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IV

Der Dichter ist mit der ersten Seite des Briefes zu Ende. Der Diener hat ihn längst verlassen, die Kerze, die er gehalten, steht, bis zur Mitte herabgebrannt, auf dem Marmorkamin. Noch spielt Balzac mit dem Briefumschlag, nähert sich, den Brief entfaltet in der Linken, der Feuerstelle, befühlt mit seinen breiten Daumen die milchweißen, glatten Siegel. Er möchte den Brief gerne vernichten, statt ihn zu Ende zu lesen, doch wagt er es nicht und verbrennt bloß die Hülle im Kamin, wobei die Siegel aufprasseln und aromatisch duften. Er setzt sich an den Tisch, den er mit dem Briefe wie mit einem Tischtuche zum Speisen deckt. Er gönnt sich weder Essen noch Schlaf. Schwer aufatmend erhebt er sich nochmals, nimmt das Bild der Gräfin fort, stellt es vorerst an den Kamin, dann aber, um ihren Blick nicht im Rücken zu haben, lehnt er es an die Fensterscheibe. Draußen ist völlige Nacht, totenstill. Er würde gerne schlafen, ruhen, sich an traumlosem Schlummer sättigen. Er ist gewohnt, von sechs Uhr abends bis zwölf Uhr zu schlafen. Nun kann er es nicht.

Peytel wird, so berichtet der Brief, zum ersten Male verhört und erklärt folgendes:

»Wir verließen am 31. Oktober Macon, es war elf Uhr morgens. In Bourg sind wir angekommen um fünf Uhr abends. Wir waren auf dem Rückwege. Ich hatte eine wichtige Nachricht erfahren, nichts Persönliches, eine Angelegenheit geschäftlicher Natur. Im Gasthofe ›Zur silbernen Sonne‹ haben wir unsere Mahlzeit eingenommen, um sieben machten wir uns auf den Weg, um die Nacht durchzufahren, denn am nächsten Tage, einem Feiertage, mußten wir zu Hause sein. Wir kamen durch Roussillon. Felice und ich saßen im Wagen, vor uns der Diener, der meine Pferde lenkte. Die Wolken standen schon am späten Nachmittag sehr dunkel am Himmel. Meine Frau, aus den Staaten gebürtig, eine Kreolin, war sehr empfindlich gegen Kälte. Der Regen begann zu tröpfeln. Wir passierten Fontenay. Hier geht der Weg vorbei, Sie wissen, vorerst an einem kleinen See. Die Straße hat hier weder Geländer noch Prellsteine am Rande. Schon auf dem Hinwege hatte die Alcazar Angst. Doch gehen meine Pferde, alte, aber noch starke Tiere, vollkommen sicher, sie kennen den Weg, der Diener auch. »Keine Angst!« sag' ich jetzt. Ich erinnere mich, auf der Hinreise habe ich Felice an dieser Stelle, leicht und zart, wie sie ist, mit meinen Armen aus dem Wagen herausgehoben. Von oben sieht sie, während sie ein wollüstiges und furchtsames, girrendes Lachen nicht unterdrücken kann (ich habe es noch in den Ohren), erst den smaragdfarbenen See, dann weiter in den tiefen grünen Kessel der Berge, wo unter weißem Schaum der Sturzbach rauscht. Die Frau kennt ja Angst nicht, wenn ich bei ihr bin, auch der Diener nicht, der sich, seiner sonstigen mürrischen Gewohnheit entgegen, diensteifrig umwendet und vom Bocke aus fragt, ob er nicht lieber aussteigen und die Pferde bis zu der kleinen Brücke am Zügel führen soll. Vergessen Sie nicht, das war auf dem Hinwege und vom Diener schlau bedacht. Denn hier hat er auf der Rückreise seinen teuflischen Plan ins Werk gesetzt. »Recht so!« sag' ich, er springt hinab und geht zu Fuß nebenher. Das war am Dienstag. Ich wollte der Alcazar die Zügel geben, doch wagt sie es nicht, sie zu nehmen, sie schmiegt sich tiefer in ihre blaue Mantille, nur ihr Gesicht läßt sie von der schönen Sonne bescheinen und lacht mich an, während ich kutschiere.

