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Liebe Freundin Irene, ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie ich mich mit Ihrem Brief gefreut habe, wenn es auch nur ein paar Zeilen waren. Der kleine Koch-Apparat, nach dem Sie fragen, muß im Nebenzimmer sein, vielleicht im obersten Fach des Schranks. Ich habe nämlich in der letzten Zeit gar nicht mehr damit gekocht, weil es so mühselig war. Immer so viel Arbeit wegen fünf Minuten Essen, das lohnt sich nicht. Und wenn man bedenkt, daß Millionen von Frauen nur darauf ihr Leben stellen! Sie fragen, wie es mir geht. Ich habe nicht den Mut, die ganze Wahrheit zu antworten. Ich führe ein Dasein, schrecklich. Das liebste, was ich habe, ist mein Hund. Ich unterhalte mich mit ihm, und er versteht mich. Hier kann ich nicht bleiben, mag kommen was will. Ich habe die Gewohnheit, daß ich mein Zimmer nicht zuschließe in der Nacht. Vorgestern bin ich aufgewacht, es war hell vom Mond, und vor meinem Bett steht Herr Samassa und fängt an, elendes Zeug zu schwatzen. Ich bin halb gestorben vor Angst und Zorn und mußte erst den Hund beruhigen, der zwar nicht bellte (so klug ist er!), aber sehr aufgeregt war. Die Frau ist dumm und gemein; sie legt mir in den Weg, was sie kann, damit ich von selber gehe. Wegen der Empfehlung, die ich habe, wagt sie nicht zu thun, was sie so gerne möchte. Ich glaube, den Leuten bin ich unbequem, weil ich schweigsam bin. Aber das ist meine Art, Sie wissen es ja. Ich kann mich doch nicht ändern, und die hätten gern eine Lustige gehabt. Denken Sie nur, man mutet mir Dinge zu, die ich thun soll, wie einem Dienstmädchen vom Dorf. Ach, ich thu's ja auch, ich thu ja alles, aber darauf ist mir zu Mut, als ob es nicht zum zweiten Mal geschehen könnte. Die Mädchen, denen ich Gesellschafterin sein soll, sind verdorbene Geschöpfe, und sie hassen mich. Ich habe die meisten meiner Schmucksachen verkauft, – ich hatte nur noch wenig – so daß ich ein bißchen Geld besitze, wenn das Aeußerste bevorsteht. Was ich aber dann thun soll, das ist mir ein Rätsel. Kein Mädchen von Ehrgefühl würde lange das aushalten, was ich jetzt aushalte. Und es ist kein Mensch da, daß man ihm nur die Hand reichen könnte, ohne es zu bedauern. Liebe Irene, ich sorge mich sehr. Sie werden natürlich auch das Geschwätz der Leute gehört haben über mich und Gudstikker. Darum wird Ihr Brief so kalt sein. Es ist Verleumdung. Ich habe nichts gefühlt für diesen Mann. Ich meine ja nicht, daß Sie mich verteidigen sollen, nur wissen sollen Sie es und glauben. Ich habe ein paar Sommerstiefel, meine gelben, im Atelier vergessen, um die ich Sie bei Gelegenheit bitte. Vielleicht schicken Sie sie mir im Packet. Ihre treue Renate.
Geehrtes Fräulein Fuchs, ich bestätige den Empfang Ihres Briefes und bedauere lebhaft, daß Sie Unglück gehabt haben mit Ihrer Stellung. Den Koch-Apparat habe ich gefunden. Die gewünschten Stiefel sind heute an Ihre Adresse abgesandt worden. Was den letzten Punkt Ihres Schreibens anbelangt, so müssen Sie mir verzeihen, wenn ich mich etwas ungläubig dazu stelle. Von selber hätte ich nie das Thema berührt, aber Sie entschuldigen sich und sind gar nicht angeklagt. Es thut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, ich bin gewiß nicht prüde, aber komisch finde ich es, daß Sie etwas in Abrede stellen, was gar nicht zu leugnen ist. Die Beweise dafür sind doch zu sprechender Natur, auch wenn Gudstikker nicht die halben Nächte bei Ihnen verbracht hätte. Er selbst läßt übrigens das Gerede überall ohne Widerspruch. Entschuldigen Sie meine offene Sprache, aber Sie haben es gewollt. Sie müssen endlich einmal mit festen Händen zugreifen, sonst wird es Ihnen noch schlimm gehen. Alle Leute denken schlecht über Sie. Das darf nicht sein. Erst diese Woche habe ich heftig streiten müssen in einer Gesellschaft, weil ich behauptet habe, Ihr Charakter sei gut. Mit bestem Gruß Ihre ergebene Irene Puntschuh.
Irene Puntschuhs Schrift war großzügig; jeder Buchstabe freute sich seines Daseins, besonders die Anfangsbuchstaben der Hauptwörter. Als Renate den Brief gelesen hatte, hielt sie ihn noch lange in der Hand, sodaß Fanny-Elisa, die eben in den Garten trat, spöttisch fragte: »Eine Liebeserklärung?« Renate zog krampfhaft die Unterlippe herab, als hätte sie etwas sehr Bitteres im Mund. Im Weitergehn riß sie eine Rose aus dem Gürtel, die sie am Morgen gepflückt, warf sie achtlos auf den Boden, und als sie denselben Weg wieder zurückkam, zertrat sie die Blüte. »Hollah, ein Gewitter kommt!« rief Gretchen von einem Fenster der Villa herab, und das Dienstmädchen eilte, um einige weiße Tücher, die über dem Zaun hingen, in Sicherheit zu bringen. Ueber dem Wald zuckte violettes Blitzlicht, das Laub rauschte, ein schwer mit Heu beladener Wagen schwankte dicht am Gartenthor vorbei. Oben saß eine dralle Magd und blickte mit begehrlich geöffneten Lippen in die schwüle Landschaft.
Als Renate dem Wagen nachschaute, gewahrte sie am Eckpfeiler des Gitters Peter Graumann, der voller Ergebenheit den Calabreser lüpfte. Sie erschrak, mehr als vor dem Blitzstrahl vorhin, denn die verzerrte Fratze an der Bretterwand beim Fluß war ihr als etwas Gespensterhaftes und Unwirkliches erschienen. Als sie sich mit den beiden Mädchen in wortloser Hast angekleidet und den dunklen Weg nach Hause angetreten hatte, war sie im Glauben, eine Erinnerung sei im täuschenden Spiel. Jetzt aber stand er wirklich da, im Ziegenbart, mit ernstem Gesicht. Halb gezogen näherte sich Renate, und mit einem messerscharf betonten: »Es freut mich, Sie begrüßen zu dürfen,« reichte Graumann die Hand durch den Zaun.
»Wie kommt es, daß Sie hier sind?« fragte Renate tonlos und war eine Sekunde lang erstaunt, daß sie sich sprechen hörte.
"Ich habe einen Bruder, der sich durch Morphium, Absinth und Liebe zu Grunde gerichtet hat, mein gnädiges Fräulein. Ich habe ihn in die Anstalt des Doktor Budherus gebracht, der ein persönlicher Freund von mir ist. Von hier aus können Sie die Giebel und ein paar vergitterte Fenster sehn. Und wie geht es Ihnen, mein gnädiges Fräulein?«
»Ach, lassen Sie doch das gnädige. – Es geht mir nicht gut.«
»So? So? Ein Zeichen dafür, daß Sie das Kapital nicht zu benützen verstehen, worüber Sie verfügen können.«
»Wieso? Was meinen Sie?« fragte Renate mißtrauisch.
»Wenn ich es wagen darf, offen zu sein –?«
»Das müssen Sie selbst wissen.«
»Ich weiß seit einigen Tagen, daß Sie hier sind und wofür Sie sich vergeuden,« sagte Peter Graumann, indem er sein Gesicht dem Eisengitter näherte. Seine Stimme war grollend und heiser, als er fortfuhr: »Was ich mit dem Kapital meine, kann ich Ihnen wohl sagen. Ich meine Ihren herrlichen Körper, den Sie verkommen lassen. Ja, wozu glauben Sie, daß Sie bestimmt sind? Freilich, wie könnten Sie ahnen. Fluch den Unberufenen, die die Würde des Berufes geschädigt haben. Verflucht die Poesie und die Litteraten, die von Frauenwürde faseln, um ihren Besitz und ihre Kundschaft nicht zu verlieren und die schon Bauchschmerzen bekommen und an schmutzige Geldhaufen denken, wenn sie das Wort Hetäre lesen, außer der Reim verlangt es. Mit tausend Zungen müßte man predigen, aber ich habe nur eine und das Gewitter wird auch gleich da sein. Sie sehen mich fassungslos an und begreifen nicht. Hören Sie weder auf die Frommen, noch auf die Freigeister, träumen Sie nicht, denken Sie nicht, daß Sie unglücklich sind. Sie sind die Glücklichste von allen. Das heißt, wenn Sie den Mut zu Ihrem Glück besitzen. Die große Welt gehört Ihnen, wenn Sie wollen, ist Ihr Eigentum, liegt zu Ihren Füßen. Ein Weib von Ihrer Art ist Napoleon, Alexander, eine Herrscherin für sich. Glauben Sie mir, ich bin Ihr wahrer Freund, und was ich Ihnen sage, kommt aus tiefster Seele. Werden Sie eine große Kokotte, werfen Sie das schmierige Stück Elend fort, das Sie in diese Afterwelt einschließt. Es regnet. Wir sprechen uns noch. Leben Sie wohl.«
Mit stampfenden Schrittchen eilte Peter Graumann über die Gasse, die im weißen Staub verschwand. Allenthalben lohte der Staub empor wie Gischt, und rötliche, gelbe, bläuliche Blitze zuckten durch die schwarzgescharten Wolken. Das Baumlaub und die Sträucher wurden geschüttelt, und ihr heftiges Rauschen glich einem angstvollen Gesang.
