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Zehntes Kapitel

1.

Lieber Herr Gudstikker, mit dem, was Sie im letzten Brief behauptet haben, bin ich nicht ein verstanden. Nachdenken hat es mich jedoch lassen. Ich will mich nicht lächerlich machen und philosophieren. Aber das Leben ist doch nicht wie ein Markt, wo nur das feilgeboten wird, was man grad haben will. Und wenn Sie behaupten, daß man nur den Schein von freiem Willen hat, widerlegen Sie sich, doch selbst. Lachen Sie mich nur aus, ich bitte Sie, ich verstehe wirklich nichts davon. Sie fragen, ob ich unglücklich bin. Darauf weiß ich keine Antwort. Seh ich doch jeden Tag viele, die viel unglücklicher sind oder sein müssen. Ich sehe viele Frauen, denen auf dem Gesicht geschrieben steht, was auch mich bedrückt. In Ihren Büchern ist mir so sehr aufgefallen, wie Sie die Frauen schildern. Als ob alle warten würden, Schönes und Großes zu erleben, und sie werden gemein und hausbacken, weil statt des Schönen und Großen Gemeines und Hausbackenes kommt. Aber ich schreibe so, und das ist es gar nicht, was ich empfinde. Die Worte sehen aus, als wollte ich imponieren. Das ist nicht der Fall. Ich glaube, es kommt im Leben nur darauf an, daß man sich selber kennt und nicht überrascht wird durch den Weg, den einen sein Temperament führt. Es giebt jetzt viele nachdenkliche Sachen für mich, mehr als früher. Aber ich finde keinen Halt und quäle mich nur. Bald giebt es dies, bald das zu sorgen. Schreiben Sie mir nur bald wieder. Ich freue mich, wenn ein Brief von Ihnen kommt, da giebt es immer Neues. Ich kann nur Ihre Schrift schwer lesen. Sie ist so klein. Die meine ist doch leserlich? Ich gebe mir aber auch Mühe. Bestens grüßt Renate Fuchs.

Verehrtes und liebes Fräulein, ich bin gewöhnlich kein Freund vom Briefschreiben, doch bei Ihnen kommen mir neue Sympathieen dafür. Ich kann Ihre Briefe oftmals lesen, denn sie haben einen Duft der Einfachheit an sich, der sich nicht bezeichnen läßt. Fürchten Sie nicht, daß ich schmeichle. Damit muß man vorsichtig gegen Sie sein, denn Sie sehen nicht – aber Sie fühlen scharf. Wenn ich an Sie denke, und das ist oft, klingt in mir nur eine Stimme: das hast Du versäumt. Ja, ich habe Sie versäumt. Darüber kommt selbst mein Fatalismus nicht hinweg. Mein Gott, wie leb ich auch dahin! Was für ein schmutziges Metier, das Litteratengeschäft. Man verkehrt mit einigen Idioten, die gerade den Nahm der Sache verstehn, die davon leben, Tinte zu schwitzen, und mit einigen Hundert, welche die Natur blos als Speisebehälter benutzt. Und der elende Fetzen Ruhm, wie unnütz! Er besteht darin, daß einem ein paar verlorene naive Gemüter zugrinsen, daß einige hysterische Weiber sich verliebt anstellen, daß man vom Kot der öffentlichen Angelegenheiten bespritzt, daß man vergessen wird, wenn man nicht unter die Leute geht, daß einen die Freunde um die Bücher betteln, die man geschrieben hat und die sie sich nicht kaufen mögen, und daß einige Esel vom Fach berechtigt sind, uns lehrerhaft zu behandeln. Freundelos steh ich da, bin jetzt vierzig Jahr alt, habe aufgehört zu suchen und ernstlich angefangen, zu verachten. Ich schicke Ihnen da das kleine Gedicht »Der Schatten« mit, das noch zuguterletzt aus dem spärlichen Born meiner Lyrik geflossen ist. Ueberzeugen Sie sich von der Stimmung meiner Nächte. Ich habe viele Frauen gekannt und manche geliebt, und nicht ein Fingerring ist mir davon geblieben. Als ich vor langer Zeit die Heimat verließ, die schönen, stillen Ebenen Frankens da oben, geschah es mit unvergleichlichen Hoffnungen. Meine Seele war voll unausgeträumter Träume, das Leben war wie ein buntes Kleid für mich, das man nur anzulegen braucht, um sich und Andern zu gefallen. Seitdem! Bittere Zeiten sind über mich hinweggeschritten. Und wie sonderbar, daß ich dastehe und alles betrachten kann und die Hände rühre, während unsichtbare Mächte mich als Stein unter Steinen den Berg hinunter zum Abgrund stoßen. Doch wohin gerate ich! Seien Sie nicht ungehalten über den Tumult von Worten, aber Sie sehen daraus, welchen Einfluß Sie schon auf mich üben. Die ganze Salbaderei wird Sie kaum interessieren, ist vielleicht nur gut, daß Sie Offenheit mit Offenheit vergelten. Was Sie schreiben, ist nur ein Schweigen über das Wichtige. Sie sind eine verschwiegene Natur. Ich begreife, daß Ihre Feder sich sträubt, doch vielleicht zeigt Ihr Mund sich williger. Ich bin eine Art geborener Beichtvater. Es kommt vor, daß gleichgiltige Leute mir bei ganz gleichgiltigen Gelegenheiten ihre Lebensgeschichte erzählen. Sie aber, Sie haben eine fast beunruhigende Teilnahme in mir erweckt. Erwartungsvoll Stefan Gudstikker. Nachschrift. Natürlich hat, was der Klatsch aussprengt, dabei einigen Anteil. Das Geschwätz ist wie Tinte, die, statt zum Schreiben verwandt, einfach über das Papier gegossen wurde. Nun ist alles schwarz und schmierig. Im Uebrigen bin ich nicht der Mann, durch die Geheimnisse des Jourfix-Pöbels lecker zu werden.

2.

