Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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5

Daß es so einen seltsamen Meilenstein gab, hörte Dan zum ersten Mal, als er sich endlich in das feine Kontor mit der Tafel »Guy Fielder« geschoben und seine gedrungene Gestalt bescheiden an die Tür geklebt hatte.

An einem großen Schreibtisch saß ein Herr, dem ein Brief arges Kopfzerbrechen verursachte, und vor einem der Fenster klapperte eine Frau unbeirrt auf der Maschine.

Endlich räusperte sich der Herr und wandte sein Gesicht.

Dieses Gesicht mit der niedrigen Stirn und den abstehenden Ohren wirkte im ersten Augenblick älter als es war, weil es die Farbe einer gebleichten Fischhaut hatte. Weder die wulstigen Lippen noch die dünnen Brauen noch das sorgfältig gescheitelte rötlichblonde Haar störten das fahle Einerlei. Auch die gestielten Augen glichen nur zwei verschwommenen Flecken, aber Dan Kaye kroch unter ihrem Blick noch mehr in sich zusammen.

»Man hat mich hierhergewiesen«, krächzte er entschuldigend und beobachtete dann ängstlich, wie der Mann am Schreibtisch sich umständlich zurechtsetzte, ein Bein über das andere schlug und mit den kurzen Fingern zu trommeln begann.

»So – man hat Sie hergewiesen«, ließ sich Mr. Fielder endlich vernehmen, und seine leise, ruhige Stimme war ebenso farblos wie sein Gesicht. »Bringen Sie eine Empfehlung der Anstalt oder eines Vereins?«

Dan schüttelte lebhaft seinen wuchtigen Schädel.

»Nein. – Ich komme wegen James. – Mr. James. Er hat mir gesagt, daß ich hier etwas über seine Bleibe erfahren könnte. Wir waren zusammen in Exeter. – Dan Kaye. – Er wird sich schon erinnern . . .«

»Mr. James . . .« wiederholte der kleine Mann nachdenklich, indem er seine fleischige Stumpfnase mit Daumen und Zeigefinger heftig bearbeitete. »Wer könnte das sein?«

Er sah fragend zu der Frau an der Schreibmaschine hinüber, aber Miss Reid nahm an der Sache kein Interesse.

»Bitte, sehen Sie vielleicht einmal in den gewissen Aufzeichnungen nach«, entschied Mr. Fielder endlich, und diesmal verstand Miss Reid. Sie erhob sich, und Dan, der ihr mit erwartungsvollen Blicken folgte, sagte sich so nebenbei, daß sie gewaltig vornehm aussah und den Teufel in dem geschmeidigen Leibe haben mußte. Sie mochte zwar bereits Ende der Zwanzig sein, und das Gesicht war nicht gerade hübsch. Aber gerade seine auffallendsten Schönheitsfehler – die etwas zu starke Nase, der kräftige Mund mit den breiten, gesunden Zähnen und der leichte Flaum, der von dem dunklen Haaransatz an den Schläfen bis zu den wohlgeformten Ohren lief – verliehen ihm einen besonderen Reiz.

Während Miss Reid dem Wandschrank ein kleines Notizheft entnahm und den gepflegten Fingernagel suchend über die Seiten gehen ließ, glaubte Mr. Fielder seinem Besucher eine Erklärung schuldig zu sein.

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, unglücklichen Menschen, die irgendwie gestrauchelt sind, wieder auf die Beine zu helfen«, bemerkte er bescheiden. »Die Fürsorgevereine sind zu bürokratisch und leider auch meist zu engherzig. Da bleibt noch manches zu tun, und ich tue es gern, denn ich habe bisher nur gute Erfahrungen gemacht . . .«

»James Marwel«, ließ sich in diesem Augenblick Miss Reid mit ihrer angenehmen Altstimme vernehmen. »Wurde am 5. April aus Exeter entlassen und war am 13. April hier.«

»Am 5. April, jawohl – stimmt«, platzte Dan freudig heraus, indem er die Rührung über die schönen Worte des menschenfreundlichen Mr. Fielder eilig hinunterschluckte. »Es war knapp vor meinem Geburtstag.«

Für den kleinen Mann schien die Sache allerdings noch immer nicht so ganz festzustehen, denn er schob die dicken Lippen vor und überlegte noch eine Weile.

»Nun«, meinte er endlich, »schlimmstenfalls machen Sie den Weg umsonst. Dann melden Sie sich eben noch einmal. – Also jetzt noch die Adresse, bitte . . .«

Miss Reid zog wiederum die Aufzeichnungen zu Rate.

»Hartford, Blackfield, Buschhaus«, las sie eintönig vor, aber ihr Chef legte plötzlich den kleinen Kopf auf die Seite wie ein interessiertes Huhn.

»Blackfield . . . Blackfield . . .«, murmelte er und heftete dann die ausdruckslosen Augen wieder einmal fragend auf die Sekretärin. »Der Name kommt mir so bekannt vor . . .«

»Der Schwarze Meilenstein«, kam ihm Miss Reid zu Hilfe.

»Tja – das ist es.« Mr. Fielder stieß mit dem Zeigefinger lebhaft in die Luft. »Seltsam, sehr seltsam . . .«

Er ließ sich nicht näher darüber aus, was er so seltsam fand, sondern hielt es nun an der Zeit, den ungeduldig harrenden Besucher endlich abzufertigen.

»Bitte, wollen Sie also dem Mann die Adresse recht deutlich aufschreiben, Miss Reid. Und für alle Fälle auch einige der Nachmittags- und Abendzüge. – Es wird am besten sein, wenn Sie sich noch heute nach Ihrem Freund umsehen«, riet er Dan. »Vielleicht kann er wirklich etwas für Sie tun, denn soweit ich mich erinnere, ist dieser James Marwel trotz allem ein sehr anständiger Mensch. – Er ist doch derselbe, der uns die Unterstützung wieder zurückerstattet hat?«

»Jawohl«, bestätigte Miss Reid und blickte wiederum in das Notizheft. »Am 3. Mai – als er zum letzten Mal hier war.«

Mr. Fielder schnippte etwas ungeduldig mit den Fingern.

»Schön, schön . . . Da müssen wir also wohl für seinen Bekannten ein übriges tun. – Sagen wir zehn Schillinge – als Reisezuschuß. Aber ohne die üblichen Eintragungen, Miss Reid. Dazu haben wir kein Recht, denn der Mann hat ja die Unterstützung nicht verlangt.«

Fünf Minuten später befand sich Dan Kaye wieder auf der Straße, und die Welt hatte für ihn plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Die Möglichkeiten an Alkohol, Tabak und anderen köstlichen Dingen, die ihm die in seiner Tasche klimpernden Schillinge in Aussicht stellten, machten ihm den Kopf schwindeln, und vor der ersten einladenden Schenke, an der er vorüberkam, hatte er einen schweren Kampf zu bestehen . . .

Aber zum ersten Mal in seinem Leben – nur gerade im verhängnisvollen Augenblick – entwickelte Dan Kaye Widerstandskraft und Charakter. Er richtete mit einem entschlossenen Ruck die schwammige Nase wieder geradeaus und trabte zur Kings Cross Station, wie es ihm dieses feine Frauenzimmer, das einen ganzen Pack Sünden wert war, so schön und deutlich aufgeschrieben hatte.


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