Renate raffte sich erst zusammen, als die thalergroßen Tropfen dichter zu fallen begannen. Aber sie verfehlte die Gartenwege und geriet auf den kleinen Wiesenstrich neben der Scheune. Unter deren Thor stand die Magd, die eben mit dem Hineinräumen der Tücher fertig geworden war und tuschelte mit ihrem Liebhaber, der voller Erregung und Dringlichkeit auf sie einsprach. Halb ergeben, wie es schien, und halb verzweifelt hörte das Mädchen zu und griff ein paar Mal beschwörend nach seinen Händen. Das alles sah Renate, obwohl sie die Empfindung hatte, als blute ihr im Innern eine Wunde, unstillbar. Der Donner begann zu rollen oder vielmehr zu schlagen, gleich drei Mal hintereinander. Unsere Käthe ist ordentlich verliebt, dachte Renate, als sie ins Haus ging. Sie klammerte sich hartnäckig an diesem Gedanken fest, während sie mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen drückte. Gretchen war ins Bett gekrochen und heulte aus Furcht vor dem Wetter. Fanny-Elisa las mit unglaubwürdiger Ruhe ihrem Bräutigam ein Gedicht aus einem Schmöker vor.
Als Herr Samassa mit dem Siebenuhr-Eilzug aus der Stadt kam, war das Unwetter noch in voller Kraft. Er brachte zwei Herren mit, Neffen seines künftigen Schwiegersohnes, einen Assessor und einen Architekten. Sympathische junge Leute, freilich von einer gewissen Verwaschenheit, aber sie redeten nicht viel und ihr Benehmen drückte eine angenehme Art Fremdheit aus. Es nahm sich komisch aus, daß sie kein Auge von Renate wandten und mit scheuer Verehrung zuhörten, wenn sie etwas sagte. Frau Samassa wollte vor Ingrimm vergehen wie Fett auf einer heißen Pfanne. Doch die sparsamen Zeichen des Respekts der jungen Leute, schmale Ueberbleibsel der Vergangenheit, genügten, um Renates Blicke heller zu machen. Frau Samassa befahl ihr schroff, in die Küche zu gehen und der Köchin Anweisungen für das Abendessen zu bringen. Sie erhob sich willig und verließ das Zimmer. Sie mußte durch den engen Corridor gehen und hörte ein Pst durch eine Seitenthüre. Herr Samassa stand dort und winkte ihr heimlich, ins Zimmer zu kommen. Er sah ebenso feierlich, als vielwissend und verheißungsvoll darein, und als Renate ihm folgte, drückte er die Klinke unhörbar ins Schloß und zog eine kleine Sammetschachtel aus der Tasche, die er kichernd öffnete. Er schnaufte laut vor Vergnügen, als Renate staunend die wundervolle Brillantbroche anstarrte, die in einem blauseidenen Lager eingebettet war. Renate liebte leidenschaftlich Diamanten; noch ein Kind, hatte sie danach stets unzähmbares Verlangen getragen, und jetzt schloß sie unwillkürlich die Augen und sagte lächelnd, obwohl sie die ganze Geheimthuerei nicht begriff: »Wohl für Fräulein Fanny-Elisa?«
Herr Samassa fuhr fort zu kichern, offenbar nur ein Zeichen von Verlegenheit. Dann fauchte er, seine Lippen Renates Ohr nähernd: »Nein für Sie, Holdeste.«
»Für mich –?«
»Für Sie, ja. Jawohl, jawohl für Sie, wenn Sie nett sein wollen. Fanny-Elisa bekommt auch eine, aber erst morgen, hihi ...«
»Wollen Sie nicht lieber ein Glas Wasser trinken?« fragte Renate kalt.
»Aber mein Lämmchen, thu doch nicht, als ob Du nie einen Mann gesehen hättest.«
Renate fühlte ein Brausen in den Ohren, und ihr Kopf wurde glühend heiß. »Sie sind ein Lump,« sagte sie. »Ein Glück, daß da kein Messer ist –«. Der Blick, den sie im Zimmer auf- und abirren ließ, war von so zügelloser Wildheit, daß Herr Samassa bestürzt sein Schächtelchen zuklappte und den Kopf duckte, als fürchte er einen Steinwurf.
Tiefaufatmend verließ ihn Renate, und als sie zu den Andern zurückkehrte, trat er durch eine zweite Thür fast gleichzeitig ein. Mit einem giftigen und drohenden Blick auf Renate sagte er pathetisch: »Hier meine Tochter, das Verlobungsgeschenk deines Vaters.« Possierlich, wie er beleidigt mit den Lippen schmatzte und zugleich begierig auf die Anerkennung des Geschenks wartete. Fanny-Elisa fiel ihm theatralisch um den Hals. Die beiden Herren konnten sich nicht genug thun mit Augenaufreißen, wobei der Architekt sichtlich alles ironisch nahm. »Für Fräulein Fanny-Elisa ist es sehr hübsch, aber für die Frau meines Onkels paßt es kaum,« sagte er. Fann-Elisa sah ihn groß an und wußte nicht, ob es eine Schmeichelei war. Auch Gretchen kam wieder, denn das Gewitter zog in die Ferne, und sie wurde fast grün, als sie den Schmuck sah. Vor Neid und Eifersucht traten ihr die Thränen in die Augen, und sie sagte mit bebenden Lippen: »Wenn ich so was bekäme, würde ich Papa und Mama einen ganzen Tag lang beständig küssen.« Das wurde belacht. Renate, in wunderlicher Selbstvergessenheit, hatte ein Vorgefühl von Unheil für Gretchen und wußte, daß es unabwendbar war für die Leidenschaftliche, Irrgegangene.
Indessen hatte Fanny-Elisa das Kästchen auf die Spiegelkonsole gelegt, und da die jungen Herren inständig baten, sie möchte Klavier spielen, setzte sie sich mit langsamem Augenaufschlag an den Stutzflügel, blätterte müde in einem Heft Chopin und begann zu spielen. Da sie in solchen Dingen tyrannisch war, lauschten die Eltern und Herr Horovitz, der vielleicht an seine Credit-Aktien dachte, sehr aufmerksam, der Architekt heftete den Blick verloren und unaufdringlich auf Renate, nur Gretchen wisperte absichtsvoll mit dem Assessor. Das Spiel Fanny-Elisas war Schülerarbeit, und selbst als solche nicht korrekt. Auch sah sie aus, als könne sie das Stück nicht mehr recht fesseln, obwohl es für die Zuhörer immer noch Feiertagsbrot sein mußte. Als sie fertig war, entstand Beifallgemurmel, aber die Spielerin seufzte, als verstehe sie nicht, wie man an diesen geringsten ihrer Vorzüge einen Laut verschwenden mochte. Dann verließen alle das Zimmer, um in den anstoßenden, mit Glas gedeckten Pavillon zu gehen, wo Palmen und Oleander standen, eine Cypresse und ein verkümmertes Orangenbäumchen. Der düstere Himmel, aus dessen westlicher Tiefe der intensive Brand der untergehenden Sonne brach, erzeugte eine fast theatralische Lichtstimmung. Die flammenden Wolken schienen nur durch eine gewaltsame Anstrengung oben festgehalten zu werden, und die finsteren, blauschwarzen im Zenit hingen unbeweglich; nur graue Fetzen entflatterten ihnen gleich aufgelösten Haaren.
Renate war allein zurückgeblieben. Die fragenden Blicke des jungen Architekten hatten sie weicher gemacht als sonst. Ein trübes Zweifeln gärte in ihr, versank wieder. Es war ein Beschließen-Wollen, Fassen-Wollen, ein Ahnen und Hinneigen und dann doch wieder nichts. Sie ging zum Klavier, berührte mechanisch die Tasten, und ohne, daß sie es eigentlich gewollt, fing sie an, dieselbe Ballade zu spielen wie Fanny-Elisa. Und so sehr fand sie sich selbst darin, letztes Erleben und lang vergangenes, daß sie es warm überströmen fühlte von den Tasten in ihre Arme, ihren Körper, und es war, als sei auch in ihrem Innern ein Gewitter vorübergegangen, und jetzt war alles ruhig und erwartungsvoll. Der Architekt und der Assessor waren auf den Zehen hereingeschlichen; auch die Andern kamen. Gretchens Gesicht glänzte vor Triumph, als hätte sie jetzt einen Sieg über die Schwester errungen, Frau Samassa schnappte nach Luft, Gregor sah aus, als hätte er eine Flasche Essig getrunken, Horovitz nahm es gleichgiltig, Fanny-Elisa stand totenblaß unter der Portiere und zupfte an der Zugschnur. Von dem Augenblick an gab es kein Wesen, das sie glühender haßte, als Renate.
Der Assessor konnte sich nicht enthalten, begeistert zu applaudieren, als Renate fertig war und wie versteinert sitzen blieb. Der Architekt war so hingerissen, daß er den Mund aufsperrte, und als Renate durch eine matte Kopfbewegung ihn erblickte, fand sie ihn komisch und runzelte die Stirn. Damit verfloß der Fünfminuten-Traum, zu dem er Veranlassung gegeben. Käthe kam mit dem Geschirr, um den Tisch zu decken, und die ganze Gesellschaft verfügte sich wieder in den Pavillon. Die Familie Samassa benahm sich, als ob Renate Luft gewesen wäre.
