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Fünfzehntes Kapitel

1.

Ella Holzgetan, die Ruhelose, hatte den Ehrgeiz, Renate mit all ihren Freundinnen bekannt zu machen. Es gab da Dicke und Dünne, Blonde und Schwarze, Alte und Junge, und Renate fing an, eine gewisse Kühle und oberflächliche Ironie zu üben, die jede herzliche Annäherung verbot. Aber unter den Blonden war auch Darja Blum-Neander, Doktorin der Medizin, und unter den Schwarzen Miriam Geyer. Beide waren nur auf der Durchreise hier, wollten den Winter in Wien verbringen, die Aeltere, um sich einige Monate der Ruhe zu gönnen, Miriam Geyer, um dort Kollegien zu hören und um mit ihrem Bruder zusammenzutreffen. Darja Blum hatte die erste Jugend hinter sich; sie war vielleicht vierunddreißig Jahre alt, lebte von ihrem Mann getrennt, dessen tiefe Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der orientalischen Sprachen mit einem außerordentlichen Mangel an körperlichen und sinnlichen Fähigkeiten verknüpft war. Ihr Großvater war dänischer Etatsrat gewesen, ihr Vater, ein Flüchtling, hatte in zweiter Ehe eine Lübecker Köchin geheiratet und lebte mit ihr in abenteuerlichen Verhältnissen im Land herum. Sie hatte etwas verschwommene Züge, die hübsch sein konnten und liebte es, sich in träumerischen Posen photographieren zu lassen. Sie war eine Dichter-Natur, neigte aber sehr zu philosophisch-lyrischen Abstraktionen, und für keines ihrer Probleme war der Himmel zu hoch. Ihre Gespräche hatten einen wunderlichen Zug ins Romantische und oft waren Dinge, die sie in der Unterhaltung aufwarf, so fein oder so dünn, daß ein zupackender Geist nur nach Schemen griff. Dabei liebte sie Kneippkuren und das Turnen, wie überhaupt alles Sportliche.

Miriam Geyer war ein blasses Mädchen von ungewöhnlicher Ruhe und Bestimmtheit. Schon ihr Blick gab zu erkennen, daß sie ein Ziel verfolge, und daß sie nicht gewillt sei, Seitenwege einzuschlagen. Sie konnte scherzen, doch nicht aus einer Laune oder Stimmung, sondern wie man Geschenke macht. Sie vergötterte ihren Bruder, Agathon.

Die Beiden saßen in Renates Zimmer noch, als Peter Graumann gegangen war, der Frau Darja nicht leiden konnte. Miriam sagte, wenn die Geschichte mit Agnes Heine nicht passiert wäre, dann wäre sie vielleicht bis zum Januar in Zürich geblieben.

»Das könnte bei mir nichts hinzuthun,« bemerkte Darja. "Für mich zerbricht der Tod nichts. Im Gegenteil. Menschen, die mir lieb waren, sind mir dann auf einmal ganz, nahe. Genau wie wenn ich Musik gehört habe. Beim Hören selbst bin ich viel zu beschäftigt. Man muß nur den Tod nicht traurig nehmen, sondern höchstens tragisch. Und das Tragische soll ja auch ein Genuß sein.«

»Wer so weit weg stehn kann wie Sie,« sagte Miriam.

»Ich stehe gar nicht fern,« erwiderte Darja befremdet. »Ihr steht fern. Verloren hat man erst dann, wenn man beweint. In dem Augenblick, wo ich das Zimmer verlasse, stirbt es für mich, und wenn ich die Stadt verlasse, stirbt sie für mich mit allen Menschen, allen Freunden. Und ich komme eigentlich nie mehr zurück, wenn ich auch wiederkehre, sondern Jemand, der sich mühselig mit Erinnerungen orientieren muß wie ein Reisender mit Landkarten. Kann man das mit Worten auch nur andeuten? Eine große Erfindung, die Worte.«

»Nicht wahr? Ich denke es oft,« sagte Renate, unruhig auf- und abgehend. Es dämmerte, und als sie Frau Darja anblickte, glaubte sie deren Schädel zu sehen, fleischlos, hautlos. Sie fühlte sich belustigt und erregt dadurch.

Als Ella Holzgetan kam, wurde sie beauftragt, Thee zu machen, und sie that es mit der ihr eigenen eckigen und zugleich schlangenhaften Beweglichkeit.

»Nun, meine Liebe,« sagte Miriam lächelnd, »Sie amüsieren sich immer, wenn auch nur mit sich selbst.« Der blaue Reflex der Spiritusflamme fiel auf ihr schönes Gesicht.

»Jawohl, ich amüsiere mich mit mir selbst,« erwiderte das Mädchen mit einem forschenden Glanz der Augen. Dann runzelte sie die Stirn und lachte fast schuldbewußt. Ihr Lachen war ungefähr wie der gezogene Schrei eines Nachtvogels. Es war etwas Hartes, stets Beleidigtes darin.

»Wer hat denn eigentlich die tote Agnes noch gesehen?« fragte Frau Darja nachdenklich, mit aufgestützten Armen. "Ich habe nie einen ähnlichen Anblick gehabt. Ihr Gesicht hat mich an ein Kinder-Erlebnis erinnert. Ich bin vom Heuboden in die Tiefe gestürzt. Während ich durch die Luft fiel, dachte ich absurde und quälende Sachen, besonders an einen Maikäfer, dem meine Brüder die Beine abgerissen hatten. Die Zeit war endlos, bis ich unten ins Heu fiel. Dann lag ich so erleichtert und beglückt, daß ich bis zum Abend nicht mehr aufstehen mochte. So lag Agnes.«

Sie hat eine außergewöhnlich sanfte Stimme, dachte Renate, während Ella übermäßig mit den Löffeln und Tassen klapperte, denn sie war neidisch, daß die Aufmerksamkeit auf Frau Darja gerichtet blieb.

»Und dazu kommt, daß sie absolut jungfräulich war,« fügte Darja leise hinzu. »Halb gelebt, ist halb gestorben.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Miriam errötend.

»Ich will Ihnen etwas zeigen, meine Damen,« begann Renate ironisch und brachte eine Handvoll Briefe, die sie bunt auf den Tisch warf. »Liebesbriefe! da wimmelts von gebrochenen Herzen und unvergänglicher Leidenschaft. Unser Tyrstey ist auch darunter.«

Ella blickte finster und mißtrauisch auf die Papiere. »Das ist nicht edel,« murmelte sie.

»Wann reisen Sie?« fragte Frau Darja. "Ich glaubte, morgen schon. Ich wenigstens kann nicht länger warten.«

Renate zuckte die Achseln. »Es ist ja gleich,« antwortete sie und wühlte in den Briefen umher. »Jaja, ich glaube, morgen. Uebrigens kommt es auf Peter Graumann an. Warum schauen Sie so mißtrauisch, Fräulein Miriam?«

»Mißtrauisch?«

»Oder prüfend – ?«

Obwohl der Thee in den Tassen dampfte, wurde die düstere Stimmung immer bedenklicher.

»Die Männer sind ja so feig, so feig!« rief Ella Holzgetan plötzlich und fuchtelte mit einem Löffelchen umher, als ob sie eine Fahne schwenkte.

Frau Darja blickte spöttisch zu ihr hinüber. »Sprechen Sie doch nicht wie eine Vernachlässigte, liebe Ella,« sagte sie langsam.

»Vernachlässigt? Zehn an jeder Hand. Nun, ich weiß ja, ich bin nicht schön.« Sie schwieg erblassend.

»Alles hängt an einem Lächeln,« fuhr Darja fort. »Wir können durch ein richtig angewandtes Lächeln glücklich werden oder durch ein falsches ausgestoßen. So wie jedes Schicksal am Zufallshaar einer Begegnung hängt. Die meisten Männer sind ja vag, ihr Gefühl hat keinen Beruf, aber wir müssen so aufmerksam auf sie sein, als hielten wir jeden für einen Apostel. Wir haben keine Freiheit, nicht weil wir ihrer nicht würdig wären, sondern weil wir, falls wir sie benutzen, noch schlimmer leben als in Gefängnißluft. Freilich, manche, die an den Storch glaubte bis in die Hochzeitsnacht, hat später ihr Kind schon im Herzen erdrosselt, eh es noch geboren war. Aber um zu wissen und zu wählen, dazu ist unser Blick noch zu trüb. Die Finsternis der Jahrhunderte geht ja mit uns, und schnell müssen wir laufen, wenn wir entrinnen wollen. Doch wenn man da eine noch so gute Läuferin macht, draußen wird man erst recht einsam bleiben.«

»Sie müßten eigentlich meinen Bruder kennen,« flüsterte Miriam mit kindlicher Schwärmerei.

»Ja, meine Lieben, wir reden da so, und vielleicht ist die Erlöserin unter uns. Ich für meinen Teil würde gern eine Art Judas abgeben, um ihren Glanz zu erhöhen.« Und Darja lächelte mysteriös vor sich hin.

Das war alles wie Stimmen aus der Nacht. Es sind Gequälte, dachte Renate, Vertriebene, diese hier wie auch die Andern. Einige Zeit später kamen Gertraud Werkmeister und Camilla. Jene warf die Frage auf, ob das Sinnliche zugleich ästhetisch sein könne. Sie war etwas verstört, denn die Schönau war seit gestern in einen jungen Menschen verliebt, den blassen Dawill, der gekommen war, um den Montblanc zu besteigen.

2.

Eine halbe Stunde später gingen alle fort. Die für das Aesthetische gewesen waren, gingen hinter den Andern, als hätte der Wortstreit sie rascher erschöpft. Man war bis in die Vorgebirge des Hegelianismus gedrungen, und spinozistische Abgründe gähnten von fern. Ella Holzgetan drehte sich wie eine Tänzerin im Zimmer. Sie konnte nicht leben, ohne einiges Aufsehen im Kleinen zu machen. Sie ist abstoßend mit ihrer Lustigkeit, dachte Renate, aber Gertraud erklärte es für »Verve«. Das kleine Stehlämpchen flackerte wild im Flur, als Renate ihre Gäste zur Treppe führte, und sie hatte die Empfindung, als müsse sie sich jetzt für einige Jahre schlafen legen. Miriam allein war verstimmt, die Uebrigen schienen guter Dinge voll. Der Blick, mit dem Miriam Frau Darja ansah, bat um etwas, fand aber keine Beachtung.

