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Renate saß in ihrem Zimmer, das vom sanftesten Licht der verhängten Lampe erfüllt war. Durch die offenen Fenster blickte sie in die durchrauschten Bäume, auf deren gelbgewordenes Laub noch zitternde Lichtreflexe fielen. Im Erdgeschoß war das hastige Auf und Ab der Diener, die unter der Leitung der Frau Fuchs die Tische deckten. Renate schien es rätselhaft, wie der Tag vergangen war. Sie hatte ihn kaum gesehen. Sie hatte stundenlang gelesen. Sie kaufte jetzt viele Bücher, die man ihr als modern pries, und sie verschlang sie, wie Verhungernde das Brot verschlingen. Aber was sie gewann, war fern und ungreifbar, wilder Dunst, leere Befürchtungen. Dann hielt sie wieder Wanderers Brief in Händen, der ihr dankte für ihr Vertrauen, und der ihr schrieb, daß es Dinge gäbe, die sich im flüchtigen Vorbei-Erleben weit ungeheurer darstellten, als sie die Gewohnheit des Daseins schließlich gestatte. Eine feige Auskunft, schnörkelhafte Worte, das empfand sie wohl. Sie bereute, etwas erwartet zu haben. Aber sein sicheres und ruhiges Wesen hatte sie ermutigt.
Loni kam herauf, sie zu rufen. Sie warf noch einen Blick auf das bunte Allerlei, das in farbiger Dämmerung vor ihr lag, und verlöschte das Licht. Stärker rauschten die Bäume, die Nacht schien ruhelos zu werden. Die Gräfin und die Baronin Terke, Ernestine Jensen mit ihrer Mutter sollten kommen. Aber wünschte Renate, daß jene kämen? Wünschte sie die lauten Zärtlichkeiten, die nichtssagenden Küsse, den Austausch wohlbekannter Geheimnisse? Nein. Wünschte sie den Herzog mit seiner kalten Ruhe, in dessen Augen es bisweilen von schwüler messender Begierde aufzuckte? Nein. Aber wußte Renate, was sie wünschte? Nein.
Auch Wanderer war eingeladen worden. Er hatte vorgestern seine Karte abgegeben.
Renate riß den roten Crepeschirm weg, der über der hohen Lampe neben dem Flügel hing; sie konnte das rötliche Licht nicht vertragen. Frau Fuchs dachte sich: nun ja, die jungen Mädchen lieben es, ein wenig Schreckensregiment zu führen. Sie lächelte nachsichtig und stülpte später den roten Stoff wieder über. Solch träge Geduldigkeit war ihre stärkste Waffe. Im übrigen gebärdete sie sich, als ob sie selbst Herzogin werden sollte, sprach so langsam, als wünsche sie kein Wort zu verschwenden, bevor sie bei Hof empfangen worden.
Die Damen Terke kamen und gleich darauf auch Jensens. Die kleine Baronin schnaufte und keuchte ihre Liebenswürdigkeiten hervor, und ihr über und über verschminktes Gesicht hatte etwas Gespensterhaftes. Beständig wurde über sie gelacht. Sie sagte Wahrheiten, die gleichsam unter der Haut lagen, so daß es kitzelte, wenn man sie berührte. Die junge Gräfin Adele war in Gesellschaft ganz verändert. Sie liebte es zu schweigen, war auf das Mädchen mit der schönen Figur abgerichtet, machte keine Bewegung, die nicht vornehm war, sprach nichts ohne die eindrucksvolle Schwere einer denkenden Persönlichkeit und lächelte süß. Wenn sie aber lachte, dann leuchtete es in ihrem Wesen von Oberflächlichkeit. Ernestine Jensen dagegen war häßlich. Wenn sie entzückt oder erfreut war, senkte sie den Kopf und drehte die Augen nach oben. Sie verging unter geheimen Wünschen, aber aus Furcht, man könne es ihr anmerken, (weil sie in schwermütigen Stimmungen noch weniger einnehmend aussah) bepanzerte sie sich stets mit dem entzückten Blick von unten nach oben.