Lieber Freund Stieve, Du hast aus ehrlicher Teilnahme zu wissen begehrt, welchem Umstand wir die Wandlung im Wesen des jungen Anselm Wanderer zuschreiben sollen. Das Gemunkel in der letzten Zeit ist lästig geworden. Ganz ohne mein Zuthun ist mir Aufklärung gekommen, der ich vertrauen darf. Ich teile Dir alles mit, da Du ein näheres Verhältnis zu Wanderer hast, als ich und ihn selbst um völlige Klarheit bitten sollst. So wie wir sind, werden wir nicht gleich den Moralbesen schwingen. Also höre. Wanderer hat der Gräfin Terke einen gefälschten Brief gezeigt, wonach er noch einen Teil seines Vermögens in einem Jahr von irgend einem Verwandten zu erwarten hätte. Er war in der größten Bedrängnis, bat die Gräfin um ein größeres Darlehn, aber die Vorsichtige wandte sich ohne Wissen Wanderers an den angeblichen Schreiber des Briefes, einen Wiener Rechtsanwalt. Die Geschichte war dumm und jugendlich gemacht, aber die Gräfin war empört und verbot ihm ihr Haus. Trotz des Widerstands der Baronin hat sie es in ihrem Jourfix erzählt. Bitter für den jungen Menschen. Es ruiniert seine Zukunft. Die Gräfin hat nachher bereut, und Jeden, der es wußte, um Verschwiegenheit gebeten. Aber Zungen, die etwas zu verschweigen haben, sind nicht zu halten. Außerdem hat Wanderer viele Feinde wegen der dummen Weibergeschichte. Es fragt sich nur, wie wir uns zu der Affaire stellen. Und das hängt davon ab, wie Wanderer sich Dir gegenüber aussprechen wird. Ueberlege Dir die Sache gut, und geh vorsichtig zu Werk. Dein alter Richard Uibeleisen.

Dieser ziemlich flüchtig geschriebene Brief betrübte Stieve sehr; einerseits wegen des Falles selbst, denn er mochte Wanderer gut leiden, dann aber, weil man von ihm verlangte, er solle dabei etwas unternehmen. Er war aufrichtig betrübt, daß die Ruhe und Gleichmäßigkeit seines Elends durch eine so anstrengende Mission gestört werden sollte und fiel in revolutionäre Gedanken über die Unverläßlichkeit der Freunde.

Die Angelegenheit wurde wie eine schwierige Parlamentsvorlage im Cafe erörtert. Herz behauptete mit jenem Pathos, das ihm zum Leben nötig war wie die Luft, man richte sich nicht für eine Frau zu Grunde.

Süssenguth war elektrisiert. »Für eine Frau? Nein. Für Renate Fuchs? Ja. Sie ist die Beste, Edelste, Reinste. Ich versteh überhaupt diese Beratungen nicht. Wir sollen einfach hingehen und ihm sagen: Du hast recht gethan!«

Süssenguth sah in eine Reihe verblüffter Gesichter und fuhr fort: »Der Mann leidet! Trägt die Hölle in sich! Bereut bis in den letzten Schlaf seiner Nächte! Kommt schmal und blaß und demütig daher, dürstet nach Erlösung. Sie, und da soll ich nicht hingehn und ihn erlösen? Gut, er hat unehrenhaft gehandelt. Gut, es war verwerflich. Das ist die eine Seite. Die andre ist: er hat sich weggeworfen, hat sich aufgeopfert. Kann ich die Moral vom Isarthorplatz nicht wie einen alten Mantel wenden? Ist er mir nicht schuldig genug, um mich in meiner Ueberlegenheit zu versöhnen? Muß ich die Arme über die Brust kreuzen? Und was ist denn Schuld? Weiß ich denn von mir und wissen Sie es und Sie es, ob unsere Natur und unser Temperament uns davor geschützt hätten? Wir Alle sind Schuld. An allem. Ich werde zu ihm hingehn und sagen: lieber Freund, was grämst Du Dich, ich habe gestohlen. Nun und hab ich nicht gestohlen? Sitz ich nicht in tausend Zuchthäusern der Erde als Dieb, als Mörder, als Brandstifter, schuldig für Alle und Alles? Und der sich aufgeopfert hat, zerkleinert hat für Renate Fuchs, dem sollt ich etwas zu verzeihen oder zu übersehen haben? Ein Verbrecher wäre ich.«

Die Gesellschaft saß stumm und unbehaglich und merkte nicht, daß es Abend wurde.

Mit Wanderer war eine solche Veränderung vor sich gegangen, daß sie auch Fernstehenden nicht wohl entgehen konnte. Er war ängstlich in seinen Bewegungen, er lächelte liebenswürdig, auch ohne hinreichenden Grund. Wenn sein Name genannt wurde, zuckte er zusammen und gab sich den Schein übertriebener Aufmerksamkeit, wenn man das Wort an ihn richtete. Er stimmte bei, wo Zustimmung vorteilhaft schien, und sobald er unbefangen sein wollte, lag in seinem Wesen etwas Tiefzerquältes. War er unbeachtet, so versank er in ein brütendes und starres Schweigen, spielte bei falschen Anlässen den Empfindlichen, errötete leicht, hatte auf der Straße ein übermäßig beschäftigtes, oder ein krankhaft gelangweiltes Aussehen, verwickelte sich in grundlose Lügen, von denen er in einer Art Wahnsinn glaubte, daß sie sein Ansehn erhöhen könnten, sprach gern und viel von Renate, als ob ein Abglanz ihrer Vorzüglichkeit auf ihn fallen müsse, horchte unauffällig wie ein Spion auf jede versteckte Andeutung, oder witterte in gleichgiltigen Fragen ein unaufrichtiges Interesse. So sahen ihn seine Bekannten. Er sagte, er hasse Gesellschaft, aber er wurde schwermütig, wenn er allein war. Er glaubte sich umgangen, ausgeschlossen, gemieden, sobald man nur rücksichtsvoll war. Er wollte vertrauensselig sein und erzählte die Leiden seiner Leidenschaft. Erregte er dann Mitleid, so nagte der Groll über seine Schwäche in ihm. Stellte er eine Behauptung auf, so wirkte er nicht überzeugend, denn er war nicht überzeugt. Er sprach von Fortgehen, von der Flucht aufs Land und begann kleine Beträge schuldig zu bleiben.