Sie hatte weder Lust zu essen, noch im Kreis der Leute zu verweilen; unbemerkt verließ sie den Raum, begab sich in ihr Zimmer, wo sie den Hut aufsetzte und Angelus, der in letzter Zeit deutliche Merkmale der Melancholie trug, ihr zu folgen befahl. Sie wollte spazieren gehen, da sie die Luft im Hause nicht mehr ertrug. Es war schön. Das satte, glühende Grün der Wiesen leuchtete, und Tropfen fielen rhythmisch vom feuchten Laub. Angelus geberdete sich entfesselt, wälzte sich im Gras, schnappte mit durchdringendem Gebell nach Fliegen in der Luft und sauste den Weg unzählige Male hin und her. Beim Bessemer Bauern oder Bessemer Wirt, wie er auch hieß, saß Peter Graumann auf einer Bank, einen Krug Bier vor sich. Als Renate ihn sah, war sie bestürzt, daß sie den Weg hieher genommen, gerade diesen, wo es doch so viele gab, nach allen Seiten hinaus.
»Das trifft sich herrlich, mein Fräulein,« sagte Graumann, indem er auf sie zutrat.
»Es ist der reine Zufall,« antwortete Renate erglühend.
»Ein Zufall, dem ich verpflichtet bin. Ah, die Bestie Angelus lebt auch noch? Das ist schön. Und Sie, mein Fräulein, Sie machen mich verzweifelt, wenn Sie der Gedanke quält, mich getroffen zu haben.«
»›Quält‹ ist zuviel gesagt,« wehrte Renate mit verächtlichem Lächeln ab. »Oder wenn auch, ist es nur die Angst vor Ihren Gesprächen. Ich bin nicht daran gewöhnt, an die großen Worte schon gar nicht.«
»Hm. – Sie dürften manches erlebt haben, seit wir uns nicht gesehen haben. Ist es nicht so? Aber ich denke, wir gehen ein wenig weiter.« Unwillkürlich mußte Renate an die Konstanzer Tage denken, als sie diese Stimme von nachdrücklicher Schärfe hörte, in der etwas theatralisch Dämonisches und zugleich Gepreßtes, Atemloses, scheinbar Ergebenes lag. In Peter Graumanns Gesicht war ein beständiges Zucken: bald zuckte der Mund, bald zuckten die Brauen, bald eine gewisse, wiederkehrende Stirnfalte, doch ohne Zweifel war der Mund das Beredteste, auch ohne Worte; beredt durch Verwegenheit, die bis zur Frechheit ging; durch lauernde Ironie; durch einen breiten, selbstgefälligen Hohn; durch affenartige Lüsternheit, durch Zorn und Verbissenheit. Seine Hände gestikulierten mit der Mäßigung eines erfahrenen Schauspielers, – große rote, plumpe Hände mit dicken Fingern. Und das Plumpe, Gedrungene, Tappende, dabei Maßvolle, Routinierte kennzeichnete auch Erscheinung und Auftreten dieses Menschen.
»Nehmen Sie an, ich böte Ihnen eine Zukunft um den Preis der falschen Tugend und gewaltsamen Zurückhaltung, die auf mich wie ein vollkommenes Zerrbild wirken, – nehmen Sie an, ich böte Ihnen Reichtum, Macht, Ruhm, Größe, kurz alles was Sie wollen unter sicherer Garantie, – könnten Sie sich da noch einen Augenblick besinnen, was zu thun sei?«
»Hören Sie mich,« unterbrach ihn Renate hastig. »Es ist mir ganz unklar, wo Sie da hinaus wollen. Ich will es auch nicht erfahren. Was Sie da sagen und früher gesagt haben, kommt mir lächerlich und hochtrabend vor, Sie müssen schon verzeihen. Ich mag nicht hochtrabende Sachen. Sie kennen mich ja gar nicht. Bloß auf ein hübsches Gesicht hin wollen Sie mich ködern. Warum sagen Sie nicht blank heraus, was Sie wollen? Uebrigens kann ich, nicht mit Ihnen da gehen. Alle Leute sehn mich.«
»Nun, ich muß mich rechtfertigen. Ich bitte, folgen Sie mir eine Viertelstunde in die Laube des Bessemer Wirtsgartens.«
Renate willigte ein, mehr aus Furcht vor der Rückkehr ins Haus der Samassas, als aus Lust an der seltsamen und für sie unbegreiflichen Unterhaltung, der auszuweichen sie auch ein geheimer Zwang verhinderte. Sie saßen bald in der Dämmerung der Laube einander gegenüber, und Renate hörte zu und streichelte mechanisch den Hund, der seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte. Graumanns Augen funkelten wie ferne, kleine Glühwürmer.
»Sie sagen, ich kenne Sie nicht. Erstens weiß ich jetzt, was hinter Ihnen liegt. Ich hab es mir authentisch erzählen lassen. Zweitens glaube ich, daß meine Auffassung Ihres Charakters richtig ist, denn alles, was Sie bisher gethan haben, war nur Mittel zu einem Zweck, der Ihnen freilich unbekannt war, dem Sie aber willenlos entgegengetrieben sind wie eine Planke in der Strömung. Sie meinen, ich will Sie ködern. Nein. Vielleicht den Steuermann machen, ja. Strömungen führen oft durch Untiefen, machen große Umwege. Und auf Ihr hübsches Gesicht hin, sagen Sie. Hübsch ist ein schlechtes Wort. Sie können annehmen, daß ich Ihnen in diesem Augenblick kein Compliment machen will. Es geht ja nicht um eine Quadrille. Ihr Gesicht ist nämlich für mich eine Inkarnation. Sie sind eine Königin, ja lachen Sie nur, eine geborene noch dazu. Das hat auch jener Herzog gespürt. Aber damit Sie mich nicht für einen Schwätzer halten, muß ich Ihnen meine Anschauung in diesen Dingen auseinandersetzen.
Ich teile die Frauen in vier Klassen ein, in Königinnen, Gouvernanten, Köchinnen und Dirnen. Die Königinnen sind berufen, zu herrschen. Die Männer sind ihre Unterthanen. Sie sind unbesiegbar, und ihr Adel ist deutlich und erkenntlich durch alles, was sie thun und unterlassen, was sie reden und schweigen. Die Gouvernanten-Natur, das ist die Erzieherin, die nur für die Kinder lebt, das Mutter-Weib, die Dulderin. Die Köchinnen-Natur, das ist die robuste Seele, die Hausfrau, die Helferin, höherer Dienstbote, Schlüsselverwahrerin, Sorgenbehälter, überhaupt die Repräsentantin des primitiven äußeren Lebens. Die Dirne, da ist nichts zu erklären. Sie ist das charakterlose Wesen, Geschöpf der Sinne, nichts als ein Werkzeug, eine Art Drohne, bestimmungslos, wertlos. Natürlich hat das alles mit den Einteilungen der Gesellschaft gar nichts zu schaffen. Dirnen kann es auf dem Thron geben, Königinnen in den Fabriksälen, Köchinnen von fürstlichem Rang und Gouvernanten unter den Straßen-Mädchen. Was ich will, ist, daß Sie Ihrer Bestimmung wenigstens nicht entgegenwirken. Und von dieser Bestimmung war ich fest überzeugt, von der ersten Sekunde, wo ich Sie sah, bis heute. Ich denke, Sie verstehen doch, was ich mit alledem sagen will?«
»Es ist merkwürdig, es verwirrt mich,« erwiderte Renate flüsternd und schüttelte den Kopf. Die Dämmerung lag schon über der Landschaft draußen, und von fernher schallte Mädchengesang, welchem Renate mit einer wachsenden und unerklärlichen Unruhe lauschte.
»Denken Sie sich einmal Folgendes,« fuhr Peter Graumann fort, und seine fanatische Stimme klang rauher, dumpfer. »Jemand verläßt eine lustige Gesellschaft abends, weil er früher aufbrechen muß als die Andern. Irgend welche wichtige Dinge veranlassen ihn, eine Reise zu unternehmen. Er kommt zurück und faßt eines Abends den Entschluß, jenes Haus wieder aufzusuchen. Alle Räume sind finster und still, doch zu seinem Erstaunen findet er jede Thür offen, die er zu durchschreiten hat. Schließlich kommt er in den Saal, den er vor Monaten plötzlich verlassen mußte, und der allein noch beleuchtet ist. Alle Leute sitzen noch am Tisch, genau so, wie sie waren, als er fortging. Es sind so und so viel Gesichter in den verschiedenartigsten Ausdrücken von Lustigkeit, Witz, Behaglichkeit, des Lachens, der Ironie. Aber er sieht näher zu und macht die fürchterliche Entdeckung, daß die Mienen erstarrt sind, daß die Lustigkeit, der Witz, die Behaglichkeit, das Lachen unveränderlich, steinern, lautlos in den Gesichtern haften, so lang er auch da stehn mag. Was haben Sie?«
Renate machte eine unwillkürliche Bewegung des Grauens. Doch mit unerschütterlichem Ernst fuhr Peter Graumann fort. »Dieser Jemand, den ich meine, sind Sie selbst, Renate Fuchs. Die Gesellschaft, die Sie verlassen haben, – ich brauche darauf nicht einzugehen. Dasselbe würden Sie erleben, falls Sie wieder zurückkehrten. Nichts als Grimassen würden Sie wiederfinden. Und was Sie hier in dem Dorf treiben, was soll das? Wollen Sie alles gewaltsam ersticken, was Sie befähigt, zu herrschen?«
»Aber was soll das, was soll denn das?« rief Renate unwillig und beklommen.