Man sprach von einem neuen Buch mit dem scheinbaren Vermögen, zu verstehen. Es wurde kritisiert, als ob ein Buch wie ein Kleid sei, das Jedem passen müsse. Die Gräfin Terke saß am Flügel, und ihre Finger huschten über die Tasten, daß die Töne wie auf Sammt zu gleiten schienen. Renate hörte zu, und um es zu verbergen, lächelte sie abwesend bei allem was gesagt wurde, – auch dann, als die Baronin eine sehr tragische Geschichte erzählte, worin Jemand ein junges Mädchen verführt hatte und mit ihr den Hungertod in Brüssel gestorben war. Eine einleuchtende und tief moralische Geschichte. Fräulein Jensen errötete, als das Wort Geliebte fiel, und blickte rasch auf die Spitze ihres Lackschuhs. Die Baronin lachte quietschend, denn selbst in der schauerlichen Katastrophe des Hungertodes hatte sie eine witzige Nuance gefunden, welche nun die beiden jungen Mädchen, Adele und Ernestine, zum Erröten veranlaßte. Renate saß und dachte an ein fremdes Land oder an eine fremde Stadt.
Ein Lakai meldete den Herzog, und einige Minuten später erschienen Renates Schwestern zugleich mit Anselm Wanderer. Sie waren sehr laut, und da sie zu glänzen suchten, kehrten sie ihr ganzes Wesen hervor. Der Herzog trat ein, Alle erhoben sich, und der ganze Raum schien von Feierlichkeit erfüllt. Renate ging ihrem Verlobten entgegen, und sie küßten sich, – höflich. Der Herzog war etwa fünfundvierzig Jahre alt. Sein Auftreten war voll Ruhe und Kälte. Er machte den Eindruck eines weitgereisten Fremden, den die Gewohnheit des Vielsehens aller Unmittelbarkeit der Gesichtszüge beraubt hat. Seine Augen hatten etwas Stählernes, kurz und kühl Prüfendes. Er hatte nichts Höfisches an sich, erinnerte vielmehr in seinem Wesen an einen russischen Emigranten von hohem Adel. Sein Händedruck erweckte das Gefühl der Verläßlichkeit. Man rühmte seine unabhängige Haltung, seinen weiten Blick in politischen Dingen, seine Abenteuer mit Frauen, seine Reisen und seine Stallungen.
Renate sah zu, wie er sich mit den Damen unterhielt. Sie saß am Flügel, den Kopf zurückgelehnt, und eine tiefe Gleichgiltigkeit gegen ihr Leben erfaßte sie. Die gesellschaftliche Höhe, in die sie emporgetragen werden sollte, erschien ihr wie der eisige Nordpol. Sie dachte an Elwine Simon mit einer Mischung von Freundschaft und Grauen. Die Schwestern und die beiden anderen Mädchen näherten sich kichernd, thaten liebenswürdig vor ihr, und baten sie, zu spielen. Jedenfalls wünschten sie nur, daß man höre, wie hübsch sie bitten konnten. Renate war ihnen zu Willen und spielte einen Walzer, von dem nur ihre Hand etwas wußte. Währenddem klagte die Gräfin Terke dem Herzog vom Ueberhandnehmen des Sozialismus, was dem Herzog natürlich nicht unbekannt war. In der Ecke vor dem Paravent erzählte die Baronin dem jungen Wanderer in ihrer zappeligen und parodistischen Weise, daß in den Lebensanschauungen des Hundes Tiger eine entscheidende Wandlung eingetreten sei, indem er sich jetzt für Musik interessiere. Die jungen Mädchen aber sagten: »Reizend! Ganz entzückend!« als Renate fertig war.
Sie blieb mit ihrem wundervollen Spitzenkleid am Fußrad des Flügels hängen, und Wanderer sprang herzu und befreite sie geschickt.