Nun war es also still. Aber die Luft war noch erfüllt von Worten, die gewissermaßen langsam abtropften, wie nach einem Regen die Bäume abtropfen. Es war deutlich, daß die Gespräche etwas Schattenhaftes gewesen waren, ja, Schatten von Schatten, Täuschungen, Spiele. Jedes Wort war dicht vermummt, schlich in einer falschen Gestalt vorüber, um dann im stummen Lachen zwischen Qual und Hohn die Maskerade zu vergessen. Vor dem Fenster rauschten die Bäume im Wind und unter Regenschauern. Unten war ein weiter Park oder Garten, in dem die Finsternis ruhte. Daran grenzte der See, auf dessen Fläche unbestimmte Lichter fielen, fahl wie Blei. Am Ufer lag das Wirtshaus, und die Fenster waren erleuchtet. Die Zecher hielten laute Reden, worin das Patriotische einen breiten Raum einnahm, und die Stimme des Wirts befahl dem Schenkmädchen, Gläser zu spülen. Dann begann einer zu singen, heiser, als ob ihm Grashalme auf der Zunge lägen. Man konnte nicht zuhören, ohne von Lachlust ergriffen zu werden. Renate schloß rasch das Fenster, denn in dem schmalen Lichtstreifen, der aus der Schenke fiel, hatte sich der Calabreser gezeigt.

In der Ecke saß Angelus und schlief. Er surrte leise wie ein Kater, als Renate sich näherte, ihn ins Wohnzimmer zu führen. Er zeigte keine sonderlich frohen Launen mehr, doch auch keine sonderlich traurigen und lebte in einem betrübenden Dunstkreis von Gleichgiltigkeit, Verschlafenheit und skeptischer Beschaulichkeit hin. Mißtrauen und Verschlossenheit erlaubten ihm nur karge Beweise des Wohlwollens seiner Herrin gegenüber. Er schien abwarten zu wollen, wohin das alles führen würde, und wenn Peter Graumann anwesend war, blieb sein Gebahren von einer infamen Demut und hinterhältigen Fügsamkeit.

Peter Graumann trat mit einem Gruß ins Zimmer, den er in die leere Luft schickte. Er streifte die schwarzen Lederhandschuhe mit studierter und lauernder Langsamkeit ab, wobei er unaufhörlich einen einzigen Punkt auf der Diele seiner Betrachtung unterzog. Er schnüffelte und sagte, die Brauen rundend: »Das ganze Kabinett angenehmer Weiblichkeiten war schon wieder zugegen. Diese Sorte von Damen ist zum Einschmelzen fertig.«

Renate setzte sich mit einer erschöpften Bewegung und schwieg.

»Morgen reisen wir, Renee,« fuhr Peter Graumann fort. »Für den ersten Oktober ist alles bereit. Aber zuerst möchte ich Dich ersuchen, jeden Rest Deines traumwandlerischen Wesens zu unterdrücken, ja zu vernichten. Vom Morgen bis zum Abend sei Heiterkeit Deine Losung. Dein Lächeln bei der Produktion ist zu starr. Wir haben heute Abend noch dieses Lächeln zu üben, das einen dämonischen Zug haben muß. Die Bewegung des linken Fußes ist zu akademisch. Es ist eben nötig, daß Du ganz bei der Sache bist und Deine Erinnerungen abschüttelst.«

Renate stand auf, flüsterte leidenschaftlich vor sich hin. Graumann blieb neben der Lampe stehen und fuhr mit vollkommener Ruhe und sonorem Pathos fort. »Du meinst, ich suche lediglich Nutzen aus Dir zu ziehen. Du irrst. Wir sind so sehr für einander geschaffen, daß Du mich hassen mußt. Niemals im Leben wirst Du von mir loskommen können. Alle andern waren nur Stufen zu mir. Wie entzückend bist Du jetzt in Deiner Angst, Renee! Wäre ich auch der Niedrigste, es wäre keine Schande, um Deinetwillen niedrig zu sein. Du bist das Vollendetste, was die Natur in einer guten Laune für die armen Männer geschaffen hat. Du hättest die Macht, mich zum Narren und Sklaven zu machen, wenn Du um die Größe Deiner Bestimmung wüßtest.«

»Ach, jedes dieser Worte beschmutzt meine Hand, mein Kleid, jeden Bissen Brot,« sagte Renate klagend.

»Enden wir das Gespräch. Es wird Zeit, zu gehn.«

»Wohin? Wohin denn? – Ich habe großen Durst.«

»Gut, gehn wir zu Frau Hürli. Frau Hürli hat den besten Wein hier herum. Aber vorher noch eine Probe.«

»Heute noch?«

»Wir werden halbdunkel machen und den Tisch beiseite schieben.«

»Heute will ich nicht mehr.«

»Es wird sich nicht vermeiden lassen.«

»Du kannst mich nicht zwingen, wenn ich keine Lust habe,« entgegnete Renate hauchend und wich unwillkürlich gegen das Fenster zurück.

»Gewiß will ich Dich zwingen.«

Renate lachte. Sie sah sich rasch um, ob wer gelacht hätte. Ich war es selbst, dachte sie bekümmert. Indes kam Graumann auf sie zu, den Blick an ihren Hals geheftet. Er rieb die Hände, und seine Unterlippe war verschwunden unter den Zähnen. Renates aufgerissene Augen starrten ihn mit wachsender Angst an. Wie durch Nebel sah sie seine Gestalt, und die Umrisse wurden übergroß. Sie drehte sich um und floh zum Sopha, weil es dort dunkler war, und ihr bläulich-bleiches Gesicht wandte sich wieder ihm entgegen, wie er ihr folgte, einem Verhängnis gleich. Noch einmal machte sie sich auf, rannte zum Tisch, auf dem die Lampe stand, und um den Tisch herum, als Graumann auch dorthin kam. Das Zimmer war geräumig, auch der runde Tisch hatte einen ansehnlichen Umfang, und sie standen sich einander gegenüber, nur durch den Tisch getrennt. Graumanns Gesicht wurde finster, und seine Blicke wurden gierig, aber auch Renate war weit davon entfernt, zu lächeln, sondern achtete mit verzweiflungsvoller Aufmerksamkeit auf jede noch so unscheinbare Bewegung des Verfolgers. Machte er einen Schritt nach links, dann wandte auch sie sich links, klammerte sich an die Tischplatte, streckte den Hals und beugte den Kopf, weil der Schatten, den der Lampensturz verbreitete, am Ende täuschen konnte. Zur Thür zu gelangen, war nicht mehr möglich. Auch das Fenster war zu fern. Da nahm Graumann ruhig die Lampe, trug sie weg, stellte sie auf den Kleiderschrank, so daß der Raum plötzlich in verändertem, klarem Licht lag. Dann sprang er mit einem Ruck und einer pantherhaften Bewegung des Körpers auf sie zu, und Renate, die sich dessen nicht versehen, blieb wie gelähmt. Als er den Arm ausstreckte, wich sie ein wenig zurück, doch er packte sie bei den Haaren, die sich sofort lösten. »Wirst Du jetzt gehorchen?« murmelte er durch die Zähne und zog ihren Kopf nieder, daß sie fiel. Sie spürte eine kalte, feuchte Hand an ihrem Hals und begann zu zittern, vermochte jedoch nicht, die Augen von ihm abzulassen.

Aber als Graumann den Arm nach ihr erhob, konnte er den Blick dieser Augen nicht ertragen, und der aufgehobene Arm fiel langsam wieder herab. Ihre Augäpfel standen in den Winkeln der Augen, glänzten feucht und zeigten eine so eigentümliche Mischung von schmerzlichem Ertragen-wollen, leidenschaftlicher Drohung, von Schwäche und Größe, daß Graumann beschämt und etwas bestürzt abließ, zum Fenster ging und, mit dem Rücken gegen das Zimmer gekehrt, zu summen anfing wie ein schuldbewußter Schüler, der sich anstellt, als wisse er von nichts. Renate erhob sich langsam und fühlte schwere Mattigkeit in den Gliedern. Hastig stürzte sie ein Glas Wasser hinunter und ging auf und ab. Der Raum schien jetzt zu eng, voller Hitze; ein Beisammensein, das noch Stunden währen mochte, mußte qualvoll sein. Erstaunlich genug, während sie in bangem Nachsinnen war und die zirpenden Töne der Geige und die brummenden des Contrabasses herüberklangen aus der Schenke, empfand sie plötzlich Tanzlust. Nie vorher hatte sie besondere Lust zu tanzen gehabt, nur heute, denn es war der ungestüme Wille zu vergessen dabei. So bat sie Graumann mit sanfter Stimme, daß sie hinübergehen möchten.

Lustig ging es bei Frau Hürli zu, die selbst mit harmlosem Eifer den Vergnügungen oblag. Ihr Ehegespons labte sich mit Zufriedenheit an politischen Gesprächen, saß bei Graumann und schimpfte über die »chaiwe Dütsch«. Die Nacht war so schwer, daß selbst die Lichter im Tanzraum nur mühsam dem Dunkel gewichen zu sein schienen und wie kleine Stationslaternchen wirkten. Außerdem war es schwül, und alle Fenster mußten geöffnet bleiben, was des gichtigen Herrn Hürli gemütvollen Herzensausbruch ernstlich verkümmerte. Der Contrabaß brummte tierisch, und da sein Eigentümer im Halbschlaf lehnte, gab es keine Pausen. Die Trompete zeichnete sich durch jammervolle Töne aus, die an den Oktoberwind mahnten, wenn er in Kaminlöchern spielt. Bei der ersten Geige, die auch die einzige war, befand sich das A in Quintlage zum G, und recht erquicklich war der Zweiklang eben nicht, sofern er in der Macht des betrunkenen Virtuosen lag. Nichts ist widerwärtiger als ein Walzer, der ebenso gut ein Trauermarsch sein kann, und bei Gott, das war er, der Walzer auf Frau Hürlis Tanzboden; das Glucksen des Sees, dessen Wellen unter den Fenstern ans Ufer schlugen, klang wie ein boshaftes Lachen dazu. Renate dachte nicht ans Aufhören, doch erst beim Ländler fand sie es angenehm und lachte ihrem Tänzer zu, der nicht ohne Verlegenheit einer so eleganten Stadtdame den Arm gereicht hatte. Aber der offene Blick seiner Tänzerin machte ihn freier, und er dachte, das Glück könne ihm wohl auch in anderer Weise hold sein. Einer mußte Wein holen, einer mußte mittrinken, ein Vierter bei den Musikanten eine Mazurka bestellen, was indessen der Trompete sehr ungelegen zu kommen schien, denn sie konnte sich nicht vom Cis trennen und brachte alles in Verwirrung. Die Dirnen wurden grün vor Neid und Wut, verschworen sich, ihre Kammern auf Monate hinaus unzugänglich zu machen und waren froh, als Peter Graumann, der zwei Liter vom Edelsten getrunken, sich zum Aufbruch anschickte. Der Rhythmus des Contrabasses, einer kleinen Brummmaschine gleich, begleitete die Beiden auf dem Heimweg, während schon der fahle Tag über den Bergen emporquoll.

