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Erster Teil

I

Alfred Dawidowitsch, ein neunzehnjähriger Gymnasiast, Sohn eines kleinen Getreidehändlers (die Mutter war schon vor fünf Jahren gestorben), hatte am 15. Juli 1910 das Abiturientenexamen mit allgemeiner Auszeichnung bestanden. Er ging am Nachmittag dieses Tages in ein Tabakgeschäft, um sich zur Belohnung eine Schachtel besonders guter Zigaretten zu kaufen.

Vor der Tür des Tabakladens kam ein junges Mädchen vorbei, eine weiße gestrickte Jacke, weiße kleine Hände schimmerten vorüber, der weiße Widerschein einer sanft gewölbten Brust verwehte im Raum. Als Alfred auf die Straße kam, schien ihm die Welt verdunkelt. Aber das junge Mädchen stand noch da, es stand an der Ecke und zögerte, ging den Weg zurück, ihn streifend mit großem Blick. Alfred war tief erregt, aber sein Mund lächelte, seine Augen blickten klug und skeptisch, er wandte sich zu ihr, nahm sie mit sich.

Die Straße lag halb im Schatten einer großen Kirche. An der Ecke stand ein bloßfüßiges Kind, das Akazienzweige verkaufte. Sie waren müde, halb verwelkt, aber ihr Duft jubelte immer noch. Alfred kaufte ein paar Blüten, aber während er sie bezahlte, hatte er Angst, das schöne Mädchen könnte fortgegangen sein, verschwunden wie ein Stein in einer der zahllosen engen Straßen der Stadt. Plötzlich hatte er Angst... Aber das Mädchen wartete, lächelte zu ihm empor und zog langsam seine weißen Zwirnhandschuhe aus, um die etwas feuchten Blumen in die Hand zu nehmen. Rührung zuckte durch sein Herz. Er sprach zu ihr, nicht mehr gewollt skeptisch und unbedingt erobernd wie vorher, sondern menschlich warm. Sie antwortete schüchtern, mit leiser Stimme, indem sie zu ihm hinaufsah. Ihr Lächeln war zart, ihre Stimme klang so beschwingt, selbst wenn sie nur von Alltäglichkeiten sprach.

Wenn er neben ihr ging, fühlte er, daß sie glücklich war. Aber er beneidete sie nicht. Sie war der erste Mensch, den er nicht beneidete. Nach glücklichen Menschen hatte er sich gesehnt, nach solchen, die er anbeten durfte.

Es graute ihm vor unglücklichen Menschen, ein fürchterliches Gefühl war es ihm, wenn er auf der Straße einem weinenden Fabrikmädchen begegnete, das sein tränenüberströmtes Gesicht in einer roten, kattunenen Schürze verbarg und die schluchzende Brust gegen die dunkle Rinde eines Baumes gedrückt hielt.

Nur eine Stunde lang ging er neben diesem immer noch fremden Menschen. Aber während aller anderen Stunden dachte er an sie, hob sie, die Willenlose, in das Strahlende seiner Phantasie empor, betete sie an, riß sie an sein Herz und sehnte sich nach ihr, wie man sich nach Gott, aber nicht nach Menschen sehnt.

Aber sie wich langsam vor ihm zurück. Am ersten Tag war sie ihm näher gewesen als jetzt. Nun antwortete sie kaum auf seine Fragen und nahm nichts von ihm an. Das Ananasgefrorene, das er ihr bringen ließ, berührte sie nicht. Ein Ausdruck von Ekel jagte über ihr Gesicht und stieß ihn ab, wie mit Fäusten. Sie merkte es nicht. Auf dem Heimweg überließ sie ihm ihren Arm. Sie sprach leise; er beugte sich zu ihr herab, sanft, wie von ferne streifte ihr Haar seine knabenhafte Stirn.

Er bat sie, ihm du zu sagen. Aber sie schwieg. Er bezwang sich, er bezwang sie, legte ihr das Du an, so wie er einem Hund einen Maulkorb angelegt hätte.

Sie ließ sich das sanfte Wort gefallen, das plötzlich wie eine gemeinsame Straße unter ihren Füßen dahinlief. Aber sie sagte immer wieder »Sie«, immer wieder benahm sie sich demütig, dienstmädchenhaft, und er schämte sich für sie.