So trieb er sich umher, in Bangnis nach einer friedlichen Stunde. Sah lauter Arme, über die Brust gekreuzt, lauter unnachsichtige Augen.

3.

Der Schatten.

Im Finstern lieg ich, wartend auf den Schlaf.
Der mich aus schlimmen Aengsten endlich rette,
Er kommt nicht, kommt nicht, wie ich mich auch bette;
Weiß nicht, warum mich solches Unheil traf.

Ein grauer Schatten steht an meinem Lager,
Spricht Worte und ich kann sie nicht verstehn,
Haucht Seufzer, die wie Flüsterton verwehn
Und beugt sich immer tiefer auf mein Lager.

Ich liege schweigend, und ich wache bang.
Das Haus ist leer. Mein Rufen muß verhallen.
Kein Stern hängt in den Wolken. Ueber allen
Dingen liegt Finsternis. Die Nacht ist lang.

Die Nacht ist lang, die keinen Schlummer hat,
Der keine Uhr tickt, keine Glocke klirrt.
Und deutlich kauert, bis es morgen wird,
Der Schatten stumm an meiner Lagerstatt.

Stefan Gusstikker.

 

Die Corvinus waren in Höflichkeit dringend geworden. Freilich hatten sie selbst nicht die Butter zum Brot. Ihre Mägen wurden vom Zufall gespeist.

Waren ein paar Groschen im Haus, so vertrieb sich Herr Ottmar die Zeit, indem er Lieder sang, Cigarren rauchte, zum Fenster hinaussah, kaufmännische Berechnungen anstellte, wie aus einem Thaler deren hundert werden könnten, ohne daß mühselige Arbeit einem die Laune verdarb. »Du schwitzest ja ordentlich, Männchen,« sagte dann Frau Clotilde. »Ja, Schätzchen, ich habe da eine anstrengende Sache vor,« erwiderte das Männchen, krebsrot im Gesicht und über die ehernen Gesetze der Arithmetik erstaunt und verzweifelt. Klopfte dann Schmalhans an die Thüre, so verschwanden die Zärtlichkeits-Verkleinerungen aus dem Gespräch, und aus dem Männchen wurde über Nacht ein Faultier und Thunichtgut, ein Schnapphahn und Nichtskönner. Worauf das Schätzchen eilig seinen Rücken in Sicherheit brachte. Herr Ottmar hielt sich durch den schnellen Verbrauch des Geldes für betrogen und behauptete heldenmütig seinen Posten. Wenn aber um zehn Uhr noch kein Heerdfeuer brannte, und um elf Uhr auch nicht und um zwölf Uhr die Reinlichkeit der Küchengeräte durch kein Stäubchen Mehl getrübt wurde, so sah sich der Herr des Hauses genötigt, eigenhändig seine Stiefel zu wichsen, grollte düster in sich hinein, ließ die kaufmännischen Berechnungen im Stich und schob in eleganter Kleidung auf die Suche nach einem Mittagessen.

Renate hatte einen Teil ihres Schmuckes dem Leihamt übergeben müssen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, daß Wanderer alle Wertgegenstände, die er besaß, längst veräußert hatte. Jetzt gewahrte sie, daß seine Bibliothek zusammenschmolz, erst billigere Werke, dann die kostbaren. Zudem hatte er Glück im Spiel; schaudernd fühlte sie die niedrige Leidenschaft heraus, die ihn zu den Karten trieb.

Es gab wenig Tage, an denen sie das Haus verließ. Ihre Einkäufe waren spärlich und konnten wohl in der nächsten Gasse besorgt werden. Wenn sie auch stundenlang fortgeblieben war, sie empfand nichts von der Befriedigung, die ein heimgehender Mensch empfindet. Daß es allmählich Frühling wurde, daß die kahlen Zweige im englischen Garten grüne Knöllchen und Spitzen bekamen, daß eine milde, weiche Luft von den Alpen herüberwehte, – das waren nicht die Dinge, mit denen sie sich beschäftigen konnte. Sie war viel allein. Doch fand sie sich der Ruhe zur Lektüre beraubt. Sie konnte still sitzen und froh sein, wenn die Sonne ins Zimmer schien. Gern sah sie die Leute auf der Straße vorübergehen, beurteilte die Kleidung der Damen, die neuen Frühjahrsmoden. Aber wenn Wanderer kam, wenn er mit halblauter Stimme die Tageszeit wünschte, die Augen langsam von der Erde erhob wie mit dem Vorsatz, Renate anzuschauen, dann jedoch vorzog, verschiedenen Gegenständen im Zimmer seine Betrachtung zu widmen, da empfand sie eine quälende und andauernde Bitterkeit, die keiner Worte fähig war. Bisweilen war er schweigsam, bisweilen redselig. Er redete wie ein Trunkener, erzählte von neuen Bekanntschaften, durch die er »lancieren« werde, von großen Stellungen, die er in Aussicht habe, von einem Oheim in England, –Emphase war ihm zur Natur geworden. Sie wußte, daß er log, blieb aber zu stolz, ihn zu fragen. Einige Male kam er und sagte: ich war heute bei Terke, man hat dies und das gesprochen, auch von Dir, Renate, und ganz nett und versöhnlich. Renate wußte aber von Gudstikker, daß Terkes nach Tirol gereist seien. So kamen ihr seine Worte rätselvoll, ja beinahe grauenhaft vor. So kam es auch, daß nichts, was sein Mund sprach, ihr ein Nicken der Zustimmung entlocken konnte. Sie ertrug es, aber die Hand, die er ihr reichte, drückte sie nicht mehr, die Liebkosungen, die er ihr bot, suchte sie zu verhindern. Seine äußere Erscheinung war im Verfall begriffen, seine Kleidung war vernachlässigt, seine Haltung unaufrecht, seine Manieren klebrig oder gekünstelt schroff, und bang und bänger blickte Renate an jedem Tag einer jeden Nacht entgegen, wo er sie mit wilden, fassungslosen Zärtlichkeiten zu umgarnen suchte. Sie klagte nicht, sie lachte nicht, sie stritt nicht, sie bemängelte nicht. Aber staunen konnte sie über sich selbst und ihren Weg.

