Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Absichtlich blind machte sich Alfred; im Patienten sah er alles, die feinste Anatomie der Zellen, den Harnstoffgehalt, die Rest-Stickstoffmenge in zehntel Prozenten berechnet; er durchleuchtete ihn geschickt mit dem Augenspiegel; er sah rot, und von den gebogenen, zarten Adern durchzogen das geheimnisvolle Schwarz der Pupille; doch war er blind, absichtlich blind, den Menschen erkannte er im Menschen nicht mehr.

Der Vater war ein wirklicher Mensch, für Alfred blieb er der einzige Mensch, der seelensgute, der stille Wohltäter. Er erlebte an seinem Vater: Stolz, Freude, inniges Gefühl, erfüllte Sehnsucht nach Liebe. Eine unantastbare, gesetzlich gesicherte Existenz breitete sich aus, die geachtete Zukunft unter den Bürgern, die felsenfeste Versicherung des Vaters: »Für wen arbeite ich? Nur für dich, mein Herzenskind. Und du sollst arbeiten und etwas werden, damit deine Kinder, so Gott will, es noch besser haben als du. Das soll mich der Allmächtige noch erleben lassen!«

Der Vater, der abends die fremden Börsenberichte erwartete, hatte einen Hof von Geschäftsleuten um sich versammelt. Er selbst sprach nur wenig, da ihn die ewige Heiserkeit immer noch belästigte; schmutziges Geschmeiß von Agenten und Zwischenmenschen umgab ihn, unzertrennbar waren zwei Geschäftsfeinde, schmutzige Geschäfte warf einer dem anderen vor.

Aiblhuber Raimund, ein unrasierter, schwarzbrauner, bescheidener Ökonom, stets die Biedermannspfeife mit Dreikönigstabak im knorpligen Mund, mußte hören, er hätte verfaulte Kartoffeln geliefert, die Waisen ausgeraubt als Vormund, die Felder den unmündigen Kindern für einen Pappenstiel abgeluchst, trotz seiner Million seine alte Mutter im Armenhaus verrecken lassen und auf Gemeindeunkosten begraben, nicht umsonst sei er der beste Klient des besten Advokaten, von Rechts wegen aber gehöre er ins Kriminal, ins Zuchthaus, auf den Galgen.

Aus Menschenliebe, antwortete Aiblhuber mit Phlegma, hätte Benedikt Baumöhl an Husarenoffiziere Ballettmädchen verkuppelt, aus Menschenliebe ihnen dann verrostete, aber »auf neu lackierte« Automobile als »was ganz Besonderes« angehängt, aus Menschenliebe sich selbst von den Alimenten der armen »Gspaßmadeln« Prozente ausbedungen?

Dann schwiegen beide, speichelten stillen Zorn, warteten einer auf des anderen Weggehen, spien vor Ungeduld im Zimmer umher. Der Vater sagte nichts, er horchte still, regte sich nicht; und als er schlafen ging, endlich befreit von dem menschlichen Ungeziefer Aiblhuber-Baumöhl, sagte Alfred hinter ihm her: »Armer Mensch!« Aber der zigarettenrauchende Maurer im Wasserbett war nur Fraktur des vierten Dorsalwirbels mit Blasenlähmung.

