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V

Er starrte sie an und sah sie, die Schlafende, grauenhaft sterben.

Sie mußte sich aus den weißen, unlängst frisch überzogenen Kissen mit aller Macht emporbäumen, ganz blaß, die schönen, goldenen Haare flüchtig mit Blut bespritzt, Blut nicht mehr allein am kleinen Finger, sondern in dunklen Klumpen in der ganzen Hand, welcher der Revolver längst entglitten war.

Nun aber sank sie wieder in den Kissen unter, tauchte auf, schlaff mit den Armen rudernd. Das zarte Oval ihres Gesichtes war zu einer bläulichen Kugel gedunsen, tief unter den gequollenen Augenlidern war das Leuchten ihrer Augen versteckt. Grüne, schleimige Algen zerrten an den langen, seidigen Wimpern, über allem lag Schlamm, aus den Nasenlöchern quoll immer noch emporgeatmetes Wasser hervor, mit Luftblasen vermischt.

Plötzlich aber sah er sie hingeschleudert. Und wie sie dalag, die kleine Hand unter den blonden Kopf gebreitet, war sie immer noch zart und rührend. Es war still, aber noch bebte das Stiegengeländer unter der Wucht ihres Sturzes. Einer, der kam, um sie retten, raffte ihre zerstörten Glieder zusammen, ihr zerschmettertes Köpfchen, in dem keine Stimme, kein Stöhnen mehr wohnte. Längst war alles verstummt. Stumm war sie, aber noch schrie aus allem, aus allem schrie wild ihr schmutziges, schlecht gehütetes Geheimnis. Die Maske »Anny« war von ihr fortgerissen, kein Mantel verdeckte mehr ihre Blöße. Ein Spitzel tauchte auf, schwarz gekleidet und klein, mit zudringlich tückischen Gebärden. Ein Leutnant beugte sich über sie, streichelte sie mit dem Worte »süßes Fratzerl« wie mit der Spitze seines Schnurrbartes. Zum Schluß scheuchte er sie aber doch fort, nicht wie einen ungezogenen Hund, sondern wie eine Katze, die nirgends eine Wohnung hat und in Gängen auf alten Kohlensäcken nächtigt.

Glückliche Menschen liebte er, solche, die er anbeten konnte. Nur glücklichen Menschen billigte er Leben zu, Schönheit, Übermut.

Wo war der überwältigend schöne Mensch, der in seinem Glück so mutige, nach dem er sich so unsagbar gesehnt hatte? Ein elendes, überallher verjagtes Geschöpf lag da, ein von allen getretenes Wesen war zu ihm hingekrochen und demütigte ihn, weil es von allen gedemütigt war.

Sie aber durchschaute alle sofort, köderte alle durch ihre Schönheit. Ihr Schweigen war raffinierte Berechnung, ihre Gleichgültigkeit hatte sein Innerstes, Heimlichstes aus ihm hervorgelockt. Sie drückte ihm die Hand, erwiderte ohne viel Zögern sein »Du«, küßte ihn, umarmte seine Knabenlippen mit ihren verlangenden Küssen, versprach ihm alles ... Und plötzlich warf sie sich nackt in sein Bett, ihre nackte Seele, ihren nackten Körper schleuderte sie in sein Leben, riß ihn an sich, um mit ihm zu sterben oder für immer ihm zu gehören, wenn er sie rettete.

Aber er wollte sie nicht retten.

Dieses sein Zimmer, seines Vaters Zimmer war kein Sanatorium, in das jeder eintreten konnte, um zu sterben. Es war eine Zumutung von Poldi, jetzt zu ihm zu kommen, nachdem sie schon der Kutscherkneipen überdrüssig war, müde des knorrigen Nachtlagers auf schlechten, roh zusammengeknüllten Kohlensäcken. Wie hatte sie ihn mit dem Schmutz ihrer Vergangenheit beworfen! Wo war ihre Unschuld, wo ihr Stolz, wo die Jungfräulichkeit der ersten Stunde?

Unschuld stellte er zwischen sich und sie. Nun war sie vergraben in Unglück und Verzweiflung. Er aber war gesund und frei.

Aber wie konnte er frei sein, wenn er sie immer noch in ihrem Winkel atmen hörte, ein fremdes Tier?