Er hatte die Bekanntschaft irgend eines Barons gemacht, der mit seiner Frau aus Wien zugereist war und brachte die Beiden zu Besuch herauf. Renate benahm sich nicht anders, als Erziehung und Gewohnheit es sie gelehrt, aber in den Augen der Beiden las sie die Kenntnis des nimmermüden Hörensagens. Man schien sie wie ein Curiosum zu betrachten, fand es belustigend, außerhalb der Gesellschaft den treu nachgeahmten Gepflogenheiten der großen Welt zu begegnen, und Renate fühlte das Blut ihren Wangen entweichen, hörte die Zeit lästig und in schleppenden Schritten vorbeigehen, und ihr war, als führe sie ein Schattenleben, spräche Schattenworte, lächelte ein Schattenlächeln. Sie blickte auf ihre Hände nieder und dachte: was habe ich gethan! Wäre sie das Weib eines Straßenwärters gewesen, die Augen dieser Leute hätten ihren amüsierten Glanz verloren, und die Frau Baronin oder was sie sein mochte, deren Stirn der Hochzeitskranz geschmückt, hätte nicht schelmisch gutmütig gezwinkert und den Mund verzogen. Wohin war Renate geraten, wohin durch Sehnsucht und Vertrauen!

Anselm Wanderer war entzückt, ja begeistert von der Liebenswürdigkeit des Ehepaars. Der Baron, sagte er, wie man sagt: seine Majestät. Sie hatte Mitleid mit ihm, denn jetzt ahnte sie die Tiefe, in die er sich verstoßen glaubte, weil sie selbst von der Stunde ab sich als eine Verstoßene fand. Not und Sorgen sah sie mit neuen, furchterfüllten Blicken an. Sie verließ am selben Tag das Haus in einem Zustand qualvoller Verwirrtheit. Ihre Begriffe verfinsterten sich; Angst trieb sie an, rasch zu gehen, in den Straßen glaubte sie die Blicke auf sich gerichtet. Es kam ihr vor, als sei sie ärmlich gekleidet, obwohl ihr Anzug sich durch. nichts von dem früherer Tage unterschied. In der Theatinerstraße war ein großes Damen-Modegeschäft, wo sie seit je hatte arbeiten lassen. Sie öffnete den Laden und ging hinein. Man empfing sie ehrfurchtsvoll, war eilig zu ihren Diensten. Das erleichterte sie. Wie wachsam sie auch jedem Wort lauschte, das der vornehme Besitzer und die angestellten Damen an sie richtete, nichts ließ auf eine Verringerung des Respektes schließen, den sie hier zu finden gewohnt war. Darum wurde sie ruhiger im Innern, ja eine Wandlung ihres Geschicks erschien ihr nicht unwahrscheinlich. Sie war freundlich mit dem blonden Fräulein, das ihr Stoffe brachte, bewegte sich unbefangen in dem hohen, geschmackvollen Raum mit den Ebenholzmöbeln und echten Teppichen. Sie fand Gefallen an einem wertvollen Seidenstoff, sie sagte dem Inhaber, sie würde herschicken und einige Meter holen lassen. Verbeugungen und abwehrende Gesten seitens des höflichen Mannes und ein unglückliches Gesicht bei Renates Weigerung, den Stoff an ihre Adresse senden zu lassen. Aber die undurchdringliche Miene des Kaufmanns hatte sie doch getäuscht. Er wußte und argwöhnte.

Sonderbar, daß sie getröstet den Rückweg antrat. Es erschien ihr überaus wünschenswert, jenen Stoff zu besitzen und sie sann hin und her, wie sie es ermöglichen könne. Zuhause fand sie Anselm und erzählte ihm mit kindlicher und harmloser Begehrlichkeit. Sie saß neben ihm und plauderte wie seit langem nicht, während der Tag sich draußen der Dämmerung zuneigte.

»Ja, ich muß Dir den Stoff verschaffen und lasse Dir auch das Kleid dazu machen,« sagte Wanderer mit verzerrtem Gesicht und einer Erregung, die seine Hände zittern ließ.

Der Ton, die Stimme, das leidenschaftliche Versprechen ernüchterten Renate sofort. »Womit willst Du es denn bezahlen?« fragte sie kalt. »Sogar das Klavier ist ja gestern geholt worden, weil Du es nicht bezahlen kannst.«

»Ich werde Angelus verkaufen,« murmelte er hastig.

Renate sah ihn befremdet an. »Den Hund hast Du mir doch geschenkt,« erwiderte sie mit bleichen Lippen. »Das ist sehr merkwürdig.«

Anselm blieb am Fenster stehen und preßte die Stirn an die Scheiben. »Es ist wahr,« flüsterte er unterwürfig. »Ich weiß nicht, was ich thun soll. Sei nicht mißtrauisch, Renate. Schau mich nicht so an. Du wirst mich um den Verstand bringen.«

Renate lachte höhnisch – und erschrak darüber. Sie stand auf und zündete die Lampe an.

»Soll ich das Essen bestellen, Renate?« fragte Anselm scheu und noch ergebener als vorher.

»Ich will nicht essen.«

»Renate!«

»Ich kann nicht essen. Was willst Du? Warum schreist Du?«

»Ist denn alles vergebens? Siehst Du nicht, wie ich Dir diene, nur für Dich lebe, nur an Dich denke? Ich bin Dein Sklave geworden. O ich ahne, daß wir uns mißverstehen.«

»Ja. Ich verstehe Dich nicht mehr.«

»Wirst Du heute Nacht wieder so grausam sein, wie gestern, Renate?«

»Ja!«

»Ja? Sag nein! Du weißt nicht, was Du sprichst. Renate, ich ermorde Dich ja, Du Einzige.« Er umschlang sie mit Armen wie von Eisen; sie stieß einen Schrei aus, wand Sich wie ein Wurm, warf den Kopf tief in den Nacken, preßte, drängte ihn fort, atmete schwer, stammelte, biß die Zähne zusammen und stieß ihn endlich mit übermenschlicher Kraft gegen die Ecke, wo er seltsam grinsend stehen blieb.