Ein siebzehnjähriges, blondes Mädchen wurde in die Klinik »eingebracht«, stumm ließ sie sich alles gefallen, weiß lag der weiße Körper auf dem blanken Tisch, dunkelblaue Augen durchrollten ängstlich den Saal, gelbe Lippen verbissen den Schmerz, vergeblich verbiß sie den Schmerz, vergeblich wollte sie »ja ganz pumperlgesund sein, nur an Kirschkern geschluckt haben ...« Der Professor, der Chefchirurg Georg Landstätter, tippte schon nach zwei Sekunden auf die richtige Diagnose: Blinddarmentzündung. Die Mutter war anwesend; sie wurde hereingerufen, die Kleine bettelte sie an um Milde; aber der Chirurg, den die Studenten nach einem Bericht im Tageblatt den General des Skalpells nannten, sagte, volkstümlichen Dialekt heuchelnd, zur Mutter: »Wie's wollen, liebes Frauerl; Ihre Klane is minderjährig, wenn's nicht für Operation sind, zwingen kann Ihnen niemand, holen's das Maderl in Gottes Namen übermorgen ab.« Die Alte lächelte beglückt, die Kleine strahlte. »Beim Leichentor«, fügte der General hinzu. Die Alte, erblassend, sagte nun nichts mehr, unterschrieb einen Revers und ging wieder auf den Korridor hinaus. Der General befahl: »Narkose!« Die Kleine wurde angeschnallt, über die Knie, leicht gewellt, kam ein breiter, schwarzer Riemen, an die Hände Handschellen, über den Mund ein kleines Stück Gaze, bläulich-weiß, in Nickelrahmen gefaßt, und im Licht der blendenden Luster tropfte der Äther aus brauner Flasche nieder als glitzernd spitzer, weißer Funke. Das Mädchen geriet in Aufregung, in kindliche Wut, sie spannte sich mit allen Fibern, wurde rot, zitternd erbebte der Tisch. Alfred wandte sich ab von ihrem Gesicht: aber schon stand der Professor, aufrecht, mächtig, groß, neben der flachliegenden Patientin, schon blinkte das Messerchen in seiner Hand, gehalten wie eine Feder, zart zwischen zwei Fingern. Die Kleine schrie, jammerte: »Jessas, die Schand! Na, servas, ich! ... A anständigs Madel! Gehst weg? Na, nicht schneiden, ich bin noch ganz wach, erbarmt sich niemand? Die Geistesgegenwart verläßt mi nöt, die Gegenwart ...« Dunkel verrollte das Jammern, in Lächeln löste sich ihr verzerrtes Gesicht, in ein Lächeln löste sich Alfreds verzerrtes Gesicht, aufatmete er tief, kirschrot blinkten irgendwo, im Nebel der wasserdunsterfüllten Tiefe: Fetzen, Fleisch und Blut, nur das Auge der Kleinen sah Alfred, ein großes Auge, immer noch geöffnet, das glänzte blau, ohne zu sehen, Minuten vergingen, Hunderte von Pulsschlägen, die er nicht hörte, nur fühlte, eingezwungen, herab, zu einem neuen Menschen, endlich fühlte er sich in ihm! Eine Woche später übergab der Professor die Genesende der glücküberstrahlten Mutter, einfach, ohne dramatische Gebärden; seit dieser Zeit glaubte Alfred unbedingt, felsenfest an die Chirurgie als an die einzige Wissenschaft von Mensch zu Mensch. Die Narkose, die Stunde Schmerz, die der herrlich starke Arzt dem Kranken, der Welt ersparte, war ihm das Höchste, das ein Mensch dem anderen geben konnte: konzentrierte Güte, schlagende Waffe gegen das Böse.

Alfred sah das Höchste in dem künstlichen Schlaf, dem künstlichen Glück, dem künstlichen Tod, Gott zu sein im Kleinen. Er war glücklich: Tat zu handeln, positiv zu leben. Er lernte narkotisieren, fand eine neue Methode, endlich brauchte man ihn. Hier in der chirurgischen Klinik rief man ihn mit Namen, endlich war er nützlich, notwendig, geliebt als Arzt.

Absolut zuverlässig, hinhorchend nach dem hauchenden Atem, in erzitternder Hand hielt er den Unterkiefer des Kranken, leise hinrollen fühlte er den Puls unter seinen Fingern, empor in Wellen sich bäumen in Angst, zur Ruhe sich dann senken im Schlaf. Die anderen schütteten nach der Vorschrift Dr. Eggenberges dünnen Äther, schweres Chloroform in Strömen, prahlten damit, auch den stärksten Mordskerl in fünf Minuten niedernarkotisieren zu können, aber schon mit fünf Gramm Äther, mit zwei Gramm Chloroform betäubte Alfred den Kranken, Säufer, die nicht niederzunarkotisieren waren, an denen Chloroform literweise abprallte, als tausendunderster Mordrausch (Mordrausch reizte sie nur zu Mord und Totschlag, die wunden Glieder mit böser Gewalt umherwirbelnd im zerwühlten Lager), Alfred nahm zart-energisch ihren Kopf zwischen seine Hände, versprach ihnen starken, sibirischen Branntwein: neugierig streckten sie die Nüstern hin nach dem betäubenden Gift, nach Alkohol, Äther und Chloroform in genauer Mischung; mit Lachen ahnten sie Schmerzlosigkeit und tiefe Betäubung voraus, aber zart-energisch hielt Alfred sie an der Grenze zwischen Bewußtsein und Tod-sein; den Einschlafenden, Niederstürzenden in die Dunkelheit flößte er wieder ein: Helle, Gegenwart, Gegengift! Die Augenlider zog er in die Höhe, schaukelte die tief erregte Seele in Schmerzlosigkeit, er wollte sie schmerzlos, seine Liebe zum Menschen, seine Angst vor Grauenhaftem, hier hauchte er alles aus, endlich war er am ersehnten Ort: endlich nickte er dem weißen Messerchen zu, das sich lautlos senkte, im dichten Wasserdunst des überhitzten Saales, rote Strahlen gingen auf und nieder, Tod und Leben kämpften miteinander, Alfred stand beim Kranken, die Narkosenmaske in der Hand.

