Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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19

»Also?« fragte Chefinspektor Perkins gespannt, indem er auf die Uhr blickte.

Er war seit Mittag kreuz und quer um Blackfield herumgerannt und saß nun an einem der Tische vor dem Gasthaus bei einer Flasche Bier. Der Strom von Neugierigen war zum größten Teile schon wieder verschwunden, denn es ging bereits gegen fünf. Aber einige Wagen standen immer noch auf dem Parkplatz, und hier vorn führten einige Bauern aus der Umgebung eine lebhafte Debatte.

Die Frage galt dem Sergeanten, der eben im Schnellschritt von der Chaussee kam.

»Nichts, Sir«, meldete der Mann. »Weder hier noch in den angrenzenden Bezirken ist in der letzten Zeit ein Auto gestohlen worden. Der Wagen könnte also nur von London gekommen sein «

»Gut«, sagte Perkins befriedigt, denn wenn der Bericht anders gelautet hätte, wären seine Annahmen ins Wanken geraten. »Das werden wir schon herausbringen.«

Er sah den Sergeanten mit verkniffenen Augen an, weil dieser eine leichte Bewegung mit den Schultern machte.

»Verzeihen Sie, Sir«, entschuldigte sich der Mann etwas verlegen, »aber die Sache erinnert ein bißchen an den ersten Fall. Da konnte bis heute nicht einmal die Persönlichkeit des Verunglückten festgestellt werden. Er war nämlich in seinem kleinen Wagen fast völlig verbrannt.«

»Die Fälle – richtig«, sagte der Chefinspektor. »Was wissen Sie darüber?«

Der diensteifrige Polizist wußte alles und nahm zu seinem fließenden Berichte nur die Finger zu Hilfe.

»Also, dieser Mann war der erste. Das war am 17. Mai, und dann folgte ein Unfall dem andern. Am 25. Mai verunglückte an derselben Stelle Mr. Gluck, ein Grundstücksmakler aus Rugby, am 3. Juni ein Fabrikant aus Birmingham namens Sloman, am 11. Juni ein Mr. Trencer aus Warwick, am 24. Juni der Anwalt Lynde aus Leamington und am 8. Juli der Bauunternehmer Newman aus Leicester. Aber in diesen Fällen haben die Erhebungen keine Mühe gemacht. Alle diese Herren hatten sich nämlich hier im Golfhaus aufgehalten, bevor sie nach London weiterfuhren.«

»Mitten in der Nacht und allein?« fragte der Chefinspektor, der mit geschlossenen Augen zuhörte.

»Ja – immer so nach zwölf Uhr. Und alle haben ihren Wagen selbst gefahren.«

Perkins klopfte schweigend seine Pfeife aus und füllte sie von neuem.

Der Geschäftsführer, der schon wieder herumlungerte, hatte sich den Rüffel seiner Herrin wenigstens so weit zu Herzen genommen, daß er beflissen mit Streichhölzern herbeigestürzt kam.

»Sie haben also mit Dan Kaye gesprochen«, wandte sich der Chefinspektor unvermittelt an ihn, indem er die Pfeife anpaffte. »Wissen Sie vielleicht etwas darüber, zu welchem Zweck er sich hier draußen herumgetrieben hat?«

»Nein, darüber ist mir nichts bekannt«, erklärte William, und seine Sprechweise war genau so schläfrig, wie seine ganze Art. »Ich habe mit ihm auch nur einige Worte wegen der Zeche gewechselt.«

»Wie lange war er hier?«

Der Geschäftsführer überlegte einen Augenblick.

»Er war zweimal hier«, erklärte er dann und hielt sich diesmal streng an die Wahrheit. »Das erste Mal kam er so gegen vier Uhr und ging, als es dunkel wurde. Es dürfte kurz nach sieben gewesen sein.«

»Wohin?«

»Soviel ich sah, gegen den Ort zu. Ich habe ihm nur einige Schritte nachgeblickt, um zu beobachten, ob er sich auf den Füßen halten könne. Er hatte nämlich sehr hastig und sehr viel getrunken. – Aber vielleicht weiß Mr. Gwynne etwas mehr«, fügte er so nebenbei hinzu. »Er ist einige Minuten nach dem Mann denselben Weg gegangen.«

Perkins hob den Kopf.

»Gwynne? – Wer ist das?«

»Einer unserer Gäste. Er hält sich schon längere Zeit hier auf.«

Perkins blickte fragend auf den Sergeanten, und dieser nickte lebhaft.

