hab', Bedauern und schöne Sprüche, troll' ich mich wieder. Oder, etwas konzilianter: So jemand wie dich könnt' ich vielleicht brauchen, dazu müßten wir uns aber erst kennenlernen, und ich weiß doch, wie es geht, ihr habt ja für das Wirkliche niemals Zeit. Allein Kerkhoven wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er das Unausgesprochene, hinter die Not Verdrängte nicht hätte hören können, namentlich wenn es sich mit so aufgespeicherter Gewalt mitteilte. Schon durch seine tiefe Ruhe brachte er die schrillen, herausfordernden, hämischen, rebellischen Stimmen in dem Menschen zum Schweigen, sein ganzes Verhalten gab zu verstehen: Du ereiferst dich ohne Ursache, ich werde Zeit haben, dazu bin ich da. Es kam also Andergast gar nicht unerwartet, obwohl er große Augen machte und ihm die Antwort im Hals steckenblieb, als ihn Kerkhoven am Schluß der sonderbaren Unterredung auf der Straße einlud, andern Tags um drei Uhr in die Anstalt zu kommen; »erstens können Sie bei der Gelegenheit gleich Fräulein Tinius besuchen, und dann ... na, wir werden sehen.« Andergast hielt die Türklinke des Autos in der Hand und warf halb verlegen, halb schnoddrig hin: »Sie haben was Dolles fertiggebracht gestern, Herr Professor ... zehn Jahre meines Lebens gäb' ich drum, wenn ich wüßte, wie Sie das mit Jessie gemacht haben.« Kerkhoven lächelte und winkte ihm zu: »Auf morgen also.«
Es war keine bloße Floskel, die schmeichelhaft sein sollte, die Bemerkung über Jessie Tinius. Er hatte gleich an Lorriner gedacht, denn was mit Lorriner geschehen sollte, lag ihm schwer auf der Brust. Es war eine Sache, die ihm den Atem verschlug und den Himmel verfinsterte, zu schweigen von verschiedenem anderm, sehr Bedrückendem, zum Beispiel allem, was mit Neil Marschall zusammenhing. Aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als daß er gegen Kerkhoven die geringste Andeutung darüber hätte fallen lassen, obschon in der Folge kein Mangel an Gelegenheiten war und Kerkhoven nur darauf zu warten schien. Manchmal sah er ihn an, als wollte er sagen: Na, was geht vor? Heraus mit der Sprache! Dann kehrte sich Andergast ab und warf in seiner trotzigen Manier, mit einem kurzen Ruck, den Kopf in den Nacken. Nein, er mußte das alles allein ausfressen, was immer draus entstand. Und dabei blieb er, bis er einfach nicht mehr weiterkonnte. Nur hingehn mußte er zu dem Mann, nur bei ihm sein. Täglich, zweimal täglich, wieder, wieder. Er nahm ihn auf, der Mann, er hatte Zeit, er schuf Zeit für ihn. Da war etwas Unbezwingliches, das jeden Einwand wegfegte. Da war zum ersten Male, bei Gott, zum allerersten Male, ein wirklicher Mensch. So wie man sich das immer vorgestellt hatte. Daß man einen Menschen träfe. Neunzehnhundert Millionen soll es von der Sorte geben, schön, weiß ich, weiß ich, Volkszählung und so, aber wenn man ein Sieb hätte, um sie durchzusieben, die neunzehnhundert Millionen, um, wie man zu sagen pflegt, die Spreu vom Weizen zu sondern, da bekäme man ein Gebirge von Spreu und hoch gerechnet ein paar Handvoll Weizen. Hat er nicht irgendwo gelesen, der Mensch müsse zertreten werden, wenn er nicht angebetet werden kann? Großartiges Wort. Aber der Mensch zum Anbeten, wo ist er, wo findet man ihn, gibt es heilige Haine, wo er sich versteckt hält? Doch wozu die übertriebenen Ansprüche, wozu gleich anbeten wollen, der Mensch braucht ja nur Augen zu haben, Menschenaugen, eine Menschenstimme, – eine Menschenseele. Ja, macht euch lustig darüber, soviel ihr wollt, eine Seele, eine Menschenseele. Und die hatte der Mann Kerkhoven. Zweifellos. Durch diese Eigenschaft und außerdem noch einige andere war er zur Menschenwürde qualifiziert. Stand oben, auf einem erhöhten Punkt, so daß man zu ihm hinaufschauen mußte. Angenehm, zu einem Menschen hinaufschauen. Ihr feixt? Ihr nennt das primitiv? Mag sein, ich bin eben ein wenig primitiv. Ihr habt doch von Pythagoras gehört und der goldnen Hüfte, die seine Jünger an ihm zu sehen glaubten? Der Mann hat das auch, der Mann hat die »goldene Hüfte«. Nur die Meister haben die goldne Hüfte, die, deren Worte man weitergibt und dazu wie die Jünger des Pythagoras spricht: autos epha, er selbst hat es gesagt.