Schweigend standen sie sich gegenüber, Renate bleich. Endlich sagte sie: »Das ist erbärmlich. Das hätt' ich nie gedacht.«

Anselm lachte convulsivisch und trostlos. Er zog seinen Mantel an, setzte überlangsam den Hut auf und sagte: »ich gehe.« Renate schwieg. Er entledigte sich schnell wieder des Mantels, als hätte er etwas vergessen und ging auf und ab. Es wurde Nacht. Die verschwimmenden Laute der Geschäftigkeiten draußen drangen durch die Fenster. Eine Magd schrie sehr erregt. Wanderer begann zu reden, lange Litaneien, worin er seinen Zustand psychologisch zu zergliedern suchte. Tiefe Trauer lag in seinen Worten, aber Renate hörte darüber hinweg und lauschte aufmerksam dem Geschrei der Magd. Schließlich bat er niedrig und knechtisch um Verzeihung, maß sich alle Schuld bei, versprach und bettelte. Renate erhob sich. Von einem stürmischen Ekel erfaßt, ging sie zum Spiegel und betrachtete sich. Aber das dumpfe, rötliche Licht der Lampe genügte nicht, daß sie deutlich ihre Züge sehen konnte.

Anselm war still und gedachte in brennendem Schmerz des für immer verlorenen Stolzes. Wer sich einmal wegwirft, kann sich nie mehr finden, dachte er. Sein haßerfüllter Blick folgte Renate, und alle Wichtigkeiten der Welt wurden ihm wertlos gegenüber diesem Wesen, das sich ihm entzog. Er dachte an Gudstikkers Briefe, und es erschien ihm sicher, daß Jener ihm Renate geraubt. Das nie weichende Gefühl einer Schuld, die er verbergen zu müssen glaubte, entwickelte Fähigkeiten des Argwohns in ihm, wie sie nur bei untergeordneten Charakteren zu treffen sind. Er sah sich belauert, verleumdet, verlassen, verraten und durfte nicht einmal den Märtyrer spielen. Offene Bekenntnisse verweigerte seine störrische und eigenliebende Natur. Der Richter in ihm spielte eine zerfleischende Rolle, aber der Vertheidiger war geschickt in Tröstungen und Gründen. Daß er einer gemeinen Handlung fähig gewesen, war das Hemmnis zu jeder fruchtbaren That. Oft bereute er mit einer Glut, die seine Selbstachtung völlig vernichtete, und da er vor aller Welt die Stirne in den Staub legte, wortlos um Verstehen und Verzeihen flehte, entschwand ihm alles Selbstbewußtsein wie die Bretter eines versinkenden Schiffs. Zu versinken schien ihm noch angenehm, wenn es nur von Renates Liebe umfangen geschah. Oft predigte er sich Stolz und Entsagung in einsamen Stunden, doch kaum ihr nahe, schritt er besinnungslos von einer Demütigung zur andern. Was galt es ihm, die Freunde zu verlieren, die Hoffnungen zu verlieren, wenn nur Renate blieb. So entfalteten sich durch das unheilvolle Zusammentreffen der Umstände die verderblichsten Keime seines Wesens, die sonst auf ewig geschlummert hätten, wie sie bei vielen andern unerweckt und ungekannt beiden.

4.

In der Kneipe spielte er. Sobald er die Karten hingeworfen hatte, stürzte er nervös davon und nach Hause. »Ich vermute: eine defekte Psyche,« sagte Salatsch, der abgeschaffte Dozent, ziemlich tiefsinnig. »Er hat sieben Mark gewonnen,« bemerkte Stieve seufzend. »Wenn ich Quietist wäre wie Süssenguth,« begann Uibeleisen, »würde ich sagen, (er äffte Süssenguths keuchende Extase nach: das sind alles unerhörte Schwächungen, zu verlieren, zu gewinnen, zu spielen.«

Es war Nacht. Von Norden kam der Wind, und der Umhang von Wanderers Mantel flatterte hoch auf. Die Schritte schallten wie in einer Halle, und der Weg wurde lang durch Ungeduld. Es kam ein Mann von der Kirchentreppe herab, sah aus wie der Schellenbube. Der Brunnen vor der Universität stellte unleugbar das Eichelaß dar. Kneipendunst, Kneipenvisionen. Selbst im Dunkel des englischen Gartens saß ein Spielkönig der Trumpf-Farbe mit Krone und eisigem Kartenlächeln.