»Kommen Sie mit mir.«
Renate lächelte verächtlich. »Ah, das kenn ich. Da will ich schon lieber Dienstbote sein.«
»Eine Antwort, auf die ich gefaßt war. Aber ich muß Ihnen sagen, ich bin weder ein Anselm Wanderer, noch ein Stefan Gudstikker. O, ich weiß alles. Ich winde keinen Jungfernkranz aus veilchenblauer Seide, noch verwandle ich meine Gefühle in Makulatur. Allerdings, man kann sich kaum in mich vergaffen, aber man hat Chancen bei mir. Ich werde nichts sein, als Ihr Impresario, Ihr Regisseur, Ihr Cassier. Mein Bruder hat mir, bevor er in die Anstalt ging, ein viertelhundert brauner Scheine überlassen. Der Junge ist verteufelt borniert und hat vor vier Wochen in Montecarlo achtzigtausend Francs gewonnen. Mit dem brüderlichen Geschenk also will ich in irgend einer Hauptstadt, wahrscheinlich in Wien, ein kleines Variete für Feinschmecker errichten. Eintrittspreis sehr hoch, Publikum hundert Personen. Von den Leistungen wird man reden müssen. Kurz und gut, Sie sollen der Star des Unternehmens werden.«
Renate erhob sich blitzschnell und schüttelte sich wie im Fieber. Sie konnte kein Wort reden.
»Denken Sie nicht, daß ich phantasiere,« sagte Graumann mit unterdrücktem Lachen. »Es wird nichts von Ihnen verlangt, was Sie nicht in drei Tagen lernen könnten. Die Einfachheit der Geschichte ist mein ganz besonderer Kniff. Mein Freund, der Clown Sonnenfeld aus Paris, hat sich schon für die Idee enthusiasmiert. Ich verspreche Ihnen nichts, hingegen biete ich Ihnen den Schlüssel an, der alle Thore des Glücks aufsperrt. Freilich kein Glück bei Kartoffelsalat und lyrischen Gedichten. Aber ich sehe, Sie nehmen kein Interesse daran –«
»Nein, ich will nichts mehr hören,« erwiderte Renate zitternd. »Jetzt wissen Sie, wie mir zu Mut gewesen sein muß, daß ich von Anfang an –« Sie faltete die Hände und wandte das verzerrte Gesicht zur Seite.
Peter Graumann seufzte, als bedauerte er, so viel Zeit verschwendet zu haben. "Ich bin noch bis übermorgen hier,« sagte er, begleitete Renate bis zur Straße, grüßte mit vollendeter Höflichkeit und ging, leise vor sich hinpfeifend, in die Bessemer Schenke zurück.
Es war Abend geworden. Die Luft im ganzen Thal war von schwüler Feuchtigkeit. Die Blumen, hellere Flecke in den Wiesen, sahen wie Augen aus der Dunkelheit, das Getreide stand schwer, manchmal flach gepeitscht vom Regen. Der Bessemer wohnte nicht in Bruck selbst, sondern eine Strecke amperabwärts. Renate, die nur Halbschuhe an den Füßen trug, fand das Gehen auf den nassen Wegen beschwerlich. Es gerieten ihr auch Steinchen in die Schuhe, und bei einem steinernen Muttergottesbild, das rings mit Rosensträuchen umpflanzt war, blieb sie stehen und klopfte den Schuh aus. Angelus schnoberte. »Was hast du denn, dummer Hund?« fragte Renate.
Die Rosen dufteten so stark, als ob sie die ganze Landschaft mit ihrem Geruch erfüllen wollten. Plötzlich gewahrte Renate eine unbeweglich kauernde Gestalt zu Füßen der Steinfigur. Zuerst erschrak sie; als sie aber überlegte, daß es nur eine Andächtige sein könne, trat sie ein wenig näher und sie gewahrte nun im unsicheren Licht das Profil eines jungen Mädchens, offenbar einer Magd oder Bauerstochter. Die Züge waren voll inbrünstiger Andacht, die Linien der Gestalt waren unruhig. Sie schien das Knirschen des Sandes hinter sich gehört zu haben und wandte sich jäh erschaudernd um. Renate war erstaunt, Käthe hier zu finden, die sonst den ganzen Tag verträllerte. »Ei Käthe, was machen Sie denn, warum sind Sie denn fortgegangen?« Dem Gefühl Renatens nach war es nicht das Gebet einer Feierstunde, sondern die Qual einer Schuldbewußten. Käthe faßte sich und stammelte, daß sie ihren Liebhaber hier erwarte.
In der That wurde, übergroß gegen den dunklen Himmel gezeichnet, die Gestalt eines Mannes sichtbar, der näher kam.
Renate ging. Sie hatte, ganz in Gedanken, eine der Rosen gebrochen, die sie an den Gürtel steckte. Sie träumte vor sich hin; eine gutmütige Illusion ließ ihr die Frömmigkeit der Magd als etwas Unantastbares erscheinen. Vielleicht fiel sie noch in dieser Nacht, wußte es voraus, ängstigte sich, hatte doch nicht Gewalt über das Blut und verlangte von der Muttergottes ein Wunder. Und das Wunder, das man verlangt, ist oft zur Hälfte schon geschehen. Seltsam, daß dieser Satz in Renates Phantasie wie von Peter Graumann gesprochen klang. Sie mußte sich gestehen, daß sie jenem Mann gegenüber die Empfindung der Unentrinnbarkeit hatte. Eine Mischung von Furcht und Respekt machte die Vorstellungen von ihm haltlos und nebelhaft. Sie wußte schon nicht mehr, wie er aussah; in einem und demselben Gedankenkreis verlachte sie ihn und erkannte ihm etwas Ueberlegenes, ja Geniales zu. Seine Neuartigkeit war sicherlich nicht ohne Finesse. Renate nahm sich vor, ihn ironisch zu behandeln, griff sich dann an den Kopf, weil sie so die Möglichkeit fernerer Begegnungen vorausgesetzt hatte. Oft werden Menschen so aneinandergekettet: die bloße Existenz des einen kommt einer Gefahr gleich, die zu vermindern nur durch wachsames Beisammensein möglich scheint.
In trübe Stimmung durch all das versetzt, langte Renate bei der Villa an. Im ersten Stock irrten Lichter umher. Als sie in den Pavillon trat, schlug auf einer großen Steh-Uhr mit dumpfen Schlägen die zehnte Stunde. Unter der Palme saßen die beiden jungen Herren, – allein. Sie standen wie auf einen Befehl von den Sitzen auf, als Renate eintrat. Sie sahen aus, als wollten sie mit den Blicken etwas vom Boden aufheben; jedenfalls sahen sie Renate nicht an, stellten sich, als hätte sie ihr Eintreten nicht sonderlich berührt. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und sah sich etwas erstaunt in dem Raum um, der noch völlig die Vorgewitterluft aufbewahrt hatte. Das verhungerte Orangenbäumchen hatte es recht schwül, denn es sah aus, als nahte das Ende seiner Treibhaustage. Renate befahl dem Hund, sich in die Ecke zu legen, verließ den Pavillon und bemerkte, daß der Architekt ihr in einer Entfernung von etwa zehn Schritten folgte. Sie eilte in ihr Zimmer hinauf, denn sie erinnerte sich, daß sie vom Garten aus auch darin Licht gesehen hatte. Auf der Treppe stand Fanny-Elisa und schaute Renate unsicher forschend entgegen, ob sie es auch sei. Als Renate an ihr vorübergehen wollte, sagte sie barsch: »Bleiben Sie! Sie können nicht in Ihr Zimmer.«
»Wieso?« fragte Renate befremdet und unwillig. »Das werden Sie bald genug erfahren,« erwiderte Fanny-Elisa und verschränkte herrisch die Arme über der Brust. Sie hatte offenbar ein paar Arme und Beine zu wenig, um das Königliche ihrer Pose völlig auszudrücken.
»Wollen Sie nicht gefälligst in anderm Ton mit mir sprechen,« flüsterte Renate, der schon die Worte zu versagen begannen.
"Ich glaube, wir werden überhaupt nur noch wenig zu reden haben,« sagte Fanny-Elisa schneidend. Denn »schneidend« wollte sie sein, ganz im Sinne der unnahbaren Heldinnen ihrer Lektüre.
»Aber ich bitte Sie, was giebt es denn?« hauchte Renate beinahe flehend.
»Man durchsucht Ihr Zimmer. Wir haben einen Commissär holen lassen. Die Diamantbrosche ist fort. Sie werden zugeben, daß der Verdacht gegen Sie sehr dringend ist. Es ist besser, Sie gestehen es ein.«
Frau Samassa, auf den Treppenplatz tretend, hatte die letzten Worte gehört. Sie war erhitzt, stand da mit geblähten Backen, aufgestreiften Aermeln, hielt eine Ledertasche, die Renate gehörte, in der einen Hand, in der andern eine Kerze. »Wo treiben Sie sich herum?« herrschte sie Renate an.