Er wurde angeatmet von vielem Menschendunst, von Greisen mit eisgrauem Antlitz, von Mädchen, deren Haare schwer niederstreiften an seine Hand.

Zu dem schrecklichsten Dienst hatte sich Alfred gemeldet.

Bauchmuskeln, hart wie Eisen, schmerzhaft zum Entsetzen, allzu schwer war ihnen die leichteste Decke, allzu jammervoll war der Schrei der Menschen, den sie nicht schrien, fürchtend die Erschütterung des entzündeten Körpers beim ausgepreßten Schrei! Wie glichen sie den Hunden, bloß gelähmt, nicht betäubt, noch immer nicht betäubt! Aber schon hatte er den Kopf, die straff eingehöhlten Wangen zwischen seinen Händen, schon regnete er ihnen Müdigkeit, vertieftes Atmen, außergewöhnliches, goß über sie eine besondere Ruhe für diesen besonderen Schmerz.

Andere, im Starrkrampf eingespannt, gespannt aufs höchste, wie Eisen hoch knirschend im Schraubstock, suchten die letzte Rettung in der Amputation: selbst der General, ein alter Chirurg, blutgewöhnt, war erschüttert und sprach von schwer verstümmelnder Operation. Alfred durfte nicht erschüttert sein: emporgepreßt zu äußerst klarer Bewußtheit war der Geist der Tetanuskranken, schwer war es, sie zu betäuben, sie niederzuschaukeln in die schwarze Entspannung einer einzigen Stunde.

An den Betten der Tetanuskranken saß Alfred oft, im dunklen Zimmer waren sie aufgestellt, entrückt dem quälenden Licht, auf schwarzen Filzteppichen standen sie da, horchte Alfred hin nach dem Atem der Unglücklichen, noch ahnte er nicht Wirklichkeit in ihnen, nicht wirklicher erschienen ihm ihre kalten Stirnen als die braune, kalte Ätherflasche, die er in der Hand hielt, um Krämpfe zu stillen, zu ersticken, und die hell funkelte, selbst hier, in der matten Dunkelheit; Stunden durchwachte er: manche retteten sich, hohläugig durchwankten sie dann als glücklich Geheilte nach Wochen den Garten des Spitals, saßen auf Bänken, neben kranken Dirnen, den Ärmel, den unnützen, in einen Knoten verschlungen.

Die Erschütterung dieser Nächte trieb Alfred heraus aus seiner Deckung, zerstörte wie Säure die Sicherung: an Menschen prallte er an, durchwanderte, ermüdet vom Tag (immer noch nicht müde genug), nächtliche Straßen, aber blind blieb er mit Absicht, blind wollte er sein. Noch war er auf Rettung des schonungsbedürftigen Alfred bedacht, sehnte sich nach Distanz, nach anonymem Leben, sehnte sich, sagen zu können: »Man lebt so, so, es geht, ich bin zufrieden, natürlich, jeder hat sein Kreuz, aber es könnte schlechter sein.« Entgegengebäumt war sein Leben jeder bürgerlichen Ordnung, jedem anspruchslosen Vergnügen, jedem beglückenden Familienfrieden. Schauerlich war alles »Mensch«.

Schmerzen, schreckliches Schicksal, durch Krankheit zu Tode gemarterte Menschen gab es! Mit diesen Schmerzen betäubte er sich, mit diesen gemarterten Menschen verfinsterte er sich! Narkose übte er an Kranken meisterhaft, an weißen Betten in der Privatklinik saß er fleißige Nachmittage, am Schreibtisch schrieb er ihre Geschichte in medizinischen Ausdrücken.

 

Narkose übte er an Ludwig Lessing, dem Künstler seiner Zeit. Zerfressen sah er seine Eingeweide von unheilbaren Geschwüren; der General brach die Operation ab: »Hoffnungslos, schrecklich«, sagte der Assistent. »Gehn ma z' Haus, sagen wir, 's war nix«, sagte der Chefchirurg, ein altes Scherzwort ausbreitend über sein Gefühl.