Renate lag im Bett. Sie schlief nicht, erwiderte aber kaum seinen Gruß. Das Licht war im andern Zimmer, und aus dem Halbdunkel leuchteten ihre Augen feucht und klar. Anselm nahm einen Stuhl und setzte sich an ihr Lager, nahm ihre Hand in die seine. Sie sah zur Decke, als ob sie das Spiel eines Schattens in Spannung versetzte und bat ihn so, mit aufwärts gerichteten Blicken, die Lampe hereinzubringen. »Fürchtest Du Dich denn vor mir?« fragte Anselm mit schüchternem Lächeln. Sie aber dachte, daß es ungefähr so sein könne, wenn ein grauer Schatten an ihrem Lager säße. Kein Stern hing in den Wolken, über allen Dingen lag Finsternis, und verhallen würde ihr Ruf. Anselm durfte nicht seine Lippen den ihren nähern, sie litt es nicht. Bis zum Hals herauf hüllte sie sich in die Decke, und ihr Gesicht war voll Erwartung und Mißtrauen. Anselm war bettelarm an Worten. Er versuchte, zärtlich zu sein, sie stieß ihn zurück. Es kam zu einem üblen Wortgefecht, an dem sie mit ruhiger Verachtung, Anselm aber mit der Glut seiner Sinne teilnahm. Er wußte sich nicht mehr zu beherrschen, seinen Kopf erfüllte eine brennende Hitze. Er ergriff Renate, zerrte sie aus dem Lager, und in einem Atem flehte er um Erbarmen und drohte mit dem Aeußersten. Da sprang Angelus aus der Ecke. Mit fletschenden Zähnen wandte er sich gegen den Herrn und Anselm ließ ab, fiel in einen Zustand verzweiflungsvoller Nüchternheit. Renate blieb regungslos auf dem Teppich liegen, winselnd umschritt sie der Hund, beleckte ihre fahlen Wangen, die entblößte Brust, das nackte Bein. Sie rührte sich nicht. Anselm stand am Fenster, und sein Körper zitterte; eine eiskalte Hand preßte sich um seinen Hals. Seine Augen, die in den schwarzen Himmel sahen, hatten einen brünstig-bittenden Ausdruck: Verhängnis, laß mich los. Er wagte nicht, ins Zimmer zurückzuschauen, die Stille darin berührte ihn wie die Stille nach einem Mord. In seinen Gedanken rief er Leute, die er kannte, zu Zeugen auf, daß er nicht Böses gewollt. Süssenguth spielte die Rolle eines Versöhnungs-Apostels. Stieve war mehr klug, als liebreich und meinte: Fallende dürfen nicht lieben; sie reißen alles mit sich, was sie im Falle berühren. Ach, welch ein Opfer könnte er Renate anbieten, daß sie dies vergäße? In den Fensterschweiß der Scheibe schrieb er mit trägern Finger: mein Herz ist zerrissen. Dann wandte er sich um, und ihm schwindelte bei Renates Anblick. Näher kommend, murmelte er verstört in sich hinein, aber Angelus begann heftig zu knurren. Anselm jagte ihn fort und beugte sich nieder, Renate aufzurichten. Sie zuckte so zusammen, daß er erschrak. »Soll ich hinausgehen?« fragte er sanft. Renate nickte. Ein wunderlicher Laut wurde vernehmlich, als ob sie innerlich schluchzte. Er ging, schloß die Thüre, zündete draußen Licht an, nahm am Schreibtisch Platz und schrieb großzügig: Memoiren des Anselm Wanderer; auf dem Wege verunglückt, schuldig aus Liebe, verzweifelt aus Liebe, gewaltthätig aus Schwäche, prahlerisch aus Angst, hat er sich an Renate Fuchs vergriffen. Darunter eine Fratze mit einer kleinen und eine mit einer großen Nase, dann viele Male das Wort Ich. Es war ein Verzweiflungsausbruch, vielsagender als Thränen.

Als er wieder ins Schlafzimmer ging, lag Renate im Bett, an dessen Seite Angelus mit aufmerksamem Wächterblick hockte. Es war, als ob sie schliefe. Anselm nahm den Mantel, verlöschte die Lichter und verließ das Haus, streifte durch die Gassen, die still lagen wie in einer toten Stadt. Ein Mann ging vor ihm her, der jede zweite Laterne abschraubte. In der Adalbertstraße begegnete ihm Gudstikker, der jetzt erst, es schlug zwei Uhr, aus einer Gesellschaft kam. Sein Mantel war offen, und das Frackhemd leuchtete wie Milchglas. Er blieb stehen, schimpfte über die Soireen und Gastereien und sagte, daß die Gewohnheit, höflich zu sein, einen zur Memme mache. Er wußte, was mit Wanderer vorgegangen war, aus dessen eigenem Mund, aber auch, tendenziöser gefärbt, aus dem der Gräfin. Er hatte sich ein wenig als Papst gefühlt, damals, da er im Namen aller Gütiggesinnten ihm verziehen. Aber wem man einmal hat verzeihen dürfen, der hört auf, ein Gleichgestellter zu sein. So bewahrte auch Gudstikker gegenüber Wanderer einen onkelhaften Ernst und quittierte dessen scheue Dankbarkeit mit kleinen Grausamkeiten der Dialektik. »Warum sind Sie nicht zu Hause?« fragte er. »Liebeskrank?« Und er schüttelte bedenklich den Kopf. »Anselm werde hart! Verliebtheit nimmt man selber ernst, die Andern finden sie komisch. Für Sie giebt es nur einen Weg: Einsamkeit und Arbeit, Arbeit. Nicht beirren lassen! Nicht herumschleichen und horchen. Ich habe da mal ein Gedicht gemacht, worin die Stelle vorkommt: Wenn es gilt, einen Gefallenen zu lästern, werden alle Menschen zu Brüdern und Schwestern.«

»Das ist wahr.«

»Na, sehen Sie.«

»Wie geht das weiter? Es interessiert mich.«

»Weiter? Warten Sie –:

Ein Jeder lebt die zeit, die ihm gehört,
Ein Jeder lebt sein Leben willenlos.
Keiner ist frei. Und wer die Ordnung stört,
Trotzig der ehernen Bestimmung wehrt,
Ihm wird das sichere Unheil riesengroß.«

»Das ist wahr.« Im Stillen empfand Wanderer jedoch den Widerspruch der Verse mit jenen Ratschlägen wohl.

»Also, Kopf hoch, gute Nacht.« Mit einem herzlichen Händedruck, der wie voll Zufriedenheit war, für seine Verse einen lebendigen Wahrheitsbeweis gefunden zu haben, entfernte sich Gudstikker. Aber es wollte keine gute Nacht werden für Wanderer. Auf dem einsamen Spaziergang fand er plötzlich einen düsteren Haß gegen seine Freunde in sich. Keiner reichte die Hand. Jeder ging mit dem stillen Versprechen weiter, das nächste Mal bereit zu sein. Und ihr Trost, der in der Tiefe die Befriedigung widerspiegelte, daß man nicht der Getröstete zu sein brauchte! Wer mich tröstet, beschimpft mich, dachte Anselm erbittert. Müde, gleichgiltig gegen alles Erleben, stumpf für Selbstvorwürfe und im dunklen Drang einer Rache, ließ er sich von einem Frauenzimmer anreden, bei dem er die Nacht verbrachte.

5.