Gregor kam, sah Renate und hüstelte. Renates Gesicht war von einer Sekunde zur andern fahler geworden; jetzt hatte es einen grünlichen Ton. Die Augen waren weit aufgerissen. Es ist jedenfalls nur vorübergehend, das alles, dachte sie, hoffentlich bin ich gleich tot. Dann stürzten ihre Gedanken übereinander, und sie hatte das Gefühl, als ob sie nicht mehr sie selbst sei, sondern neben sich stehe. Diese Nebenstehende ging in das Zimmer, wo ein Mann vor dem erbrochenen Schrank kniete, nahm ihren Revolver, den sie noch aus der Zeit ihrer Jagden besaß, trat damit auf den Flur und erhob ihn zielend gegen die Samassas. Der Hahn knackte nur, aber die Weiber, zu denen sich auch, totenbleich vor Erregung, Gretchen gesellt hatte, kreischten um Hilfe. Dann sank Renate zusammen, und ihr Kopf schlug gegen das Treppengeländer. Der Architekt klatschte in die Hände, und der Assessor, der durch die Schreie heraufgelockt worden war, brüllte ganz grundlos: »Herr Commissär! Herr Commissär!« –»Haben Sie denn auch an das Dienstmädchen gedacht?« murmelte der Architekt finster. Frau Samassa rang die Hände und betrachtete ratlos den daliegenden Körper Renates. Fanny-Elisa blickte verzückt in die silbern flimmernden Sterne und dachte: es ist genau wie im Geheimnis der Lady Darkhome. Die beiden jungen Männer bemühten sich um Renate, trugen sie hinein auf ihr Bett.
Im Laufe der Nacht kehrte ihr das Bewußtsein zurück. Gretchen, die im Grunde nicht ohne Gutmütigkeit war, wachte bei ihr. Doch blieb sie verlegen und stotterte am Morgen nur langsam die Mitteilung heraus, daß Käthe dem Commissär eine Beichte abgelegt habe. Ihr Geliebter, im Besitz des Schmuckes, war schon über alle Berge. Renate hörte das teilnahmlos an. Mitten im Zimmer hockte Angelus und betrachtete stumpfsinnig die verblühte Rose, die Renate gepflückt hatte, und die auf dem Teppich vor ihm lag. »Ich möchte aufstehn,« sagte Renate; »lassen Sie mich allein.« Gretchen ging. Unten wurde sie ausgefragt, aber sie machte sich wichtig ein Geheimnis zurecht.
Renate war noch halb angekleidet, denn man hatte sie nur der Stiefel, der Taille und des Mieders entledigt. Erst konnte sie kaum gehen, doch als sie Kopf und Hals mit kaltem Wasser gewaschen hatte, fand sie sich frisch. Eilig frisierte sie sich, kleidete sich an, packte ihren Koffer und ihre Taschen, sperrte alles zu, stellte es ordentlich zusammen, wie es ihre Gewohnheit war, rief Angelus und ging mit ihm hinab. Gretchen stand am Hausthor und fragte sie bestürzt, wohin sie ginge. Die drei andern Samassas hatten sie schon die Treppe hinuntergehen gehört; sie waren durch Angelus' Bellen aufmerksam geworden. Hinter der Thüre standen sie und lauschten durch die Spalte wie Schulkinder, die dem Lehrer zu begegnen fürchten. "Ich gehe fort,« sagte Renate, als handle es sich nur um einen Spaziergang. »Mein Gepäck ist fertig droben. In einer Stunde wird der Träger kommen und es zur Bahn bringen. Adieu.«
Sie verließ den Garten. Es schien in der Nacht noch geregnet zu haben, denn das Laub war naß, die Erde feucht, der Himmel bleiern. Ohne sich zu besinnen, schlug Renate den Weg zum Bessemer ein, als wäre es der unbesiegliche Entschluß nach längstvergangenen Erwägungen. Doch wußte sie kaum, was sie that, handelte nur im dumpfen Zugreifen. Wenn sie jemand am Arm gepackt hätte, sie zu fragen: wohin willst du? so hätte sie nicht Antwort darauf gefunden.
Im Bessemer Garten saß Peter Graumann schon in aller Frühe beim Vier. Renate trat an seinen Tisch und sagte so hastig, als könne ihr ein Dieb die Worte entwenden, bevor sie gesprochen: »Hier bin ich. Ich gehe mit Ihnen. Thun Sie, was Sie wollen.«
Peter Graumanns Gesicht nahm einen idiotischen Ausdruck des Erstaunens an. Die Virginia-Cigarre entfiel seinem Mund und sank zischend in das halbgefüllte Glas. Renate setzte sich tiefaufseufzend auf die Bank, rief Angelus und befestigte mechanisch die Leine an seinem Halsring.
Alles was in den folgenden Tagen geschah, ließ Traum und Wachen untrennbar durcheinanderfließen. Tag und Nacht malten ihre Farben nicht viel schärfer in die Seele, als der Reflex in der Finsternis, den man zerrinnen sieht, wenn ein Licht rasch verlöscht wurde. Der Lauf der Stunde unterschied sich durch kein vergleichendes Maß von dem der Nachbarstunde. Sie alle huschten schattenhaft vorbei. Erinnerung klärte nichts und trübte nichts, und ein paar übriggebliebene Wünsche flogen auf, unruhige Vögel aus plötzlich geöffneten Käfigen, verschwanden auf Nimmerkehr. Irgendwo im Umkreis stand Peter Graumann; wichtige und eindringliche Reden waren ihm Bedürfnis. Irgendwo war auch Angelus, nicht vergnügt, nicht mißgestimmt, stets hungrig, stets neidisch auf Hunde, die es anscheinend besser hatten. Peter Graumann hatte Gesellschaft in München; er blieb immer sitzen, bis der letzte aufgebrochen war, damit die Zurückbleibenden nicht über ihn reden konnten, wie er über die Frühergehenden redete. Er verachtete alle, und es gab vielleicht im ganzen vier lebende Männer auf der Erde, die vor ihm bestehen konnten. Anders hielt er es mit den Frauen. Aus ihrem Gang schloß er auf ihre sinnlichen Fähigkeiten; im Rhythmus ihrer Schritte vermochte er die feinsten Schattierungen des Charakters zu erkennen. Seine unveränderliche, gepreßte, etwas atemlose und altmodische Höflichkeit verdeckte den teuflischen Hohn einer zuversichtlichen Skepsis; sein übertriebenes Pathos war die Tapete auf einer durchlöcherten Wand. In einer einzigen Stunde war er Weltmann, Moralist, Zigeuner, Blagueur, Artist, Cyniker und Philosoph. Durch Aeußerlichkeiten ließ er sich blenden; Raffinement lag ihm näher als Natur. Den einfachen, geradlinigen Leiden brachte er keinerlei Verständnis entgegen. Die Gefühle, die er äußerte, waren nicht einfache Töne, sondern Oktaven. Renate blieb ihm gegenüber in einem Zustand von Willenlosigkeit, der ihr ganzes Wesen veränderte. Drei Tage waren sie in der Stadt, aber sie hatte nicht einmal das Zimmer des Hotels verlassen. Sie hatte Bücher, um zu lesen, wandte Blatt auf Blatt um, stundenlang, doch wenn sie aufhörte, wußte sie nicht mehr vom Inhalt, als ein paar gleichgiltige Wendungen, die zufällig in ihr Bewußtsein gedrungen waren. Sie stand am Fenster, sah die Straße hinunter. Doch welche Straße es war, welches Haus es war, worin sie sich befand, war nicht des Nachdenkens wert; da liefen Leute, einmal schien die Sonne, einmal regnete es; Hunde bellten, Kutscher schrieen; ein Kellnerbursche stand vorm Thor; seltsam, daß sie das alles sehen konnte. Dann kam wieder eine lange Fahrt im Eisenbahnwagen. Die Räder schmetterten, wenn das Fenster offen, und rollten dumpfer, wenn es geschlossen war. Wälder und Seen, Flüsse und Wiesen huschten vorüber, Rinder trotteten am Rande langer Straßen hin, und in den Feldern standen hochbeladene Wagen. Die Berge wuchsen empor über dem Horizont, und dann war plötzlich der Bodensee da. Renate lachte und schwatzte viel während der Ueberfahrt, nicht mit Graumann, sondern mit einigen Reisenden und ihren Damen, welche aussahen, als kämen sie aus fernen Ländern und allzuviel Bewunderung kundgaben für das, was sie sahen. Der See war gelbgrau, die Wogen waren lebhaft. Die Berge schienen in das Wasser hineinzuschreiten, als es dämmerte, und Renate stand neben dem Steuermannshaus und blickte gegen Westen. Dort lag Constanz, eine Stadt, gefährlich für junge Träumerinnen. Vielleicht hätte man bei Tag eine Turmspitze zu sehen vermocht, aber der Abend verbarg und verdunkelte die Ufer. Peter Graumann lehnte am Mast und zündete eine Virginia an. Das brennende Hölzchen erhellte flammend seine Züge, wie damals, – Renate wandte sich ab, kniff die Unterlippe krampfhaft zwischen die Zähne, sah ins Wasser hinab, in die rauschende Gischt beim Steuerrad. Die Mitreisenden waren sehr lustig. Ein junger Geck mit fahlen Wangen und dem unverschämt-neugierigen Blick des Cocotten Don Juans las aus einer Zeitung den Vergnügungs-Anzeiger von Zürich vor, dessen Magerkeit dem Scherz manche Blöße bot. Der junge Herr sagte mit einem unsicheren Augenzwinkern gegen Renate: »Wir müssen Studentinnen dort kennen lernen. Das soll sehr ulkig sein.« – »Ja!« riefen die drei Damen begeistert. – »Es ist nicht leicht, welche zu bekommen, meine Herrschaften,« mischte sich Peter Graumann ins Gespräch. »Einige kann ich Ihnen aber vorführen. Sie fressen mir aus der Hand und verstehen sich auf possierliche Kunststücke. Eine z. B. kann Eier ausbrüten, wenn sie lange genug sitzt, eine Andere kennt die Geschichte der Renaissance. Curiose Geschöpfe.« – An die Stelle der Munterkeit trat Schweigen in der Gesellschaft. Der fahle Geck trat von einem Bein aufs andre wie ein Storch. Graumann legte seinen Arm in den Renates und ging mit ihr an der Brüstung auf und ab.