»Jawohl, Sir. Mr. Gwynne ist ein berühmter Schauspieler aus London.«

»So.« Der Chefinspektor wandte sich wieder an William. »Und wann ist also Dan zum zweiten Mal gekommen?«

»Ungefähr nach einer Dreiviertelstunde.«

»Ungefähr nach einer Dreiviertelstunde . . .«, wiederholte Perkins und schob die Hand in die Westentasche.

Er zog sie aber erst wieder hervor, nachdem er den Geschäftsführer durch einen Wink etwas kurz und plötzlich verabschiedet hatte. Und dann tat er eine Frage, die den Sergeanten verwundert dreinschauen ließ.

»Wer wohnt im Buschhause?«

»Niemand, Sir«, erklärte der Mann mit großer Bestimmtheit. »Es steht schon seit langem leer. Früher hat einmal der Aufseher des Steinbruches, der gleich daneben liegt, dort gewohnt, aber der Betrieb ist aufgelassen worden. Seither habe ich niemand mehr in dem Haus gesehen, obwohl ich ziemlich häufig vorüberkomme. Es führt nämlich dort der kürzeste Weg zum Grafschaftsamt vorbei. Das heißt, von einem Wege ist keine Rede, sondern man muß hinter dem Golfhaus einen steilen Hang hinunterklettern. Aber man erspart gute zwanzig Minuten, und manchmal hat man es ja sehr eilig.«

Der Chefinspektor schien nur mit halbem Ohr zuzuhören. Er starrte auf den schmierigen Zettel, den er zum Vorschein gebracht hatte, und drehte ihn nach allen Seiten.

»Das ist die Handschrift einer gebildeten Frau«, sagte er endlich, indem er seinen Gedanken laut Ausdruck gab. Dann wandte er sich wieder an den Polizisten. »Sehen Sie sich also beim Buschhaus doch einmal ein bißchen genauer um. – So am Abend dürfte vielleicht die richtige Zeit sein.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte die diensteifrige Sergeant, ohne den Zusammenhang zu begreifen und ohne zu ahnen, was dieser Auftrag für ihn bedeutete.

Der elegante Wagen, der in derselben Minute von der Chaussee auf den Parkplatz einbog, trug die Spuren einer scharfen Fahrt, und Perkins schnitt ein säuerliches Gesicht. Er hätte viel darum gegeben, zu wissen, wo dieser verwünschte Alf Duncan sich eben wieder herumgetrieben hatte, aber als er zur Garage schlenderte und eine beiläufige Frage tat, wurde er sehr kurz abgefertigt.

»Ich habe eine kleine Rundfahrt gemacht«, erklärte der junge Mann unbefangen und wandte sich dann an William, der mit dem Garagenschlüssel herbeigeeilt war. »Gibt es hier jemanden, der den Motor nachsehen könnte? Es scheint irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, und ich möchte mich nicht gerne selbst damit herumschmieren.«

Der Geschäftsführer sah etwas verlegen drein.

»Einen richtigen Monteur haben wir leider nicht«, gestand er. »Aber der Wagenwäscher kennt sich ein bißchen aus, und wenn es nichts Besonderes ist . . .«

»Nein, danke«, lehnte Duncan entsetzt ab. »Da versuche ich es lieber mit dem nächsten Tierarzt.«

Er brachte das Auto unter, und als er wieder herauskam, blickte er nach der Terrasse hinüber. Plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus und straffte unternehmend sein Jackett.

»Was gibt's?« fragte Perkins neugierig und etwas unbehaglich.

»Eine Gelegenheit, eine Hundertdollarnote in englische Pfunde umzusetzen«, bekam er über die Schulter zur Antwort und war davon so betroffen, daß er dem jungen Mann mit gerecktem Hals nachstarrte.

Miss Reid erkannte Duncan schon von weitem, und ihre Unruhe steigerte sich noch mehr, denn sie wußte nicht, wie sie diese überraschende Begegnung deuten sollte.

Sie war vor ungefähr einer Stunde mit Fielder herausgekommen, hatte aber bisher nicht daran denken können, irgend welche Nachforschungen wegen Charles anzustellen. Ihr Chef wich ihr nicht von der Seite, und sogar bei der Besichtigung ihres Zimmers hatte er sich angeschlossen. Dabei war er keineswegs unterhaltend, sondern beschränkte sich darauf, hie und da eine nichtssagende Bemerkung zu machen. Die übrige Zeit schmatzte er mit der wulstigen, blutleeren Unterlippe oder trommelte leise auf den Tisch.