In dem Zimmer, das gegen den Garten führte, war ein Balkon, der im Sommer offen und vom Oktober ab mit Glaswänden versehen wurde. Dort saß Wanderer mit Frau Fuchs. Sie erzählte ihm von der letzten Badereise, eine Erzählung, die eigentlich nur aus Stationsnamen bestand. »Wir kamen durch Augsburg, nun, eine schöne Stadt, jawohl, eine sehr schöne Stadt. Stuttgart, auch eine schöne Stadt. Freiburg, nun, (dieses bedächtige Nun spielte eine große Rolle) eine ganz hübsche Stadt. Jaa. Dort bei Professor Schäufflin hatte Renate den Herzog kennen gelernt, jawohl. Man kann wirklich sagen, das war Liebe auf den ersten Blick, jawohl. Bei ihm wenigstens. Nun, mit Renate ist es so schwer. Man weiß nie etwas bei ihr. Nun, dann kamen wir nach Baden-Baden. Ein sehr schöner Ort, fast feenhaft, aber sehr heiß. Eines Tages ritt Renate aus, das Pferd wurde scheu, jawohl, mitten auf der großen Promenade, aus der Menge springt ein Herr, fällt dem Tier in die Zügel ...es war der Herzog. Nun, von da an trafen sie sich öfter, das heißt selbstverständlich in meiner Gegenwart. T – jaa!«
»Sehr interessant,« murmelte Wanderer höflich. Die Sprechweise der alten Dame erinnerte ihn an das Auspressen einer welken Citrone. Sie selbst behandelte jedes Wort wie einen seltenen Leckerbissen, ließ es förmlich auf der Zunge zergehn und drückte dann die Augen zusammen, besonders wenn sie »nun« sagte, was ihr sehr großen Genuß zu bereiten schien.
Renate kam rasch, um ihre Mutter wegen der Weine zu fragen. Wanderer erhob sich, aber Renate ließ sich müde auf den Stuhl fallen, den ihre Mutter eingenommen. »Ihren Brief habe ich erhalten,« sagte sie stirnrunzelnd. »Uebrigens war ich böse, daß Sie mir geschrieben haben.«
Da er schwieg, fuhr sie etwas nervös fort: »Meine Mutter hat Ihnen wohl die Geschichte aus Baden-Baden erzählt? Ja, das thut sie immer. Aber ich muß Ihnen gleich sagen, es war nicht der Herzog, der mein Pferd hielt, sondern sein Begleiter, Major von Stahleck. Meine Mutter findet, es hätte eben so gut der Herzog sein können. Da erzählt sie es eben so. Trotzdem, sie ist eine Herzensgute.«
»Sie sind sonderbar unruhig,« sagte Wanderer, indem er sie anschaute.
»Ja, ich habe zu wenig geschlafen. Gestern waren wir bei Tristan.«
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Es hat mich sehr ermüdet. Ich versteh auch diese Musik nicht. Das heißt, manchmal hab ich das Gefühl, wenn Du das verstündest, müßtest Du sehr unglücklich sein, dann hör ich eine Zeit lang gar nicht mehr hin. Begreifen Sie das?«
»Nicht ganz. Was ich Ihnen sagen wollte, gnädiges Fräulein, – ich habe für Elwine Simon eine Stelle gefunden. Sie ...ist auch schon dort. Sie ...hat auch eine andere Wohnung –«
Er hielt inne. Renate wurde blaß, dann rot, dann lächelte sie, dann legte sie flüchtig ihre Hand auf das Handgelenk des jungen Mannes und sagte: »Das will ich Ihnen nie vergessen.« Sie stand auf und ging, mit leichterem Schritt als sie gekommen war.
Wanderer hatte nicht den Wunsch, in den großen Salon zurückzukehren, aus welchem deutlich das Raunen der Stimmen drang. Auf einer Staffelei in der Ecke stand das von Renates Hand skizzierte Porträt Gisas. Es erinnerte ihn an ein merkwürdiges und aufregendes Gespräch mit Süssenguth, das sich ungefähr in folgender Weise entwickelt hatte.
»Sie, – diese Gisa Schumann ist das Reinste, Vollendetste, Herrlichste, Beneidenswerteste an Körper und Seele!« (Man kennt Süssenguths Jargon).
»Ja, sie gefällt mir.«
»Gefällt mir! Eine Individualität! Sie hat die Melancholieen des Lebens empfunden, schwere Schicksale durch die Kraft ihrer Jungfräulichkeit besiegt. Da sprechen Sie von ›gefällt mir‹?« Süssenguth war außer sich.