Renate wußte das, hatte es vorgeahnt. Als er am Mittag, der dieser Nacht folgte, ins Zimmer trat, spürte sie es in der Luft, auch wenn sie sein mattes, reuiges und finsteres Gesicht nicht erblickt hätte. Ihr war kein Zweifel mehr geblieben, daß er die Jahre vor ihr mit Dirnen verschleppt hatte. Deshalb war sein überhungertes Herz in der Liebe verdorben. In leiser, unpersönlicher Klage, etwas kindlich durch stilistische Unbeholfenheit, hatte sie ähnliche Gedanken einmal Gudstikker geschrieben. Er hatte ihr geantwortet: cosi fan tutte. Und wenn es Alle so machten, dann nahte wohl Jeder mit befleckten Händen, um Reines zu empfangen.

Die Sonne schien und die Welt sah heute liebenswürdig drein. Aufatmend, mit einem etwas melancholischen Gefühl der Freiheit, verließ Renate das Haus. Von goldigen Schleiern überhaucht, lag die Landschaft des großen Parks ausgebreitet. Renate spannte den weißen Spitzenschirm auf, raffte das Kleid und setzte langsam den Weg fort. Drei junge Burschen vom Gymnasium blieben stehen und starrten ihr mit säuerlichem Lächeln in den kreidigen Gesichtern nach. Auch ein alter Herr drehte sich um, der einen Sonnenschirm trug, so groß wie ein Caroussell-Dach. Die Eleganz und die ruhige Vornehmheit ihrer Erscheinung war doppelt anziehend an diesem hellfrohen, würzigen Vorfrühlingstag. Ihr Gang hatte etwas Wiegendes, rhythmisch Schleppendes, bedächtig Träumerisches. Ihre schlanke, feine und nervöse Gestalt, engumschlossen von dem schwarzen Kleid wollte sich nicht recht dem Allerleibunt des Werktages anpassen. Der weiße Handschuh, der den Rock hielt, sah von Weitem wie eine Riesenperle aus; der Unterrock war von leuchtender gelber Stickerei besetzt, und der einfache Hut trug einen grünen Bandknoten.

Es waren nur wenige Schritte zu Helene Brosams Wohnung, und Renate ging hin, in dem dunklen Bedürfnis, mit einer Frau zu plaudern. Als sie die erste Treppe erstiegen hatte, blieb sie stehen und dachte, den bohrenden Blick in die Tiefe richtend, an jenen Tag zurück, der sie zuletzt hier gesehen hatte. Heute war sie voller Erinnerungen.

Helene war zu Hause. Mit ihrem Katzengang trippelte sie dem Gast entgegen und schien befangen. Ihre Stimme klang unnatürlich hell, als wollte sie beglückter scheinen, als sie war. »Sind Sie's denn wirklich? Mein Gott, Sie sehen aber schlecht aus, so blaß!«

»Auch Sie haben sich verändert,« erwiderte Renate ziemlich fassungslos. »Seh ich denn wirklich so schlecht aus?« fügte sie kindlich erschreckt hinzu und sah nach einem Spiegel umher.

Dann redeten sie ein gezwungenes Allerlei von Kleinigkeiten, und Renate fand es mehr und mehr peinlich, hier zu sitzen wie eine Bittstellerin, die nicht zu bitten wagt. Sie begann von Gudstikker zu sprechen, aber Helene lenkte so hastig ab, daß Renate erst jetzt in das schmale und etwas grausame Gesicht der jungen Frau sah. Renate hatte sie vor ihrer Heirat gekannt. Was war aus dem frischen, trotzigen, ahnungsvollen Geschöpf geworden! »Gudstikker ist ein Mensch wie die Zuckerhüte in den Krämerauslagen,« sagte Helene Brosam kalt. »Wenn man näher zusieht, ist es Gips oder gar lackiertes Holz.« Renate wollte Einwände machen, doch beherrschte sie sich. Ein ausgreifender Schritt wurde vernehmbar, und der Doktor erschien. Ein »Erscheinen« war es, denn er tat ein wenig Kothurn, und jede Verbeugung war eine Uebung des guten Tons. Die Luft wurde kälter in seiner Anwesenheit. Er hatte die Schönemänner-Gewohnheit, leere Dinge gewichtig zu nehmen, und jede dürre Bemerkung in Humoristen-Art zuzuspitzen. Auch war er bieder, und weil Taktlosigkeit zum eingestandenen Vorrecht der Biderben gehört, nutzte er es aus. Er begrüßte Renate mit treuem, festem Händedruck, sprach ein wenig über Welt und Leben und meinte schließlich liebreich: »Haben Sie damals nicht übereilt gehandelt, Fräulein Fuchs, als Sie das Haus Ihrer Eltern im Stich ließen? Heute wären Sie Herzogin. Maledetto, was sagst Du Helene!«

Als Renate sich verabschiedet hatte, langte sie wirren Kopfes auf der Straße an. Sie dachte: je mehr Männer ich kennen lerne, je mehr begreife ich die unglücklichen Frauen. Von Helene war nur zu sagen, daß sie einer zerbrochenen Vase glich, die einst kostbar gewesen. Und die Andern? Die zu Scherben gehen, ehe eine Hand sie schmückt?

Es mußten ihre wühlenden Gedanken Schuld sein, daß sie nun in der Maria-Theresiastraße stand. Ihr Wille war es nicht gewesen. Doch nun war sie da. Das Eltern-Haus stand leer. Den Winter über hatte es wohl niemand mieten wollen. Vom ersten Stock aus konnte man einen Teil der Stadt überblicken. Das Erkereck dort war das Lieblingseck ihrer Mutter gewesen. Im Garten standen noch die Turngeräte. Eine alte Kaue und zwei junge, drollige Kätzchen spielten im Hof vor der Stallthüre; das Abendrot widerglänzte auf ihrem seidigen Fell. Die alte Katze hatte ein Gesicht wie Henriette, die Köchin, die sieben Jahre bei Fuchsens gewesen war und einen Ofensetzer geheiratet hatte.