Die Berge jenseits der Stadt, die niedrige Mauer am dunkelgrünen Horizont schimmerten in bewaldeten Kämmen. Längst regnete es nicht mehr, und ganz weiß erhob sich der Mond über zusammengeballten Wolken. Die Schlote der Fabriken standen lautlos, schlank, in kleinen Zirkeln.

Über alles hin duftete die Luft, noch schwer vom Regen, der nicht mehr fiel, alles leuchtete in beseeltem Licht.

Alfred legte die Hände vor die schmale Stirn. Die Eisenstäbe des Gitters drückten ihn. Und doch träumte er; bevor er noch schlief, war er in Träumen von der Schule versunken. Alle Kameraden hatten ihn auf immer verlassen. Er selbst war ganz klein und mitleidsbedürftig, an seiner Statt ging der Vater in die Schule, schwer mit dem Musterkoffer beladen, der mit lateinischen Büchern angefüllt war. Er selbst war verschwunden, niemand fragte nach ihm. Der Tisch daheim war nicht mehr gedeckt, denn Andulka, das Dienstmädchen, mochte nicht für den Vater allein kochen. Mit Tränen in den Augen nahm sie sein Bett auseinander, um es auf den Dachboden zu tragen, um es vier Treppen hoch zu bestatten, während er selbst vier Treppen tiefer begraben war. Er weinte, als er aber erwachte, waren seine Augen trocken. Alles um ihn schlief, atmete unbewußte, flüsternd bewegte Ruhe, Wellenschläge schlugen rings im Kreise um ein Nichts. Wohin er sich wiegend neigte, wie tief er seinen Kopf senkte, überall nahm ihn die Dunkelheit auf, allzu schwere Augen schloß die Welt.

Er erwachte, dröhnend erbebten die Eisenstangen des Gitters. Er blickte um sich, wußte nicht, wo er war. Plump und feucht hingen seine Kleider an ihm, die Füße standen in allzufest eingeschnürten Schuhen gebettet wie in Schlamm.

Er schwankte. Es zog ihn zu seinem Bett, und er dachte über die kühlen, weißen Tücher hinzufallen, wie ein leichtes Kleid auf die Erde fällt, aufgelöst in allen seinen Falten.

Aber ein fremder Mensch starrte ihm entgegen. Ein großes Auge glänzte, spiegelte gläsern, ohne zu sehen und zarte Augenlider, zerknittert wie dünnes Zigarettenpapier, dunkel, getränkt von vielen Tränen, senkten sich langsam, zögerten wie der Vorhang im Theater nach einem letzten Atemholen.

Eine Haarnadel hatte sich gelöst. Nun lag sie, gekrümmt wie ein dürrer Blattstiel im Herbst, auf den weißen Kissen. Es war noch das Kissen, das die Mutter mit Roßhaar gefüllt hatte. Wie hatte er damals geweint, denn es war hart wie Stein. Aber ein weiches Kissen hätte als ungesund gegolten, hätte böse Träume und englische Krankheit verschuldet.

Dem fremden Gast war es zu hart. Poldi hatte den rechten Arm unter den Kopf gelegt, ihren feinen, elfenbeinmatten Arm, der zu bitten, rührend in der Stille zu flehen schien. Mütterlich war dieser Arm.

Leise regte sich das Mädchen im Schlaf, tiefer neigte sie den Kopf zurück, die schönen Wimpern schienen länger als früher, schmerzlicher schienen sie ihm, menschlicher, menschlicher dieser Mund, der bis jetzt nur schön gewesen war.

Alfred wandte sich ab, trotz allem wandte er sich ab. Im Traume atmete das Mädchen tiefer, eine Welle hob ihren Arm empor, zog ihn näher an ihren Kopf, der vom Schlaf geblendet war.

Aus der dunklen Achsel wehte ein feiner goldiger Flaum, durchsichtig, zart wie eine winzige Flamme ... die lodert ... vom Winde bewegt ...

Alfred sah sie an ... sah sie nicht mehr.

Unendlich stürmte ihm unendliches Verlangen entgegen.

Er lag auf den Knien, den Kopf über die dünne Decke gebeugt, tief atmete er den Duft, der von ihr, überraschend, überwältigend ausstrahlte, wie von einer nachterblühten Blume. Weinen hätte er mögen, stille liegen, Ungeahntes tun, alles in ihm drängte sich zu ihr...

