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Alfred verbrachte die Nacht vom zweiten zum dritten November 1914 in einer Scheune eines russischen Dorfes. Das Regiment stand in Reserve. Er hatte sich eine Räderbahre verschafft, die sich unter ihm schaukelnd bewegte. Gegen drei Uhr morgens erwachte er, dumpf umdonnert von den ersten Geschützen fern und nahe. Über ihm zuckten hoch in der Luft zischende Granaten, dumpf aufschlagend in dem Sumpf hinter dem Dorf. Von allem Brausenden, von dem Dröhnen der heiß klopfenden Adern erwachte er. Zu tun gab es nichts. Er wollte sich nur bergen bei einem Stück sicher gespannter Leinwand, wollte sich einhüllen in den Schlafsack, unterkriechen in tiefen Schlaf bei sich selbst. Wo aber waren Steine oder ein Klotz Holz, geeignet, die Bahre zum Stillstand zu bringen? Überall, im Hofe, wo er über liegende Soldaten unsicher herüberschritt, im Feld, wo Pferde, wie Radspeichen um einen Pfahl gesternt, dastanden, gab es nur Lehm. Holz sammelten die Soldaten aus ausgerissenen Zaunpfählen zusammen, um sich am Feuer zu wärmen. Er kehrte zurück, nahm sich vor, nur leise zu schlafen, sich abzusperren gegen das böse Geschehen. Doch er war übermüdet von achtundvierzig schlaflosen Stunden, Eisenbahnwagen, langsam sausend, durch Ebenen im Regen geschleppt, und bergauf durch wandstarrende Karpathenpässe, Fußmarsch von der letzten Station, das Pferd neben sich, die Trense an der Hand, Ritt am guten Vormittag, im tröstlichen Nebel und augenlosen Licht, der tausendste unter zehntausend.
Herrlich war die Erinnerung an einen Augenblick: sein Pferd Stephan war in schlechtem Zustand, da es krumm ging und sich oft traurig umwandte. Es wurde während der zweiten Rast am Vormittag beschlagen: er nahm den Huf des braunen Tieres in die Hand, atmete wie im ersten Erwachen den Geruch des geschnittenen, schwarz gebrannten Hornes, hielt das weiche, zart von Sehnen durchzogene Gelenk auf der Fläche seiner Hand, stützte die Knochen des Pferdes durch die seinen. Stephan wandte sich zu ihm, die weichen Nüstern reibend an seinen Achselstücken, während der Hufschmied Stollen einschraubte und acht vierkantige Nägel schmerzlos sanft in den Huf hineintrieb. Jeder Schlag des Hammers schlug Alfred ans Herz, beseligend. Plötzliche Erinnerung an ihn selbst durchströmte ihn mit Wonne: viel zu helfen, helfende Nägel einzuschlagen und heilbare Glieder von unten her zu umfassen, das war der erste Trost für ihn.
Die Räderbahre schaukelte ohne Aufhören, die kleinste Bewegung, selbst Atmen erschütterte sie. Auf der Erde zu schlafen wäre besser gewesen, aber unheimliche Klumpen von Menschenkot lagen überall in der Dunkelheit umher, man konnte sie nicht von der feuchten Erde unterscheiden.
Als die Leinwand der Bahre feucht wurde von Morgennebel, schlief er. Im Traume bat er Gott, dessen er sich mit Gewalt erinnerte, ihm Hufeisen anzunageln an sein Innerstes, ihn roh zu machen und steinern.
Den ersten Toten sah er am nächsten Morgen, als sein Bataillon den siegreichen Sturm auf die Kote 337 unternahm. Vorne klirrten schon zwischen Flintenschüssen Spaten in die Erde, klirrten, so war also hier doch auch Stein, nicht überall Lehm, die kommende Nacht mußte also besser sein als die vorige. Während er sich noch Vorwürfe machte, nicht genug den Ernst des Augenblickes und die Gefahr zu empfinden, während er sich umsah nach seiner Sanitätspatrouille, die ihm nachkam, knarrend mit den schweren Tornistern, voll von Hilfe und Verband, da traf sein Fuß im Abendnebel eine Hand zwischen Dickicht und verwelktem Grün. Er beugte sich zu dem Liegenden schnell herab, seine Soldaten standen plötzlich rings um ihn, wie die Speichen eines Rades. Er entkleidete schnell dem Liegenden die Brust, bündelte los die Pelzweste und das schwarze Hemd von der schwarzbehaarten Brust, sah sie atmen frei von Wunden, auch der Hals war frei, bloß gesprenkelt mit roten Fleckchen. Den Bauch zu entblößen, zögerte er, doch taten dies die Soldaten mit den Bewegungen, die sie im Kurse daheim an ihresgleichen oft geprobt hatten, der Bauch bewegte sich wild, fast zum Erbrechen. Alfred trat aus Angst vor dem Erbrechen fort vom Kopfe des Infanteristen, nahm ihn dann doch in die Hände, fühlte sonderbar wie Sand die etwas feuchten Barthaare, der Mann war jetzt schon beruhigt, Alfred befahl, ihn auf die Feldtrage zu lagern, merkte dann an den eigenen Händen Blut. Während Alfred das Aufheben der Bahre und den Transport auf den Hilfsplatz kommandierte, erblich der Infanterist (daß er stumm war, war noch keinem aufgefallen), atmete nicht mehr.