Renate erinnerte sich an einen Stahlstich, den sie einst gesehen. Ein barfüßiger Knabe stand an die Säule eines Palasts gelehnt und starrte sentimental zu den hellen Fenstern empor. Unter dem Bild war gestanden: nächtlich vor des Reichen Thür.

Renate war sehr ermüdet und benutzte am Maximilianeum die Pferdebahn. Umgeben von schweigenden Menschen, die wie verschlossene Schränke aussahen, hatte sie die seltsame Empfindung, als ob ihr Leben von heute ab einen andern Weg nehmen würde. Diese Empfindung wuchs, als sie in Wanderers Wohnung angelangt war, die ihr fremd und abstoßend erschien.

Anselm saß am Fenster und las. Doch fühlte sie sofort, daß seine Lektüre nur eine vorgeschützte Beschäftigung sein müsse, denn es war beinahe finster. Sie hatte den Eindruck, daß etwas Verborgenes und Schlechtes geschehen war. Erstarrend blieb sie stehen, dachte voll klarer Energie nach. Aber so nahe sie sich auch einem bestimmten Verdacht fühlte, fand sie keine Form dafür. Anselms Blicke waren krankhaft gespannt auf ein Blatt seines Buches geheftet, das er nicht umschlug. Die Nasenflügel und der Mund zitterten. Er stellte sich, als hätte er Renates Kommen nicht bemerkt. Angelus wedelte freudig und berührte mit den Vordertatzen Renates Arm, als wollte er sie auffordern, Hut und Jacke abzulegen.

Renate legte ab und zündete die Lampe an. Plötzlich hatte sie den formlos schwirrenden Verdacht wie im Fluge festgehalten. Im zweiten Fach des Schreibtischs, in einer versperrten Schublade hatte sie ihre Briefe aufbewahrt. Als sie auf den Schreibtisch zuging, zuckte Wanderer zusammen, legte das Buch aus der Hand und stand auf. Er schloß das Fenster, um aufs Neue den Vorwand einer Beschäftigung zu haben.

Die Schublade war mit Gewalt geöffnet worden; das Schloß war förmlich zerrissen. Der Inhalt von Briefen war durchwühlt, die Briefe aus früherer Zeit waren nach hinten gehäuft und diejenigen Gudstikkers lagen obenauf. Von ihrer musterhaften Ordnung sah Renate nichts mehr.

Im ersten Augenblick war sie wie betäubt. Wanderer hantierte an den Zugschnüren der Gardine herum. Dann aber, totenbleich geworden vor Zorn und Abscheu, sagte sie mit heiserer Stimme: »Was hast du da gemacht?«

Anselm ließ den Arm sinken und trat aus den Gardinen hervor, die ihm eine Art Schlupfwinkel gewesen waren. Seine Augen hatten einen trunkenen, irrsinnigen Glanz. Er betrachtete scheu die offene Schublade, dann murmelte er entsetzt und vorwurfsvoll: »Ich? Ich soll –? Was fällt Dir ein, Renate! Ist die Schublade erbrochen, wie?«

Renate maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen und sagte nichts als: »Lügner«.

Wanderers Züge wurden flammend rot. Er hielt sich an einer Stuhl-Lehne fest und sagte wild: »So wahr ich lebe, Renate, ich hab' es nicht gethan. Aber das ist wahr, Jemand hat mir gesagt, daß Du mit Gudstikker –« Er stockte, preßte die Hände an die Schläfen. Er wußte offenbar kaum, was er redete.

»Das da, – und noch dazu lügen!« flüsterte Renate kopfschüttelnd.

»Renate, – ein Freund hat mir's gesagt, ein Freund. Er heißt Neuhaus.«

»Das ist ja alles erlogen.«

»Renate!«

»Wenn Du wüßtest, wie verächtlich Du mir bist, würdest Du meinen Namen nicht mehr nennen.« Sie ging hin, zog ihre Jacke an, setzte langsam den Hut auf, heftete den Schleier vor dem Spiegel fest, streifte die Handschuhe an, nahm den Schirm und wandte sich der Thüre zu. Anselm, der mit qualvoller Erwartung zugesehen, sprang hinzu, schnitt ihr den Weg ab und rief in höchster Angst mit den Lauten eines Tiers: »Nicht fort, Renate! Nicht fort!«

Renate sah ihn unwillig an und sagte: »Wenn Du mich nicht hinausläßt, ruf ich die Leute zu Hilfe.«

»Warum denn, Renate? Kann Dich denn nichts wieder versöhnen?«

»Versöhnen? Ich habe aufgehört, Dich zu achten. Mit einem Mann, der so etwas thut, kann ich nicht in einem Haus wohnen. Mach die Thür frei, bitte.«

»Lieber erschieß ich Dich und mich.«

Renate lächelte bitter. Sie ging entschlossen zur zweiten Thür dieses Zimmers, pochte heftig; Frau Corvinus öffnete und Renate betrat deren Zimmer. Noch einmal blickte sie zurück in den Raum, den sie verlassen hatte. Wanderer war an der Thür in die Kniee gesunken und hatte die Stirn an den Pfosten gelegt. Sie fühlte Mitleid mit ihm und befahl dem Hund Angelus, der ihr gefolgt war, zurückzubleiben. Das Tier gehorchte widerwillig. »Bitte, Frau Corvinus, lassen Sie mich hinaus,« sagte sie ohne Erklärung zu der erstaunten Dame.

Als sie auf der Straße stand, eilte ihr Herr Ottmar nach. Angelus folgte ihm auf den Fersen. »Sie möchten doch den Hund mitnehmen, gnädige Frau, weil es zu spät wird, bis Sie zurückkommen, meint Herr Wanderer.« Er sagte stets »gnädige Frau« zu ihr und glaubte daher, in großer Gunst zu stehen. Mit zwei Kratzfüßen zog er sich zurück. »Soll ich Sie vielleicht ein Stück begleiten? Die Königinstraße ist öde,« rief er noch unter der Hausthür in jenem eleganten Deutsch, welches der Spott aller Mägde der Nachbarschaft war. Er sagte beinahe »begleuten«, statt begleiten, so vornehm war er mitunter.

Wohin soll ich nun gehen? dachte Renate.

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