Niemals hatte sie viel Zeit. Einmal wartete die Mutter, einmal die Schneiderin mit einer Anprobe. Es waren immer nur halbe Stunden, die sie übrig hatte. Und doch waren Augenblicke darunter, die rätselhaft schön waren, weil ihre Schönheit ihn, den Willenlosen, überwältigte wie eine starke Musik, wie eine Narkose. Dann wollte er nur fort, nur wegrücken von ihr, wie von einem allzustark geheizten Ofen. Er erinnerte sich ihrer mehr als bescheidenen Herkunft, ihres Namens, der zwar anmutig, aber doch von Grund aus ärmlich war, ihrer banalen Arbeit, die sie für Menschen leistete, die nicht einmal ihren Namen kannten. Alles warf er ihr in versteckten Worten vor. Leise begann er sie zu verachten; aber schon bereute er das Unausgesprochene, schon stieg Mitleid mit ihr in ihm auf, er wollte ihr seine Neigung durch tausend kleine, zarte Züge beweisen. Aber sie verstand ihn nicht. Sie verkroch sich vor ihm, und er wußte nicht, welchen Namen das hatte, was er erlebte.

An einem dieser Abende mußte sie um neun in der Landwehrkaserne sein, wo ihre Freundin, die Tochter eines Feldwebels, auf sie wartete. Sie hatte versprochen, einen alten Strohhut neu zu garnieren; es machte ihr als Putzmacherin Freude, einmal die Bänder und Blumen nach ihrem eigenen Geschmack aufzustecken.

Lange gingen sie vor dem Portal der Kaserne hin und her. Der Abend war mild. Es wartete die Dämmerung. Die Retraite klang. Beim dritten Ruf überschlug sich die Trompete. Dann wurde wieder alles still.

»Könnte ich dich doch nur einmal küssen«, dachte er. »Aber ich liebe dich doch nicht. Warum kann ich dich nicht lieben?«

»Wollen Sie morgen wieder auf mich warten?« fragte sie. Ihre Stimme war sonderbar warm. Immer war das letzte Wort das wärmste.

Sie verschwand im Dunkel der Kasernengänge. Es schien Alfred, als hätte sie jemand dort erwartet. Er ging langsam fort. Die Frauen der Unteroffiziere kamen ihm entgegen. Einem kleinen Mädchen brannten Mohnblumen in der Hand. Aus der kellerartigen Kantine wehte Gesang und Lachen empor. Eine Geige zog ein Lied in endlose Töne, so daß man die Melodie nicht mehr erkannte. Die Dämmerung spielte draußen, unendlich weit war die Welt. Ganz leise war das Leben, zögernd kam die Freude, von rückwärts kam sie zu ihm, holte ihn ein, sanft atmend. Es konnte ja nicht anders werden als gut! Er sehnte sich dem kommenden Tag entgegen, diesem ersten freudevollen Wiedersehen, diesem Augenblick des Ausruhens nach der Prüfung, die seine langen Sorgenjahre abschloß.

Wie unendlich war die Welt belebt! Strahlten nicht alle Menschenaugen ihm entgegen? Leuchtete nicht ihm, ihm vor allem, jedes gute Menschenlicht, heute noch fremd, morgen schon vertraut.

Er dachte an sie. Zum erstenmal dachte er an einen Menschen, der einen Namen hatte, von dessen Gesicht er träumen konnte, um dann zu erwachen, und zu wissen, sie hat in meinem Traum gelebt!

Er sah stille Tage vor sich, ganz in Glück zu Ende gelebt, weite Reisen nach überseeischen Ländern als Schiffsarzt, als Entdecker unbekannter, fürchterlicher Bakterien –, und plötzlich sah er sich selbst verwandelt: nun war sein Blick der eisige, unüberwindlich starke Blick des Aeroplanfliegers, seine Hand die dunkle, straßenbestaubte Hand des Automobilfahrers, die er beneidete. Er ging als Arzt zwischen den Menschen umher, über die Menschen dahin, als kalter, ganz zusammengekrampfter Mensch, im weißen Mantel, ein kleines, blutiges Messer in der rettenden Hand.

Er, der sonst die matten Morgenstunden so gern verträumte unter leisen Gewissensbissen, welche die heimatliche Ruhe und Wärme des Bettes nur noch ruhiger und wärmer machten –, er zwang sich dazu, am nächsten Tage noch vor Sonnenaufgang aufzustehen, nun wanderte er durch die leeren, blassen, widerhallenden Straßen der Stadt bis zu dem weißen Hospital, das weit draußen in einem Vorort lag.

Vor dem Portal hielten Leiterwagen, die bis zum Rand mit fahlem Stroh gefüllt waren. An der Deichsel schaukelte eine drahtbezogene Laterne, die rauchte. Braune bärtige Männer knüpften die Leitseile struppiger Bauernpferde an den Kutschbock und hoben dann wimmernde kleine Kleiderbündel aus dem Stroh des Wagens hervor.