Nun sind wir auf dem Heimwege; der Regen gießt in Strömen, wir sehen euren Kirchturm tief unter uns, der Wagen kreischt in den Federn, die Räder knarren, und das ganze Gefährt zittert, da man des hohen Abfalls wegen die Sperrketten eingelegt hat. Der Regen gießt, der Wind schlägt von der Seite herunter und in den Wagen hinein. Louis Rey hebt die Peitsche über dem Handpferd.»Vorsicht!« rufe ich. »Es dauert nicht mehr lange! Sachte voraus! Besser, du kommst herunter, führst die Pferde im Schritt!« Wir zittern im Wagen, der sich kaum vom Schleudern abhalten läßt, da die Sperrkette im Regen glitscht, die Alcazar liegt dicht an mich geschmiegt, hier zwischen dem ersten und zweiten Blatte meines Mantelkragens.« Er zeigt es deutlich, indem er mit beiden Fäusten den Kopf eines Menschen nachbildet. »Hier ist sie, ich fühle es noch, sie schläft und haucht mich mit ihrem warmen Atem an. Auch ich muß wie schlafbetäubt gewesen sein.

Plötzlich höre ich den Knall einer Pistole. Das Aufblitzen des Pulvers habe ich gerade noch, wie ein kleines Feuer im Regen, blau glitzern sehen. Meine Frau schreit auf, während sie den Kopf aus meinem Mantel reißt, oder hat sie den Kopf schon vorher aufgerichtet und weggewendet? Vielleicht da, in dem Augenblick, als ich dem Diener den Befehl gab, herabzusteigen? Sie schreit auf: »Ach, mein armer Mann, nimm deine Pistolen, schnell!« Jetzt wird das Handpferd unruhig. Ich sehe, wie es ausschlägt, wie es mit seinem dicken, nassen Schweif um sich peitscht und die Laternenscheiben zertrümmern will, der Wagen springt klirrend förmlich zur Seite, nun geht es schnell und schneller, der Sperrhaken muß sich gelöst haben, wir rollen den steilen Abhang hinab, ohne Brüstung, ohne Geländer, wir hören den Wind sausen um unsere Ohren, der Kutschbock ist leer, der Mörder wird sich wohl unter dem Vordach verborgen halten oder wird herabgesprungen sein; ich reiße die Pistole aus der Tasche des Wagens, geladen ist sie noch vom vorigen Abend her, auch ein Hammer kommt mir unversehens unter die Hände. Er lag bei dem Gelde, das ich mitführte, in Gold, in sieben schweren Säcken. Ich sehe jetzt eine Gestalt nebenher am Wege laufen, über die Gebüsche springen, die am Straßenende gepflanzt sind, es ist trüb, unsichtig, der Regen strömt, der Sturm heult, ich halte mit der Pistole auf den geldgierigen Diener zu und schieße. Noch weiß ich nicht, warum, wo bleibt die klare Besinnung in solch einem Augenblick? Ich habe nicht das Einschlagen seiner Kugel gehört, ich habe nicht gemerkt, daß Felice getroffen ist, und doch weiß ich es. Was ein Mensch jetzt fühlt, kann ich nicht beschreiben.«

Man labt den Notar, und er fährt fort:

»Der Wagen, an der Wende der Straße angekommen und mit den Rädern ins dürre Gestrüpp verwickelt, fährt langsamer, ich komme über die Gebüsche hin an den keuchenden, dampfenden Rossen vorbei, ich renne aus Leibeskräften dem fliehenden Diener nach. Fast ist mir, als ob die Frau, mit den bloßen Händen ihr Kleid aufschürzend, von der andern Seite aus dem Wagen springt und sich, nun eher wimmernd als schreiend, im Nebel hinter dem Felsen verbirgt.

Mich hält es nicht mehr, ich jage dem Elenden nach, aber meine Hand ist nicht ruhig, ich fehle den Raubmörder wie das erste Mal. Wütend fliege, stürze ich über ihn her, versetze ihm von rückwärts einen Schlag mit dem Hammer. Der Getroffene windet sich wie eine Natter, die man schlägt, er hebt seine Pistole, ich aber, schneller als er, der mich aus großen Augen halb teuflisch, halb entsetzt anglotzt, haue mit dem Hammer die alte Stelle, und im gleichen Augenblick wie die entgleitende Waffe, die hell auf die nackten Steine niederklirrt, fällt der Rey zusammen, der Mörder, sein Gesicht vergräbt er im Schlamme, seine gelockten, eitel glänzenden, schwarzen Haare breiten sich rings um sein Haupt aus. Er atmet wohl nicht mehr. Er ist still. Kein Blut zu sehen.«


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