Wanderer besänftigte ihn und bekam nun unter dem strengen Versprechen der Verschwiegenheit zu hören, was Süssenguth von Gisa selbst wußte. Gisas Eltern, armen und habgierigen Leuten war durch eine vornehm aussehende Dame mitgeteilt worden, daß sich ein hochgestellter Herr vom Hof lebhaft für Gisa interessiere. Er hatte sie im Atelier eines Malers gesehen. Unterhandlungen wurden gepflogen, von denen das junge Mädchen nichts wußte und nichts erfahren sollte. Eine hohe Geldsumme wurde den Eltern versprochen, falls sich Gisa unter gewissen Bedingungen bereit erkläre. Es war in aller Form ein Kauf. Gisa wurde in ein ehemaliges Atelier bestellt, das in der Amalienstraße lag, und wo die vornehme Dame sie nach langen Ueberredungskünsten bewog, ihr Akt zu stehen. Gisa war sonst nur Kopfmodell und kein Betrag hätte sie zu jener anderen Art des Erwerbs bewegen können; das außerordentlich liebenswürdige und mütterliche Wesen der alten Dame zerstreute endlich ihre Bedenken. Das Atelier lag neben der Wohnung Süssenguths, die ebenfalls früher als Atelier gedient hatte, jetzt aber mehr einer Höhle als der Behausung eines Menschen glich. Wie täglich, schlief Süssenguth bis tief in den Nachmittag hinein, als er durch wiederholte dumpfe und furchtbare Schreie geweckt wurde. Kaum hatte er sich notdürftig angekleidet, als er das junge Mädchen nackt, besinnungslos, einer Wahnsinnigen gleich an seinem Fenster vorbeilaufen sah, die Arme in der Luft, den Kopf zurückgeworfen. Er erkannte sie, erriet es beinahe; seit langem war sie ein Gegenstand seiner Begeisterung gewesen, hatte er Gefahren für sie gewittert. Er rannte auf den Hof, in den Flur, hatte dort die jungen Leute bei ihr getroffen. Das Nachbar-Atelier war indes verlassen worden, – unbemerkt, denn das Hofgebäude hatte auch einen Ausgang nach der Türkenstraße. Gisa wollte lange nichts erzählen, nicht daran erinnert sein; das Ereignis hinterließ in ihrem Innern einen Zustand krankhafter Betrübnis. Gerichtliche Schritte wurden natürlich unterdrückt; es geschah alles, um dem Vorfall und seinem Opfer Vergessenheit zu bringen.
So erzählte Süssenguth. Jedes Wort schien an seinem Nebenwort zu leiden; er keuchte die Sätze heraus, sein Körper war von Krämpfen des Mitleids und der Wut erschüttert. Schließlich fügte er hinzu, er wisse wohl, welchen hohen Herrn er mit solcher Anklage treffen könne, aber vieles verschließe ihm den Mund. »Und nun, Verschwiegenheit lieber Freund!« Damit war er um die Ecke des Odeonsplatzes verschwunden. –
Wanderer wurde durch ein unterwürfiges Kichern aufgeschreckt und schämte sich der unschicklichen Einsamkeit. Es waren die Schwestern mit dem Herzog, und sie umtrippelten ihn wie zwei scheue Hühner. Vor der Pastellskizze Gisas, – einer lebendigen und charakteristischen Zeichnung – blieben sie stehen. Der Herzog fuhr plötzlich mit beiden Händen in die Taschen, eine seltsame Bewegung, von dem Platz aus gesehen, wo Wanderer saß. Dann wandte er sich heftig nach einem Tisch mit Photographien, warf die Cartons nervös umher und bat um ein Glas Wasser.
»Sie gehen da herum wie ein junger Bär,« sagte die Baronin Terke zu Wanderer. Sie saß, wie sie sich ausdrückte, »mollig« in einem Winkel und gab vor, zu beobachten. In Wirklichkeit schlief sie meist. Treffende Vergleiche fand sie stets; Wanderers verdeckte Schüchternheit konnte nicht besser verspottet werden. Er wollte gelangweilt aussehen und erschien ängstlich. Er lächelte verzwickt, wenn ihn jemand ansprach, drehte mit eleganter Bewegung das formvollendete Schnurrbärtchen, machte abwechselnd ein wohlwollendes und resigniertes Gesicht, seufzte, blickte dies und das an, anscheinend zerstreut, in Wirklichkeit lauschend wie ein Dachs in seinem Bau. Komische Mischung von Eitelkeit und Ueber-der-Sache-Stehen.