Alle erkannten, daß ein Mann tot war, gleichzeitig ertönten Schreie von allen Seiten, bis jetzt war Schweigen gewesen, selbst völlige Leere des gewohnten Flintenknalls, überall sah man jetzt im Nebel graue Uniformen sich wälzen, Liegende das Aufsitzen versuchen, Sitzende das Stehen, Stehende das Laufen, aber alles erstarrte immer mehr, angeschleudert und geschwellt von einem schwarzen Baum sich bäumenden Rauches, der dumpf einbrüllend sich aus der Erde riß, Erde versprühend ringsum und Steine. Disteln verbrannten mit sengrigem Geruch. Lichtgelbe Flammen prasselten vorn, in der Höhe wie eine Bogenlampe zischend, verbrennend, abhagelnd viele Kugeln, die fauchten. Einer riß den Umlegkragen der Uniform herauf, um aus dem Halse das verströmende Blut zu stillen, ganz in der Nähe, unter den letzten Zweigen des Erdbaumes der schweren Granaten.
Der liegende Tote wurde aus der Tragbahre schnell herausgestürzt, klatschte in den Lehm, Gesicht und schwankenden Bart nach vorn.
Alfred rannte, mit beiden Händen sich klammernd an Erdschollen und Disteln, zu dem Halsschuß, kleine Eidechsen schienen vor ihm her zu laufen mit Zirpen oder Pfeifen, winzige Klümpchen Kot verspritzend ringsum. Doch bevor noch der zweite Verwundete erreicht war, fiel einer von der Patrouille, ein alter Zugführer, mit dem Alfred im Eisenbahnwagen gefahren war, oft nachts mit seinem Rücken sich stützend auf den Rücken des Mannes und sich wärmend an der Wärme des Menschen.
Nun hieben mit fünf Sekundenschlägen fünf Rauchhaufen mit hohem Geheul und wüstem Gestank sich aus der Erde, ein gelbes kleines Feuer auf eigener Bahn zog sich spiralig neben Alfred in den Boden, der sich kräuselte. Auch an anderen Orten waren sechs solcher Explosionen zu sehen, schwarze Reihe, donnernde Regelmäßigkeit, Maschine im tobenden Gewitter.
Mit aller Schnelligkeit wichen Retter und Gerettete zurück zum Hilfsplatz, der in der Scheune, Alfreds Nachtlager, eingebaut war. Die Tragbahren waren alle belegt. Schluchzen, Weinen, Schweigen und Ausatmen und Entbluten.
Alfred wurde durch Befehl nach vorne gerissen, wartete mit zwei Gehilfen auf das Wiederkommen der erledigten Tragbahren, hielt sich eingekrümmt in einem Trichter, dem Wasser aus dem Sumpfe zuströmte. Er war ganz seelenlos und empfand nichts. Keine Bahre kam. Die Plänkellinie lief zehn Schritte vor Alfred durch den Sumpf. Männer lagen da auf dem Bauch, niedergedrückt durch schwere Tornister, das Messinggelb der ausgewechselten Magazine schimmerte licht. Plötzlich stand ein Mann auf, erhob sich ganz ungedeckt aus der kleinen Erdgrube, nahm das Gewehr um, hielt es gepreßt an Brust und Bauch, schritt rüstig aus, vom Feinde weg, als ginge er nach Hause. Plötzlich fiel er nieder. Auf den Händen kroch Alfred zu ihm hin, legte ihm schnell eine Verbandkrawatte um den Nacken, der weiße Verbandstoff füllte sich im gleichen Moment mit Blut. Alfred preßte dann die Wunde von obenher mit der Hand, doch die Hand wurde weggerissen vom hervorkochenden Blut. Als letzte Hilfe legte Alfred ein schweres Fünfkronenstück auf die Wunde, endlich stand die Blutung, der Verwundete klagte nicht, spitzte die Lippen wie zum Pfeifen, griff nach der Feldflasche, die ihm immer entging. Da niemand kam, niemand in dem heftigen Feuer sich nähern konnte, ließ Alfred den Verwundeten von zwei Leuten zurücktragen. Plötzlich erkannte er, daß es da keine Eidechsen gab, sondern die Streukugeln eines Maschinengewehres, das unermüdlich und hart rollte, dann waren es zwei, die im Takt nebeneinander gingen, im Echo widerhallten in dem niederen Hügelland. Die zwei Leute sollten mit verschlungenen Armen einen Tragsessel bilden, doch kaum saß der Verwundete im Sattel aus Menschenarmen, umarmend die zwei Träger, als alle zusammen in die Erde kollerten. Der rechts stehende Träger war tot und grauenhaft verstümmelt. Alfred und der linke Träger packten den Verwundeten, schleiften ihn an den nach rückwärts ausgerenkten Armen über Schollen zurück, Gelenke krachten, unter der Achsel sah Alfred etwas Schwarzes fließen.
Alfred brachte den Mann zum Hilfsplatz. Er erfuhr nichts von seinem Schicksal. Bei der Scheune traf er die Regiments-Reserve, bereit zum Ausschwärmen. Abends war alles schon weit voran. Die Feldküche kam nach und kochte. Menschen waren nirgends zu sehen. In der Nähe der »Eidechsenlöcher« verbrachte Alfred mit dem Rest seiner Patrouille und drei zugeteilten Leuten von der Regimentsmusik die zweite Nacht im tiefen Schlaf.