Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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»Nun«, meinte der sympathische junge Arzt, nachdem er Ajax den Rasenden eine Viertelstunde in der Arbeit gehabt und nun unter der Obhut Bells zurückgelassen hatte, »es war eine gehörige Attacke, aber umbringen wird es ihn nicht. Zunächst dachte ich, daß es sich bei dem Pulver vielleicht um etwas Besonderes handelt, doch scheint dies nicht der Fall zu sein. Ich glaube, der Schweinehund hat bloß verschiedene narkotische Drogen zusammengemengt, um einen möglichst: raschen und nachhaltigen Schock zu erzielen. So etwa, wie ein Gemisch von Bier, Wein, Whisky, Genever und Brennspiritus – pfui Teufel – kaum, daß man es unten hat, den gewaltigsten Rausch ergibt. – Jedenfalls werde ich das Zeug aber noch genau untersuchen lassen.«

Perkins nickte.

Der andere wühlte eine Weile bedächtig in seiner Zigarettendose, dann klappte er sie plötzlich lebhaft zu.

»Ihrem Mann wird die Geschichte zwar ein paar Tage gehörig in den Gliedern liegen«, sagte er unvermittelt, »aber ich bin froh, daß ich das sehen konnte. Nun bin ich mir nämlich über alles, was meine Befunde angeht, und vielleicht über noch etwas mehr im klaren. Der eine Mann ist mit diesem niederträchtigen Mittel so lange bearbeitet worden, bis sein Herz versagt hat. Wahrscheinlich war genügend Zeit dazu. Dann hat man ihn in der folgenden Nacht in den Steinbruch geworfen und den auf die gleiche Weise betäubten Sergeanten ihm nach. Vielleicht um den Anschein zu erwecken, als ob sie zusammen abgestürzt wären. – Und die Frau ist in der Narkose erdrosselt worden, weil es sonst nicht rasch genug gegangen wäre.«

»Ja«, stimmte der Chefinspektor zerstreut bei und tat dann plötzlich eine ganz fernliegende und nebensächliche Frage.

»Sie sind wohl auch in Oxford oder Cambridge gewesen?«

»In Cambridge.«

»In Cambridge . . .« Perkins schlug sich vergnügt auf die Schenkel und feixte wieder einmal in seiner boshaften Art. »Warten Sie einen Augenblick . . .«

Er stürmte in großer Eile hinaus und hätte dabei fast William umgerannt, der sich für alle Fälle an der Schwelle bereithielt.

Schon nach kaum einer Minute erschien er wieder,

»Mr. Duncan ist nicht zu Hause«, knarrte er den Geschäftsführer an. »Haben Sie vielleicht bemerkt, wann er weggegangen ist?«

»Nicht zu Hause?« William war sichtlich sehr überrascht. »Ich habe doch bis spät abends Licht bei ihm gesehen. Und auch noch vor einer Weile, als ich von vorn mit dem Kaffee herüberkam.«

»Ist sein Wagen in der Garage?«

»Jawohl«, stotterte der betroffene Geschäftsführer. »Als Mr. Bell zurückkam, stand er noch dort.«

»Tja«, sagte Perkins, und ebenso einsilbig und unklar beantwortete er den fragenden Blick, mit dem ihn der Arzt empfing.

»Nichts.«

Er war von der Entdeckung, die er eben gemacht hatte, höchst unangenehm berührt, obwohl er darauf hätte vorbereitet sein müssen. Dieser Alf Duncan war nicht der Mann, der ahnungslos in seinen vier Wänden saß, wenn solche Dinge geschahen. Aber wo trieb er sich herum, und was mochte er wieder Neues erfahren haben?

Mitten in diese quälenden Fragen knallte ein Schuß.

Es ließ sich nicht bestimmen, woher er gekommen war, aber er mußte in allernächster Nähe abgefeuert worden sein. Und draußen auf dem Gang hatte es einen kurzen harten Aufschlag gegeben.

Der Chefinspektor und der Arzt waren mit einem Sprung aus dem Zimmer, aber der Korridor lag verlassen und still. Nicht einmal William war mehr zu sehen. Erst nach einer halben Minute wurde rückwärts im Seitengang eilig eine Tür zugeschlagen, und der Geschäftsführer kam verstört angehumpelt. Sein Fuß schien wieder bedeutend schlechter geworden zu sein.

Perkins lief zur Stiege und lauschte in die Halle, aber auch dort rührte sich nichts. Er kam mit einem ratlosen Kopfschütteln zurück; vor der Tür Mr. Gwynnes gab es ihm jedoch plötzlich einen Ruck, und er blieb lauschend stehen.

Dann warf er sich mit einem gewaltigen Anlauf gegen das Holz, und der Arzt, der sofort begriff, unterstützte ihn.