»Wie schrecklich, daß es schon Tag wird,« meinte Renate, starr in die Wolken schauend. »Eigentlich sollte es immer Nacht bleiben.«

»Wenn Ihr befehlt, Madonna, – ich werde von heute ab Nacht sein lassen.« Graumann pustete vergnügt.

3.

Die Abreise wurde um acht Tage verschoben, hauptsächlich der neuen Toiletten wegen, die aus Paris erwartet wurden. Sie waren wie eingerichtet, die Haut des Körpers durchscheinen zu lassen, und bei jeder Bewegung alle Formen aufs Deutlichste zu modellieren. Die Eule fand das unanständig und zog sich in ihre Behausung zurück. Für sie war die Jugend vorbei und was beginnen? Die Wissenschaft, ein ödes Blachfeld; die Liebe, ein verdorrter Traum. Also rauchte man Cigaretten, trank Absynth, las die modernen Philosophen, erfand eine hohle Begeisterung für überraffinierte Kunstwerke, belächelte das Natürliche, als sei es eine Erfindung naiver Betrüger, verachtete das Brot der Worte und buk ein zerbrechliches Confekt spitzer, schattenhafter Dialektik, spinnfadenhafter Gefühle, ironisch-erschöpfter Entsagungen, schwankte mit umnachtetem Herzen am Ufer des Wesenlosen. Daran nahm auch Ella Holzgetan teil und fand so eine Art Frieden auf Kosten alles dessen, was einem Weibe sonst die Natur gewährt. Viele flüchteten in das dämmrige Nest, wo man für klug galt, wenn man an Zweifeln zweifelte, und wo die bittere Gewißheit der klaren Stunden durch eitlen Hochmut und Selbstständigkeitswahn bemäntelt wurde. Und all das war wieder mit einem guten Teil Philisterhaftigkeit vermengt, welche es verursachte, daß sie sich von Renate zurückzogen, als sie hörten, daß diese sich dem Variete gewidmet habe. Nur Darja Blum und Miriam Geyer kamen noch. Jene, weil sie nichts zu fürchten hatte, weil sie Menschen und Ereignisse zunächst auf die Interessantheit hin ansah, diese aus reiner Ahnungslosigkeit. Miriam spürte in Renate etwas Verwandtes, wollte nicht an eine Wandlung glauben, die unter ihren Augen erfolgt sein sollte. Ihr Gemüt war einfach und ruhig. Sie ahnte Tieferes, wenn sie Renate in einem undurchdringlichen Panzer von Frivolität erblickte, und ihre forschenden Augen baten um Aufschluß, auch wenn ihr Gefühl beleidigt war. Sie freute sich sehr, als ihr durch Dawill, der Renate am Quai gesehen hatte, mancher Aufschluß zu teil wurde. Sie war eine jener Frauen, bei denen das Sinnliche im allertiefsten Grunde liegt, schlafend, wo es nur durch das nachhaltige Feuer der Liebe erweckt werden kann. Ihre Sympathie für Renate wuchs, je mehr die Andern sich absprechend verhielten. Renate bemerkte es; ein seltsamer Trotz veranlaßte sie, sich nichtwissend zu stellen. Einmal setzte sie sich aber, weil Miriam sie herzlich um ein Bild bat, vor den Spiegel und porträtierte sich. Es wurde eine eigengeartete, herbe Studie daraus, die mehr Klage und Gram enthielt, als irgend welche Worte. »Plötzlich hab ich Talent bekommen,« sagte sie bitter, als sie Miriam das Blatt überreichte.

Renate erhielt um diese Zeit eine Gesellschafterin oder Zofe, ein ältliches Frauenzimmer Namens Eugenie Hadamard, die von Tyrstey empfohlen war. Schlichteres, Unterthänigeres, Gedrückteres als sie ließ sich kaum denken. Ihre stumpfen, schwarzen Augen hatten den klagenden Ausdruck eines geschlagenen Hundes. Ihr häßliches gelbes Gesicht mit dem vorgeschobenen Kinn entbehrte keineswegs der Sanftmut und war mit seiner auffallenden, schwermütigen Ruhe bisweilen anziehend. Jedes Wort, das an sie gerichtet war, schien sie als unverdient zu betrachten, knickte dabei zusammen, und je schlechter sie behandelt wurde, je mehr schien sie es zu billigen. Renate war auch bisweilen hochmütig und grausam, war ärgerlich, daß jene in ein Freundschaftsverhältnis zu Angelus trat.

Die eintreffenden Wiener Blätter brachten schon geschickt gesteuerte Vorberichte über das neue »Kunst-Variete«. Besonders die hohen Preise waren Gegenstand erstaunter und neugieriger Phrasen. Und ein neuer Stern, Renee Lusignan? Wer war sie? Renate lebte im Stil der großen Dame. Sie verschlief den Vormittag, während sie doch früher stets die Morgenstunden geliebt hatte. Viel Zeit verging mit dem Ankleiden, und dann kam die Spazierfahrt, allein oder in Graumanns Gesellschaft, der dabei die kühle Ruhe eines Inspektors bewahrte, für prickelnde Gerüchte und ein gut arbeitendes Hörensagen Sorge trug; wie ferne Brandung drang das Gerede zu Renates Ohr.

So kam die Abreise. Auch Darja und Miriam hatten ihre Reise verschoben und fuhren mit, worüber Peter Graumann einiges Mißvergnügen äußerte. Frau Darja beobachtete es wohl.

»Ach freilich,« meinte sie ironisch zu Miriam, »er ist kein Mann für die dünne Atmosphäre unserer Speisehaus-Ideale. Das hat er mir einmal gesagt. Er, im Gegenteil, ist für das vollsaftige Leben. Er kommt mir vor, wie das komische Männlein im grünen Heinrich, das sich so freut, daß es die Welt entgöttert hat. Dort ist es ein Schulmeister, und eine Schulmeister-Natur ist Graumann auch. Früher war etwas an ihm, jetzt konstruiert er sich die sogenannte Vollsaftigkeit so zurecht. Alles, die Natur selbst, ist bei ihm Theorie geworden. Er spielt mit Bleisoldaten und thut furchtbar gefährlich damit. Alles läuft bei ihm aufs Dämonische hinaus, und Du weißt, wie ich das hasse. Er ist ja so gescheit, wie man nur sein kann, aber das Elementare und das Bacchantische glaub ich ihm nicht. Selbst das Perverse nicht. Es giebt nämlich Leute, die zu jeder ihrer kleinen Schwächen ein großes Naturgesetz erfinden, und so ist Graumann. Immerhin ist es schwer, sich von ihm nicht düpieren zu lassen, wenn man ihn nicht kennt.«

»Er ist mir unheimlich,« erwiderte Miriam, die etwas zerstreut zugehört hatte.

Das war auf dem Perron. Renate hatte sich etwas verspätet. Ein wunderlicher Kauz war bei ihr gewesen, der eine Weile auf dem Corridor herumgepiepst hatte, und dessen Gesicht an ein höchst baufälliges Haus erinnerte. Er war dünn wie ein Zündholz, und sein Kopf sah aus, als sei er unter der Plätte gelegen. »So ein Tropf und Lumpenhund wie der Graumann ist mir noch nicht vorgekommen,« sagte er, sich ängstlich vor Angelus zurückziehend. »Er hält seine Freunde zum Narren. Eine großmütige Zunge, jawohl, aber ein Schuft. Ich kann das beurteilen, denn ich habe viel mit Spitzbuben verkehrt. Er hat mir Produktionen auf dem glühenden Drahtseil versprochen, ich habe ihm zwei Original-Trucs verraten, und jetzt kennt sie der Clown Sonnenfeld, und ich habe meine Abfuhr. Man braucht ja nicht gleich ehrlich, zu sein, bewahre, aber ein bischen Gesittung ist selbst für einen Gauner von Vorteil. Womit ich mich gehorsamst empfohlen haben will.« Er heftete einen feurigen Blick auf Renate und stürzte fort.

Graumann wollte bersten vor Lachen, als ihm Renate den Auftritt berichtete. »Das glühende Drahtseil ist ein rotlackierter Strick, der mit Kienruß von den Füßen des langen James allmählich geschwärzt wird,« ächzte er. »Eine famose Erfindung. Der Bursche ist nämlich in Dich verliebt, Renate, und schläft seit drei Nächten unter Deinem Fenster. Seine Trucs gab er mir gegen das Versprechen, daß ich bei Dir etwas für ihn thun wolle. Eine köstliche Geschichte. Dich oder keine, schrie er; damals waren wir beide betrunken, und ich warf ihn unter den Tisch.«

Renate empfing diese Neuigkeiten mit grimassenhaftem Lächeln, und sah sich im Zimmer um, ob auch alles eingepackt sei.

»Du kannst ruhig mit diesen Leuten verkehren,« sagte Graumann, der sich in angeregter Stimmung befand, auf der Fahrt zum Bahnhof lehrhaft. »Das sind Naturen, naive Künstler, jeder großen Empfindung fähig, ohne die Verlogenheiten der Litteraten und Musiker. Der lange James war hier in einer Bretterbude, durfte aber sein Handwerk wegen Brandgefährlichkeit nicht ausüben. Er ist nämlich Feuerfresser, Champion aller Feuerfresser. Ich wollte ihn zuerst engagieren, sagte ihm aber: Feuerfresser, das ist zu abgedroschen, das geht nicht. Er weinte wie ein Kind und sagte, er komme aus der Uebung. Nun, sagte ich ihm, mein lieber James, braver Junge, Du kannst ja täglich zum Frühstück, Mittagsmahl und Abendbrot eine beliebige Menge Feuer privatim schlucken. Niemand wird Dich daran hindern.« Graumanns R klang heute vollendeter als je, die klare Büffelstirn war frei von Falten. Eugenie Hadamard saß ihm gegenüber und wagte, ihn gebannt anstarrend, keine Bewegung zu machen.