Er glaubte, sich mit den jungen Damen unterhalten zu müssen und nahm lächelnd neben Adele von Terke Platz. »Spielen Sie Klavier, gnädiges Fräulein?« – »Ja.« – »Spielen Sie gern Klavier?« – »O ja.« – »Was spielen Sie am liebsten? Klassische Musik?« – »Ja, auch klassische Musik ...« – »Spielen Sie z. B. den Liebestod?« – »Liebestod? Nein. Den Totentanz spiele ich jetzt. Uchh, das ist unheimlich; aber nicht klassisch.« – »Es muß ja nicht klassisch sein.« – »Nein, müssen thut es nicht. Davon ist keine Rede.«
Entmutigt, aber mit demselben Lächeln wandte er sich an Ernestine Jensen. »Lesen Sie viel, gnädiges Fräulein?« – »Ach, eigentlich nicht.« – »Was lesen Sie meistens?« – »Jetzt les' ich Zlatarog von Baumbach. Es ist so schön. So etwas kann doch nur ein Dichter schreiben.« Sie wandte die Augen verzückt nach oben. »Ja, Sie haben Recht, nur ein großer Dichter vermag das.« – Aufmerksam gemacht durch den Ton, streifte ihn das junge Mädchen mit einem schnellen, argwöhnischen Blick und eilte dann mit etwas gewaltsamer Herzlichkeit auf Renates Schwestern zu, die aus dem Kichern gar nicht mehr herauskamen.
Die Baronin war inzwischen atemlos und luftschnappend bemüht, eine nicht ganz einwandfreie Geschichte von einem Major zu erzählen, der nach Hause gekommen war, und seine Gemahlin überrascht hatte. Die Gräfin biß sich fortwährend auf die Lippen, wurde blaß und rot, aber die mollige Baronin versenkte sich ganz in die Komik des Vorfalls, und war ihrer Sache gewiß. In der That war es schwer, ihr irgend etwas übel zu nehmen, und sie baute fest, mit heimlicher Ironie, auf ihren Enfantterrible-Ruf. Renate empfand eine herzliche Zuneigung zu dieser Frau. Vielleicht nur, weil sie so natürlich war. Sie hörte ihrem gleichmäßig hinfließenden Geplauder zu, und eine andere Welt glaubte sie darin auftauchen zu sehen. Denn Leben und Erlebnis mußten es sein, auf deren dunklem Grund sich die verschnörkelten Arabesken ihres Humors malten.
Der Herzog führte Renate zu Tisch. Während sie mit ihm ging, hörte sie den Sturmwind tosen, und unwillkürlich schob sie ihren Arm tiefer in den des Verlobten. Aber sie hörte nun den Sturm nicht weniger deutlich. Beim Braten wandte sich der Herzog zu ihr. »Was ist das für ein Modell, Renate, das Du für Deine Pastellskizze benutzt hast?«
»Schön, nicht?« gab Renate zurück. Doch über ihre Stirn flog ein Schatten.
»Ein wenig zu ...orientalisch, finde ich.« Der Herzog lachte gekünstelt. »Aber ich meine, wie Du dazu gekommen bist?«
»Kennst Du sie denn? Das heißt natürlich, ob Du sie schon gesehen hast. Es ist neulich etwas Schreckliches mit ihr passiert.«
»Hat sie Dir selbst davon erzählt?«
»Sie selbst? Nein. Sie ist gar nicht plauderhaft. Ich habe es oben von der Malschule aus gesehen, bei Frau Herz. Ich habe dort jemand besucht.«
»Ach so. Das ist allerdings –« Der Herzog schwieg einige Sekunden und fuhr dann fort: »Du würdest mich sehr zu Dank verpflichten, Renate, wenn Du dieses Modell aufgeben würdest. Die Sache ist mir aus einem bestimmten Grund unsympathisch.«
Renate blickte befremdet vor sich hin. Das klang deutlich. War das die erste von den Fesseln, welche Süssenguth gemeint, als sie in Bogenhausen gewesen war? Die Worte lagen noch unbeweglich in ihrem Ohr...Ich möchte nicht um eine Kaiserkrone die Augen haben, mit denen Sie die Zukunft sehen müssen. Was für unerhörte Hoffnungen geben Sie auf gegen ein paar triste Gewißheiten! Vis jetzt sind Sie gegangen. Nun werden Sie geschleppt, geschleift, gehetzt. Bis jetzt haben Sie geredet oder geschwiegen, nach Willen. Nun werden Sie schweigen müssen, wenn Sie reden wollen, und an die Stelle Ihrer Worte werden Seufzer treten. Ich kenne die Tragödien der Frau! Märtyrerinnen einer Etikette!
Die kühnen Worte hatte sie hingenommen und mit dem Schirm Linien in den Sand gezogen. Sie begann zu ahnen, – und seufzte.