Miss Reid wurde von Minute zu Minute nervöser, und ihre Augen gingen in fieberhafter Aufregung ununterbrochen umher. Sie erwartete jeden Augenblick Charles auftauchen zu sehen oder wenigstens eine Erklärung für sein rätselhaftes Verschwinden zu erhalten. Daß sein Name in der Sache mit Dan Kaye nicht genannt wurde, hatte sie keineswegs beruhigt, sondern ihren Befürchtungen nur eine andere Richtung gegeben. Und als sie nun plötzlich gerade hier auf Alf Duncan stieß, verstärkte sich ihr Verdacht, und ihre bange Sorge wandelte sich mit einem Mal in erstickende Wut. Man schien also wirklich ein falsches Spiel mit ihr getrieben zu haben. Sie erinnerte sich an den Auftrag, den sie dem Abenteurer erteilt hatte, und war überzeugt, daß sein Aufenthalt in Blackfield damit in Zusammenhang stand. Daß der Mann nicht so harmlos war, wie er tat, und daß er mehr wußte, als ihr lieb sein konnte, darüber war sie sich seit der gestrigen Unterredung völlig im klaren. Die Erwähnung der »blonden Elster« und »ihrer ehemaligen Kollegin, die es noch besser getroffen haben soll«, war zu deutlich gewesen. Der Mann ging offenbar auf eine Erpressung aus und hatte wohl deshalb die Nachforschungen wegen Miss Longden sehr entschieden betrieben. Und dabei war er anscheinend hierher gelangt.

Gut, ihr war für die Abrechnung jeder Bundesgenosse recht.

Miss Reid biß die Zähne zusammen, Und ihre Hände krampften sich um das Tischtuch. Charles Barres sollte seiner Niedertracht nicht froh werden, selbst wenn sie dabei alles aufs Spiel setzte . . .

Alf Duncan war nicht der Mann, der seine Gönner vor der Öffentlichkeit verleugnet hätte. Er grüßte mit einem strahlenden Lächeln, als er die Terrasse betrat, und der kleine Mr. Fielder sperrte erstaunt den Mund auf. Dann rückte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her und trommelte etwas lebhafter als sonst.

»Ist das nicht . . .?« hauchte er endlich, und als Miss Reid kurz nickte, schüttelte er fassungslos und empört den Kopf.

»Unerhört . . . Ich glaube, da ist mit meinem Vertrauen und mit meiner Güte einmal arg Mißbrauch, getrieben worden. In ein paar Tagen wird man den Mann wieder wegen irgendwelcher Hochstapeleien festnehmen; – Wieviel haben wir ihm eigentlich gegeben?«

»Zwei Pfund«, sagte Miss Reid, ohne den Blick zu heben.

»Zwei Pfund«, wiederholte Mr. Fielder und sandte einen vernichtenden Blick zu dem eleganten Gentleman hinüber. »Ich schätze, das kosten allein seine Schuhe. – Natürlich bekommt der Mann nie mehr etwas. Merken Sie sich das bitte vor, Miss Reid.«

Er zog plötzlich die Uhr und klappte sie nach einem kurzen Blick geräuschvoll wieder zu.

»Ja, nun werde ich aber wohl aufbrechen müssen«, meinte er. »Nur den berühmten Golfplatz möchte ich mir rasch noch ansehen. Sie selbst werden ja noch genug Gelegenheit dazu haben, aber wer weiß, wann ich wieder hier heraus komme.«

Er hatte es plötzlich sehr eilig, und Miss Reid atmete auf. Aber eine Frage konnte sie nicht unterlassen.

»Und nach James Marwel wollen Sie sich nicht umschauen?«

»Nach James Marwel? – Was fällt Ihnen ein?« Es klang sehr gekränkt und vorwurfsvoll. »Wenn der Mann so undankbar ist, daß er nichts von sich hören läßt, so existiert er natürlich auch für mich nicht mehr.«

Mr. Fielder warf energisch den Kopf zurück und marschierte verstimmt von der Terrasse ab.

Der Weg zum Golfplatz führte etwa zweihundert Schritte vom Haus durch ein kleines Kieferndickicht, aber als Fielder es passiert hatte, blieb er wie angewurzelt stehen, da er mit offenen Augen zu träumen wähnte.