Oder es stürzten junge Ärzte in der Hast plötzlichen Erwachens aus dem toten Haus, untersuchten mit unsicheren Griffen alte vertrocknete Frauen, die, auf der Wagenbank lang ausgestreckt, stöhnten, sich kaum rühren konnten, und aus deren knorrig verschlungenen, halb erstarrten Händen doch eine wilde Abwehr gegen Krankheit und Tod herausschrie.

Man beachtete Alfred nicht. Aber er beachtete alles. Alles war Leben, alles war Bewegung, alles, Dinge und Ereignisse, drang auf ihn ein, und hob ihn empor. Ein eigentümlich schwerer Duft, der ihm süßer schien als der Duft frühlingsdurchsonnter Blumenbeete, schlich über die matterhellte Schwelle des Krankenhauses. Matt schimmerten die Fliesen des Fußbodens, von Lysol übergossen. Drei blanke, allzubreite Fenster eines Saales leuchteten; in den erwachenden Morgen brannten warme, goldige Kreise von elektrischen Lampen hinaus. Alfred ahnte Grauenhaftes, das ihm doch herrlich war. Leben und Sterben kämpften, es floß Blut, hier, hier vor ihm, Stille atmete, an des kleinen Messers Schneide hing die Unendlichkeit der Welt.

Ruhig, unerschütterlich standen die Silhouetten dunkler Köpfe in dem grauen Licht der Morgendämmerung, in dem goldenen Licht der elektrischen Flammen.

Schweigen war, kaum Kleiderrauschen, nur Fall von Tropfen weither und Scharren von Hufen irgendwo, durch Stroh gedämpft.

Er ging langsam fort, berauscht, überwältigt.

Eine kleine, unscheinbare Tür öffnete sich hinter ihm, ein niedriger Wagen schlüpfte hervor wie eine Eidechse aus einem Erdloch. Es war ein schwarzes eisenbeschlagenes Wägelchen von der Art, wie sie zum Transport des Eises in die Brauereien verwendet wurden. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Hurtig rollte der Wagen über die sandige Straße, dem unfernen Kirchhofsportal zu; klirrend sprang er über Steine, der Kutscher fluchte, während er auf seinem Sitz schwankte.

Nun wußte Alfred alles, alles. Es zuckte sein Herz. Aber davon wissen, das hieß, sich nicht mehr davor fürchten. Jetzt glaubte er, ihm selbst könnte sein künftiger Tod nicht mehr das grauenhaft Schreckliche, krallenhaft Zupackende sein, das es den anderen war. Er hatte den Tod in der Hand, wenn auch nur von fern.

An diesem Abend reiste der Vater ab. Es war eigentlich keine Reise, sondern etwas, das man »die Tour« nannte. Ein ziemlich kreisförmiger Weg, mit einem kleinen Getreidegeschäft als Mittelpunkt. Die Reise hatte kein Ziel, aber man konnte doch glücklich oder unglücklich zurückkehren. Leben war in jedem Geschäft, Leben war in jedem Tag und Tod drohte überall. Auch an diesem Abend konnte man Abschied nehmen. Er ging zur Bahn. Der Vater erkannte nicht den Sohn. Seine kurzsichtigen Augen drangen nicht durch die staubige Dämmerung. Gebückt und arbeitsmüde schritt er neben einem dicken, berlockenklingenden Menschen einher, beide redeten laut, häufig zu gleicher Zeit, und es berührte den Sohn eigentümlich, daß der fremde Herr seinem Vater »Man kann so – und man kann auch so ... Nu, nicht, mein lieber Dawidowitsch?« sagte.

Unbemerkt verschwand er. Eine dunkelblaue Nacht lag über der Stadt. Über einen schwarzen Viadukt rollte ein Zug, verdröhnte in der Ferne. In den Gärten vor den Kaffeehäusern saßen Männer sommerlich im Rauche ihrer Zigarren, Frauenkleider rauschten über den Sand. Vor dem Theater wiegten die leeren Wagen auf eleganten Federn, alles wartete auf morgen, morgen erwachte die Welt!

Nun war das »Morgen« vorbei, vorbei auch die Stunde des Wiedersehens mit Poldi. Erst auf der Treppe wurde es ihm klar, erst auf der Straße bereute er sein ruhiges Warten, stieß wie mit Fäusten die dumpfe Atmosphäre zurück, machte sie von den Mauern der Häuslichkeit frei.

Jetzt, jetzt noch wartete sie auf ihn. Oder war sie doch fortgegangen? Aber dann kam sie zum zweitenmal zurück, unruhig in der unerfüllten Sehnsucht nach einer stillen Stunde unter dunklen Bäumen. Ihm war sie entgegengegangen, seinen ungeküßten Küssen entgegen, den gewohnten Weg entlang.