»Nun, wir werden im nächsten Sommer nach Ischl gehen«, hörte sie die Mutter sagen. »Ischl, ein sehr schöner Ort, Jawohl.« Eine glückliche Frau bei ihrem Nun nun Jawohl. Renate sagte dem Herzog, sie freue sich über den Entschluß, das Hochzeitsfest im engsten Kreis zu feiern, von jeder Reise vorläufig abzusehen und das einsame Schloß in Gräflfing als Quartier zu wählen. Fern von der Stadt werde sich das neue Leben harmonisch entwickeln. Fremde Hände beschmutzen ein so empfindliches Ding, wie es eine Ehe schließlich ist. Sie brachte das wie die Erzählung eines Traumes vor. Der Herzog schwieg. Diese Sprache gab ihm zu überlegen. Wenn er Renate liebte, geschah es nur bis zu dem Punkt, wo sie zu denken anfing. Er fand in ihrem Wesen etwas Berauschendes. Ihre ungewissen Blicke, das ungewisse Hin und Her ihrer Stimmung, ihre oft so undeutbare Schweigsamkeit, ihre herbe Zurückhaltung, die feine Mischung von frauen- und mädchenhafter Art, alles übte große Macht über ihn aus. Mit einer Zärtlichkeit fast wider Willen hatte er sich ihr zugewandt. Sie, in immer gleicher, leicht verschleierter Angst, mit der flehentlichen Bitte um Geduld in den großen Augen, erschien selbst in den Stunden heiterer Ausgelassenheit wie eine Trostbedürftige.
Wanderer, der ihr gegenübersaß, von einem Rosenbouquet halb verborgen, blickte fortwährend auf ihre bleichen Hände. Fräulein Jensen hatte ihm erzählt, in vierzehn Tagen kehre der Fabrikant Fuchs von einer italienischen Reise zurück, dann finde die Vermählung statt.
Das Abendessen war zu Ende.
Am Kamin des Nebenzimmers war ein lauschiger Platz, halb durch eine Palme, halb durch einen hohen Schirm gebildet. Dort stand Wanderer, als Renate hinzukam. Zweifelnd blickte sie ihn an, denn sie glaubte, der Abend habe ihn verstimmt. Dann lächelte sie zu Boden, – mit gesenkten Augen. Von neuem wurde Wanderer von jenem stürmischen Gefühl der Sympathie überflutet, wie neulich auf den Feldern. Er glaubte, nur dafür gelebt zu haben, daß sie jetzt so vor ihm stehen könne, in ihrer bitteren Unbewußtheit, mit ihrem bitteren Lächeln.
»Wie verbringen Sie eigentlich den Tag?« fragte Renate, zerstreut mit dem Fächer spielend.
Wanderer machte eine Grimasse: »Ich thue nichts, – jetzt weniger als je. Nie war ich so faul. Meine einzige Beschäftigung ist, jeden Nachmittag in die Pinakothek zu gehen, in die alte.«
»Jeden Nachmittag?«
»Ja. Bis es dunkel wird. Es ist so still dort. Höchstens ein paar hölzerne englische Damen oder ein Copist, das ist alles.«
»Ich möchte Sie um etwas bitten,« sagte Renate hastig, indem sie Platz nahm. »Aber Sie dürfen mir nicht böse sein.« Es war die Geschichte mit Gisa, die sie zu wissen begehrte.
Wanderer erblaßte. Er hätte ja sagen können, er wisse nichts. Aber die Lust, sie zu fesseln war stärker. Er machte in umständlicher Weise ein Geheimnis daraus, begann wie ein geschulter Romancier mit Nebensächlichkeiten, um sich dann kraftvoll auf das Thema zu stürzen. Er sagte, was er von Süssenguth erfahren hatte.