Es war ein verwaschener Regentag, und selbst die Alleen an der Straße trugen schon Zeichen des Herbstes. Oberstraß und Unterstraß lagen im Nebel, und der See lag im Nebel, der wie dünner Holzrauch aus Schlöten unbeweglich lagerte. Am Bahnhof waren die Tyrstey, Birnbaum, Schönau, die beiden Westfalen, die Russen und Andere mit Blumen und übernächtigen Gesichtern. In der That kamen sie, wie auch Graumann, vom Gelage. Einem fehlte sogar der Hut.

Darja und Miriam stiegen ins Coupe, Renate folgte ihnen in halbschlafähnlichem Zustand. Verwirrende Dinge gingen vor, denen sie kaum mit den Sinnen folgen konnte. Früher Erlebtes unterschied sich nicht von der Gegenwart. Sie glaubte Wanderer auf der Plattform zu sehen, aber es war die ewig-stumme, immer-ergebene Hadamard. Wer war sie und was wollte sie? Dort reckte eine schreiende Bande von Männern die Hüte in die Luft, und sie waren von einer Lustigkeit beseelt, die absurd und lächerlich war. Wände ringsum, Wände und Schleier. Sie hielt das Taschentuch in der Hand und winkte. Es war erschreckend, als sie es bemerkte. Angelus fing an, zu bellen, wahrscheinlich aus Freude, daß er diese Stadt verlassen durfte, aber sie befahl ihm, stille zu sein. Er blickte sie scheu an, und die Vergangenheit einer Liebe lag in seinen feuchten Augen. Sie lehnte sich über die Brüstung der Plattform und sah in den Raum zwischen den Schienen hinein, der unter ihren Augen mit rätselhafter Geschwindigkeit vorüberfloß, so daß man kaum die Fülle der Gestalten wahrnehmen konnte, die sich da herumtummelte, – ahnungslos unter der donnernden Gefahr. Darja kam aus dem Coupe und stellte sich mit lächelndem Gesicht neben Renate. »Was interessiert Sie denn so?« fragte sie liebenswürdig.

"Ich lese,« erwiderte Renate, ohne sich zu rühren.

»Sie lesen?« Frau Darja war erstaunt.

»Ja. Und sehn Sie, da zwischen den Wägen ist etwas und läuft und läuft, damit ich ja nicht entrinne. Sagen Sie mir, haben Sie schon einmal geliebt?«

Darja zuckte die Achseln und lächelte. »Halten Sie das für wichtig?«

»Ich halte es für sehr, sehr wichtig,« sagte Renate dumpf, mit gesenkten Augen, während sie Darjas Blick auf sich ruhen fühlte. »Und Miriam? Wie ist es mit Miriam? Ist das echt, ihre Unschuld und Engelhaftigkeit? Ich glaub es nicht, glaube nichts mehr in der Welt.« Renate drückte das Taschentuch an die Stirn. Darja ging schweigend in das Coupe zurück, Renate folgte ihr und schloß beim Eintritt einige Sekunden lang die Augen. Es war ein halbgeteilter Wagen, und die Fünf hatten eine Abteilung für sich. Miriam war vorher Peter Graumann gegenüber gesessen, jetzt war sie an der andern Seite, am andern Fenster, hatte sich in die Ecke geschmiegt. Graumann las mit beschäftigter Miene den »Artist«. Eugenie Hadamard stellte mit lautloser Dienstbeflissenheit das Gepäck zurecht. Plötzlich schien es Renate, als ob sich alles um sie herum zu Finsternis verwandelte, in welcher sie selber schwankte, ohne die Hoffnung, einen Halt zu gewinnen. Das Einzige, was sie gewahren konnte, und was in ihrem Gesichtskreis verblieb, waren die Augen Peter Graumanns, die unabwendbar auf sie gerichtet waren, und sie verhinderten, zu entrinnen. Sie dachte deutlich: ist es denn möglich, daß ich Keinem begegne, der mich erlöst? Aber ihr aufstürmendes Herz hielt die Finsternis gefangen.

4.

Unselm Wanderer an die Baronin Terke.

Verehrte und liebe gnädige Frau, seit ich wieder in Wien bin, ist es mir erst klar geworden, was ich Ihnen alles an Fürsorge und Verständnis zu danken habe. Der Anteil, den Sie an mir genommen, als ich in Gefahr war, zu versinken und zu verkommen, bedeutet ja freilich mehr als alle Dankbarkeitsversicherungen der Welt, und nur als ein ganz winziges Zeichen meiner Gefühle für Sie mag es gelten, wenn ich Ihnen von Zeit zu Zeit Bericht über mein Leben gebe, Ihnen meine Hoffnungen und Gedanken mitteile, so wie es in den letzten Wochen der unglückseligen Münchener Zeit geschah, wenn ich Ihnen gegenüber saß, und Sie mir in Ihrem halb-ironischen Ton lehrreiche Geschichten aus Ihrem Leben erzählten. Es war schlimm mit mir geworden, das weiß ich selbst am besten, und wer kann sagen, welchen Weg das Unheil noch genommen hätte, wenn es Ihnen nicht eingefallen wäre, mir damals im April jene unvergeßlichen Zeilen zu schreiben, durch die ich Sie von einer ganz andern, bisher ungeahnten Seite kennen lernte. Es war ein wahrer Frühlingsbrief, und mit ihm kam eine neue Art von Glück. Ich war so erfüllt von meiner Schuld gewesen, daß ich an Rettung gar nicht mehr glauben konnte. Die düstersten Schatten der Vergangenheit begleiteten mich, aber ich hatte kein Licht im Innern, sie zu zerstreuen. Irgendwo habe ich einmal das Wort leidensgeglüht gelesen. Etwas dergleichen empfand ich von mir. Aber das Bessere hat mich hingerissen. Wer seine Gegenwart liebt, hat nichts mehr mit der Vergangenheit zu thun, und die Vergangenheit nichts mehr mit ihm. Es ist ein Wort, mit dem sich die Menschen übermäßig quälen. Ist denn der Mund, den die Not zu lügen verdammt hat, schon von der Wahrheit ausgeschlossen? Und kann es nicht Seelen geben, welche durch den Schmutz gehen wie im Traum? Das alles war in meinen Gedanken für Sie bestimmt, teure Frau, denn da ich ein sehr einsames Leben führe, bleibt mir, selbst während der Arbeit, wenig von dem unbekannt, was wachend in mir vorgeht. Und ich habe entdeckt, daß ich eigentlich gar nicht der bin, den vorzustellen ich stets bemüht war, und mein verbrauchter Wille wurde durch die Erkenntnis innerer Kraft erneuert. Ich bin ja nur ein Träumer, und einer von denen, die ihre Traurigkeit mehr lieben, als ihre Freude. Dazu ist hier in Wien viel Grund, denn es giebt so viel unbegründet lustige Leute wie nirgends sonst. Nirgends schwitzen die Leute so sehr, um zu einem kurzen Vergnügen zu kommen, und eine kleine Zeitungsnotiz kann der ganzen Stadt den Kopf verdrehen. Aber es ist eine schöne Stadt, Baronin, die ich liebe, und Sie müßten es einmal erlebt haben, wenn man an einem Herbstabend den Prater hinunter wandert, und die Luft ist lau und still, und die rosigen Wölkchen schimmern durch das schwere Grün der Bäume, und fernhergetragene Melodien, wienerische Lieder, vermischen sich zu einem unsichtbaren Gewebe, und lautlos und hastig rollen Wagen vorbei und rollen weiter in die Nacht. Und dann müßten Sie die kleinen Vorstädte kennen, wenn zur Ruhe gegangene Stürme alle Gassen rein gefegt haben und würzige Düfte aus dem Wiener Wald kommen. Die Häuser scheinen zu schlafen. Sie haben meist nur ein einziges Stockwerk und sind alt. An den Fensterscheiben zittert geisterhaft das Mondlicht und wird weggewischt wie von unsichtbarer Hand, wenn der Mond in eine Wolke schlüpft wie in einen Schlafrock. Da sind Kirchen, vor denen immer ein kleiner Platz ist mit einem Brünnlein, und daraus murmelt unergründlich das Wasser. Ich kann stundenlang da herumgehn. Es giebt nur ein Bild in meinem Leben, welches eine gleiche Macht über mich hat; das aber ist ein Erinnerungsbild. Doch wieder Vergangenheit, werden Sie denken. Aber erinnern Sie sich noch an den Herbstabend, wie ich in Ihrem kleinen Salon saß, und die Gräfin und Adele plauderten, und die Thüre ging auf –. Das meine ich. Ich habe das Gefühl, als hätte in dem Augenblick mein Leben begonnen. Nun grüße ich Sie für heute und bitte Sie, manchmal an mich zu denken. Anselm Wanderer.

Liebste Frau, tausend Dank für Ihren Brief. Ich hatte nicht erwartet, daß Sie sich der Mühsal des Schreibens unterziehen würden. Mein Leben geht im gleichen Gleise weiter, doch ein Erlebnis muß ich Ihnen berichten, das mir unruhige Nächte gebracht hat. Nur ein Phantom ist es vielleicht, das mich quält, und Sie thun Recht, mich zu verlachen. Ich habe gekämpft, ob ich es Ihnen mitteilen soll, aber nun thue ich es doch. Da hat ein findiger Kopf, er nennt sich Pierre Griotte, den einige Journalisten sogar genial nennen, ein neues Variete gegründet, welches er »die hohe Schule« betitelt. Man zahlt für den Abend fünfzehn und zwanzig Gulden, und muß überdies zu den Vorstellungen geladen werden, wie zu einem Diner. Die Vorstellungen finden in einem alten, jetzt unbewohnten Palast hinter dem Ballhausplatz statt. Das Gebäude gehört einem alten, reichen Fürsten, dessen Frau sich vor Jahren darin erschoß. Seitdem lebt er auf seinen Gütern in Böhmen. Ich bin Ihnen vielleicht zu ausführlich, aber zum Folgenden erscheint es mir notwendig; meine Gedanken können noch immer nicht davon loskommen. In der Gesellschaft befindet sich eine Frau, Renee Lusignan, über die so sonderbare Gerüchte umliefen, daß ich neugierig war, sie zu sehen. Ich wollte nicht den hohen Eintrittspreis zahlen, jedoch der Zufall war mir günstig. Einer der Kollegen, die mit mir im Laboratorium der Fabrik arbeiten, hatte sich eine Karte verschafft, erlitt aber durch eine kleine Benzinexplosion Verletzungen im Gesicht und gab mir das Billet.