Dann wieder Eisenbahnfahrt, doch beide waren allein. Zu den Fenstern glotzten allerlei Fratzen herein, schadenfrohe und mitleidige Gesichter, drohende und prophetische. Die Landschaft war schwarz wie der Weltraum. Renate legte sich auf die schmale Sophabank und sah starr in die Höhe, während Graumann ihr zugeneigt saß und sie mit Blicken förmlich einsaugte. »Göttin,« flüsterte er. Als Renate in sein Gesicht schaute, verfärbte sie sich über dessen besitzes-stolzen, rechnenden und zugleich listigen Ausdruck. »Wo hatten Sie denn damals den Revolver bei Samassas her?« fragte Graumann.
Erst fand sie keine Antwort, so verblüfft war sie; in derselben Minute hatte sie mit einem bittern Gedanken an jener Waffe gehangen. »Es ist ein Geschenk meiner Schwester,« antwortete sie mit Widerstreben. »Ich habe ihr dafür zwei Märchenbücher von mir geschenkt.«
»So? So? Märchenbücher?«
»Es waren meine liebsten Bücher.«
»Bilderbücher wohl?«
»Wenn Sie auch höhnen, das ist mir gleichgiltig.«
»Oh! Ich nehme den größten Anteil daran. In diesem Augenblick schenken Sie mir das dritte Märchenbuch, das unsichtbare in Ihrer Brust, und ich gebe Ihnen auch eine Waffe dafür, eine unfehlbare: das Bewußtsein Ihrer Schönheit, Ihrer Macht, Ihres Wertes.«
»Danke. – Wann wird einmal die gräßliche Fahrt zu Ende sein? Meinem armen Hund ist schon ganz schlecht.«
»Um elf Uhr sind wir in Zürich. Kennen Sie die Stadt?«
»Nein.«
»Die Menschen darin sind Viehfutter. Die andern Nationen lagern ihren Kehricht dort ab. Wobei bisweilen aus Versehen auch eine Perle mit hineingerät. Morgen beginnen wir zu arbeiten. Ich habe auch meine Angelegenheiten zu ordnen. Woran denken Sie jetzt?«
Renate schüttelte den Kopf.
»Es ist möglich, daß Gertraud Werkmeister am Bahnhof wartet. Seien Sie freundlich mit ihr.«
»Wer ist es?«
»Eine von denen, die aus der Hand fressen. Studiert Nationalökonomie, dreißig Jahre alt, sehr verblüht, ziemlich gescheit. Ihr Vater ist ein Bauschwindler gewesen und saß lange im Zuchthaus. Ihre Mutter war eine der bekanntesten Dirnen Europas. Dadurch ist das Gemüt der Tochter finster geworden. Sie leidet an krankhafter Ehrlichkeit und Gottsucherei. Sie hat ein Verhältnis mit einer gewissen Viktoria Schönau –«
Erstaunt und furchtsam sah Renate in das Gesicht Peter Graumanns, der ein sarkastisches Grinsen verbarg, indem er die Hand vor den Mund hielt. »Ja, Sie werden da die merkwürdigsten Exemplare sehn, Leute, die anderswo keine Luft zu atmen bekommen. Der Mann der Schönau ist ein ruinierter Spieler, leidet an Monomanie der mathematischen Berechnung von Glückschancen. Lauter Leute, die keinen Zusammenhang mehr mit der Welt haben, Insulaner. Jeder glaubt, er könne noch Revolutionen machen oder die Gesellschaft reformieren. Benehmen Sie sich kalt. Sprechen Sie nichts. Machen Sie sich geheimnisvoll. Zeigen Sie keine Teilnahme. Von heute ab sind Sie Renee Lusignan. Das klingt, als hätten Sie sich eines Adelsprädikats beraubt, erinnert an alte französische Grafengeschlechter. Der neue Name wird viele der alten Eigenschaften vertreiben, die Ihnen hinderlich sind. Dergleichen hat mehr Einfluß, als man glaubt.«
Renate hatte die Augen geschlossen und hörte, hörte. Der Hund hatte zu winseln begonnen, als ob das Gespräch, sein Unbehagen erregt hätte. Graumann befahl ihm, ruhig zu sein, aber der Erfolg war gering. »Was fehlt der Bestie?« fragte er Renate, die Angelus mit leichten Liebkosungen zu beruhigen suchte. »Die Fahrt wird ihm zu lange dauern,« erwiderte sie mit entschuldigendem Lächeln. Doch Graumann gab ihm einen Fußtritt in die Weichteile, worauf der Hund entsetzt aufsprang und mit verdrehten Augen ein trauervolles Geheul anstimmte, welches das Stampfen der Räder laut übertönte. Ein allgemeiner Weltschmerz schien ihn erfaßt zu haben oder ein Vorgefühl von Unglück. Aber Peter Graumann nahm seinen Stock, kniff den Mund zusammen und begann aus allen Kräften auf das Tier loszuschlagen. Renate streckte bittend die Hand aus, dann fing sie am ganzen Körper zu zittern an, schaute willenlos zu. Als Graumann fertig war, blieb Angelus auffallend ruhig. Renate streichelte ihn, er ließ es ruhig geschehen, bezeigte durch nichts seine Dankbarkeit oder Freude, blickte die Herrin nicht an. Renate empfand einen Schmerz, den sie heldenhaft verbiß.
»Welche Rasse ist es?« fragte Graumann herzutretend, mit vollkommener Ruhe.
Sie antwortete erst nicht, fühlte aber seinen Blick, der sie allmählich zwang, ihn anzusehen. Sie entgegnete sanft wie eine Schülerin: »Ein englischer Hühnerhund ist es. Er ist so klug und versteht jedes Wort.«
Von Unterstraß aus konnte sie die Stadt überschauen, die blaue Limmat mit ihren Brücken, die Fraumünsterkirche und die Wasserkirche mit ihren Türmen. Drüben lag der grüne Uetliberg und wie Glas dehnte sich der See gegen Süden, – bleiglänzend in der Sonne, silbern in hellen Nächten, blau an den späten Nachmittagen, golden am Abend. Dann die Schwyzeralpen, mit fahlgrauen Schneehauben den Himmel berührend. Alles konnte Renate vom Fenster ihrer Zimmer aus sehen, jedoch empfand sie kein Interesse daran, war mit anderen Dingen beschäftigt, hatte ausgiebige Toilettensorgen, und zwei Pariser Schneiderinnen hatten wochenlang vollauf mit ihr zu thun. Schon deshalb war in den Augen der Studentinnen Renee Lusignan ein Gegenstand der Neugierde, und man suchte ihre Gesellschaft. Das einzige, was ihr naheging, war, daß Angelus unversöhnt an ihrer Seite lief. Er war wohl gehorsam, mehr als früher sogar, aber er gab keine Beweise von Zärtlichkeit mehr, kratzte nicht mehr des Morgens am Bett, und er knurrte nicht mehr, wenn Besuche kamen, von denen er annahm, daß sie seiner Herrin nicht willkommen sein möchten. »Er spricht nichts mehr mit mir,« sagte Renate zu Gertraud Werkmeister, und lächelte mit feuchten Augen.
Gertraud Werkmeister war tägliche Besucherin. Ihr Wesen war etwas sauersüß. Ihr Gang war vernachlässigt (absichtlich watschelnd), wie alles an ihr vernachlässigt war. Eine dürftige Kleidung schlotterte an ihrem Körper, und die kurzgeschnittenen Haare gaben dem Gesicht trotz seiner Blässe etwas Pausbäckiges. Schön waren nur die Augen in ruhigen Minuten. Sonst lag ein unveränderliches: »wie schlau bin ich, daß ich euch durchschaue« darin. Sie besuchte fleißig die Kollegien, schrieb, experimentierte, spielte Karten, rauchte, – alles wie mit aufgestreiften Aermeln. Immer war sie bemüht, ein treffendes Wort zu sagen, Menschen oder Dinge mit koketter Kürze zu kennzeichnen. Sie hatte von Graumann über Renates erste Flucht aus dem Elternhause gehört und sagte zu ihr: »Wie unschuldig und phantasievoll müssen Sie gewesen sein, um das zu wagen.« Und mütterlich-freundlich zeigte sie ihre weißen Zähne.
Sie gingen am See entlang, denn es war eine Art Wasserfest heute. Renate nickte zu der klugen Phrase und betrachtete prüfend die Kleider einiger Engländerinnen, die eben geschwätzig in ein Boot stiegen. »Es ist ein dunstiger Abend,« sagte sie.