Mehrfacher Millionär, Schönheit, Parforcereiter, Mann des Lebens, erste Größe seiner Zeit war Lessing: Sänger in weißer Don-Juan-Seide, Gesang, Wolke, vor ihm herschwebend, Genie und eisernes Glück, edel im reinen Gesicht, keusch in der schwarzen Spitzenkrause um den knabenhaften Hals, leuchtend in der Verwandlung der Bühnen aller großen Städte, leuchtend in aufatmenden Palästen, die, angetastet von seinem Ton, widerstrahlten von seiner Herrlichkeit: nun wurde ihm als Notoperation, als Witz, als humane Marter, auf dem Bauch ein künstlicher After angelegt, die Haut mit Vaseline eingerieben, die Verbände oft gewechselt, Eau de Cologne flaschenweise im Zimmer versprüht. Alfred war bei ihm, breitblättrige Zeitungen hielt er ihm über die Augen, die zitternd flatterten, Nachtschmetterlinge, gegen das dunkle Papier. Sehen durfte Lessing sich selbst noch nicht; aber man beruhigte ihn flink, Anbeterinnen brachten Rosen; schlanke Damen mit wundervollen Hüften, zarten Wellen, geheimer Wollust unter Seide, Duft und Wärme, drängten sich an Lessings Bett, streichelten die Hände des Kranken mit Orchideen, mit tropisch duftendem Gewächs. Alfred war bloß Luft, spanische Wand. Er wurde im Nebenzimmer gehalten, hatte parat zu sein bei Tag und Nacht. Nichts durfte Lessing sagen, daß er unheilbar sei; man ließ ihn im Vertrauen wissen, die Krankheit sei akut, aber heilbar und am nächsten Tage entschieden. Der nächste Tag ging »tadellos« vorüber, alles schien er zu glauben; eine Dame, flüsternd Zärtlichkeiten ohne Zahl, wünschte ihm Glück, aber er schüttelte sie ab mit sonderbarem Wort: »Gehn ma z' Haus, sagen wir, 's war nix.« Am nächsten Tag zerbitterte er sich in Ekel, als Kotballen mit dem Verband entfernt wurden, er bäumte sich zurück vor bösen Dünsten, vor grauenhaftem Geruch. Doch blieb er still, steil hügelte der Kiel der Brust in schnellem Atem. –

Nachts holte das Telephon Alfred aus dem Schlaf, heraus aus letzter, dunkelnder Decke. Lessing verlangte nach ihm, grellweiß im weiß lackierten Zimmer: wild zerfleischtes Gesicht, hervorgezerrte Zähne. Die kreischende Stimme riß durch die Luft Furchen, das Organ, früher Zauber der Welt, klang wie Ketten, über Steine gezogen.

»Wo bleiben Sie? Wozu sind Sie da? Nur her, nur her zu mir! Ich brauche Medizin!«

»Medizin? Der Chef hat nichts verordnet.«

»Ach, schweigen Sie! Ich habe Sie gerufen, nicht den Chef! Medizin!«

»Was heißt das: Medizin?«

»Tod! Morphium, lebenslängliche Narkose, Zyankali, was Sie wollen! Ich nehme die Konsequenzen auf mich, alles ist schriftlich niedergelegt. Es ist mein Wille. Ich bin volljährig, vollkommen bei Besinnung. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an! Für alle Unannehmlichkeiten werden Sie entschädigt, nennen Sie einen Betrag!«

»Unmöglich!«

»Unmöglich? Das sagen Sie mir

»Ihnen wie jedem anderen unserer Kranken.«

»Mir? Bin ich denn einer unserer Kranken? Mensch? So hören Sie doch, gehen Sie nicht fort, schlafen dürfen Sie doch nicht, schlafen lasse ich Sie nicht! Doktor, Herzenskind, Mensch! Nein, Sie hören nicht?« Im Katzensprung verließ er das Bett, eine weiße Figur, mit Bandagen den Leib umgürtet, an den Knien griff sie ein in Alfreds Gelenke, schleppte ihn gegen sich. Lessings Hände nahmen Alfreds Hände, führten sie zu seinem Verband, drückten sie an die Gegend der Wunde. Sein Blick war aufgerissen, staunender Hundeblick im Erwachen, seine Stimme, so hold im Ansatz: »So greifen Sie hin, rühren Sie mich doch an! Begreifen Sie mich! Begreifen Sie mich?«

»Nein.«

»Nein?« – – – Er erhob sich, schwankte fort; Pulver und gute Worte nahm er nicht. Tröstende Mühe ignorierte er.

Lessing aß nichts. Drei Tage verweigerte er die Nahrung. Am vierten Tag aber verlangte er ein ausgesuchtes Menü, bot Alfred mit zynischem Lächeln von einer mit Erdbeereis gefüllten Melone an: »Nein? Nein! Aber doch das?« Er legte ein Kuvert vor Alfred hin: »Ein kleiner Dank, dem Meister der Narkose!« Es waren vier Banknoten.

Acht Tage später reiste er ab, reiste, auf Monate prolongiertes Leben, nach der Riviera.


 << zurück weiter >>