Das Ächzen und Stöhnen im Zimmer war nun deutlich zu hören, und als die Tür aufsprang, wand sich der Künstler in einer großen Sterbeszene auf seinem arg zerwühlten Bette. Er war diesmal nicht mit seinem pompösen Schlafanzug angetan, sondern mit einem ganz gewöhnlichen Seidenhemd, von dessen rechter Schulter sich ein großer schauriger Blutfleck abhob. Mr. Gwynne lag bleich und mit geschlossenen Lidern in den Polstern und ließ kraftlose, aber ergreifende Schmerzenslaute hören.

Der junge Arzt besann sich nicht lange, sondern riß ihm das Hemd herunter, und an Mr. Gwynnes Oberarm zeigte sich eine Wunde, in die man gut einen Finger legen konnte.

Aber kaum hatte der Arzt sie besehen, als er die flachsblonden Brauen in dem gesunden Gesicht hochzog und die Lippen spitzte. Und dann begann er den tiefen Fleischriß mit seinem Besteck so gründlich zu sondieren und zu reinigen, daß der Mime die dramatischen Töne sein ließ und wie ein ganz gewöhnlicher Komparse zu wimmern und zu schreien anfing.

»Führen Sie wegen dieses lächerlichen Kratzers nicht so ein Theater auf«, polterte Perkins los. »Was ist also geschehen?«

Der große Künstler erwachte mit einem erschreckten, verlorenen Blick, schien aber endlich doch verstanden zu haben, denn er richtete sich halb auf und deutete mit einer großen Geste erst nach dem Fenster, dann auf seinen Arm und schließlich nach der Tür.

Perkins folgte der abgerundeten Pantomime und betrachtete sich dann die zersplitterte Fensterscheibe und das runde Loch im Türstock. Das Geschoß war ziemlich tief eingedrungen, und davon war wohl der Aufschlag gekommen, den man draußen im Gang gehört hatte.

»Sie haben also die Jalousien nicht unten gehabt?« fragte er, indem er Platz nahm und sich sichtlich zu einem längeren Verhör einrichtete. »Und wo haben Sie gestanden? – Zeigen Sie mir die Stelle, aber ganz genau!«

Mr. Gwynne schnappte so verzweifelt nach Luft, daß der Arzt sich ins Mittel legte.

»Ich wäre dafür, Mr. Perkins«, sagte er sehr nachdrücklich, »dem Patienten vorläufig eine Weile Ruhe zu gönnen. Er ist durch den Blutverlust bedenklich geschwächt.«

Der Patient lohnte dem Arzt diese Fürsorge durch einen unendlich dankbaren Blick, der Chef Inspektor aber brummte etwas und schien bockbeinig werden zu wollen. Erst als er die wieder einmal hochgezogenen flachsblonden Brauen bemerkte, räumte er verdrießlich das Feld.

Draußen nahm ihn der Arzt unter den Arm und spazierte mit ihm an dem völlig erschöpften William vorbei nach vorn bis ans Ende des Korridors.

»Bevor Sie den Mann ins Gebet nehmen«, flüsterte er dort fast unhörbar, »möchte ich Ihnen einen Wink geben. Auch bei dieser Sache stimmt nämlich etwas nicht. Der Schuß ist allerdings gefallen, denn wir haben ihn ja gehört und seine Spuren auch gesehen – aber die Wunde da drinnen rührt sicher nicht davon her. Die ist mindestens schon eine Stunde alt. Sie begann bereits leicht zu verkrusten, ist aber dann durch irgend welche Reizung wieder zum Bluten gebracht worden.«

»Hi . . .«, stieß Perkins unartikuliert hervor und fuhr sich verzweifelt an den wirbelnden Kopf. Und dann sperrte er noch den Mund auf und starrte auf die Gestalt, die lautlos über die Treppe heraufgekommen war.

Der Arzt aber hatte die flachsblonden Brauen plötzlich mitten in der Stirn und sagte nur: »Hallo . . .«

Alf Duncan empfand diese Aufmerksamkeit nicht sehr angenehm, denn er sah recht zerknüllt, verschmutzt und ungepflegt aus.

Deshalb hatte der Chefinspektor auch kein Glück, als er ihn krampfhaft an der Brust faßte und lossprudeln wollte.

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, Mr. Perkins«, sagte der Gentleman, indem er sich freimachte, »daß ich nie zu sprechen bin, bevor ich nicht gebadet habe und rasiert bin. Und dann muß ich auch noch gefrühstückt haben. – Wollen Sie sich also vielleicht darum bemühen . . .«

Damit verschwand er in seinen Zimmern; der Chefinspektor aber bemühte sich mit solchem Eifer, daß er den schlotternden William fast die Treppe hinunterwarf, damit es mit dem Frühstück nur ja so rasch wie möglich ginge.


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