Erst die einschmeichelnde Stimme Duncans überzeugte ihn von der Wirklichkeit, löste aber nicht seine Starre.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie so überfalle«, entschuldigte sich der korrekte Mann, »aber ich wollte Sie unter vier Augen um eine Gefälligkeit bitten. Es ist aber nicht das, was Sie wahrscheinlich meinen, denn erfreulicherweise haben sich meine Verhältnisse in den letzten Tagen wesentlich gebessert. Sie werden das wohl auch schon an meinem äußeren Menschen bemerkt haben. Nur verfüge ich bloß über fremde Valuta, und da wollte ich Sie eben bitten, mir mit englischem Gelde auszuhelfen. Für hundert Dollar. Der Kurs war gestern rund 4.5, das wären also auch wieder rund zweiundzwanzig Pfund. Auf ein paar Schillinge mehr oder weniger kommt es mir wirklich nicht an, und ich bin daher überzeugt, daß Sie mir den kleinen Dienst gern erweisen werden.«

Er war davon so überzeugt, daß er seiner Brieftasche bereits eine Banknote entnommen hatte und sie nun dem völlig verblüfften Mr. Fielder ohne weiteres in die Hand steckte.

Aber das brachte den würdevollen kleinen Mann endlich wieder zum Leben.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich zu dieser Unverschämtheit sagen soll«, wisperte er. »Aber davon abgesehen – mit Geldwechseln befasse ich mich grundsätzlich nicht.«

Er reichte Duncan den Schein brüsk zurück, und dieser nahm ihn mit einem bedauernden Achselzucken wieder in Empfang.

»Schade.« Er schnippte mit dem Finger mehrmals gegen das Papier, und Mr. Fielder zuckte plötzlich zusammen. »Sie bringen mich nämlich wirklich in eine große Verlegenheit. Gewiß würde man mir das amerikanische Geld auch im Hotel wechseln, aber offen gestanden fürchte ich mich, Unannehmlichkeiten zu haben. Bei unsereinem setzt man ja immer gleich das Schlimmste voraus, und da augenblicklich Chefinspektor Perkins von Scotland Yard hier herumwimmelt, könnte es vielleicht überflüssige Fragen geben.«

Aber auch Mr. Fielder war plötzlich wißbegierig geworden.

»Woher haben Sie denn die Note?« forschte er, und sein Gesicht war noch um einen Ton grauer als sonst.

»Oh, Ihnen kann ich es ja sagen«, erklärte Duncan offenherzig. »Gewonnen. Wir haben in meinem Klub einen Ausländer ein bißchen gerupft.«

»Einen Ausländer, so . . .« Mr. Fielder holte seine Brieftasche hervor und begann bedächtig einige Scheine abzuzählen. »Zweiundzwanzig Pfund, sagten Sie, nicht wahr? Daß Sie meinetwegen in ernstliche Ungelegenheiten kommen, möchte ich nicht. Falls Sie daher noch so eine Dollarnote haben sollten . . .«

Er starrte Duncan mit seinen Fischaugen an, aber dieser schüttelte unbefangen den Kopf.

»Leider nicht«, erklärte er mit einem Anfluge von Bedauern. »Die hundert Dollar waren wohl das Letzte, was der Mann hatte.«

Einige Minuten später schlängelte sich Alf Duncan wieder aus dem Dickicht, und sein erster Blick galt der Terrasse.

Miss Reid kehrte eben mit einem Stoß Zeitungen zu ihrem Platz zurück, und nun tauchte auch William auf, um die verlassenen Tische in Ordnung zu bringen. Er besorgte das Geschäft etwas zerstreut und oberflächlich, und als er an den Tisch Duncans kam, war er unschlüssig, ob er das noch halb volle Geschirr abräumen sollte. Schließlich begnügte er sich damit, an dem Gedeck herumzuschieben und dabei den kleinen gefalteten Zettel, der neben der Tasse lag, verschwinden zu lassen.

»Entschuldigen Sie, mein Freund, aber ich bin noch nicht fertig«, sagte in diesem Augenblick eine leise, freundliche Stimme hinter ihm, und sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse, weil ein eiserner Griff sein Handgelenk umspannte.

»Danke«, sagte der junge Gentleman mit einem liebenswürdigen Kopfnicken, als das kleine Papier plötzlich wieder auf dem Tisch lag, aber der ungeschickte Geschäftsführer blickte so verwirrt und verständnislos drein, daß er einem leid tun konnte.


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