Nur neben ihr sein, seine Wange hinlegen an die duftende Küste ihres Haares, zitternd die Zitternde umfassen, ihre mädchenhafte Brust, ihre schlanken Hüften, nein, alles in einem überflutenden Augenblick erleben, sie besitzen bis in die letzten Fibern ihres Seins... und sollte er ertrinken in der Unendlichkeit seines Verlangens...

Er stand auf. Seine Knie schmerzten... Er stand da, plötzlich wieder auf der Erde. Unerträglich war der Augenblick...

Wo war der Mensch, der vorhin am Fenster gelehnt hatte –, halb Kind, halb Greis, wo war der ironisch lächelnde Mund, das allzukluge Herz?

Zum ersten Male fühlte er sich als Mann.

Er zitterte. Schlafende Stille, Schweigen, wollustdurchtränkt, flimmernde Sekunden, süß zerrend an seinem Herzen, Lockung der flatternden Phantasie. Aber ein Mensch war da, lag da vor ihm, ein blasser Mensch, getreten, mit schwarzen Augenlidern, angetreten und abgetreten von einem anderen brutalen Menschen.

Noch war es Zeit. Überlegen, warten. Überlegen, bedenken. Sie konnte ja doch nicht ohne ihn fort, verriegelt war die Tür, versperrt das Tor des Hauses, alle Tore der Welt waren ihr versperrt ohne ihn, der sie rettete, obwohl sie ihn nicht liebte. Warum hatte sie es ihm nicht leichter gemacht, weshalb nicht ein einziges liebes Wort gesprochen... Nein, sie war nicht sentimental wie alle jungen Mädchen. Nur ein brutales Schicksal hatte sie, die Brutale, an seine Brust geworfen, hatte sie, die jetzt erst hilflos, gut und demütig Gewordene, in seine Hand gegeben...

Und doch und immer noch schrie sein Herz nach ihr, alles, alles wollte ihre Umarmung.

Kein Mensch konnte ihm gehören, so ganz bis in die letzten Fasern seiner Seele, wie dieses Mädchen, sie war nicht mehr die Mamsell, das kleine Putzmachermädel, das ihr Zufallskind mit ihrer eigenen Leiche erstickte, weil es eben nicht anders ging, nein, es war die ganze Welt, Sonne, Mond und Sterne, aller künftigen Jahreszeiten Glanz, Furcht und Hoffnung des ganzen Geschlechtes... Alles sollte mit ihr untergehen: der Jubel des ersten Kusses, auf sommerlicher Wiese, fern von Musik gestreift, die rührend hingegebene Unschuld, zugleich mit dem verzichtenden Schmerz der alternden... starb nicht mit ihr die ganze Welt?

Nein, noch lebte sie, lebte, sehnte sich bis in den Schlaf hinein nach Leben, Atmenkönnen, Atmen, wo immer, selbst über den groben, kotbestampften Fußboden hinatmen, gebeugt über die Fliesen eines Hospitals, eine grobe Bürste in der Hand.

Noch lebte sie, und vielleicht wartete ein leichtes Lächeln, von allen Sorgen befreit, auf ihren Lippen – und er ahnte, wie glückselig sie sein würde, wenn er sich ihrer erbarmte...

Der Sturm der Leidenschaft wurde sanfter. Er fühlte, er wußte es, er hatte sich ihr hingegeben, den Menschen gewählt, den halb zertretenen, morgen würde sie mit ihm erwachen, morgen würde sie, die immer noch Geliebte, bei ihm sein, morgen reiste sie mit ihm fort. Übermorgen konnte der Vater zurückgekehrt sein, und Andulka mit ihm... Beide würden seine Briefe lesen, in denen er um Verzeihung bat, um Geld bettelte, um Güte, um Geduld... Dann wartete er in irgendeiner Spelunke unter falschem Namen auf Antwort, sie aber, das arme, kleine, liebe Mädel... wo war sie... war es nicht unerträglich, daß sie immer auf die sonderbarsten Glücksfälle rechnete... jetzt, da sie sich für immer gerettet glaubte... Sie beide warteten, abends um sieben Uhr kam die letzte Post, aber nie kam sie zu ihm... er kletterte die vier Treppen herab, holte Speise für sie, die sich in ihrem gesegneten Zustand gut nähren mußte... Er selbst trieb sich noch eine Weile auf der Straße umher, um dann sagen zu können, er hätte in einer Kutscherkneipe etwas gegessen, denn für zwei reichte es nie.