Renate blieb still sitzen als er fertig war und blickte in die Flammen des Kamins, die hoch aufspritzten wie glühende Gischt. Wahrscheinlich hatte etwas Grauenhaftes und Düsteres von ihr Besitz ergriffen, aber kaum leserlich stand es in ihren Zügen. »Es ist heute ein schrecklicher Sturm,« sagte sie, »er reißt uns noch das Dach fort.«
Wanderer empfand etwas von dem Verdruß eines erfolglosen Schauspielers. Doch sogleich wurde er bestürzt darüber und sagte voll Scham und tiefem Ernst: »Ich versteh das nicht. Ich versteh nicht die elende Jagd nur nach dem Körper. Ich weiß ja nicht, ich hab es ja nie empfunden, aber mir könnte ein Weib nichts sein, ohne daß mir ihre leiseste Besorgnis ebenso teuer wäre wie ihr Kuß –«
Renate machte eine heftige und erschreckte Bewegung mit der Hand. Wanderer brach ab und sah sich um. Dann sagte das junge Mädchen leise, ohne vom Feuer wegzusehen: »Sie haben das noch nie empfunden, sagen Sie?«
Wanderer beugte sich kaum merklich vor und schüttelte den Kopf. »Die Liebe? Nein.« Er blickte jetzt ebenfalls ins Feuer. »Ich muß Ihren eigenen Ausdruck gebrauchen: ich suche.« Wieder hatte er das Gefühl des Unwürdigen, da er so hohe Worte machte, weil ihm das einfache versagte.
Renate schüttelte sich wie frierend und kehrte in das Zimmer zurück, das ihr nun wie ein Panorama erschien, fremd und aufdringlich. Wie zart und weiß ist ihre Haut, dachte Wanderer, der ihr nachschaute, wie sie die bloßen Schultern deutlich wiegte.
Die Gräfin spielte Chopin opus 37, 2. Aber es war nichts weniger als Chopin. Vielmehr war es der Aerger über die ausschweifende Redseligkeit ihrer Schwägerin, die bei dem ergötzlichen Thema Tiger angelangt war. Dann sang Adele von Terke: Ich hört ein Bächlein rauschen. Ihre Stimme war scharf wie Stahl.
Um elf Uhr fand allgemeiner Aufbruch statt. Renate begleitete den Herzog bis zum Thor. Die jungen Mädchen waren sehr laut und stellten sich, als ob sie leise wären. Die Gräfin war verstimmt, die Baronin erzählte noch in aller Eile eine entlegene Geschichte von »ihrem Freund« Dingelstedt, Wanderer kämpfte mit Verachtung und Trauer. Es regnet, hieß es, und er knöpfte den Mantel fest zu und stellte den Kragen in die Höhe. Die Kutscher standen schweigend am Zaun, und ihre gelben Pelerinen flatterten. »Auf Wiedersehen, Renate,« sagte der Herzog. Sie reichte ihm die Hand mit einem Lächeln, das keines war, blickte sich nach Wanderer um, der wartend stand, sich zu verabschieden. Es fror sie in bloßen Schultern und mit scherzhaftem Zähneklappern lief sie ins Zimmer.
»Nun, es war ein hübscher Abend, ein sehr hübscher Abend,« sagte Frau Fuchs. »Bist Du zufrieden mit dem Herzog, Renate?« Und da Renate schwieg: »Nun, ich denke, Du kannst zufrieden sein. Als Fuchs mich heiratete, hab ich mir davon nichts träumen lassen. Jawohl. Und Fuchs war doch kein unübler Mann. Nun, Mädchen, ich denke, ihr könnt zu Bette gehen.«
Damit waren Loni und Martha gemeint, die so viele Geheimnisse hatten, daß man glauben sollte, sie könnten in einer einzigen Nacht nicht zu Ende kommen. Sie schliefen im oberen Erkerzimmer, jede in einem Bett mit himmelblauen Damastdecken. Doch meist lagen sie beisammen, weil sie trotz der Ampel Furcht hatten, und weil so viel leise zu flüstern war, die Decke über dem Kopf.
Frau Fuchs las noch die allgemeine Zeitung und Renate ging rastlos umher. Schließlich trat sie ans Fenster und hörte und sah die rauschenden Bäume. Verlassen lag der Garten, die Sträucher tropften, in zerflossenem Graugelb dehnte sich der Himmel. Dann ging sie zum Klavier, begann zu spielen. Schwere, getragene Ryhthmen entglitten ihren Fingern, eine düstere und monotone Melodie, als ob sie die Regen- und Sturmnacht in Töne bringen wollte. Plötzlich wurde ihr das Herz so schwer, daß sie die Hände fallen ließ und die Augen schloß.
»Nun, Du spielst da trauriges Zeug zusammen, wahrhaftig Renate,« sagte Frau Fuchs aus ihrer Zeitung schielend. »Ich denke, gerade Du hast doch keine Ursache dazu.«