Und doch ahnte er, daß er sie heute nicht mehr wiedersehen würde. Aber er tröstete sich damit, daß sie mehr verloren habe als er selbst, daß sie sich mehr nach ihm gesehnt hatte, als er sich nach ihr. Schon war der Park von der sinkenden Nacht umfangen. Überall schimmerte Weiß: Mädchen lehnten matt in den Ecken der Bänke, glimmernd fielen die lichten Falten der Röcke herab; die dunkle Kleidung der Männer aber war eins mit der Nacht.

Weiß, kleine Mädchen mit gesenkten Köpfen, standen die Jasminbüsche am Rande von schweratmenden Wiesen, die noch von dem Wasser der abendlichen Gartenspritze getränkt waren.

Auf einem kleinen Kanal schwammen lautlose Schwäne, in weichen Furchen zog das Kielwasser dahin, und, wie eine Wange in eine gehöhlte Hand, ganz zart, schmiegte sich das safrangelbe Licht der Brückenlaternen in das Dunkel ihrer niedrigen Wellen.

Er hörte Schritte hinter sich. Arm in Arm gingen Menschen vorbei, die Köpfe sanft gegeneinander gelehnt. Von überall her wehte Flüstern heran. In der Ferne schrie ein Kind, hinter einer Hecke jagte erschreckend ein großer Hund. Alfred kehrte zur Brücke zurück. Der Klang der eisernen Zwinge eines Spazierstockes hallte ihm von der Brücke entgegen. Ein schlankes Mädchen trug den Stock in der Hand, während ihr Begleiter, ein dicker, kleiner Mann, ihren weißen, spitzenbesetzten Sonnenschirm am Arm schaukelte.

Alfred suchte Poldi überall, im Schatten der Bäume, am lichten Ausgang des Parkes, zwischen den Tischen des Sommerrestaurants, wo Familien und Liebespaare an lampenumleuchteten Tischen saßen. Ja, sie war eben erst an ihm vorbeigegangen, als er sich nach einer anderen umwandte. Warum war er zur Brücke zurückgekehrt? Sicherlich hätte er sie sonst am Rondell getroffen, denn dort hatte sie ihn stets erwartet. Nein, jetzt wußte er gewiß, daß sie unten an seinem Haustor stand, sehnsüchtig nach seinen Fenstern emporblickte, ob sie noch erleuchtet waren. Nein, alles war vergebens. Dieser Tag, der erste seines neuen Lebens, war der gequälteste seit langer Zeit.

Ein Wagen der elektrischen Bahn sauste vorbei. Alfred sprang auf, fuhr fort, ganz gleich, wohin. Dorthin, wo das Gefühl des vergeblichen Wartens verschwand. Er konnte dieses »Vielleicht« nicht ertragen. Draußen auf den nächtlichen Feldern erwartete ihn das Nein. Wie tat ihm das wohl! Das Mädchen wurde kleiner, je größer die Ebene in der Nacht wurde, je tiefer der sternenlodernde Himmel, je rauschender der Wald, je fremder die ganze Welt, aus Finsternis, wildem Kiefernduft, hartem Wurzelgestrüpp zusammengeballt.

Er wollte erst am nächsten Morgen nach Hause zurück. Er fürchtete die verlassene Wohnung und die einsame Nacht. Aber nach Mitternacht hellte sich der Wald auf, es verblaßte der Himmel, nach und nach erkannte er die Landschaft wieder. Nun kehrte er durch die Kühle des Morgens zurück. Die Wasserleitung tropfte immer noch. Eine ungeheure Müdigkeit schlug ihm in die Knie. Er fiel in seinen Kleidern in das Bett, schlief traumlos bis an den Morgen, aber selbst in den Schlaf schlich ihm ein schweres Gefühl nach, das Gefühl eines durch eigene Schuld vergeudeten Glückes.

Der nächste Tag erwachte klar, unsäglich leer.

Immer hatte er die Schule für eine Nebensache gehalten, nun konnte er nicht ohne sie sein. Die Stunden des Tages schleppten sich farblos dahin, als ziehe er immer wieder eine Uhr aus der Tasche, die nicht mehr ging. Am Spätnachmittag sehnte er sich, wieder zu dem Gymnasium zu gehen und auf seine Kameraden zu warten, die er beneidete. Sie waren von dem Ergebnis der Prüfung beglückt oder niedergeschmettert, auf jeden Fall aber waren sie von der Wichtigkeit des Augenblicks ganz durchdrungen, es war überschwengliche Jugend in ihnen, wie sie die steile Stiege herabrasten, mitten hinein in die wartenden Händedrücke der Mitschüler.