»Nun passen Sie auf, wenn das Feuerwerk kommt!« rief eine junge Studentin rückwärts, die den komischen Namen Holzgetan führte, Ella Holzgetan. Sie hatte ein wenig den Edelmuts- und Verlassenheitswahn, geberdete sich unaufhörlich, als wolle sie den Kopf durch den Aermel stecken, war vielleicht zwanzig Jahre alt, sah aber bisweilen greisenhaft aus, wenn ihre Züge erschöpft waren von Lauern, von Verächtlichkeitsgrimassen, von gespielter Aufmerksamkeit, gespielter Müdigkeit.
In der Mitte des Sees flammten bereits Raketen auf. Die Herren wollten ein Boot mieten, doch Graumann, der an Wasserscheu litt, verhinderte sie daran. Sie kauften Lampions und suchten einen feierlichen Aufzug zu veranstalten, alles eigentlich um Renates willen, die ein wirkliches Liebesfieber unter die Gesellschaft gebracht hatte. Sie selbst schien es nicht zu wissen, schien die Worte nicht zu hören, die man schmeichlerisch oder dringend, pathetisch oder empfindsam ihr zuflüsterte. Sie ermunterte weder, noch ermutigte sie. Herr von Tyrstey nannte es degouter l'amour, aber sich selbst nannte er den Liebessklaven und wich nicht von Renates Seite. Er war eine Art Student, soweit er nicht Abenteurer war, schien viel Geld zu besitzen; man sagte, sein Vater sei der erste Goldgräber in Alaska gewesen. Einer war da Namens Birnbaum, ein flüchtiger Getreidehändler aus dem Bayrischen, und zwei Leute aus Westfalen, Söhne von Kohlenwerksbesitzern. Sie hatten beide wegen Majestätsbeleidigung die Heimat verlassen müssen. Dann gab es ein paar russische Nihilisten, welche knollige Nasen und zu kurze Lippen hatten. Alle waren Spieler, haßten die Arbeit, gaben der Nacht vor dem Tag den Vorzug, waren elegant bis zur Verdächtigkeit. Der Mann der Schönau wurde frech, wenn er im Spiel verlor, hatte unzählige Herausforderungen, die nicht einmal bis zum Stelldichein gediehen.
Drei von den Damen sollten an der Tonhalle erwartet werden, was Jedem willkommen war, denn man fand es zum Gehen zu schwül. Aber es kamen nur Camilla Schunk und »die Eule«. Agnes Heine sei zu Hause geblieben, sei nicht aus ihrem Brüten zu wecken. »Man muß ihr einen Mann schicken,« sagte Graumann energisch und grinsend. Camilla strafte ihn mit finsterem Schweigen. An ihr war nichts mehr weiblich. Ihr professorales Wesen, welches ungefähr die Mitte hielt zwischen einer Hebamme und einem alten Astronomen, war für nichts mehr empfänglich und entflammbar, als für die Frauenbewegung. Sie reiste oft in Deutschland umher und hielt Reden, war durchaus unterrichtet, durchaus ernst und überzeugt, durchaus geschlechtslos. Dagegen war ihre Freundin, die Eule, eine Dame der schönen Künste. Sie hatte ihren Mann zum Selbstmord getrieben, weil er nicht so berühmt werden konnte, als sie es wünschte. Sie hatte eine große Fertigkeit darin, ihre Augen schwärmerisch zu verdrehen, war boshaft, scharfsinnig und wußte sich zu kleiden.
Es hieß, daß vom Zürichberg Raketen fallen sollten, und Baron Tyrstey bestätigte es. Er schäkerte mit Renate und sie lachte zu seinen Späßen. Gertraud Werkmeister hatte ein wissenschaftliches Gespräch mit der Eule, die Russen vergnügten sich, indem sie ihre Lampions ins Wasser warfen und neue kauften. Peter Graumann schritt einsam voraus in der Haltung eines Gefangenen-Aufsehers. Renate sah beständig auf seinen Rücken, während sie sprach. Sie sprach viel und schnell, und man sagte ihr, daß sie Geist und Beobachtungsgabe besitze und wer weiß was noch. Sie hatte sich eine sonderbare Manier des Zuhörens angewöhnt, einen Zug hämischer Ironie. Wenn sie an einer Behauptung zweifelte, drückte sie das rechte Auge zu und ließ die Zungenspitze sehen. Als sie gewahrte, daß es häßlich war, freute sie sich.
»Jetzt wollen wir ein Boot nehmen!« rief Renate, am Ufer stehend.
»Wir brauchen mindestens fünf,« sagte der Getreidehändler wichtig und unternehmend.
»Wozu denn? Wir sehen ja alles von hier aus,« entgegnete Schönau verdrießlich, den grauen Cylinder schief setzend. Er war ungeduldig, weil die Stunde des Hazards nahte.
Tyrstey nahm für sich, Renate und die Eule eines der kleineren Fahrzeuge. »Fräulein Lusignan erinnert mich an eine Figur von Gontscharow,« sagte einer der Russen schläfrig, als jene schon auf dem See schwammen.
»So? So? Wollen Sie nicht Ihre schöngeistigen Kenntnisse für sich behalten?« erwiderte Graumann giftig-liebenswürdig. Gertraud Werkmeister und Viktoria Schönau hielten sich zärtlich umschlungen und sangen den »Leiermann«.
Auch die auf dem See drüben hatten Gesang. Die Eule liebte es nämlich, auf dem Wasser melancholisch zu sein. Ueberall blitzten Lichter, ins Wasser tauchend, aus dem Wasser sprühend; aus einem Kahn von fernher klang ein Volkslied, aus einem andern eine Mandoline. Am Hottinger Ufer stiegen Raketen, Hunderte von Booten krochen stumm über den klaren Spiegel, behängt mit kleinen, feurig-roten Ballons. Tyrstey erzählte Komisches von Agnes Heine, die nicht mitgekommen war. Aber er geriet in Verlegenheit, da sich das Thema als zu ernst erwies.
Renate wußte, welche Bewandtnis es mit Agnes Heine hatte, kannte sie. Ein stilles, sanftes Mädchen, jeder Eingebung folgend, welche die innere Freiheit ihrer Natur vermehren konnte, war sie von einer Reinheit in Gedanken und Worten, die ohne Wissen und Vorsatz die Geberden und Handlungen eines Jeden beherrschte, in dessen Nähe sie sich befand. Sie war völlig allein, hatte weder Eltern, noch Schwestern und Brüder, nur ein paar sogenannte Freunde und Freundinnen, denen sie durch die immerwache Ahnungskraft ihrer Seele mit Grund mißtraute. Fremd und nicht begreifend stand sie im Leben und wußte doch über Dinge und Menschen Bescheid auf dem Weg eines unmittelbaren und heftigen Gefühls. Dieses Mädchen kannte nur Eine Sehnsucht, Einen Trieb, Ein Vollbringen, Ein Glück: ihr Studium. Das war ihr Wachen, ihr Traum und ihr Halt, und obwohl ohne Fähigkeit wissenschaftlichen Erkennens, ja sogar ohne ordnende Gabe des Verstandes, ersetzte sie solche Mängel doch durch die Leidenschaft, mit der sie sich dem Studium der Naturwissenschaften hingab, um in immer neues Staunen zu geraten über die große Mechanik der Kräfte und der Gesetze, und jede mathematische oder chemische Formel war für sie ein heiliges Wunder. So gewann sie durch Empfindung im Großen und von innen heraus, was der männliche Geist durch Beobachtung und zweckmäßige Anordnung langsam erlernt und ergrübelt. Was die andern Studentinnen durch einen Mangel, durch Laune, durch Fügung der Umstände, durch Selbstbetrug oder durch Koketterie waren, das war sie durch Bestimmung und Beruf. Weder ihre Jugend, noch ihr hübsches Gesicht, noch ihre feine Gestalt hatten je eine Stunde des Zögerns und der Ungewißheit gebracht.
Und nun galt es seit einigen Wochen für ausgemacht, daß Agnes Heine erblinden würde. Sie selbst wußte, daß es unabwendbar war und blickte, innerlich wie gelähmt, der Katastrophe entgegen. Noch wie früher brannte ihre Studierlampe bis über Mitternacht hinaus, aber man wußte, daß sie nicht mehr bei den Büchern saß, sondern trübsinnig vor sich hinstarrte. Als Renate mit der fremden Studentin beisammen war, gerieten ihre Gefühle in eine Verwirrung, die durch Nachdenken noch verschlimmert wurde. Jetzt wußte sie. Sie hatte sich selbst erblickt wie in einem Spiegel, der ein Bild aus früherer Zeit aufzubewahren vermag. So mußte sie selbst gewesen sein, so sanft, anscheinend wehrlos, erwartungsvoll und glaubensernst. Und jetzt? Wenn in der Nacht Peter Graumann auf Filzsohlen kam, den Rest einer Virginia im Mundwinkel, eine unsichtbare Peitsche in der Faust –? Und wenn sie bei Tag umherging, sich selber fremd, nur selten und in nebelhaften Umrissen die Frühere gewahrend? Mit immer frischen Lügen ausgestattet, so wie man mit Kleidern und Hüten versehen ist –?
Die Herren wurden zu einem der Probestücke von Renee Lusignans geheimnisvoller Kunst geladen. Für die Mitte des September war schon die Abreise geplant. Renate war gegen den See hinausgezogen, eine Viertelstunde von Hirslanden entfernt; die Sittlichkeit der Stadt verbot es, daß sie mit Graumann in einem Haus wohne. Jetzt lag ihr Heim mitten im Grün; wenn sie den Arm aus dem Fenster streckte, konnte sie Büschel von reifen Weichseln pflücken, die an der Mauer emporwuchsen.