Ich wurde in einen zierlichen kleinen Saal gelassen. Hundert oder hundertzwanzig Leute waren da, und der Raum war voll. Dem Anschein nach war es die vornehmste Gesellschaft, Herren und Damen der Aristokratie und hohen Finanz. Wunderlich nahm sich das aus; nicht alle Tage sieht man, daß sich in einem alten, stillen, leeren Palast einige hundert Menschen versammeln, die nur zu murmeln wagen, als könnten sie den Staubfrieden der Korridore und der unbetretenen Stockwerke stören. Der Saal zeigte vier glatte Wände mit purpurroten Tapeten. Kein Podium war zu sehen, kein freier Raum, und es schien rätselhaft, wo die Vorstellung stattfinden solle. In den Zeitungen las man nur mysteriöse Andeutungen. Den Behörden gegenüber war es eine private Veranstaltung, und man sagt, Renee Lusignan habe alles durch ihre Schönheit ermöglicht.

Gespannt saß ich da, als sich die Thüren geräuschlos schlossen und der Raum sich verdunkelte. Gleichzeitig öffnete sich unhörbar die eine Wand vor mir, welche demnach in unübertrefflicher Weise nur ein künstliches Gebild gewesen war und den Saal geteilt hatte. Man sah in grünlichviolettem Licht das Podium. Der Manager trat im Frack vor und begrüßte höflich seine Gäste. Als ich aber den Mann genauer ansah und seine Stimme hörte, die so charakteristisch ist, daß es vielleicht keine zweite, ihr ähnliche giebt, war ich aufs höchste erstaunt. Ich habe Ihnen doch einmal von jenem Peter Graumann erzählt, mit dem ich in Konstanz bekannt wurde und habe Ihnen auch erzählt, welchen Abscheu Renate vor ihm hatte. Und Pierre Griotte ist Peter Graumann. Eine unerklärliche Unruhe begann sich meiner zu bemächtigen.

Die erste Produktion war eine reizende, außerordentlich geschickte Clown-Pantomime. Der Hintergrund der Szene giebt das Aussehen eines großen Spiegels. Ein Clown als dicker Bürger kommt, und sein Spiegelbild begleitet ihn. Er betrachtet sich befriedigt, hält eine Art stummen Zwiegesprächs mit seinem Konterfei, plötzlich aber, da er gutgelaunt den Hut vor sich selber ziehen will, versagt das Bild im Spiegel und behält ruhig den Hut auf dem Kopf. Das Entsetzen, von dem der Clown nun erfüllt ist, teilt sich unmittelbar auch den Zuschauern mit. Das Bild macht eine Armbewegung, und es ist seltsam, wenn der Clown in seiner Angst diese Bewegung nachahmt. Zwischen den Beiden entwickelt sich nun ein aufregendes Spiel, bis der Clown die Spiegelscheibe zerschlägt und sich verzweifelt in die Finsternis stürzt.

Darnach verbreitet sich die Finsternis über die ganze Bühne, und plötzlich brennt ein Feuer, ähnlich einem Scheiterhaufen-Feuer, doch man sieht weder Rauch, noch spürt man Wärme. Es ist eine dicke, rötlichgelbe, düstere Flamme, die den Gegenstand, den sie ergriffen hat, nicht erkennen läßt. Auf einmal aber sieht man ein schwarzverhülltes Haupt mit schwarzen Flügeln, wie sie auf alten Helmen angebracht sind. Dann taucht wie aus einer Flut aus dem abnehmenden Feuer ein weißer, nackter Hals empor. Und mehr noch gleitet das Feuer herunter gleich einem Gewand und entblößt die weiße Haut der Schultern und langsam die ganze Büste, die Hüften und sinkt an den Beinen nieder, und alles verfolgt das Schauspiel in so atemloser Erregung, daß man eine Nadel hätte fallen hören. Der weiße, leuchtende Körper erblühte wie eine fabelhafte Blume aus den Flammen heraus, und ich sehe hin und sehe hin und mir schwindelt vor den Augen, und meine Kehle wird trocken und schnürt sich zusammen, denn ich kannte diesen Körper, Baronin, glaubte ihn zu kennen, ob Sie es auch thöricht und albern finden werden. Ich brauche ja nicht deutlicher zu sein, als ich es bin, aber seit drei Tagen gehe ich herum und bin es selber nicht mehr. Ihnen darf ich ja vertrauen. Sie wissen Menschliches menschlich zu nehmen. Denken Sie doch nicht, daß alte Thorheiten wieder lebendig geworden sind, im Gegenteil. Aber kann man das Liebste, was man besessen hat, kühlen Herzens zerbrochen im Kot liegen sehen? Ist es denn überhaupt möglich? Schmerzlicheres wäre gar nicht auszudenken. Glauben Sie mir, ich wage es nicht mehr, den Namen des Mädchens zu denken, geschweige ihn hierherzusetzen. Und doch, es war so nahe. Ich sah diese keuschen Linien und die Sammethaut und diese jünglinghaften Formen so nah. Liebste Frau, vernichten Sie doch gleich meinen Brief. Und vielleicht ist es Ihnen möglich, in Erfahrung zu bringen, wo Renate Fuchs gegenwärtig ist. Alles war berauscht und aufgewühlt nach der Flammenproduktion, denn die Art der Vorführung hat etwas Behexendes. Ich mußte eilig den Raum und das Haus verlassen, da ich mich krank fühlte. Und doch weiß ich nichts. Sie haben Recht zu schelten, denn es ist weniger als eine Hallucination. Vielleicht hat langes Alleinsein meine Fantasie krankhaft belebt. Ich bin übrigens viel ruhiger, da ich Ihnen alles geschrieben habe und bitte Sie wegen des blinden Lärms herzlich um Verzeihung. Ihr treuer Anselm Wanderer.

5.

War es Einsamkeit, war es der Druck und die Last ausartender Geselligkeit? Waren Gesichter da oder war es die unabänderliche Finsternis einer andauernden Nacht, die verzerrte Fratzen ins Leere zauberte? War es Wachen oder Nichtwachen, Thun oder Geschehenlassen? Da war jedenfalls eine Stadt mit vielen Menschen, welche Tag für Tag dieselben Pfade des Vergnügens und der Geschäfte krochen. Da war die Sonne, welche leuchtete, der Herbst-Sturm rauschend und zornig, das Geräusch von Stimmen gleich dem Surren eines Millionenheers von Insekten, das Knattern von Rädern, zahllosen rollenden, von denen man nicht wußte, woher und wohin. Und inmitten all des Wirrwarrs, der zuckenden Anstrengungen, betäubenden Mühen, wieder eine vereinzelte, erschreckte, auffordernde Stimme, welche »Renate!« rief.

Renate hörte nicht.

Renee Lusignan wurde ein gefeierter Name in gewissen Kreisen der Gesellschaft, welche man neckisch die Lebewelt nennt. Keine Wohnung in der Stadt konnte ihren Blumenschmuck täglich in solcher Fülle erneuern wie diejenige Renates. In ihrer dumpfen Vorstellung malte sich ihr gegenwärtiges Leben als ein beständiges Kommen und Gehen von Menschen. Unaufhörlich lernte sie neue kennen, die sich herandrängten wie zu einem Schauspiel, das nur Ein Mal aufgeführt wird. Wunderlich schien es, wie gleichgeartet all diese Männer waren. In ihrem Gang war meist etwas Hoffnungsloses, in ihrem Blick und Lachen etwas Starres wie der Tod. Hervorragend und einnehmend war der glänzende Cylinder und demnächst die Lackschuhe, die stäubchenlosen. Der Luxus der Cravatten hatte einen Zug von Monumentalität und bildete das endgiltige Merkmal einer hohen Kultur. Es gab ungefähr zwanzig Grafen und fünf Fürsten, von den Baronen und bürgerlichen Millionären ganz zu schweigen. Wertvolle Abende von gesteigerter Lustigkeit kamen, wo der Champagner überfloß und ringgeschmückte Kavalierhände sich ausstreckten, die Müde in das reichste Bett zu führen. Die Spazierfahrten erregten das Aufsehen der Menge, denn Renates Gewänder schienen einer Märchenwelt zu entstammen. Die Straßen waren mit Leichtsinn und leichtem Lebensgenuß erfüllt, und es war nicht möglich, zur Besinnung zu kommen. Gut für Renate, daß jede aufkeimende Erinnerung an eine Stunde des Vergnügens grenzte; daß krankhafte Wünsche sich mühelos erfüllten; daß ein Sich-auf-sich-selbst-Besinnen nur am Rande des Schlafs stand, furchtbares Gespenst. Kein Droben und kein Drunten existierte mehr, alle Markungen waren vermischt, wie wenn Himmel und Erde aus der Vorstellung verschwunden wären und man in freier Luft schwebte vor schemenhaften, bisweilen unterhaltenden Bildern. Peter Graumann war auch im Stande, die Zeit hinwegzueskamotieren und mit einem Grinsen zu versichern, alle Uhren in der Welt seien stehn geblieben. Wenn ein Betrunkener auf einer Ebene geht, glaubt er, den Berg hinabzurollen, also war man vielleicht nur trunken und rollte gar nicht in Wirklichkeit thalab. Es kommt vor, daß Jemand mit der Fackel durch sein finsteres Haus rennt aus Furcht vor einer Feuersbrunst und erst durch solche Thorheit einen unheilvollen Brand verursacht. Vorsicht war geboten ...