Abends traf er Poldi wieder.

»Warum haben Sie mich gestern so lange warten lassen?«

»Ich bin zu spät gekommen, Poldi, du darfst mir deshalb nicht böse sein. Glaube mir, ich konnte nicht. Aber was hast du dir gedacht, als ich nicht kam?«

»Ich? ... Ich glaubte, Sie hätten keine Zeit.«

Jetzt war es ein anderer Mensch, der neben ihm ging, ein ganz fremdes, unbelebtes Wesen, ein Material, eine Art Spazierstock, der zufällig reden und antworten konnte. Plötzlich fühlte er es unerträglich, so neben ihr weiterzugehen.

»Poldi ... du ... Warum liebst du mich nicht?«

»Ach ... Liebe, wer spricht denn mit Ihnen von Liebe?«

»Weshalb kommst du dann, wenn du mich nicht liebst?«

»Haben Sie keine Zeit mehr für mich? Ich dachte schon gestern, es wäre Ihnen zu langweilig.«

Nein, jetzt liebte er sie. Er wollte, er mußte sich ihr ganz geben, mit allen Gedanken, mit allen Wünschen, mit allem, was er hatte. Aber sie schwieg. Oder sie redete Gerede und ihre Antworten waren ärger als Schweigen.

Da begann er nach ihrer Seele zu angeln. Jedes seiner Worte ging in die Tiefe und wollte etwas Von ihr.

Nun konnte sie nicht an ihm vorbei. Und er, mit klugen, skeptisch blickenden Augen, bohrte sich mit jedem Ja oder Nein tiefer in ihr Inneres hinein, nun war er fest entschlossen, wenn es sein mußte, gewaltsam die Türe zu öffnen, die zu ihrer Seele führte. Er ahnte hinter ihrem unsagbar schönen, unsagbar kalten Gesicht ein anderes, das nackt war und zitterte.

Allmählich gab sie sich mit Worten hin. Sie beklagte sich über fremde Menschen, deren Namen er zum erstenmal hörte. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen. Sie war überrascht, schien gerührt. Und einmal faßte sie ihn bei der Hand und nannte ihn »einen besseren Menschen«. Sie berichtete von Krankheits- und Todesfällen in ihrer Familie, von einer Schwester Anny, die an einer Operation gestorben sei, dann tadelte sie bewundernd eine reiche Großtante, die ihr ganzes Vermögen den weißen Schwestern vom Heiligen Herz vermacht hatte, während die eigene Familie im hungrigen Elend lag.

Er bedauerte sie, nahm ihre kleinen Worte entgegen, streichelte ihre kleinen Hände, sie sah zu ihm empor, zum erstenmal gab sie ihm das »Du« zurück. Zum erstenmal stellte sie selbst eine Frage an ihn: »Weshalb habe ich dich nie früher gesehen?«

»Warum willst du es wissen? Glaubst du vielleicht, es wäre besser gewesen, wir hätten uns schon früher getroffen?«

Sie sah an ihm vorbei. Nie waren ihm die vorübergehenden Männer schöner, die Uniformen der Offiziere glänzender erschienen, nie hatte er stärker gefühlt, wie häßlich er war. Und sein eigener Neid tat ihm weh, ekelte ihn an.

»Hast du inzwischen ... Poldi, was hast du eigentlich erlebt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hast du jemanden geliebt? Einen Studenten? Einen Offizier? Warum hast du niemanden geliebt? Aber vielleicht hast du doch für jemanden geschwärmt? Sag doch, nur geschwärmt. In aller Unschuld ... Einige Tage lang. Hast du einmal einen lieb gehabt? Du hast doch sicher schon einmal jemand geküßt? ... Oder nein, er hat dich geküßt ... Nicht einmal geküßt? Sprich doch! Antworte mir doch! Mir kannst du alles sagen.«

»Es ist spät, ich muß nach Hause. Begleitest du mich noch ein Stück? Bitte! Aber du darfst nur bis zum Kapuzinerplatz mitkommen, meine Mutter wartet. Sie sieht oft abends aus dem Fenster. Sie darf nicht von dir wissen.«

Als er sie bis zum Kapuzinerplatz begleitet hatte, sagte sie ihm adieu. Aber nach einer Weile kam sie ihm nach, wortlos, schüchtern ging sie ein paar Schritte neben ihm und gab ihm nochmals die Hand, bevor sie ihn verließ.

Ihre kleine, weiche, leichte Hand war wie ein Kuß.


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