Er, der die Reifeprüfung am Gymnasium mit Auszeichnung bestanden hatte, mußte nach Arbeit laufen, einen Erwerb suchen, Adressen zu Tausenden schreiben, was blieb sonst übrig? Aber selbst die letzte Möglichkeit einer Existenz (so hätte es die selige Mutter genannt) versagte, denn es war Sommer, die tote Saison... Sie, Poldi, trug alles mit ihm, sie war ja auch Besseres eigentlich nicht gewohnt... sie blieb zu Hause, war ihm treu, vielleicht liebte sie ihn jetzt... Endlich kam der Brief des Vaters, mit Geschäftsschrift geschrieben, ein Stück der Korrespondenz... und nun drohte der Vater dem Minderjährigen mit der Polizei, verfolgte ihn mit Steckbriefen, vielleicht aus Liebe, weil er das böse Ende voraussah...

Die arme Kleine hielt fest zu ihm, flüsternd besprachen sie Wanderpläne, es gab ja keine Mauern und die Welt war weit. Aber sie hatten keine guten Ziele, keine kühne Zuflucht, beide erstickten sie im Staub.

Und schon sah Alfred sich mit seiner Geliebten an tiefem schwarzen Wasser vorbeigehen, sich langsam wie ein Turner an einer Stange in die Tiefe herablassen, sich einen Augenblick, den letzten, noch und noch eratmeten Augenblick, an silbernen, ganz dünnen Weidenzweigen festhalten, gurgelnd endlich sich dem Dunkel geben. Von hier aus konnte er sich noch retten, frei ausgehen durfte er von hier, aber dort mußte er sich selbst in das Grauen hineintun, angsterstickt versinken, während Weidenzweige silberdünn seine Augenlider peitschten, die vom Verlangen ganz ausgeweitet waren.

Vor dem Spiegel des unbezahlten, unbezahlbaren Hotelzimmers stehen, starr in das Glas blicken, das von tausend glücklicheren Liebespaaren abgemattet war, sie, die hinter ihm stand, an sich drücken, alle Liebe dieser Welt in diesem Druck, ihr sanft und doch bewußt die Hand über die Augen legen, damit sie den schwarzen Lauf nicht sähe, der ihre weiße, immer noch mädchenhafte Schläfe bedrohte, warten, nichts tun, noch nichts tun... und sie doch mit einem Schlage niederstürzen sehen... Krallend fühlte er ihre armen Hände an seinem Gewand... und nun wartete er, wie ein Pferd auf den Peitschenknall wartet... hoch empor bäumte sich sein Herz, in der letzten Sekunde noch konnte, mußte sich Poldi ihm entgegenwerfen, um in der Verzweiflung ihrer jähen Liebe wenigstens ihn, den armen Schuldlosen, Unschuldigen zu retten... Aber wenn sie starb, dann starb sie ja vor ihm...

Er mußte neben ihrer Leiche liegen, mußte immer noch atmen, immer noch hören wollen und nichts mehr hören können als den Herzschlag, den weichen Herzschlag des Ungeborenen, des fremden Kindes, das allein von ihnen der einzigen Herrlichkeit künftiger Minuten entgegenlebte... das sich vielleicht immer noch emportasten wollte, nach der Erde, die es noch nicht kannte.

Dies riß ihn los. Mit Grauen, mit wütender Wucht schleuderte es ihn fort. Er konnte sie nicht retten, ohne zuerst dieses von allen gehaßte, von allen verachtete Kind zu retten, ohne zu retten einen kleinen Klumpen Schmutz, von einem schmutzigen Menschen in einen anderen schmutzigen Menschen geschleudert. Dort bei dem Leutnant war Poldi wirklich gewesen, unzählige Nächte, bis zur Gewohnheit, bis zum letzten Widerwillen. Jetzt erst war sie zu ihm gekommen, halb zertreten, jetzt wollte er sie nicht mehr. Er beugte sich über Poldi, zog ihr die kleine Hand, die schlafesfeuchte, unter dem Kopfe fort... riß ihr die sanften Augenlider in die Höhe, die schwarzen Augenlider, die halb zertretenen... um die Schlafende prompt zu erwecken... und er weckte sie.


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