Die Probe fand statt und verblüffte so, daß von Beifall zunächst nicht die Rede sein konnte. Peter Graumann stand und kicherte in sich hinein, sah aus wie ein Kater, der von einem erfolgreichen Nachtspaziergang zurückkehrt. Renate, totenbleich, an allen Gliedern zitternd, wandte keinen Blick von seinem Gesicht und fühlte sich erleichtert, da er befriedigt schien. »Es ist sehr heiß« sagte sie mit scheuem Lächeln, als Schönau sie ansprach, den es drängte, sich zu überzeugen, ob sie es denn wirklich sei, – wie die jungen Mädchen, die zum Bühnenausgang eilen, um das Straßengesicht des Schauspielers zu sehen.
»Aber Sie werden doch heute von der Partie sein,« sagte Schönau.
»O ja. Wer geht noch mit?«
»Die gewohnte Gesellschaft. Wir haben auch Agnes Heine dazu gebracht, daß sie mitkommt, denken Sie nur.«
Pünktlich versammelte man sich am Quai. Die Eule trug einen Rembrandthut mit einer gelben und einer weißen Feder; Camilla Schunk und Gertraud Werkmeister trugen siebenmal gewaschene Kattunkleider, die bei jedem Schritt wie Papier knisterten. Dagegen waren die Männer uniform mit weißen Flanell-Anzügen bekleidet, die jetzt für sehr elegant galten. Agnes Heine ging etwas abseits, dicht am See. Sie trug eine Brille mit schwarzen Gläsern, und man konnte beobachten, daß jeder in der Gesellschaft in bestimmten Pausen nach ihr hinblickte. Sie selbst kümmerte sich um Niemand, antwortete kaum auf Fragen, suchte den Gesprächen auszuweichen. Ihre Gestalt war so biegsam und graziös, daß ihr Gang völlig den Eindruck des Mühelosen machte.
»Es kommt ein Wetter,« sagte die Eule mit unnatürlich erweiterten Augen. »Ich beobachte die schwarzen Wolken schon seit Stunden.«
»Wir sind auch viel zu spät fortgegangen,« murrte Viktoria Schönau. »Es ist gleich Abend.«
»Camilla hatte Colleg, Agnes haben mir aus dem Laboratorium geholt, sogar Aksakow war fleißig heute.«
Aksakow, ein Mensch von bemerkenswerter Häßlichkeit, grinste affenhaft.
Die Tropfen klatschten schon in den See. Es war eine düstere und vereinsamte Gegend hier. Weit zurück lag die Stadt, der See war in ganzer Breite von schweren Dünsten bedeckt, die Berge verschwanden in Wolken. Die kahlen Felsen, die vom Ufer aufwuchsen, hatten keinen schützenden Ort, doch wußte Graumann ein Haus, das nur hundert Meter weit entfernt vor einem Steinbruch lag. Das Haus erwies sich fast als ausgestorben. Ein uralter Mann kam durch einen langen Flur und bemerkte mit Mißbilligung die Schar der Gäste. Nur mit Mühe war aus ihm herauszubringen, daß das Gebäude, früher ein Wirtshaus, jetzt abgetragen werden sollte. Seine Kinder und Enkel seien schon ausgezogen, er bleibe bis zuletzt. »Mer went uffecho ins Wallis,« fügte er düster hinzu.
»Wo darf man sich aufhalten in diesem Schloß?« fragte Tyrstey souverän.
»Er markiert den Don Ouichotte,« bemerkte Camilla bissig.
»Erhitzen Sie sich nicht, teure Maritornes.«
»Wir sollten in unseren Beschimpfungen weniger gebildet sein,« sagte die Eule müd.
Indessen war Graumann, dem sich alle schweigend unterordneten, nach dem großen Saal vorangegangen, der als Tanzraum gedient hatte. Die Kohlenwerkssöhne sprangen sogleich auf das Podium und fingen an, schrecklich zu singen. Renate fand es trübselig, dumpf und dunkel; jeder Schritt hallte von den Wänden zurück. Es regnete wolkenbruchartig. Alle lachten, waren laut, witzig, suchten angenehm und liebenswürdig zu sein, doch war es im Grunde nur Bedrücktheit. Dazu kam, daß alle Frauen auf Renate eifersüchtig waren, die von den Männern mit stummer Gier umstanden wurde. Jeder wollte wenigstens ein Wort von ihr für sich allein besitzen.
Schönau warf Spielkarten auf den langen Tisch; auch Graumann hatte Karten mitgebracht. Gertraud und Camilla wanderten auf und ab, besprachen die Nachricht von der Ankunft Darja Blum-Neanders. Die Schönau bemerkte, daß Agnes Heine verschwunden sei und erschreckte die Gesellschaft damit. Renate gab Auskunft. Kurz vor dem Regen habe ihr Agnes gesagt, daß sie nach Hause zurückgehen wolle; Renate möchte es später den Andern mitteilen. Renate berichtete es mit bleierner Stimme, den Blick förmlich versteckt.
»Aber sie kann doch bei dem Unwetter nicht gegangen sein!« rief Viktoria Schönau, während die Männer schon zu spielen begannen, und zwar polnische Bank, an der sich auch die Damen beteiligen sollten. Doch die hatten sich an die Fenster verteilt und blickten hinaus, obwohl der Regen eine graue Wand bildete. Aksakow brachte Kerzen von unten herauf, deren erbärmliches Licht höchst sonderbare Schatten auf den Fußboden malte. Tyrstey setzte hundert Franken auf zwei Könige und einen Zehner in zwei Farben. Er gewann. »Sie ruinieren mich, lieber Millionär,« sagte Peter Graumann, mit der Zunge schnalzend.
Renate saß ziemlich abseits, auf dem Trittbrett des Podiums. Ihr war, als ob aus der Dämmerung langsam ein Vermummter auf sie zukäme, um sie zu fragen, wo sie denn eigentlich sei. Und sie ging an ein mühevolles Zurückbesinnen. Fremde Leute ringsumher. Wie wunderlich, daß sie redeten und sich bewegten wie in Wirklichkeit. Rauschte der See und klatschte der Regen, so erhob sich draußen eine unbestimmte Kunde, die in gemessenem Tempo die Thüre des Tanzsaals überschritt.
Die Eule hatte Lust bekommen, ihr Glück zu versuchen und setzte zwanzig Rappen auf zwei Asse. Renate dachte, daß alle diese vielleicht nicht spielen würden, wenn sie Agnes Heine beim Abschied gesehen hätten. Durch die schwarzen Brillengläser hindurch hatte Renate die Augen des Mädchens gewahrt: Wenn der Entschluß etwas körperlich Erkennbares ist, war das seine Gestalt und sein Wesen. Und als das Mädchen fort war, dachte Renate: jetzt geht Renate Fuchs und bleibt Renee Lusignan, eine abenteuerliche Figur, eine Erdichtung, ein Schatten, Dienstbote eines fremden Willens. Sicher war: Agnes würde nicht nach Hause gehn. Und Renate saß und wartete auf Nachricht, wo Agnes denn hingegangen sei.
Tyrstey gewann schon das dritte Tausend. Schönau wurde bereits frech, setzte den Hut auf, redete anzüglich, weil er verlor. Die Studentinnen langweilten sich. Die Eule setzte sieben Rappen. In einer Bewegung, von der sie glaubte, daß sie sich dem ganzen Raum mitgeteilt hätte, trat Renate zum Tisch, sagte, sie wolle mitspielen. Tyrstey nahm die Bank, gab Karten. Graumann machte ein saures Gesicht zu seinem Bankrott. Da auf Renates Mienen etwas Besonderes lag, näherten sich Camilla und Gertrud unwillkürlich. Viktoria Schönau blickte ihren Mann haßerfüllt an. Sie hatte auf eine neue Herbsttoilette gerechnet.
»Tausend Franken,« sagte Renate leise. Sie hatte zwei Buben und Pique-Acht. »Sie sind wahnsinnik,« flüsterte der Russe. Tyrstey schlug Pique-Sieben und zählte gutmütig lachend das Geld ab. Bei der nächsten Runde setzte Renate das Doppelte. Sie stand unbeweglich; die Damen wagten vor Erregung kaum zu atmen. Sie gewann. Peter Graumann verließ seinen Platz und stellte sich neben sie. Sie setzte von neuem das Doppelte. Sie gewann. Alle Uebrigen verloren. Schönau lümmelte sich mit verkniffenem Mund weit über den Tisch und sang. »Zwanzigtausend in der Bank,« sagte Tyrstey mit vollkommener Ruhe. –»Zwanzigtausend,« sagte Renate mit leerem Lächeln. Tyrstey erblaßte, als sie mit der Dame überstach. Sie schüttelte sich fröstelnd. Man hörte den »Schloßherrn« im Flur Holz hacken. Der Regen war schwächer geworden, die Spitzen der Berge ragten wieder über die Wolken hinaus. Renate zuckte konvulsivisch zusammen, indem sie einen langen Blick in den Saal warf. »Habt ihr seinen Schrei gehört?«
»Einen Schrei? Nein.«
»Doch. Vom See hat Jemand geschrieen.«
»Weiterspielen!« schrie Schönau mit blutunterlaufenen Augen.
»Die Seherin von Hirslanden« spöttelte Camilla.