Groß war die Wirrnis der Gefühle, mit denen Renate den leichten Wagen bestieg. »Es ist unwahrscheinlich, wie schöne Augen Sie haben,« sagte der junge Mann, an dessen Seite sie in mildem Tempo durch die Straßen fuhr. Ein müder, langsamer Blick traf den Blonden, der so vornehm war, daß er seine Augenlider niemals völlig erhob. Worte solcher Art werden mit einer gangbaren, geläufigen Münze bezahlt, deren Abgegriffenheit sie nicht wertloser macht. Der Vornehme gab gern dünne Aphorismen der Lebensweisheit. »Sehen Sie, Gnädigste, wir sind eine Stadt von Müssiggängern. Da faselt man immer vom Volk. Bei uns giebt es gar kein Volk. Massen, ja vielleicht Massen. Gott sei Dank, wir haben kein Volk mehr, und das ist eben der Fortschritt, ich möchte sagen: die Kultur. Ist der Mann da auf dem Bock Volk? Ein Galantuomo. Sind die Leute auf dem Ring und in der Kärntnerstraße Volk? Nur bei Barbaren spielt das Volk eine Rolle.«

Renate blickte nachdenklich ins Weite. Unerklärlich, weshalb dieser Mann philosophieren mußte. Sein Anblick war unglaubwürdig, und daß er sprechen konnte, war erstaunlich. In ihren Zügen war etwas Lebloses, das sich beim Sprechen steigerte. Oder war es nur die zurückgebliebene Leblosigkeit aus den toten Nächten? Denn jetzt schon fühlte sie ihre Glieder im Bann jener Starrheit, wie immer, wenn der Abend oder die Schaustellung nahte. Dann sanken ihre Gedanken in Dunkelheit, schien jede Empfindung gelähmt, jeder Entschluß gefesselt, und Schmerzen wirkten nur wie Schläge, die man erhält, aber nicht fühlt. Alles eigentliche Bewußtsein sank zusammen, und Vergangenheit war weniger als ein Blatt Papier, das der Wind auf den Hof treibt.

Der Wagen sauste durch die Prater-Allee, und der Kies des Weges spritzte gegen die Wände. »Es ist eigentlich schon zu kalt, um offen zu fahren,« sagte Renate.

»Aber die Sonne scheint. Es ist der schönste Tag.«

»Es ist keine richtige Sonne.«

»Dann laß ich das Dach schließen.«

Renate nickte, und der junge Mann gab seinem Kutscher das Signal zu halten. Der Fiaker blieb einer Restauration gegenüber stehen, deren Gartenräume nur noch spärlich besucht waren. Das dürre Laub bedeckte den Boden und lag auf Tischen und Stühlen. Ein kleines Kellnerlein stand mit blaugefrorenem Gesicht an der Pforte, als ob es die Gastscheuche machen wollte. Während die beiden Männer am Wagendach hantierten, dessen eine Feder den Dienst versagte, blickte Renate den langen, geraden Alleeweg hinunter. Vereinsamt streckte sich die Fahrstraße, auf dem Promenade-Weg zeigten sich einige Paare, hie und da ein Mädchen mit einem Kinderwagen, einige Schüler, die aus dem Vivarium kamen und hinter ihnen ein junger Mann mit träumerischen Schritten. Als er näher kam, lehnte sich Renate totenbleich in ihren Sitz zurück, da sie Anselm Wanderer erkannt hatte. Auch er blickte empor, blickte sofort in die Richtung des Wagens. Erst war der Ausdruck seiner Augen der einer flüchtigen Neugierde, dann blieb er stehen, blieb wie versteinert stehen, und die Cigarette, die er geraucht hatte, fiel herunter. Renate nahm sich zusammen. Sie erhob sich, stieg aus und sagte dem jungen Mann, er möge ohne sie weiterfahren.

»Wie?« machte der Blonde verdutzt.

»Ich bitte Sie darum,« flüsterte Renate hastig und nervös.

»Aber –«

»Wir treffen uns heute Abend. Heute Abend um acht Uhr. Sie wissen es ja. Adieu. Adieu.«

Der vornehme Blonde war überaus verblüfft. Er schüttelte den Kopf und stemmte die Arme in die Hüften, indem er ihr nachsah. Dann richtete er ein paar ärgerliche Worte in die Luft, stieg ein und fuhr weg, fortwährend in melancholischer Weise den Kopf schüttelnd.

Als Renate auf Wanderer zuging, glaubte sie über Schlamm zu schreiten, bei jedem Schritt einsinken zu müssen. Endlich stand sie ihm gegenüber, – schweigend. Sie hatte, beim Wagen noch, den schwarzen Schleier herabgestreift und hauchte nun in das dünne Gewebe. Etwas wie endgiltige Verzweiflung lag in diesem Hauch. Die Worte waren in ihrer Brust wie festgefroren. Endlich sagte Wanderer, indem er über den Zaun des Restaurationsgartens blickte: »Ich wußte gar nicht, daß Sie hier in Wien sind.«

Renate nickte, ließ das Kinn sinken, nagte fortwährend an der Unterlippe. »Ich bin schon über zwei Monate hier,« erwiderte sie mit kaum verständlicher Stimme. Ihr suchender Blick gelangte wie auf Irrwegen zu Wanderers Augen, der bleich und schweigend vor ihr stand und die Stiefelspitze in den Sand bohrte.

»Wollen Sie mich ein wenig begleiten?« fragte Renate ebenso leise wie vorher. Wanderer machte eine halbe Verbeugung und schritt an ihrer Seite die Allee hinab, gegen das Lusthaus zu. Sie schlugen den Seitenweg zur Josephswiese ein, überquerten dann wieder die Hauptallee und gingen durch die Anlagen östlich der Rotunde. Dabei sprachen sie nicht ein einziges Wort, und das Schweigen war so auffallend und peinigend, ja quälend, daß Renate mehrmals stehen blieb und die Hand auf die Brust legte, als könne sie nicht zu Atem kommen.

Auf eine Bank zwischen zwei Ahornbäumen ließen sie sich nieder und konnten geradeaus in den Sonnen-Untergang sehen. »Es ist ein unerwartetes Zusammentreffen,« sagte Renate, sich ein wenig freier fühlend.

»Ja. Von Ihrer Seite gewiß,« entgegnete Wanderer, das Kinn auf seinen Stock gestützt.

»Wieso?« Eine jäh flammende Röte bedeckte Renates Gesicht.

»Ach, bei mir war es nicht unerwartet, denn ich bin in den letzten Tagen manchmal an Sie erinnert worden.«

»Erinnert worden? Wie ist das möglich?« Wanderer gab keine Antwort. Er schaute abwesend auf ihre Hände, von denen sie die Handschuhe abgestreift hatte, und die noch viel weißer, magerer und entkräfteter schienen als früher.

»Wie kommt es, daß Sie jetzt hier sind?« fragte Renate beengt, doch, ohne daß sie es wollte, mit weicher Stimme.

»Ich arbeite hier.«

»So? Sie arbeiten hier? Wo denn?«

»In einer chemischen Fabrik.«

»Und es geht Ihnen gut dort?«

»Ich kann mich nicht beklagen. Durch Arbeit hab ich das Vertrauen zu mir selbst gelernt. Und das ist das Wichtigste.«

»Durch Arbeit –« echote Renate mechanisch.

Anselm Wanderer kam sich etwas primitiv vor mit seinen Sprüchen zur Lebensweisheit. »Sie sind sehr elegant,« sagte er, einen Seitenblick auf Renates Toilette werfend.

Sie zuckte zusammen. In ihren Augen war etwas wie Furcht. »Ich bin bei Verwandten hier,« sagte sie plötzlich heiser und in einem Tonfall, als wolle sie eine lange Geschichte erzählen.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie Verwandte hier haben.«

»Doch, doch. Eine Cousine meiner Mutter.«

»So? Und der Herr, mit dem Sie gefahren sind?«

»Es ist ein Freund.«

»Von Ihnen?«

»Ja, ein Freund.« Aus Angst, sie könne stocken in ihren Antworten, redete sie übermäßig rasch.

»Und Sie wollen hier bleiben?« fragte Wanderer weiter, – kühl, mit einem unbeweglichen Gesicht.

»Ja, das heißt, so lang es eben geht.« Ein stürmischer Kummer wallte in ihr auf, und nervös ballte sie die Hände.

»Wissen Sie auch, daß Peter Graumann hier lebt?« fragte Wanderer und wandte ihr voll das Gesicht zu.

»Graumann? Er ist hier? Das wußte ich nicht –« und plötzlich im Gefühl der Unerträglichkeit des Lügenspiels erhob sie sich, rief leidenschaftlich: »Wissen Sie es denn, so quälen Sie mich nicht!« und bedeckte aufschluchzend das Gesicht mit den Händen.

Wanderers Gesicht wurde fahl wie Asche. »Ich quäle Sie doch nicht,« murmelte er verstört.

Renate saß und weinte lange. Aus der Stadt drang leise grollender Lärm. Ein paar Krähen krächzten in der Luft, flogen mit ihren weitgreifenden Schwingen der nahen Donau zu.

Mit abgewandtem Gesicht erhob sich Renate. Sie war wieder vollkommen ruhig geworden, ja, allzuruhig, schien es Wanderer. Die dunkelnde Hauptallee hinauf gingen sie jetzt wieder schweigend. Kurz vor dem kleinen Viadukt blieb Wanderer stehen und fragte: »Aber wie war das nur möglich?« Doch sie schüttelte entschlossen den Kopf und ging weiter. Nach hundert Schritten sagte Wanderer: »Ich wohne dort drüben,« und deutete gegen den Nordbahnhof. Mit schwimmenden Augen blickte ihn Renate an, und ihre Lippen zuckten. Dann reichte sie ihm die Hand, und er setzte schweren Schrittes seinen Weg fort. Renate legte den weiten Weg nach ihrer Wohnung zu Fuß zurück.

6.

Sie eilte rasch durch die Zimmer-Reihe, bis sie Eugenie Hadamard fand, die mit einer Handarbeit beschäftigt war. »Warum brennt denn nirgends Licht?« fragte sie und blickte schaudernd in die finstern Räume zurück. Sie setzte sich in einen Sessel und fragte dann: »Sagen Sie, Eugenie, Sie wissen doch, wo Frau Darja Blum wohnt?«

»Ja, Florianigasse 26. Es ist allerdings schon Wochen, daß sie mir begegnet ist und es mir sagte.«

»Hat sie sich damals nach mir erkundigt?«

»O ja.«

»Ich finde es so warm hier, schrecklich warm.«

»Haben Sie denn heute keine Vorstellung? Ach nein, heut ist ja Montag.« Eugenie ging hin und öffnete das Fenster.

»Gut, daß heute Montag ist,« murmelte Renate und drückte den Fuß gegen Angelus' Rücken, der dafür kaum merklich mit dem Schweif wedelte, ohne sich zu rühren. Anscheinend schlief er, doch entging nichts seiner genauen Beobachtung.

»War Jemand hier?« fragte Renate.

»Nein. Herr Graumann ist um vier Uhr fortgegangen. Er sagte, zum Souper käme er natürlich.«

Eine unbestimmte Furcht erwachte in Renate vor Eugenies klangloser, trauriger, monotoner Stimme, mit der sie alles berichtete. Indessen saß sie ihr eine Zeitlang schweigend gegenüber und verfolgte mechanisch das Auf und Nieder der Nadel in der Hand des alten Mädchens. Dann fragte sie teilnahmslos: »Was arbeiten Sie denn da immer?«

»Ach, es ist meine ewige Handarbeit,« erwiderte Eugenie mit schwachem Lächeln.

»Wieso: ewige?«

»Ja. Es hat damit eine eigene Bewandtnis.«

»Ein seidenes Tuch und Sie sticken Rosen hinein. Mehr seh ich nicht.«

»Lauter Rosen, gewiß. Schon seit sechzehn Jahren. Jedes Jahr wird eine fertig.« Eugenie errötete, was einen merkwürdigen Eindruck auf Renate machte. »Erzählen Sie es doch,« sagte sie, beugte sich vor, stützte den Kopf in die Hand und den Ellbogen aufs Knie. So hatte sie auf einmal etwas Versunkenes und Kindlich-Neugieriges angenommen. Eugenie Hadamard machte eine unsichere und verlegene Bewegung. Dann hob sie ihre dunklen Brombeer-Augen schüchtern zu Renate empor, ließ die Arbeit ruhen und erzählte.

»Eigentlich ist es eine harmlose Geschichte, gar nicht interessant. Vor sechzehn Jahren war ich bei einer Familie in der französischen Schweiz. Ich sollte einem jungen Mädchen deutsche Stunden geben. Seit meiner Kindheit war ich eine Waise, hatte Niemanden, und dort war es zum ersten Mal, daß ich mir recht bei Seite geschoben vorkam. Ich war schon fünfundzwanzig Jahre alt und hatte noch nichts vom Leben gehabt. Nun waren zwei hübsche junge Männer im Haus, ein Bruder und ein Vetter meiner Schülerin. Sie scherzten viel mit mir. Vielleicht gefiel ich ihnen wirklich, vielleicht dachten sie nur einen Spaß aus mir zu machen. Trotzdem ich sie ganz gut leiden mochte, denn es waren fröhliche Menschen, wich ich ihnen doch stets aus; es ist ja gefährlich für ein junges Mädchen. Einmal aber stand ich morgens allein im Garten, und der Cousin von Juliette schlich heran und er küßte mich gewaltsam, und Juliette hatte es belauscht, denn sie war immer auf der Lauer. Die alte Dame, die furchtbar sittlich war, jagte mich sogleich aus dem Haus. Ich wanderte den ganzen Tag in der Stadt herum. Halb schämte ich mich, halb hatte ich Mitleid mit mir. Und als so der Abend kam, stand ich auf der Promenade in der Nähe des Sees und schaute ins Leere. Ich konnte mir nicht denken, was ich thun sollte. Da sah ich einen eleganten Wagen, und die beiden jungen Herren saßen drin. Zufällig erkannten sie mich und ließen halten. Sie sprachen lange mit mir und schimpften über die alte Dame. Und der Jüngere, der voller lustiger Einfälle steckte, lud mich ein, in den Wagen zu steigen und mit zu fahren. Der andere stimmte bei, kurz, sie redeten mir so liebenswürdig und eifrig zu, daß ich sie doppelt lieb gewann alle beide. Aber ich wußte auch, wenn ich in den Wagen stieg, war es um mich geschehen. Ich sagte ihnen, es sei unmöglich, ihr Bitten sei umsonst. Und es war auch umsonst, so daß sie schließlich ganz betrübt wieder einstiegen. Jeder reichte mir die Hand, und als der Wagen schon im Fahren war, warf mir der jüngere dieses lilaseidene Tuch zu. Ich war beklommen und niedergeschlagen, suchte das Quartier auf, wo ich meine Sachen hatte hinbringen lassen. Glücklicherweise fand ich bald darauf eine neue Stelle, und so ist mein Dienerinnen-Leben weitergegangen. Wer weiß, ob es nicht doch anders gekommen wäre, wenn ich in den Wagen gestiegen wäre, denn so hab ich gar nichts, hab nie etwas gehabt. Das ist schon die siebzehnte Rose, die ich mache. Es sieht hübsch aus, nicht?« Sie hielt das Tuch vor das Gesicht, um es Renate zu zeigen. Renate nickte. Sie wandte sich ab, als könne sie durch den Stoff hindurchschauen. Auch verließ sie dann wortlos das Zimmer und ging im Nebenraum ruhelos auf und ab.

Da das Geräusch von Tritten und Stimmen vernehmbar wurde, beendigte sie ihren Marsch. Peter Graumann öffnete die Thüre und ließ höflich drei Herren den Vortritt. Ein kleiner, wohlwollender, der den Eindruck einer frisierten Maus machte, trat rasch auf Renate zu, die andern beiden hielten sich im Hintergrund, indem sie sich respektvoll räusperten.

»Europa ist voll vom Ruhm Renee Lusignans,« sagte der Mausgraue, seine gelb beschuhte Hand ausstreckend. Er lächelte freimütig und leutselig, errötete aber langsam und sah bestürzt aus, als Renate sich nicht rührte, seine ausgestreckte Hand nicht beachtete und seine Verbeugung nur zerstreut mit einem Kopfnicken beantwortete.

»Erlaube, daß ich Dir die Herren vorstelle, Renee,« sagte Graumann, die beiden andern in den Vordergrund führend. »Baron Gallus, Gesandtschaftssekretär, Herr von Ullmingen, unser berühmter Rennstallbesitzer.«

Eine Minute später kam auch der vornehme Blonde von heute Nachmittag und machte zuerst ein gekränktes Gesicht. Da aber Renate ihn bei Seite zog, und ihn um Stillschweigen über den Vorfall bat, der sie von ihm getrennt, fand er sich mit geheimnisthuerischer Liebenswürdigkeit in seine neue Rolle als Vertrauensperson.

»Weshalb bist Du nicht in Empfangstoilette?« herrschte Graumann Renate an, – mit leiser Stimme, die etwas unsicher klang. Sie zuckte die Achseln, wandte sich ab von ihm. Graumann witterte Auflehnung, er wurde unruhig und seine Trinkerlaune verflog.

»Es giebt nur eine Kunst und die liegt im Variete,« sagte der Mausgraue und blickte prophetisch auf die Fingernägel seiner Hand, die er vor sich hielt.

Der Gesandtschaftssekretär stieß den Rennstallbesitzer in die Hüften. »Ich glaube, er weiß gar nicht, was Variete ist.«

Ullmingen lachte wie über einen unübertrefflichen Witz.

»Er glaubt vielleicht, Variete ist eine Mehlspeise,« fuhr der Baron geschmeichelt fort und begann, glühende Blicke auf Renate zu heften, die fröstelnd am Ofen stand.

Der Mausgraue blickte sich gereizt um und schnappte ein wenig. Das Lachen erschien ihm verdächtig. Inzwischen wurden die Thüren zum Speisezimmer geöffnet.

Graumann ging vor dem Ofen hin und her. »Bist Du krank, Renee?« fragte er durch die Zähne. »Nicht? Umso besser.« Und nahe an sie herantretend, fügte er hinzu: »Der Fürst ist hier. Unsere Vorstellungen sind ihm unbequem. Er war gestern anwesend, und sein katholisches Gewissen erkrankte so, daß man ihm zu Hause Eibisch-Thee kochen mußte. Doch er will dich kennen lernen, Renee.«

Renate hob jäh den Kopf und erblaßte. »Du mußt Dich nach einem Ersatz für mich umsehn. Ich will nicht mehr. Ich war wahnsinnig; wahnsinnig war ich.« Sie klammerte sich mit den Händen an die Kacheln, als könne man sie losreißen.

»Ah, du willst wohl heiraten?« fragte Graumann ironisch und unbesorgt. Er blickte in die Nische und zog die Lippenwinkel weit auseinander.

»Ich war ja wahnsinnig,« flüsterte Renate noch einmal, als gäbe es keine andere Verteidigung, als das eine Wort.

»Du vergißt unsern Kontrakt,« erwiderte Graumann stutzig werdend, mit finsterer Stirn. »Jetzt sind wir auf dem Weg, uns sicher zu stellen. Tausende fließen uns zu.« Habgierig glänzten seine Augen. Im Geist berechnete er künftige Einnahmen.

Der vornehme Blonde saß bei Tisch neben Renate. Er spielte gerne den Unglücklichen, beklagte sein verlorenes Leben, ließ ideale Neigungen durchschimmern und fragte naiv, ob Renate auch unglücklich sei. Sich unglücklich fühlen, erschien ihm als eine Auszeichnung, ja als ein Genuß. Da Renate verneinte, begann er von Litteratur zu sprechen, dem Notnagel aller leeren Zwiegespräche. Er sprach von einem neuen Buch, das er gelesen, aber es sei »kraß und realistisch«.

»Was ist es denn für ein Buch?« fragte Renate gleichgiltig.

»Die Wiedergeborene. Von ...von ...den Namen habe ich leider vergessen.«

»Ein schöner Titel.« Renate blickte gedankenvoll über den Tisch. Graumann trank schon wieder unaufhörlich. Er trank sich gewöhnlich in Pläne, in Entschlüsse, in Vorsätze hinein. Dann war er hart, rücksichtslos, grausam. Oft heuchelte er nur Trunkenheit, um andern nahezukommen oder sie einzuschüchtern. Im Grunde feig, spielte er mit Vorliebe den Temperamentvollen, hatte die Gabe, durch psychologische Spitzfindigkeiten zu imponieren. Wer sein gläubiger Zuhörer war, wurde bald sein Opfer.

Der mausgraue Baron brachte einen Toast auf Renate aus. Der Schluß war sogar in Versen gehalten. Begeisterter Zustimmung voll, erhoben alle die Gläser. Renate fühlte die Ironie hindurch, sah das leichte Zucken von Mundwinkeln, die übermütigen Gesten, und es begann in ihren Schläfen zu hämmern. Sie saß und hörte ruhig zu. Graumann wollte der Richtung ihrer Blicke folgen und schaute ebenfalls dorthin, wohin sie schaute, nämlich in Nichts. Es ist ein Abgrund da, hämmerte es weiter, und wohin jetzt, Renate Fuchs, stolze Renate, ehedem unnahbare? Keine Hoffnung. Durch alle Betrachtungen hindurch meldete sich der Schmerz wie ein Bote, der aus der Ferne gelaufen kommt. Wie sonderbar, daß sie nie vorausdenken, voraussehen, vorausfürchten konnte, sondern mit jeder Gefahr an der Seite den Weg weiter ging. Und jetzt, da sie endlich zu ahnen begann, verlor sie vielleicht ihre Seele dabei.

»Griotte ist ein lasterhafter Mensch,« bemerkte Ullmingen laut und lachte.

»O, er steht nur in einem platonischen Verhältnis zum Laster,« entgegnete der Gesandtschaftssekretär beißend.

»Zur Schönheit hoffentlich auch,« sagte der Mausgraue kichernd. Sein Glas fiel um, und der Wein floß über den Tisch. Renate stand auf. Ein Graf und ein Theaterschriftsteller wurden gemeldet, traten ein, bewegten sich wie zu Hause. Ich ertrag es nicht, dachte Renate, als man ihr die Hand drückte. Sie trat ans Fenster; unten ging, im Finstern, ein Mann auf und ab. Vielleicht ist es ein Helfer, dachte sie verzweiflungsvoll und schaute noch gespannter durch das Glas, drückte die Stirn an die Scheibe. Wo liegt meine Schuld? hämmerte es von Neuem.

»Ich habe nie einen Hals von so vollendeter Form gesehen, gnädiges Fräulein,« lispelte der Baron neben ihr. Sie zuckte zusammen, und ihr Herz begann angstvoll zu klopfen. Am Tisch brachte man schon wieder einen Trinkspruch auf sie aus. Diesmal war es der Theaterschriftsteller, der einen Imperatorenkopf hatte, aber die blicklosen Augen eines Huhns. Wie widerlich und finster alles ist, dachte Renate.

Ullmingen und der Mausgraue, die in einem Streit über weibliche Körperschönheit lagen, wurden lebhaft, ja lärmend. Der Mausgraue schwärmte für das Runde, das Rubenssche, aber Ullmingen erwiderte ihm heftig: »Sie sind ein Barbar. Betrachten Sie die Hüften Renee Lusignans morgen Abend und sagen Sie dann –« Weiter redete er nicht, denn ein dumpfer Schrei und ein heftiges Klirren ertönten vom Fenster her. In einem Zustand besinnungslosen Kummers hatte Renate die Stirn an die Scheibe geschlagen, und das Glas war zerbrochen. Jetzt rann ein feiner Blutstrom über Nase und Mund, und leichenblassen Gesichts starrte sie die bestürzten Herren an, die alsbald einen Kreis um sie bildeten. Graumann rief nach Eugenie, aber er führte Renate selbst hinaus, wischte mit einem nassen Tuch das Blut vom Gesicht und verband den Kopf. »Du hast dich wie ein Backfisch benommen,« sagte er eisig. »Wir haben darüber noch zu reden. Diese Melancholie um jeden Preis ist komisch und dumm. Aschenbrödeleien sind hier nicht am Platz.«

Er ging. Eugenie Hadamard wollte Gesellschaft leisten, aber Renate schickte sie fort. Etwas schlich kaum hörbar heran: Angelus. Renate nahm seinen Kopf zwischen beide Hände wie in früherer Zeit und flüsterte: »Braver Hund.« Sie konnte es nicht lange ertragen, zu liegen, setzte sich in ein dunkles Eck, und mit weit vorgebeugtem Oberkörper stützte sie den Kopf in die Hände. Ihr weißes Gesicht mit der weißen Binde über der Stirn leuchtete im matten Ampellicht, mehr noch die Augen, die unbeweglich auf das Antlitz des Hundes gerichtet waren. Woran leidest du? schien Angelus zu fragen. Ich habe keine Ruhe mehr, antwortete Renate. – Und warum? Angelus wieder. – Wer ohne Liebe ist, ist ruhelos, darauf Renate. Erinnerst du dich, Angelus, an jene Nacht in der Königinstraße, wo mich ein gewisser Jemand aus dem Bette zerrte, um mich zu schlagen? – Ich erinnere mich, sagte Angelus. – Und wie du es warst, der mich beschützte? – Ich erinnere mich. – Nun damals begann es, fuhr Renate ohne Worte fort. Damals begann es, daß ich keine Ruhe hatte, außer mir und in mir. –. Es ist wahr, erwiderte Angelus; ohne zu sehen, bist du gegangen, ohne zu wissen, hast du gehandelt, keinem hast du vertrauen dürfen. – Nur dir, Angelus. Aber dich habe ich schlagen lassen. Und jetzt, wohin? – Die Männer haben dich vergiftet mit schlechten Begierden. Werde du nicht begierdelos. – Ich habe noch Sehnsucht und Erwartung. – Dann bist du noch stark. –Liegt Stärke denn im Warten? – Im Warten liegt die Kraft für dich. – Doch zu wählen, war ich nicht fähig. – Keiner wählt für sich. Das, was ihn erwartet, zieht ihn heran.

Renate erhob sich, trat zu einem Kleiderschrank, dem sie mehrere kostbare Gewänder entnahm. Sie warf die Kleider über den Arm, verließ das Zimmer und ging in den Raum, den Eugenie bewohnte. Dort legte sie die Kleider auf das Bett Eugenies, die aus dem Schlaf emporfuhr und sagte: »Das schenke ich Ihnen, Eugenie. Was Sie morgen noch finden, und was mir gehört hat, ist ebenfalls Ihr Eigentum.« Damit verließ sie das Zimmer wieder, ohne das erschreckte und verblüffte Fräulein zu beachten. Als sie zurückkam, wartete Graumann. Die Hände auf dem Rücken, ging er herum, pfiff leise vor sich hin, und sein Gesicht hatte einen geschäftsmännischen Ausdruck. Thöricht, ihn zu fürchten, dachte Renate.

»Wie viel muß ich Dir zahlen! wenn ich von heute ab hingehn kann, wo ich will?«

»Zwanzigtausend Gulden. Es ist der Ausfall eines Monats.« Ein fortwährendes Lächeln spielte um Graumanns Lippen.

»So viel besitze ich nicht,« erwiderte Renate. »Ist denn das nach Recht und Gesetz?«

»Recht und Gesetz sind nicht für uns.«

»Es ist wahr.«

»Meine Mittel erlauben mir nicht, großmütig zu sein.«

»Ich habe Dir alles gegeben. Gieb mir die Freiheit.«

»Nicht unter dem Preis.«

»Gieb mir die Freiheit, Peter Graumann. Zehntausend Gulden sind in der Bank, zweitausend sind hier. Ich will für dich arbeiten von heute ab, aber laß mich frei. Was kann es Dir nützen, mich zu halten, wenn es meinen Ekel erregt, zu thun, was ich soll?«

»Ich liebte Dich, Renee,« brummte Graumann mit stieren Augen.

Renates Gesicht leuchtete in Hoffnung auf. Eilig brachte sie an Schmuck herbei, was sie besaß.

»Du hast ja Diamanten und Perlen,« sagte Graumann kaustisch und wühlte mit den Fingern in den Haaren. »Ich liebte Dich, Renee, liebe Dich noch. Was willst Du thun? Frauenjugend hat schnelle Füße. Verfluchtes Metier! Ich werfe Raketen in die Luft und Steine fallen mir dafür auf den Schädel. Ein Weib, ein Weib, meine Seele für ein Weib!« Jetzt erst bemerkte Renate, daß er trunken war. Seine Stimme wurde weinerlich und süßlich, und er unterhielt sich mit einem Niemand in der leeren Luft. Er hatte die Weinflasche mit hereingenommen und trank daraus, ohne erst ein Glas zu benutzen. Etwas gnomenhaft Hilfloses tauchte plötzlich aus seinem Wesen auf. Sein alltägliches Ich, jetzt machtlos, schien darunter zu leiden und kämpfte erbittert um die Herrschaft. Mehr und mehr verlor er jedoch die Kraft über sich selbst, wollte pathetisch den Schein der Nüchternheit wahren und pustete vor sich hin, als ob es immerhin möglich sei, daß sich jemand fand, der ihn für betrunken hielt. Er fing an weitausgreifend und jahrmarkthaft über sich selbst zu reden, schmatzte mit den Lippen, als wären seine Worte Süßigkeiten, blinzelte schlau mit den Augen, sagte Geistreiches und Unverständliches, Frivoles und Bizarres durcheinander, war gerührt und beleidigt, listig und frech, aber durch all das drang wie der Fortissimostoß einer Posaune aus dem Piano eines Orchesters die tiefe Zerworfenheit und Zerrissenheit seiner Natur, die innere Verlassenheit, Haltlosigkeit, und was mehr war, eine Beängstigung, welche der Todesfurcht verwandt war. Es schien, als trinke er, um nicht gesehen zu werden, um sich selbst weder sehen noch hören zu müssen. Renate begann aufmerksam seinen Worten zu lauschen, begriff es nicht mehr, daß sie hier saß. Die Seitenthür war offen, und sie sah in das Speisezimmer, das nun leer war. Das Licht brannte noch hell, die Flaschen und Gläser standen wirr, die Stühle standen wirr wie von plötzlichem Aufbruch. Und allmählich wurde das Lampenlicht dumpfer, denn der Morgen begann zu grauen. Die Blumen auf der Tafel rochen stark, schienen aber dem Verblühen nah. Peter Graumann war im Begriff, eine philosophische Spekulation über den Wechsel von Tag und Nacht anzustellen, aber Renate bat ihn sanft, zu schlafen.

Sie bemitleidete ihn tief.


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